24
Psyche – Z Psychoanal 62, 2008, 266–289 wolfgang hegener, berlin Trauma, Schuld und Tradition. Die Freudsche Konzeption des kulturellen Gedächtnisses in Der Mann Moses und die monotheistische Religion * * Stark überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrags, gehalten am 29. September 2006 auf der Internationalen Konferenz »150 Years Freud: Dream and Reality in a Globali- zed Society« in Riga. Bei der Redaktion eingegangen am 27. 8. 2007. Übersicht: Besonders in seinen letzten Lebensjahren hat sich Sigmund Freud intensiv mit der Frage der kulturellen Weitergabe traumatischer Er- eignisse und der Bedeutung religiöser Tradition beschäftigt. In Der Mann Moses und die monotheistische Religion untersucht er – ausgehend von der höchst aktuellen Frage nach dem Ursprung des Antisemitismus – die Ent- wicklung und Tradierung traumatischer Komplexe in der Geschichte. Sei- ne Theorie des kulturellen Gedächtnisses ist dabei keineswegs schlicht la- marckistisch, sondern bezieht unbewußte Formen der Kommunikation in einer generationsübergreifenden kulturellen Transmission zentral mit ein (Eickhoff). Freud verbindet den Grund und Ursprung der Gesellschaft mit einer fundamentalen Schuldfrage, deren Anerkennung er für das Ge- lingen des gesamten Kulturprozesses und für eine offene Traditionsbil- dung für entscheidend hält. Er gemahnt die westliche Kultur, die unter den mörderischen Angriffen des Nationalsozialismus zusammenzubrechen droht, an die grundlegende ethische und geistige Verpflichtung des mosai- schen Gesetzes. Aus Freuds Überlegungen leitet sich auch für uns heute ei- ne »zentrale europäische Utopie« (Beland) ab: Der entscheidende Rei- fungsschritt besteht darin, in einem schmerzlichen Prozeß allmählich fä- hig zu werden, depressive Schuld auszuhalten und sie nicht exzessiv zu projizieren und im anderen (Juden, Fremden, Feinden) zu verfolgen. Schlüsselwörter: kulturelles Gedächtnis, Antisemitismus, Formen trans- generationeller Tradierung, Anerkennung von Schuld Trauma und kulturelles Gedächtnis Lange Zeit wurde das letzte, nunmehr vor fast 70 Jahren erschienene Buch Freuds Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939a) 1 1 Im folgenden mit Mann Moses abgekürzt. , auf dessen aktuelle Bedeutung ich mit meinen Überlegungen zum Verhältnis von Trauma, Schuld, Tradition und kulturellem Gedächtnis hinweisen möchte, sowohl von Historikern als auch von Psychoanalytikern als eine überspannte und weitgehend unhaltbare Phantasie eines alten und tod- kranken Mannes abgetan. Sie war anfänglich der Anlaß für kaum mehr Bezahlt von Michael Heckeroth ([email protected]) © Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

ps_2008_03_0266-0289

Embed Size (px)

Citation preview

Psyche – Z Psychoanal 62, 2008, 266–289

wolfgang hegener, berlin

Trauma, Schuld und Tradition.Die Freudsche Konzeption des kulturellen Gedächtnisses inDer Mann Moses und die monotheistische Religion*

* Stark überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrags, gehalten am 29. September2006 auf der Internationalen Konferenz »150 Years Freud: Dream and Reality in a Globali-zed Society« in Riga.Bei der Redaktion eingegangen am 27. 8. 2007.

Übersicht: Besonders in seinen letzten Lebensjahren hat sich SigmundFreud intensiv mit der Frage der kulturellen Weitergabe traumatischer Er-eignisse und der Bedeutung religiöser Tradition beschäftigt. In Der MannMoses und die monotheistische Religion untersucht er – ausgehend von derhöchst aktuellen Frage nach dem Ursprung des Antisemitismus – die Ent-wicklung und Tradierung traumatischer Komplexe in der Geschichte. Sei-ne Theorie des kulturellen Gedächtnisses ist dabei keineswegs schlicht la-marckistisch, sondern bezieht unbewußte Formen der Kommunikation ineiner generationsübergreifenden kulturellen Transmission zentral mit ein(Eickhoff). Freud verbindet den Grund und Ursprung der Gesellschaftmit einer fundamentalen Schuldfrage, deren Anerkennung er für das Ge-lingen des gesamten Kulturprozesses und für eine offene Traditionsbil-dung für entscheidend hält. Er gemahnt die westliche Kultur, die unter denmörderischen Angriffen des Nationalsozialismus zusammenzubrechendroht, an die grundlegende ethische und geistige Verpflichtung des mosai-schen Gesetzes. Aus Freuds Überlegungen leitet sich auch für uns heute ei-ne »zentrale europäische Utopie« (Beland) ab: Der entscheidende Rei-fungsschritt besteht darin, in einem schmerzlichen Prozeß allmählich fä-hig zu werden, depressive Schuld auszuhalten und sie nicht exzessiv zuprojizieren und im anderen (Juden, Fremden, Feinden) zu verfolgen.

Schlüsselwörter: kulturelles Gedächtnis, Antisemitismus, Formen trans-generationeller Tradierung, Anerkennung von Schuld

Trauma und kulturelles Gedächtnis

Lange Zeit wurde das letzte, nunmehr vor fast 70 Jahren erschienene BuchFreuds Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939a)1

1 Im folgenden mit Mann Moses abgekürzt.

, aufdessen aktuelle Bedeutung ich mit meinen Überlegungen zum Verhältnisvon Trauma, Schuld, Tradition und kulturellem Gedächtnis hinweisenmöchte, sowohl von Historikern als auch von Psychoanalytikern als eineüberspannte und weitgehend unhaltbare Phantasie eines alten und tod-kranken Mannes abgetan. Sie war anfänglich der Anlaß für kaum mehr

Bezahlt von Michael Heckeroth ([email protected])

© Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

als einige, in ihrem Urteil zumeist vernichtende Rezensionen und tauch-te später, wenn überhaupt, in bloß nachsprechenden Darstellungen in ei-nigen Übersichtswerken auf. Erst in den 70er Jahren, nach einer längerenLatenzphase, hat sich diese Situation geändert, und zwar grundlegend.Seit dieser Zeit hat dieses testamentarische Vermächtnis Freuds ein ver-stärktes Interesse gefunden, es wurde neu entdeckt und zumeist psycho-logisierenden Deutungen unterzogen. Es ging nun vorrangig darum,Freud in den Kontext seiner eigenen (jüdischen) Biographie zu stellen(vgl. z. B. Robert 1974; Rice 1990; Grubrich-Simitis 1991 und Yerushal-mi 1991).2

2 In den letzten Jahren kamen weitere wichtige Interpretationen hinzu: So hat etwa JanAssmann den Mann Moses in die Gedächtnisgeschichte Ägyptens eingeordnet und EdwardW. Said (2003) in Freuds Buch eine Vorlage für eine radikale Identitätspolitik gefunden, dievom Fremden im Eigenen ausgeht (die Herkunft des Gründers des Judentums ist nachFreud eine ägyptische, mithin also eine nicht-jüdische bzw. eine »nicht-europäische«). Siezeigen, was man als ausgesprochenes Qualitätsmerkmal einer Schrift ansehen kann, daßdieser Text geradezu unerschöpflich und offen ist für neue Deutungen. Hier spiegelt sichgewissermaßen, wie noch zu zeigen sein wird, in Freuds Text das, was er zur Darstellungbringt.

Was in den meisten Auslegungen dieser Art, trotz aller Be-rechtigung und Plausibilität der vorgebrachten Argumente im Einzel-nen, jedoch fehlt, ist die Berücksichtigung des Freudschen Textes alsText, also seines Inhalts. Dies entspricht einer allgemeinen Tendenz derletzten zwei bis drei Jahrzehnte: Die zunehmende Historisierung undBiographisierung der Psychoanalyse und vor allem der Person Freudführt dazu, daß die inhaltliche Bedeutung und Brisanz seiner Aussagenoft nicht mehr gesehen werden kann (vgl. Grubrich-Simitis 1993,S. 19ff.).

Einen besonders wichtigen und erst in den letzten 10 bis 15 Jahren ent-deckten Beitrag hat Freud mit seinem Mann Moses zur Theorie des »kul-turellen Gedächtnisses« und für die allgemeine kulturwissenschaftlicheDebatte beigesteuert, in der die Frage nach der Erinnerung und ihrenFormen zunehmend in den Mittelpunkt rückt. So lesen wir bei Jan Ass-mann:

»Alles spricht dafür, daß sich um den Begriff der Erinnerung ein neues Paradigma der Kul-turwissenschaften aufbaut, das die verschiedenen kulturellen Phänomene und Felder –Kunst und Literatur, Politik und Gesellschaft, Religion und Recht – in neuen Zusammen-hängen sehen läßt« (1997, S. 11).

Gedächtnis und Erinnerung werden in der kulturwissenschaftlichen De-batte aber immer weniger als bruchlose und kontinuierliche kulturelleLeistungen verstanden. Die erinnerte, gleichsam phänomenale Vergan-genheit, darauf wird wiederholt und nachdrücklich hingewiesen, ent-

Die Freudsche Konzeption des kulturellen Gedächtnisses 267

Bezahlt von Michael Heckeroth ([email protected])

© Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

steht erst durch tiefe, oft gewaltsame Traditions- und Kontinuitätsbrü-che. Die herkömmlichen Begriffe und Konzepte reichen nicht hin, umden Umgang mit solch »traumatischen« Erfahrungen zu erklären. MitFreud läßt sich zeigen, daß ein so bedeutsames kulturelles Phänomen wiedie mosaisch monotheistische Religion nur deshalb eine so nachhaltigeWirkung auf die weitere Geschichte hat ausüben können, weil ihr einetraumatische Erfahrung, ein dynamischer Komplex aus Mord undSchuldgefühlen, Erinnern, Vergessen und zwanghaftem Wiederholenzugrunde liegt. Gedächtnis und Erinnerung sind ohne ihre Kehr- undRückseiten, ohne Vergessen und Verdrängen, ohne Schuld und Traumagleichsam halbiert und bleiben unbegriffen. Die kulturwissenschaftlicheTheorie des Erinnerns und Vergessens ist damit ganz unmittelbar auf diePsychoanalyse ver- und angewiesen.

Die Wirkung eines Traumas spiegelt sich in gewisser Weise auch in derRezeptionsgeschichte des Mann Moses wider (vgl. dazu Hegener 2006b):Sein Comeback geht parallel mit der mächtigen und massenhaften Wie-derkehr der Erinnerung an Auschwitz und den Holocaust, die seit denspäten 70er Jahren zu beobachten ist (vgl. Assmann 2004). So wie FreudsArbeit erst nach einer Latenzphase wirklich beachtet wurde, so konnteder Holocaust, wie entstellt auch immer, erst allmählich in das kulturelleGedächtnis eingeschrieben werden. Und mehr noch: Vielleicht ist eswirklich so, daß ein Text erst nachträglich durch das verstanden werdenkann, was ihm folgt. Wir können wohl gar nicht mehr anders, als Freudsin den 30er Jahren entstandenen Text, der von Religion, Tradition, Erin-nerung und Antisemitismus handelt, von rückwärts her, vom traumati-schen Zivilisationsbruch der Shoa aus, zu lesen.

Die Entstehungsvoraussetzung des ›Mann Moses‹: der Antisemitismus

Warum, und damit kommen wir direkter auf den Text zu sprechen, hatsich Freud am Ende seines Lebens, gezeichnet durch seine schwereKrebserkrankung und im Angesicht der nationalsozialistischen Bedro-hung, so intensiv und geradezu obsessiv mit der Gestalt des Moses undseiner unterstellten ägyptischen Herkunft beschäftigt? Es läßt sich plau-sibel machen, daß der allseits grassierende Antisemitismus die zentraleund oft übersehene Entstehungsvoraussetzung der Moses-Studie dar-stellt. Der Antisemitismus, die »historisch schlimmste und dauerhaftesteKulturpathologie« (Ley 2002, S. 29) überhaupt, ist als ein historischesPhänomen ersten Ranges zu begreifen, dessen Geschichte uns exempla-risch zeigt, wie die Nicht-Bearbeitung historischer Traumata und die

268 Wolfgang Hegener

Bezahlt von Michael Heckeroth ([email protected])

© Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

strikte Verleugnung von Schuld ein ungeheures Ausmaß an Gewalt frei-setzen kann.

Wie sehr Freud in den Jahren vor der zögernden und nur schrittweiseerfolgenden Veröffentlichung3

3 Die Publikationsgeschichte des Mann Moses ist in vielerlei Hinsicht höchst bemerkens-wert und ungewöhnlich für Freuds sonstige Schreib- und Veröffentlichungspraxis. Genaubesehen unternimmt Freud vier Anläufe, um sein Buch zu schreiben und zu veröffentli-chen. 1934 schreibt Freud das als Handschrift erhalten gebliebene, bislang aber unpubli-zierte Manuskript »Der Mann Moses. Ein historischer Roman«. Der zweite und dritte An-lauf besteht in der schrittweisen Herausgabe der beiden Aufsätze »Moses, ein Ägypter«(1937b) zu Beginn des Jahres 1937 und »Wenn Moses ein Ägypter war …« (1937e) am Endedesselben Jahres in der Zeitschrift Imago. Dabei hat Freud, bedrängt durch äußere und in-nere Bedenken, es eigentlich bewenden lassen wollen, er hat geglaubt, seine Kräfte würdenfür eine Fortsetzung der schwierigen Arbeit nicht mehr reichen. Doch schließlich sind ineinem vierten Schritt die beiden Aufsätze als zwei von drei Abhandlungen in das 1939 inHolland, kurz vor Freuds Tod, publizierte Buch Der Mann Moses und die monotheistischeReligion (1939a) eingegangen. Ein Teil der dritten Abhandlung, das spätere Kapitel »DerFortschritt der Geistigkeit«, wurde zuvor am 2. August 1938 im Auftrag des Autors vonAnna Freud auf dem Pariser Internationalen Psychoanalytischen Kongreß verlesen und1939 separat im 24. Band der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse und Imago ver-öffentlicht. Den dritten Teil, mit dem Freud wohl besonders unzufrieden gewesen ist undbei dessen Veröffentlichung er vor allem gezögert, von dem er aber gleichzeitig angenom-men hat, er enthalte »das eigentlich Anstößige und Gefährliche« (ebd., S. 210), hat er mehr-fach überarbeitet und mit zwei sich widersprechenden, ja sich aufhebenden Vorreden ver-sehen (die Wiener Vorrede vom März 1938 verwirft die Möglichkeit einer Veröffentli-chung, die Londoner vom Juni desselben Jahres begründet sie): Die erste Fassung stammtaus dem Jahre 1934 (»historischer Roman«), die zweite aus dem Jahr 1936 (vgl. ebd., S. 158),und noch im Londoner Exil hat er den dritten Teil überarbeitet und an ihm weiter geschrie-ben (ebd., S. 211). Der Inhaltsplan der aufgefundenen Handschrift der dritten Abhandlunglegt schließlich nahe, daß Freud zuerst einen getrennten Abdruck erwogen und sich erst ineinem zweiten Schritt für die Buchpublikation aller drei Teile entschieden hat (vgl. Gru-brich-Simitis 1991, S. 90f.).

des Mann Moses ab 1933 mit dem Antise-mitismus beschäftigt ist, zeigt unter anderem ein Brief an den seit 1933 inPalästina lebenden Schriftsteller Arnold Zweig, der zu seinem wichtig-sten Gesprächspartner in Sachen Moses wurde (vgl. auch Zweig 1996,insbesondere S. 153–160). Am 30. September 1934 schreibt Freud anZweig:

»Der Ausgangspunkt meiner Arbeit ist Ihnen vertraut […]. Angesichts der neuen Verfol-gungen fragt man sich wieder, wie der Jude geworden ist und warum er sich diesen unsterb-lichen Haß zugezogen hat. Ich hatte bald die Formel heraus. Moses hat den Juden geschaf-fen, und meine Arbeit bekam den Titel: Der Mann Moses, ein historischer Roman« (Freudu. Zweig 1968a, S. 102f.; Hervorh. W.H.).

Freud betont hier, wie an anderen Stellen auch (ebd., S. 109 und auch1939a, S. 115), daß für ihn der Ausgangspunkt seiner Arbeit nicht ein ent-rücktes und gleichsam »antiquarisches« (Nietzsche) Interesse an längstvergangenen historischen Ereignissen gewesen sei. Nicht die im engeren

Die Freudsche Konzeption des kulturellen Gedächtnisses 269

Bezahlt von Michael Heckeroth ([email protected])

© Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

Sinne historische Frage, ob Moses gelebt hat und ein Ägypter war, ist, soglaube ich, für ihn von ausschlaggebender Bedeutung (sie ist eher Mittelzum Zweck), sondern die höchst aktuelle Frage, wie der Antisemitismus,der »unsterbliche Haß« auf die Juden, entstehen konnte. Freud geht da-bei einen nur auf den ersten Blick wenig einleuchtenden Umweg. Er ana-lysiert nicht die nicht-jüdischen Deutschen in ihrem eliminatorischenJudenhaß, er fragt vielmehr weit zurück bis in die Zeit der höchst drama-tischen, langwierigen und gewalttätigen Entstehung des mosaischenMonotheismus.

Wenigstens kurz möchte ich Freuds wesentliche Argumente und das Ergebnisseiner Rekonstruktion zusammenfassend in Erinnerung rufen (diejenigen, de-nen die Freudsche Ableitung sattsam bekannt ist, mögen zum nächsten Absatzübergehen): Freud führt die Entstehung des Judentums, das er für die idealtypi-sche monotheistische Religion hält, im ersten und zweiten Teil seiner Studie aufden Gründungs- und Schöpfungsakt des Ägypters Moses zurück, der ein vor-nehmer Mann, Beamter und Priester gewesen sei, ein eifriger Anhänger des mo-notheistischen Glaubens, den der Pharao Amenhotep IV., der spätere Echnaton,etwa um 1360 v. u. Z. in Ägypten gegen die bis dahin dominierenden, einem poly-theistischen Glauben anhängenden Ammonpriester zur herrschenden Religiongemacht habe. Nach dem Tod des Pharaos, dem Zusammenbruch seiner Dyna-stie und Religion, der Moses zum Verlassen seines Vaterlandes gezwungen habe,habe er den Juden diese vergeistigte Aton-Religion gegeben und so ihren beson-deren Charakter geschaffen; was diese später an ihrem Gott Jahve rühmten, treffewörtlich auf ihn, auf Moses, zu. Doch der semitische Stamm habe diese geistighochstehende Religion vorerst nicht verkraften können und, hierbei beruft sichFreud auf die Arbeiten des christlichen Altertumsforschers Sellin, Moses er-schlagen. Dies sei eine Wiederholung des Ur-Verbrechens gewesen, das Freudschon etwa 20 Jahre früher in seiner Schrift Totem und Tabu (Freud 1912–13a) anden Anfang der gesamten Religionsgeschichte gestellt hat: des Verbrechens derErmordung des Ur-Vaters durch den Clan seiner Söhne. Diese Tötung habe einungeheures Schuldgefühl ausgelöst und zur Ausbildung von Tabus und Geset-zen geführt. Die Juden hätten, so schreibt Freud seinen »historischen Roman«fort, an diesen urgeschichtlichen Akt unbewußt angeknüpft und nach dem Mordan Moses die Verehrung des auf dem Berge Sinai hausenden Vulkangottes Jahveaufgenommen. Erst im Laufe von sechs bis acht Jahrhunderten habe sich die nieganz ausgelöschte Moses- bzw. Atonreligion doch noch durchgesetzt und sei äu-ßerlich mit dem Jahvekult verschmolzen worden. Freud hält diesen Vorgang fürgeradezu prototypisch: Religionen verdanken sich der zwingenden Macht derWiederkehr des Verdrängten, das sich, analog zur individuellen Entwicklung,nach einer Latenzzeit durchsetzt, bzw. der zwanghaften Wiederholung histori-scher Traumata (Teile dieser Kurzfassung entnehme ich einem Brief Freuds anLou Andreas-Salome; Freud u. Andreas Salome 1966a, S. 222ff.).

Diese Freudsche Theorie ist trotz der schon häufig konstatierten Frag-würdigkeit der vorgebrachten historischen Argumente in vielerlei Hin-

270 Wolfgang Hegener

Bezahlt von Michael Heckeroth ([email protected])

© Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

sicht hochbedeutsam. Mehrere Punkte scheinen mir wichtig zu sein (vgl.dazu auch Brumlik 2006, S. 241f.): 1. Freud geht bei seiner Rekonstrukti-on nicht von einem Opfertrauma, also einem (passiven) Erleiden, son-dern von einem Tätertrauma aus. Es ist ein Mord geschehen, der unge-heure Schuldgefühle ausgelöst hat, die in einer bestimmten Form an diekommenden Generationen weitergegeben werden – in einem anderenZusammenhang sprach von Freud auch von »entlehnten unbewußtenSchuldgefühlen« (1923b, S. 279). 2. Es handelt sich nicht um das Traumaeiner einzelnen Person, sondern um das einer ganzen Großgruppe. 3.Das Trauma wirkt über Jahrhunderte nach und kommt erst sehr viel spä-ter, nämlich nachträglich, zur Wirkung. Religionen unterliegen damit –allerdings, wie wir später genauer sehen werden, in je unterschiedlicherund spezifischer Weise – dem Zwang einer Wiederholung und Inszenie-rung historischer Traumata – und auch für die jüdische Religionsge-schichte bringt Freud das aus der Traumatheorie wohlbekannte Schemavon traumatischem Ereignis, Abwehr, Latenzzeit und Wiederkehr desVerdrängten zur Geltung.

Psycho-Lamarckismus oder kulturelle Weitergabe?

Damit kommen wir geradezu automatisch zu der Frage, wie denn genaudiese traumatischen Komplexe im weiteren geschichtlichen Fortgangprozessiert werden. Immer wieder ist in diesem Zusammenhang Freudvorgehalten worden, er sei einem schlichten (Psycho-)Lamarckismusverfallen, also der Annahme, erworbene Eigenschaften würden sich bio-logisch bzw. phylogenetisch vererben. Freud scheint diesen Verdacht ge-nährt zu haben, denn er spricht selbst mehrdeutig davon, daß die »archai-sche Erbschaft« nicht nur »Dispositionen«, sondern auch »Inhalte«, »Er-innerungsspuren an das Erleben früherer Generationen« umfasse, die»unabhängig von direkter Mitteilung und von dem Einfluß der Erzie-hung durch Beispiel« (1939a, S. 206) weitergegeben würden. Diese undauch noch andere, ähnliche Textstellen wurden durch prominente Auto-ren, wie etwa Yerushalmi (1991) und Jan Assmann (2004), aufgegriffen:Sie behaupten, Freud habe die phylogenetische Erbschaft bzw. das phy-logenetische Gedächtnis rein biologisch verstanden und außerhalb kul-tureller Traditionen und ihrer Weitergabe gestellt. Nun kann aber Freudgerade in seiner Arbeit über den Mann Moses zeigen (und auch so läßtsich die oben wiedergegebene Stelle lesen), daß nicht nur Mechanismender bewußten Weitergabe, also mündlich tradierte Erzählungen, Bei-spiele oder Rituale, sondern gerade die Modalitäten der unbewußten

Die Freudsche Konzeption des kulturellen Gedächtnisses 271

Bezahlt von Michael Heckeroth ([email protected])

© Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

Kommunikation für das Verständnis von Tradition maßgebend sind (vgl.dazu Derrida 1995, S. 62ff., und Bernstein 19984

4 Derrida schreibt: »Er [Freud; W.H.] wiederholt zudem, daß diese Topik nichts zu tun hatmit der Anatomie des Gehirns, und dies dürfte genügen, die phylogenetische Sichtweise zukomplizieren, die er tatsächlich für irreduzibel hält, ohne sie jedoch auf ihre LamarckschenSchemata (man wirft ihm dies häufig vor, auch Yerushalmi tut es) noch gar die Darwinschenzu vereinfachen. Die Zustimmung zu einer biologischen Doktrin erworbener Eigenschaf-ten – kurz gesagt, des biologischen Archivs – dürfte nicht einfach und unmittelbar mit alldem zu vereinbaren sein, was Freud auf der anderen Seite anerkennt: das Gedächtnis derErfahrung vorangegangener Generationen, die Zeit der Bildung der Sprachen und einerSymbolizität, die die bestehenden Sprachen und die Diskursivität als solche transzendiert.Freud ist vorsichtig« (1995, S. 62). Und Bernstein, der uns darauf hinweist, daß Freud in sei-nen veröffentlichten Schriften an keiner Stelle Lamarck erwähnt, spricht von einem »gemä-ßigten« oder »schwachen« Lamarckismus bei Freud, der gerade die transgenerationellenFormen kultureller Weitergabe mit einbeziehe. Er ist zudem der Meinung, daß die Diskus-sion um Freuds (vorgeblichen) Lamarckismus von der differenzierten Art, mit der dieser(speziell im Mann Moses) unser Verständnis der Überlieferungswege religiöser Traditionenerweitert, abgelenkt hat.

). Sie definiert sich nichtnur dadurch, was sie explizit übermittelt, sondern wesentlich durch das,was sie verschweigt, zurückhält und paradoxerweise gerade durch dieVerdrängung aufbewahrt. Friedrich-Wilhelm Eickhoff (2004) hat kürz-lich in einer klärenden Untersuchung plausibel zeigen können, daß dervon Freud behauptete »phylogenetische Faktor« keinesfalls identischmit der biologischen Vererbung kulturell erworbener Eigenschaften ist,sondern unbewußte Formen der Kommunikation in einer generations-übergreifenden kulturellen Transmission zentral mit einbezieht.5

5 Eine noch andere Perspektive eröffnet sich vorsichtig, wenn wir bedenken, daß es aktuellauch in den biologischen Wissenschaften zu einem geradezu revolutionär zu nennendenWandel der Auffassungen über Heredität und Evolution kommt, der die Kluft zwischenBiologie und Kultur überwinden hilft und eine weniger eindimensionale Sicht, die mehr alsnur eine gen-basierte Vererbung kennt, befördert. Mit aller Vorsicht läßt sich Folgendesfesthalten: Die Weitergabe von Erworbenem an die kommenden Generationen wurde imbiologischen Sinne spätestens seit Darwin erfolgreich tabuisiert. Erworbene Eigenschaf-ten, so galt lange Zeit, lassen sich nicht vererben, denn sie sind nicht genetisch verankert.Diese Annahme gerät in jüngster Zeit allerdings ins Wanken, nachdem Wissenschaftler seitAnfang der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts, also kurz nach Freuds Tod, die Epigenetikentdeckt haben. Die Epigenetik beschäftigt sich mit einer besonderen Form der Vererbung,nämlich der Weitergabe von Eigenschaften auf die Nachkommen, die nicht auf Abwei-chungen in der DNA-Sequenz zurückgehen, sondern auf eine vererbbare Änderung derGenregulation und Genexpression. Vornehmlich geht es also darum zu verstehen, wie In-formationen über die Genregulation und -expression, die – um es noch einmal zu betonen– nicht in der DNA-Sequenz codiert ist, von einer Zell- oder Organismen-Generation indie nächste gelangen. Diese Prozesse werden in letzter Zeit verstärkt untersucht, und eswerden verschiedene epigenetische Prozesse differenziert, so z. B. die Paramutation, dasBookmaking, Imprinting etc. (vgl. dazu den Wikipedia-Artikel über »Epigenetik«). Jab-lonka u. Lamb (2005) betonen in ihrem umfassenden Entwurf, daß es neben der geneti-schen Entwicklungsdimension in der Evolution noch drei weitere zentrale Formen derWeitergabe gebe, die schon erwähnte epigenetische, die behaviorale und eine symbolische.

272 Wolfgang Hegener

Bezahlt von Michael Heckeroth ([email protected])

© Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

Die Schlußfolgerung daraus lautet, daß sich die bisherige Gegenüberstellung von biologi-scher versus kultureller Weitergabe vielleicht doch in ihrer Absolutheit einer falschen Di-chotomie und Verkürzung verdankt, der in gewisser Weise auch Assmann und Yerushalminoch anhängen. Dann hätte Freud in geradezu hellsichtiger Weise daran festgehalten, daß eseine nicht-genetische Weitergabe von Erfahrungen gibt, die eventuell kulturell und biolo-gisch verankert ist – und konnte damals, aus Mangel an verfügbaren Alternativen, nur aufden (von ihm abgeschwächten) Lamarckismus zurückgreifen. Dann könnte man weiterhindas Freudsche Konzept des kulturellen Gedächtnisses, neben dem Triebbegriff, als einenweiteren »Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem« (Freud 1915c, S. 214) an-sehen, der sich in keine der beiden Richtungen hin einseitig auflösen läßt. Dies bedarf je-doch noch weiterer eingehender Forschung und Durchdringung.

Doch kommen wir zurück zum Freudschen Text und damit auch zurFrage des Textes (denn auf nichts anderes als auf Texte und Zeichen kannFreud sich beziehen, wenn er über religiöse Überlieferungen und Tradi-tionen schreibt). Freud verbindet im Mann Moses das Wie der unbewuß-ten Transmission genauer mit der in den schriftlichen Überlieferungenwirksamen Arbeit der Entstellung. Er war der Auffassung, daß die vonihm untersuchten und als Gedächtnismedium fungierenden »heiligenSchriften« die tatsächlichen Ereignisse nur in einer überarbeiteten, mit-hin entstellten und entstellenden Form wiedergeben und so Traditionschaffen. Freud kommt zu einem interessanten Vergleich, der das Darge-stellte (den Mord) gewissermaßen in der Form ihrer Darstellung wieder-findet:

»Es ist bei der Entstellung eines Textes ähnlich wie bei einem Mord. Die Schwierigkeit liegtnicht in der Ausführung der Tat, sondern in der Beseitigung der Spuren. Man möchte demWorte ›Entstellung‹ den Doppelsinn verleihen, auf den es Anspruch hat, obwohl es heutekeinen Gebrauch davon macht. Es sollte nicht nur bedeuten: in seiner Erscheinung verän-dern, sondern auch: an eine andere Stelle bringen, anderswohin verschieben« (1939a,S. 143).

Der Begriff der Entstellung hat bei Freud selbst Tradition. Schon in derTraumdeutung (1900a) verwendet er ihn übergreifend als Begriff für dieBeschreibung der Arbeit des Traums und, ausgehend davon, des Unbe-wußten überhaupt: der latente (Traum-)Gedanke dringt nicht direktdurch, sondern nur in einer entstellten Form als manifester (Traum-)In-halt (bzw. als Symptom, Fehlhandlung etc.). Hatte Freud 1900 ausdrück-lich erklärt, er behandele den Traum wie einen »heiligen Text« (ebd.,S. 518), so erklärt er 1939 gleichsam umgekehrt, die »heiligen Texte« sei-en, analog zu den Mechanismen des Traums, dadurch entstanden, daßhöchst traumatische Ereignisse in sie eingegangen, dort entstellt, alsoverschoben, verdichtet und paradoxerweise durch ihre Verdrängung ge-rade traditionsbildend aufbewahrt wurden. Durch diese Einsicht kann

Die Freudsche Konzeption des kulturellen Gedächtnisses 273

Bezahlt von Michael Heckeroth ([email protected])

© Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

Freud zu einem höchst komplexen Begriff von Tradition und »histori-scher Wahrheit« durchdringen, der, jenseits eines unterstellten einfachenBiologismus, ein neues und erweitertes Verständnis geschichtlicher Vor-gänge erlaubt (vgl. Bernstein 1998).

Man kann, so glaube ich, an dieser Stelle auch sehr gut sehen, daß Freud, wenn erganz allgemein vom Judentum spricht, eigentlich eine besondere Ausprägung,nämlich das nachbiblische rabbinische Judentum, vor Augen hat.6

6 Mir scheint, daß Freud gegenüber anderen Strömungen im Judentum, also etwa mysti-schen, apokalyptischen oder gar gnostischen, wie sie im letzten Jahrhundert am systema-tischsten wohl von Gershom Scholem (1967) untersucht und in ihrer (auch im Judentum)vernachlässigten Bedeutung herausgestellt worden sind, höchst abgeneigt gewesen ist.Auch darüber ist er dem rabbinischen Denken verbunden, für das eine antiapokalyptische,»antipolitische« und antimessianische Tendenz kennzeichnend ist (vgl. Grözinger 2004,S. 292). Eine generelle Abneigung Freuds gegenüber jeder Form von Mystik spricht sich et-wa in folgender Episode aus. Als Viktor von Weizsäcker zum Abschied seines Besuchs 1926bei Freud diesem erklärte, er sei »im Nebenamte wohl auch etwas Mystiker«, soll dieserihm »mit entsetztem Blick« geantwortet haben: »Das ist ja furchtbar!« Freud habe »dannnoch irgend etwas von der Unantastbarkeit des Verstandes gesagt« (Weizsäcker 1954,S. 145).

Hier findet erden größten »Fortschritt in der Geistigkeit« und der Ethik, die wohl beste Formder Aufklärung sowie die stärkste Ähnlichkeit mit der Psychoanalyse und ihremVerfahren. Rabbinisches Judentum, also die nie endende Auslegung der heiligenSchrift, und Psychoanalyse, paradigmatisch gewonnen an der nie vollständigenDeutung der Träume, koinzidieren in einer Arbeit am »Text« (als »heilige« und»psychische Schrift«), die sich jeglicher Schließung widersetzt. Nur in dieser,dem Dogma entratenden Unabschließbarkeit bleibt die Erfahrung traditionsbil-dend und zugleich traditionsoffen, sie schafft dadurch einen Raum für jeden Ein-zelnen in seiner irreduziblen Individualität, der seine Frage an den »Text« immerneu richten kann und soll – und genau dies ist im jüdischen Sinne als Tradition zuverstehen (vgl. dazu auch Blumenberg 1996).

So wie Freud die genaue Analyse der Religionsgeschichte tiefe Einblickein die Mechanismen unbewußter Traditionsbildung erlaubt (und die Be-deutung der Tradition überhaupt deutlich macht), so führt ihn diesesneue Verständnis umgekehrt zu einer veränderten, »gerechteren« Ein-schätzung der Religion. 1935, also zur Zeit der langjährigen Beschäfti-gung mit dem Mann Moses, erklärt er in seinen »Ergänzungen zur Selbst-darstellung«:

»In der ›Zukunft einer Illusion‹ hatte ich die Religion hauptsächlich negativ gewürdigt; ichfand später die Formel, die ihr bessere Gerechtigkeit erweist: ihre Macht beruhe allerdingsauf ihrem Wahrheitsgehalt, aber diese Wahrheit sei keine materielle, sondern eine histori-sche« (1935a, S. 33).7

7 Ebenfalls 1935, in seinen »Ergänzungen zur Selbstdarstellung«, erklärt Freud, wie wich-tig und prägend für ihn die bereits sehr früh einsetzende Lektüre der »heiligen Schriften«

274 Wolfgang Hegener

Bezahlt von Michael Heckeroth ([email protected])

© Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

gewesen sei: »Frühzeitige Vertiefung in die biblische Geschichte, kaum daß ich die Kunstdes Lesens erlernt hatte, hat, wie ich viel später erkannte, die Richtung meines Interessesnachhaltig bestimmt« (1935d, S. 763).

Der Begriff der »historischen Wahrheit«, den Freud entfaltet, ist hoch-komplex. Das, was im »materiellen« bzw. auch buchstäblichen Sinne alsfalsch oder unwahr angesehen werden muß bzw. als literarische bzw.mythologische Fiktion, enthält nichtsdestotrotz einen für das Verständ-nis historischer Prozesse unverzichtbaren Kern an Wahrheit. Dieser Be-griff hat unüberhörbare Anklänge an den der »psychischen Realität«, dieeben auch nicht auf die materielle Realität zurückführbar ist oder in ei-nem 1:1-Verhältnis zu ihr steht. Eine »historische Wahrheit« kann erstdann rekonstruiert werden, wenn unbewußte psychische Kräfte, das Zu-sammenspiel »dynamischer Konflikte« (ebd.), sowohl für ihre Entste-hung als auch für ihre weitere »Entstellung« anerkannt werden. In denReligionen steckt somit ein hohes und verkanntes Maß an »Realismus«(Klaus Heinrich), in ihnen werden unbewußte Konflikte und Phantasiensowie traumatische Erfahrungen in einer Art »kulturellem Container«aufbewahrt und symbolisierbar. All diese Prozesse sind durch die aufden bloßen Ereignischarakter fixierten, die Mechanismus unbewußterText- und Traditionsbildung vernachlässigenden, historistisch verfah-renden Wissenschaften kaum erfaßbar.

Beispiele kultureller Weitergabe von Traumata

Wenigstens kurz möchte ich in diesem Zusammenhang auf eine Arbeitvon Vamik Volkan (1999, S. 73ff.) hinweisen, der, ohne dies selber zu er-wähnen, mit seinem Konzept des »gewählten Traumas« bei Großgrup-penidentitäten gewissermaßen eine Konkretisierung des FreudschenGedankens einer psychohistorischen bzw. unbewußten »Vererbung«geliefert hat.8

8 Ich kann Volkans Konzept im Zusammenhang dieser Arbeit nur kursorisch darstellen.Eine genauere Analyse, die einen eigenen Artikel erforderte, müßte detaillierter aufzeigen,was die Bedingungen der »Wahl« und der Fortschreibung eines solchen »ausgewähltenTraumas« sind und welche vielfältigen Funktionen die »National-Mythen« im Kontext desgesamten ökonomischen, politischen und ethnischen Feldes erfüllen.

Er zeigt, wie unbewußt gewählte Traumata eine zentraleBedeutung für das Selbstverständnis großer Verbände, etwa ganzer Na-tionen, haben können und wie die geistige Repräsentanz eines traumati-schen Ereignisses von Tausenden und Millionen von Menschen an dienächste Generation weitergegeben wird. Die gewählten Traumata bezie-hen sich gemeinhin auf Ereignisse, die dazu führten, daß eine Gruppeschwere Verluste hinnehmen mußte und sich hilflos und gedemütigt

Die Freudsche Konzeption des kulturellen Gedächtnisses 275

Bezahlt von Michael Heckeroth ([email protected])

© Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

fühlte. Hinzu kommt zentral, daß die betroffene Generation nicht überdie Verluste trauern konnte. Die traumatischen Bilder werden dann inden sich entwickelnden Selbstvorstellungen der Kinder und Enkel depo-niert und dort verwandelt, so als wären die Nachkommen in der Lage,den Verlust zu betrauern und die narzißtische Kränkung wieder gutzu-machen. Die tatsächliche Geschichte des Ereignisses spielt dann keineentscheidende Rolle mehr. Wichtig ist vielmehr seine unsichtbare Macht,mit der es die Mitglieder einer Gruppe verbindet, und seine reparativeFunktion. So wurde etwa für viele Serben das Trauma der Schlacht vomKosovo auf dem Amselfeld vom 28. Juni 1389, das in der Folge zu einerOkkupation durch die Türken führte, zu ihrem unbewußt gewähltenTrauma. Mythologische Geschichten dieser Schlacht wurden von Gene-ration zu Generation weitergegeben und dadurch das traumatisierteSelbstbild der Serben immerwährend verstärkt und fortgeschrieben.Nicht, wie gesagt, die historische Wahrheit, sondern die Funktion diesesTraumas ist wichtig: es dient dazu, die Identität der Serben als »Opfer-lamm« auszubilden. Dieses Trauma kann in verschiedenen historischenMomenten reaktiviert und für politische Zwecke instrumentalisiert wer-den. Dies ist im Falle Serbiens vermutlich sowohl 1914 bei Ausbruch desErsten Weltkriegs geschehen als auch Ende der 80er Jahre durch Milose-vic, der mit diesen Erzählungen den serbischen Nationalismus schürte.

Auch für das Nachkriegsdeutschland läßt sich das Phänomen der Ent-stellung eines generationsübergreifenden Traumas, eines Tätertraumasbeschreiben, dessen Folgen noch nicht ausreichend betrauert werdenkonnten. Historiker und Antisemitismusforscher sprechen von einem»sekundären Antisemitismus« (Benz 2004; Claussen 2005), der als Reak-tion der Deutschen auf den Holocaust entstanden sei.9

9 Den Begriff des »sekundären Antisemitismus« führte der damalige Mitarbeiter amFrankfurter Institut für Sozialforschung Peter Schönbach (1961) in die Debatte ein, nach-dem es Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre in der Bundesrepublik zu einer Welle vonSchändungen jüdischer Friedhöfe und Denkmäler gekommen war. Schönbach diagnosti-zierte einen gleichsam reprivatisierten »entideologisierten Antisemitismus« ohne propa-gandistische Träger, ohne öffentliche Legitimation sowie ohne das Selbstbewußtsein einerstaatstragenden Ideologie (vgl. dazu auch Frindte 2006, S. 94ff.).

Um die psycho-dynamischen Prozesse stärker zu betonen, können wir auch von einem»Schuldabwehr-Antisemitismus« sprechen, dem es vor allem darumgeht, die historische Täter-Opfer-Relation umzukehren, also die Deut-schen zu dem eigentlichen Opfer der Geschichte zu erklären. Mehrerepsychoanalytische Autoren haben dies anhand konkreter Analysen zubeschreiben versucht. Rolf Vogt (1995) begreift nach einer eingehendenAnalyse eines Theaterstücks von Fassbinder (Der Müll, die Stadt und

276 Wolfgang Hegener

Bezahlt von Michael Heckeroth ([email protected])

© Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

der Tod) den Schuldabwehr-Antisemitismus mit Devereux als den Kernder »ethnischen Störung« der Nachkriegsdeutschen. Er zeigt (auch an-hand zentraler gesellschaftlicher Debatten der 80er und 90er Jahre), wiein der zweiten (und dritten) Generation nichtjüdischer Deutscher »ent-lehnte unbewußte Schuldgefühle« (Freud 1923b, S. 279) wirksam sind,die vornehmlich durch den Mechanismus der Täter-Opfer-Inversion ab-gewehrt werden.

»Die zitierten Beispiele von Schuldabwehr«, so faßt Vogt seine Analyse zusammen, »habendas Ziel, die auf Deutschland lastende historische Schuld abzuwehren und damit auch daseinzelne Mitglied der Nation freizusprechen, das über den Identifizierungsprozeß dieseSchuld als ›entlehntes Schuldgefühl‹ zu seiner eigenen gemacht hat« (1995, S. 366).

Schon 1986 hat Janine Chasseguet-Smirgel in ihrer Analyse des »GrünenTheaters« plausibel gezeigt, daß beim sekundären Antisemitismus eineVerfassung vorherrscht, die geprägt ist durch persekutorische Schuldge-fühle, die nicht in depressive Schuld verwandelt werden können: WennSchuld, und gemeint ist hier sowohl reale Schuld als auch von den Elternoder Großeltern »entlehnte Schuldgefühle«, nicht anerkannt werdenkann, wird sie, das ist zumindest eine Möglichkeit, auf einen Menschenoder eine Gruppe von Menschen projiziert, und diese Menschen werdenmit dieser Schuld identifiziert. Die so projizierte Schuld kehrt sodannvon außen wieder als Gefühl der Verfolgung. Zu persekutorischerSchuld gehört auch eine manische Form der Wiedergutmachung, die eherein Ungeschehenmachenwollen ist. Eigentlich soll damit die Schuld ge-tilgt und der psychische Zustand vor der mörderischen Tat oder Absicht,also die volle »Unschuld« wiederhergestellt werden. Dagegen steht diedepressive Schuld, bei der echte Reue empfunden wird über die tatsächli-chen und phantasierten Taten. Der verfolgte Andere wird nun nichtmehr als ein verfolgendes »böses«, sondern als ein verfolgtes »gutes Ob-jekt« erlebt. Auch die Wiedergutmachung findet jetzt eine Grenze. Be-stimmte Dinge sind nicht rückgängig zu machen, sie sind definitiv ge-schehen und müssen in einem äußerst schmerzhaften Prozeß anerkanntund betrauert werden. Vor allem muß anerkannt werden, daß unsere Lie-be und Verantwortung nicht groß genug waren, das Objekt zu schützen,daß wir es also aus eigener Schuld heraus verloren haben.

Mir scheint an diesem Vorgang noch etwas wichtig zu sein. Durch dasTrauma des Holocausts wurde für die Deutschen der Bezug zur Traditi-on zerstört. Hermann Beland (2007) hat dies jüngst als den Verlust desGefühls eines normalen Gutseins beschrieben, den die Deutschen durchdie monströsen Verbrechen des Nationalsozialismus erfahren haben und

Die Freudsche Konzeption des kulturellen Gedächtnisses 277

Bezahlt von Michael Heckeroth ([email protected])

© Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

besonders in der Konfrontation mit Menschen anderer Nationen erle-ben müssen. Im Unterschied zu jüdischen Menschen, die sich weltweitauf eine mehr als 2500 Jahre währende Tradition zurückbeziehen unddiese positiv besetzen können (und Freud tut dies am Ende seines Le-bens im Angesicht der Bedrohung mit seinem Mann Moses auch – s. u.),ist der Traditionsbezug für die nicht-jüdischen Deutschen tiefgehendbeschädigt. Dies gilt insbesondere für das Christentum, das die Entste-hung des notorischen Antisemitismus im Abendland wesentlich mit zuverantworten hat und dadurch grundlegend diskreditiert ist. Nur, wieBeland weiter betont, durch die Anerkennung dieses Verlustes und derdamit verbundenen Schuld und die Trauer darüber, was wir selbstdurch den Holocaust verloren haben, eröffnet sich eine Perspektiveund wird die Durchbrechung eines fatalen Wiederholungszwangsmöglich.

Jüdische und christliche Schuldkultur

Wir können jetzt zurückkommen auf den Ausgangspunkt der Freud-schen Überlegungen, nämlich auf die Frage nach den Wurzeln des Anti-semitismus. Offen ist bislang, wie Freud den »unsterblichen Haß« aufdie Juden aus der jüdischen und christlichen Religionsgeschichte herauszu verstehen sucht. In der letzten seiner drei Abhandlungen des MannMoses stellt er fest, daß die entscheidende Veränderung, die mit der Ent-stehung des Christentums einsetzt, das veränderte Verhältnis zu Gott-Vater ist. Während das Judentum eine Vaterreligion sei, handele es sichbeim Christentum um eine Sohnesreligion (vgl. dazu auch Hegener2001).

»Angeblich zur Versöhnung des Vatergottes bestimmt«, so Freud, »ging sie in dessen Ent-thronung und Beseitigung aus. […] Der alte Gottvater trat hinter Christus zurück, Chri-stus, der Sohn, kam an seine Stelle, ganz so, wie es in jener Urzeit jeder Sohn ersehnt hatte«(1939a, S. 194).

Mehr als ein Vierteljahrhundert früher, in Totem und Tabu nämlich, hatFreud diesen Zusammenhang mit folgenden Worten beschrieben:

»Mit der gleichen Tat [dem Opfertod Jesu; W.H.], welche dem Vater die größtmöglicheSühne bietet, erreicht auch der Sohn das Ziel seiner Wünsche gegen den Vater. Er wirdselbst zum Gott neben, eigentlich an Stelle des Vaters. Die Sohnesreligion löst die Vaterreli-gion ab« (1912–13a, S. 186).

Es fällt auf, daß Freud im Unterschied zu dieser Formulierung im MannMoses die erstrebte Versöhnung mit dem Zusatz »angeblich« versieht, sie

278 Wolfgang Hegener

Bezahlt von Michael Heckeroth ([email protected])

© Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

also als eine Abwehrfassade begreift und nun das eigentliche vatermör-derische Motiv im Christentum sehr viel stärker betont.

Yigal Blumenberg (2006) hat noch auf einen weiteren, gewichtigenUnterschied zwischen diesen beiden Schriften hingewiesen: Im Gegen-satz zum grausamen Urhordenvater und zu den den Vater mordendenSöhnen in Totem und Tabu ist es Freud im Mann Moses um einen ande-ren, nämlich einen in der inneren Welt »angenommenen Vater« und umeine andere Vater-Sohn-Beziehung zu tun, die einen Raum für dasÜber-Leben des Sohnes und für eine Überlieferung schafft, die sich le-bendig erneuern kann (»Fortschritt in der Geistigkeit«). Freud suchtdurch die Beschäftigung mit Moses, die im Angesicht der nationalso-zialistischen Bedrohung stattfindet, gleichsam eine Wiederannäherungan das angegriffene väterliche Objekt und findet mit der »Annahme desVaters« die erste Hälfte eines Ganzen, dessen zweite Hälfte der in To-tem und Tabu herausgestellte Vater-Mord ist. Die Annahme des Vaterskann aber nur gelingen, wenn die Schuld über die mörderischen Impul-se dem Vater gegenüber anerkannt wird. Dies läßt sich zwanglos mitden oben angestellten Überlegungen zur Traditionsbildung und Wei-tergabe von Traumata verbinden. Nur wenn eine erlittene Kränkungoder eine Schuld angenommen, bearbeitet und betrauert werden kann,muß sie nicht an die kommenden Generationen zum Zwecke einer nar-zißtischen Reparation oder einer manischen Wiedergutmachung wei-tergegeben werden. Wenn solche Formen der Schuldabwehr greifen,kann keine lebendige und sich erneuernde Tradition entstehen, und dieGeschichte bleibt im traumatischen Wiederholungszwang gefangen.

Zu Recht ist vielfach betont worden, daß Freud im Angesicht exi-stentieller Bedrohung am Ende seines Lebens die väterlich-jüdischeTradition wieder entdeckt und erneuert hat; sein zentraler Bezugs-punkt ist dabei wohl vor allem das rabbinisch-pharisäische Judentum(s. o.)10

10 Die Auffassung, daß das rabbinische Judentum der Zeit nach der Tempelzerstörungdas ausschließliche Erbe des pharisäischen Judentums sei, ist etwas verkürzt. Sie ist eherals ein Konglomerat »verschiedener gemeinsamer und individueller Facetten der helleni-stisch-jüdischen Religionsgeschichte« denn als die unmittelbare Weiterführung des pha-risäischen Judentums zu verstehen (vgl. Grözinger 2004, S. 160).

, also die geistige und ethische Bemühung um die »HeiligeSchrift« gewesen. Dazu paßt Freuds Erwähnung des Führers der gemä-ßigten Pharisäer Jochanaan ben Sakkai, der zur Zeit des JüdischenKriegs um 70 u. Z. zu der Überzeugung gelangte, daß das von den Rö-mern belagerte Jerusalem nicht mehr zu retten sei. Er ließ sich währendder Besatzung in einem Sarg aus der Stadt tragen und bat die Römer, ei-

Die Freudsche Konzeption des kulturellen Gedächtnisses 279

Bezahlt von Michael Heckeroth ([email protected])

© Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

ne Toraschule und einen Gerichtshof in Jabne (Jamnia) eröffnen zudürfen. Er erhielt die Erlaubnis des römischen Feldherrn Vespasianund sicherte so das geistige Über- und Weiterleben der Juden. Es tratnun in der Tradition und Kontinuität des pharisäischen nach und nachein gelehrtes rabbinisches Judentum hervor, das das Studium der Heili-gen Texte und die Synagoge zum Zentrum des jüdischen Lebens in Pa-lästina und in der Diaspora machte. Freud kommentiert dieses Ereignisim Mann Moses wie folgt: »Fortan war es die heilige Schrift und die gei-stige Bemühung um sie, die das versprengte Volk zusammenhielt«(1939 a, S. 223). In Jabne wurde die Grundlage zur Kodifizierung dernachbiblischen, sprich: rabbinischen Tradition gelegt. Hierzu gehörtvor allem das, was man Mischna nennt, also die früheste Schicht des(babylonischen) Talmuds, die die Diskussion und Kommentierungführender Gelehrter bis 200 u. Z. wiedergibt. Man hatte mit der Mög-lichkeit der Schriftauslegung und -pflege nun gleichsam einen »mobi-len Tempel« geschaffen, der die geistig-kulturelle Einheit des Juden-tums über die Jahrhunderte und die verschiedenen Orte zu gewährlei-sten vermochte.

Exkurs: Im Unterschied zu anderen jüdischen Gruppierungen der Zeit beton-ten die in den Evangelien des Neuen Testamentes so oft geschmähten Pharisäer,daß es zusätzlich zu dem geoffenbarten Wort Gottes in der Tora eine mündli-che Überlieferung gebe (vgl. Maccoby 1973, S. 33ff., und Grözinger 2004,S. 158ff.). Während etwa die Sadduzäer vertraten, daß der ganze Judaismus imgeschriebenen Gesetz der Bibel enthalten sei, die eine in sich geschlossene undendgültige Offenbarung und keiner weiteren Auslegung und Entwicklung be-dürftig sei, gingen die Pharisäer von der radikalen Notwendigkeit der Interpre-tation und einer Unabschließbarkeit der Tora aus und ergänzten das »schriftli-che Gesetz« um das »mündliche Gesetz« (Talmud). Nur so konnte, wie gesagt,eine tragfähige und erneuerbare Tradition geschaffen werden, die eine Fortexi-stenz des Judentums in der Diaspora ermöglichte und bis heute weiter besteht.Es ist kein Zufall, daß Freud die Geschichte von Jochanaan ben Sakkai auf derletzten Vorstandssitzung der »Wiener Psychoanalytischen Vereinigung« vorder durch die nationalsozialistische Barbarei unumgänglich gewordenenSelbstauflösung am 13. März 1938 erwähnt hat. In der offenen und kritischengeistigen Bemühung um das Erbe der Psychoanalyse sah er die einzige Überle-benschance der Psychoanalyse, die Möglichkeitsbedingung einer lebendigenund sich erneuernden psychoanalytischen Tradition. Und ist es darüber hinausnicht so, daß die Psychoanalyse, gegen jeden Obskurantismus und dogma-tisch-ideologische Festlegungen, am Primat der radikalen Interpretationsbe-dürftigkeit aller Welt- und Lebenszusammenhänge festhält? Wenn wir dengrassierenden totalitären und religiös-fundamentalistischen Bewegungen, diedurch die gewünschte Versiegelung und Stillstellung des Traditionsstromes ge-wissermaßen auf die Abschaffung des Unbewußten abzielen, widerstehen

280 Wolfgang Hegener

Bezahlt von Michael Heckeroth ([email protected])

© Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

wollen, so müssen wir auf diesem Primat insistieren.11

11 Die ödipale und nicht-totalitäre Dimension des Programms der Schriftauslegung, die dieTradition offen hält, drückt sich sehr schön in einer talmudischen Geschichte aus. Nach ei-nem Streit mit Gott sagt Rabbi Jirmeja: »Die Tora ist bereits vom Berge Sinai her gegebenworden [und befindet sich demnach nicht mehr im Himmel]. Darum achten wir auf keinehimmlische Stimme, denn bereits am Berge Sinai hast Du in die Tora geschrieben: ›Nach derMehrheit ist zu entscheiden. [Ex 23,2]‹ R. Nathan traf den Propheten Elia und fragte ihn,was der Heilige, E.s.g. [Er sei gesegnet; W.H.], in dieser Stunde getan habe. Er erwiderte: ›Erschmunzelte und sprach: »Meine Kinder haben mich besiegt, meine Kinder haben mich be-siegt«‹« (zit. n. Grözinger 2004, S. 232).

Wir sagen immer mehr, alswir beabsichtigen, und nichts versteht sich von selbst bzw. geht in seiner fest- undvorgeschriebenen, opaken Bedeutung auf. Nur so kann eine lebendige und sichfort- und umschreibende12

12 Ich spiele mit diesen sprachlichen Wendungen auf die bekannte Stelle aus den Briefen anWilhelm Fließ an, in der Freud das Gedächtnis mit einer Schrift bzw. Umschrift verglichenhat (vgl. Hegener 1997): »Du weißt, ich arbeite mit der Annahme, daß unser psychischerMechanismus durch Aufeinanderschichtung entstanden ist, indem von Zeit zu Zeit dasvorhandene Material von Erinnerungsspuren eine Umordnung nach neuen Beziehungen,eine Umschrift erfährt« (Freud 1985c, S. 217). So entstehen günstigstenfalls in einem dyna-mischen Prozeß stetig neue Niederschriften bzw. »Übersetzungen des psychischen Mate-rials«. Und Freud kommt auch darauf zu sprechen, was geschieht, wenn diese Übersetzungmißlingt: »Wo die spätere Überschrift fehlt, wird die Erregung nach den psychologischenGesetzen erledigt, die für die frühere psychische Periode galten, und auf den Wegen, die da-mals zu Gebote standen. Es bleibt also ein Anachronismus bestehen, in einer gewissen Pro-vinz gelten noch Fueros [altes Lokal- oder Sonderrecht vor der Durchsetzung einer zentra-len Gesetzgebung; W.H.], es kommen ›Überlebsel‹ zustande« (S. 219). Letzteres ist auch eintreffendes Bild für einen stillgestellten und statisch gewordenen Traditionsstrom.

Tradition entstehen, in der Traumata nicht gewaltför-mig inszeniert und perpetuiert werden.

Betrachten wir noch genauer die Rückwendung Freuds zum (rabbini-schen) Judentum im Zusammenhang seines Lebens. In einer neuen, auf-schlußreichen und anregenden Studie hat Jacques Le Rider (2004) deninneren Weg Freuds von Wien über die »Akropolis« zum »Sinai« nach-gezeichnet. Die griechischen Bezüge seien im Laufe der Jahre mehr undmehr zum Gegenstand kritischer Reflexion und schließlich im MannMoses durch die Rückwendung zum Judentum des Sinaitischen Gesetzesabgelöst worden. Aus der Desillusionierung am neuhumanistischen, an-tik-christlichen Bildungsideal seit dem Ersten Weltkrieg heraus habe ersich zunehmend dem mosaischen Gesetz zugewendet. Dies sei, wie LeRiders zentrale Schlußfolgerung lautet, nicht so sehr eine Rückkehr zumReligiösen, sondern vornehmlich der Versuch einer Neubegründung ei-ner Ethik – die allerdings, wie kritisch hinzugefügt werden muß, in dermosaischen Religion ihre Basis findet. Als die europäische Kultur unterden zerstörerischen Schlägen des Nationalsozialismus zusammenbricht,erscheint Freud die »ödipale« Moses- bzw. Vaterreligion des Judentums(im Sinne eines »Fortschritts in der Geistigkeit«) als das letzte noch in-

Die Freudsche Konzeption des kulturellen Gedächtnisses 281

Bezahlt von Michael Heckeroth ([email protected])

© Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

takte ethische Fundament. Und auch hier ist seine Orientierung am rab-binischen Denken wohl ausschlaggebend: Nach rabbinischer Literaturist das, was den Menschen auszeichnet, in erster Linie das ethisch-mora-lische Handeln, so wie auch Gott zuallererst ein ethisch handelnder Gottist (vgl. Grözinger 2004, S. 285). Der Bestand der Schöpfung wird alleindurch die Geltung und Befolgung des Gesetzes, des ethischen Gesetzesder Tora, garantiert. Mit dieser Rückwendung zur Tradition gibt Freudeher implizit auch eine neue und in ihrer Wendung überraschende Ant-wort auf das Assimilationsproblem: Es geht ihm nicht um die Assimilati-on der Juden an die christlich geprägte Mehrheitskultur, sondern gewis-sermaßen umgekehrt um die »Reassimilierung« der europäischen Kulturan das von ihr verworfene jüdische Erbe. Nur in dieser Rückbesinnungauf das mosaische Gesetz erblickt er eine Chance für den Fortbestandund die ethische Erneuerung der westlichen Welt.

Die »Beseitigung« des Vaters im symbolischen System von Religionund Kultur bedeutet für Freud zugleich eine massive Gefährdung derGrundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens durch eine dannnicht mehr zu begrenzende Gewalt. Genau in diesem Sinne ist der Natio-nalsozialismus eine gesellschaftliche Verfassung, die jede Bindung an das»väterliche Gesetz«, mithin an jede Moral zerstört und in ihrer Destruk-tivität grenzenlos wird (vgl. Hegener 2001). Dies zeigt sich in besonderserschreckender Weise daran, daß Hitler und die Nationalsozialisten imglobalen Maßstab das Recht auf Völkermord wiederherstellen wolltenund dafür zuerst die Erfinder und Vertreter des mosaischen Gesetzesund des Glaubenskerns des Judentums von der Lebensheiligkeit und desRespekts vor der Individualität vernichten mußten (nach dem Willen dernationalsozialistischen Völkermordstrategen sollten nach der Ermor-dung der europäischen Juden etwa weitere 30 Millionen Menschen, zu-meist Angehörige slawischer Völker, deportiert und letztlich ermordetwerden). Besonders das für das jüdisch-mosaische Gesetz so zentraleTötungsverbot mußte aus diesem Grunde nicht nur für den Einzelfall,sondern systematisch überwunden bzw. zerstört werden. Zu der Zeit, alsFreud die zentrale Bedeutung des mosaischen Gesetzes für den gesamtenZivilisationsprozeß erkennt und behauptet, erklärt Hitler dieses für denzu beseitigenden Irrtum der Geschichte:

»Wir beenden einen Irrweg der Menschheit. Die Tafeln vom Berge Sinai haben ihre Gültig-keit verloren. Das Gewissen ist eine jüdische Erfindung. Es ist wie die Beschneidung, eineVerstümmelung des menschliches Wesens« (Rauschning 1940, S. 210).

Auschwitz, so lautet Gunnar Heinsohns zentrale Schlußfolgerung in sei-

282 Wolfgang Hegener

Bezahlt von Michael Heckeroth ([email protected])

© Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

ner grundlegenden und viel zu wenig rezipierten Studie Warum Ausch-witz?, »war der Völkermord für die Wiederherstellung des Rechtes aufVölkermord« (1995, S. 18).

Wenn wir erneut den Gedanken Freuds aufnehmen, daß das Christen-tum eine »Sohnesreligion« ist, so wird noch eine weitere, gleichsam anti-ödipale Konsequenz evident. Diese zeigt sich nämlich nicht nur in der»Beseitigung« des Vaters, sondern auch (und damit zusammenhängend)in der Beziehung zwischen Jesus und Maria. Wenn Jesus, was im Chri-stentum (speziell im Zuge der Dogmatisierung der Trinität – vgl. dazuHegener 2004, S. 55–72) geschieht, von einem profanen Menschen zu ei-nem Gott erhoben werden soll, muß das Problem seiner Geburt neu ge-regelt, Jesus aus dem Fortpflanzungsprozeß der Sünde13

13 Auch hier zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zur rabbinischen Auffassung. Nachchristlicher Vorstellung, dies wurde schon durch Paulus formuliert (vgl. etwa Galater 5,17),ist die (Erb-)Sünde die zwangsläufige Folge der Leiblichkeit und Triebhaftigkeit des Men-schen. Nach rabbinischer Vorstellung ist die ausschließliche Ursache für das Böse und dieSünde in der Willensfreiheit des Menschen zu suchen, der sich für oder gegen das Gute ent-scheiden kann – und nur daraus begründet sich die geschöpfliche Sonderstellung des Men-schen. Die Existenz des Bösen ist also allein über den Menschen als handelnde Person be-gründet und nicht in seiner Triebhaftigkeit als solcher (vgl. Grözinger 2004, S. 273). DasBöse wird auch nicht, wie in den dualistischen und gnostischen Religionssystemen, als eineeigene kosmische Kraft angesehen. Die Konsequenz des strikten Monotheismus liegt dar-in, daß wir Menschen die Verantwortung für das Böse von Gott übernehmen müssen.

– und damitauch der Schuld – herausgenommen werden. Das wiederum setzt abervoraus, daß Maria selbst von der Erbsünde ausgenommen wird: Sie mußvor der Geburt Jesu eine Jungfrau gewesen sein, ihn jungfräulich gebo-ren haben und auch nach seiner Geburt jungfräulich geblieben sein. DasDogma von der »unbefleckten Empfängnis«, das 1854 formuliert wird,geht jedoch noch einen Schritt weiter: es besagt nicht im zuletzt gehörtenSinne, daß Maria Jesus als Jungfrau geboren hat, sondern daß sie selberohne sexuelles Zutun empfangen wurde. Die Vergöttlichung Jesu schafftalso und setzt die Vorstellung einer (doppelten) trieblosen Zeugung vor-aus, die den Vater ausschließt und Mutter und Sohn in scheinbar asexuel-ler und exklusiver Weise verbindet. In der christlichen Ikonographie bil-den die »Gottesgebärerin« Maria und der zum Gottmenschen erhobeneJesus das ideale Paar – und dies um den Preis eines mehrfachen Aus-schlusses: Ausgeschlossen bleiben der zeugende Vater und die sexuellePotenz der Frau, und ausgeschlossen wird damit das ödipal-sexuelle El-ternpaar. Von entscheidender Bedeutung scheint mir zu sein, daß dieserAusschluß mit der Verleugnung von Schuld einhergeht – ein Zusammen-hang, der etwas später noch einmal aufgegriffen werden soll.

Die Freudsche Konzeption des kulturellen Gedächtnisses 283

Bezahlt von Michael Heckeroth ([email protected])

© Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

Freud geht noch weiter in seiner kühnen Konstruktion. Er bringt denSchöpfungsakt des Christentums mit der Nachwirkung der Ammonreli-gion, die Echnaton mit seinem monotheistischen System überwindenwollte, in Verbindung. Er schreibt: »Der Triumph des Christentums warein erneuter Sieg der Ammonpriester über den Gott Ikknatons nach an-derthalbtausendjährigem Intervall und auf erweitertem Schauplatz«(1939a, S. 195). Hier sehen wir also das schon beschriebene traumatischeMuster der Wiederkehr des Verdrängten am Werke: die verdrängte poly-theistische Religion der Ägypter setzt sich gegen den strengen jüdischenMonotheismus nachträglich wieder durch (Wiedereinsetzung der Mut-tergottheit, Auflösung des Monotheismus in die Trinität, Heiligenvereh-rung etc.). Freud hatte dabei vornehmlich einen bestimmten Zusammen-hang im Sinn: Er meinte ja, wie wir bereits gehört haben, daß im Chri-stentum die im Judentum in Verdrängung gehaltene Ermordung des Ur-Vaters bzw. des Moses in entstellter Weise wiederkehre, als Opferung desSohnes, der gerade durch diesen Akt zum Gott erhoben werde. Und ge-nau dies führt dazu – und diesen Punkt möchte ich besonders betonen –,daß sich im Christentum das Verhältnis zur Schuld gravierend verändert.Nach christlicher Lehre hat die Erlösung durch den Tod Jesu Christinämlich bereits stattgefunden. Der Sohn Gottes nimmt alle Schuld aufsich, so daß nicht mehr, wie Freud kritisch anfügt, die Mordtat und dieSchuld erinnert werden muß14

14 Daß Freud nicht nur die reale Tat im Sinne hatte, macht eine Stelle aus dem Unbehagen inder Kultur deutlich. Dort schreibt er: »Es ist wirklich nicht entscheidend, ob man den Vatergetötet hat oder sich der Tat enthalten hat, man muß sich in beiden Fällen schuldig finden,denn das Schuldgefühl ist der Ausdruck des Ambivalenzkonfliktes« (1930a, S. 492). DieTriftigkeit von Freuds zentralen Annahmen über den Zusammenhang von Vater-Mord,Traditionsbildung, Trauma und Schuld hängen also nicht daran, dies dürfen wir aus dem Zi-tat folgern, ob sie in einem positivistischen Sinne historisch bewiesen werden können odernicht.

, sondern ihre Sühnung und eine Erlösung(Evangelium) phantasiert werden kann. Die »wahnhaft« eingekleidetefrohe Botschaft lautet nun: »Wir sind von aller Schuld erlöst, seitdem ei-ner von uns sein Leben geopfert hat, um uns alle zu entsühnen« (S. 244).Der neue Glaube werfe somit alle Hindernisse nieder. Anders als im Ju-dentum, wo »für den direkten Ausdruck des mörderischen Vaterhasseskein Raum« (S. 243) sei, lasse das Christentum an »die Stelle der beseli-genden Auserwähltheit« die »befreiende Erlösung« treten und ersetzedas »unnennbare Verbrechen« durch eine »eigentlich schattenhafte Erb-sünde« (S. 244). Der christliche Antisemitismus begründet sich aus die-ser Schuldabwehr heraus, und der sich einer Projektion verdankendeVorwurf lautet nun: Ihr habt unseren Gott getötet! Und Freud meint, der

284 Wolfgang Hegener

Bezahlt von Michael Heckeroth ([email protected])

© Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

Zusatz müsse heißen: »Wir haben freilich dasselbe getan, aber wir habenes zugestanden und wir sind seither entsühnt« (S. 196). Die Abwehr und»Beschwichtigung des Schuldbewußtseins« (Freud 1912–13a, S. 184)wurde erkauft durch die exzessive Projektion mörderischer Absichtenund Taten auf und die Identifikation »der Juden« mit dieser Schuld. Die-ser unbegriffene Schuld(abwehr)zusammenhang, der schon in der An-fangszeit des Christentums entstanden ist15

15 So fällt etwa auf, daß in den Evangelien des Neuen Testaments (von Markus, Matthäus,Lukas bis zu Johannes) zunehmend aggressiver kollektiv »die Juden« für den KreuzestodJesu verantwortlich gemacht und komplementär die Römer immer stärker exkulpiert wer-den. Die Beschuldigung gipfelt im Matthäusevangelium gewissermaßen in einer erstenKollektivschuldhypothese. Nachdem die Pharisäer das Volk dazu überredet haben, Barab-bas zu begnadigen und Jesus hinzurichten und Pontius Pilatus seine Hände in Unschuld ge-waschen und gesprochen hat: »Ich bin unschuldig an seinem Blute; seht ihr zu« (Matthäus27, 24), läßt der Evangelist das ganze jüdische Volk ausrufen: »Sein Blut komme über unsund unsere Kinder!« (Matthäus 27, 25).

, wurde über Generationenhinweg weitergegeben und ins kollektive kulturell-unbewußte Gedächt-nis des Abendlandes eingeschrieben (vgl. dazu aus psychoanalytischerPerspektive insbesondere die Studie von Grunberger u. Dessuant 1997).Der entscheidende motivierende Faktor des Antisemitismus ist mithin,wie wir aus der Analyse Freuds zusammenfassend schließen dürfen, eineAbwehr von Schuldgefühlen und die Unfähigkeit, depressive Schuld zuempfinden (vgl. dazu Beland 1991; Hegener 2006a).

Wie sehr diese Unfähigkeit, Schuld zu empfinden bzw., um es mit M.Klein (1935) zu sagen, die »depressive Position« zu erreichen, mit demweiter oben aufgezeigten Scheitern ödipaler Konflikte zusammenhängt,das hat Ronald Britton (1998) in einer klärenden Arbeit dargestellt. Ergeht mit M. Klein davon aus, daß sich die Frühstadien des Ödipuskom-plexes und die depressive Position gleichzeitig entwickeln. Das Kind er-reicht die depressive Position quasi natürlich durch seine sich entwik-kelnden Fähigkeiten, wahrzunehmen, zu erkennen und zu erinnern,mithin also die Objekte in einer weniger spaltenden denn mehr ganzheit-lichen Weise zu erleben. »Die depressive Position erweitert [aber; W.H.]nicht nur das Bewußtsein und das Wissen des Kindes, sie bricht auch inseine bestehende psychische Welt ein« (S. 51). Es muß nun schmerzlicherkennen, daß die Quelle alles Guten, die in der unbewußten Phantasieals ideale Brust geliebt wird, dasselbe Objekt ist, das das Kind als Ur-sprung alles Schlechten erlebt und in aggressiver Weise angegriffen hat(die gehaßte böse Brust). Britton meint, daß wir, nachdem wir vom Baumder Erkenntnis gegessen haben und aus dem Paradies vertrieben wurden,in beiderlei Sinn des Worts die Unschuld verloren haben: Wir sind nicht

Die Freudsche Konzeption des kulturellen Gedächtnisses 285

Bezahlt von Michael Heckeroth ([email protected])

© Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

länger unschuldig, weil wir etwas nicht wissen, und wir haben die Fähig-keit entwickelt, Schuld zu empfinden über unser Tun und Phantasieren.Der damit verbundene (schmerzhafte) Zuwachs an Realitätswahrneh-mung und Erkenntnis über das nunmehr »ganze Objekt« betrifft auch dasödipale Wissen. Das Kind weiß nun, daß die Eltern in einer bestimmtenWeise, nämlich sexuell, miteinander verbunden sind, die es ausschließt. Sowie die omnipotente Vorstellung trauernd aufgegeben werden muß, dasgeliebte Objekt besitzen zu können, so muß auch der Wunsch, allein denbegehrten Elternteil in Besitz zu nehmen, aufgegeben werden. Mißlingtdieser Schritt, so wird die ungetrübte ödipale Beziehung in einen vomLustprinzip beherrschten Teil, in eine »Schonung« (Freud) abgespaltenund existiert dort weiter. Man gibt sich dann gewissermaßen dauerhaft derIllusion hin, man befinde sich noch im Paradies, also in einem vorödipalenZustand, in dem es keinen Geschlechtsunterschied, keine Geschichte, kei-nen Tod und eben keine Schuld gibt. Wenn dies zur Erlösungsbotschaft ei-ner Religion erhoben wird, wird der abgespaltene Haß auf die die »ödipaleRomanze« störenden Dritten projiziert, die in der christlichen Geschichtevornehmlich »die Juden« sind (vgl. dazu vor allem Grunberger u. Dessu-ant 1998).

Der entscheidende Reifungsschritt liegt nicht nur für den Einzelnen,sondern für die Gesellschaft insgesamt darin, die »depressive Position« zuerreichen, also in einem schmerzlichen Prozeß allmählich fähig zu wer-den, depressive Schuld auszuhalten und sie nicht exzessiv projizieren undim anderen verfolgen zu müssen. Hermann Beland (1993) hat vor einigenJahren in diesem Sinne bemerkt, daß das Aushalten von Schuldgefühlenund die Toleranz ihnen gegenüber die »zentrale europäische Utopie« dar-stellt; nur so können wir uns in die Lage versetzen, den noch immer gras-sierenden und gewaltförmigen Projektionen unserer eigenen unbewältig-ten Destruktivität auf die anderen (Feinde, Fremde) Einhalt zu gebieten.Vielleicht liegt hierin das entscheidende und längst nicht eingelöste Ver-mächtnis des letzten und großen Buches von Sigmund Freud.

Anschrift des Verf.: Dr. phil. Wolfgang Hegener, Nassauische Str. 30, D-10717 Berlin,[email protected]

bibliographie

Assmann, J. (1997): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identitätin frühen Hochkulturen. München (Beck).

– (1998): Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. München (Hanser).– (2004): Sigmund Freud und das kulturelle Gedächtnis. Psyche – Z Psychoanal 57, 1–25.

286 Wolfgang Hegener

Bezahlt von Michael Heckeroth ([email protected])

© Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

Beland, H. (1991): Religiöse Wurzeln des Antisemitismus. Bemerkungen zu Freuds »MannMoses und die monotheistische Religion« und zu einigen neueren psychoanalytischenBeiträgen. Psyche – Z Psychoanal 45, 448–470.

– (1993): Umwälzungen gebären alte Geister neu – Das verunsicherte Europa. Psyche – ZPsychoanal 47, 378–396.

– (2007): Kollektive Trauer – Wer oder was befreit ein Kollektiv zu seiner Trauer? Vortrag,gehalten auf der DPG-Jahrestagung im Mai 2007 in Stuttgart.

Benz, W. (2004): Was ist Antisemitismus? München (Beck).Bernstein, R. J. (1998): Freud und das Vermächtnis des Moses. Übers. D. Westerkamp. Ber-

lin (Philo) 2003.Blumenberg, Y. (1996): Psychoanalyse – eine jüdische Wissenschaft? Forum Psychoanal 51,

156–178.– (2006): »Der Jude ist selbst zur Frage geworden« (E. Jabes) oder: »die Annahme des Va-

ters« (S. Freud). In: W. Hegener (Hg.) (2006c), 63–85.Britton, R. (1998): Ödipus in der depressiven Position. In: Ders.: Glaube, Phantasie und

psychische Realität. Psychoanalytische Erkundungen. Übers. A. Vaihinger. Stuttgart(Klett-Cotta) 2001.

Brumlik, M. (2006): Sigmund Freud. Der Denker des 20. Jahrhunderts. Weinheim, Basel(Beltz).

Chasseguet-Smirgel, J. (1986): Das Grüne Theater. Ein Versuch einer Interpretation kol-lektiver Äußerungen einer unbewußten Schuld. In: Dies.: Zwei Bäume im Garten. Zurpsychischen Bedeutung der Vater- und Mutterbilder. Übers. E. Moldenhauer. Stuttgart(Verlag Internationale Psychoanalyse) 1992.

Claussen, D. (2005): Grenzen der Aufklärung. Die gesellschaftliche Genese des modernenAntisemitismus. Frankfurt/M. (Fischer).

Derrida, J. (1995): Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression. Übers. H.-D.Gondek u. H. Naumann. Berlin (Brinkmann & Bose) 1997.

Eickhoff, F.-W. (2004): Über die »unvermeidliche Kühnheit«, »Erinnerungsspuren an dasErleben früherer Generationen« anzunehmen. Wie unentbehrlich ist der von Freud er-schlossene phylogenetische Faktor? Psyche – Z Psychoanal 58, 448–457.

Freud, S. (1900a): Die Traumdeutung. GW II/III.– (1912–13a): Totem und Tabu. GW IX.– (1915c): Triebe und Triebschicksale. GW X, 210–232.– (1923b): Das Ich und das Es. GW XIII, 237–289.– (1930a): Das Unbehagen in der Kultur. GW XIV, 419–506.– (1935a): Nachschrift 1935 [zur »Selbstdarstellung«]. GW XIV, 31–34.– (1935d): Ergänzungen zur »Selbstdarstellung«. GW, Nachtr., 763f.– (1937b): Moses, ein Ägypter. Imago, Bd. 23 (1937), 5–13. [Enthalten in (1939a).] GW

XVI, 103–113.– (1937e): Wenn Moses ein Ägypter war … Imago, Bd. 23 (1937), 387–419. [Enthalten in

(1939a).] GW XVI, 114–155.– (1939a): Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Drei Abhandlungen. GW

XVI, 103–246.– (1985c): Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904. Hg. v. J.M. Masson. Bearbeitung der dt.

Fassung v. M. Schröter. Transkription v. G. Fichtner. Frankfurt/M. (Fischer) 1986.–, u. L. Andreas-Salome (1966a [1912–36]): Briefwechsel. Frankfurt/M. (Fischer).–, u. A. Zweig (1968a [1927–39]): Briefwechsel. Frankfurt/M. (Fischer).Frindte, W. (2006): Inszenierter Antisemitismus. Eine Streitschrift. Wiesbaden (Verlag für

Sozialwissenschaften).Grözinger, K. E. (2004): Jüdisches Denken. Theologie – Philosophie – Mystik. Band 1: Vom

Gott Abrahams zum Gott des Aristoteles. Frankfurt/M., New York (Campus).Grubrich-Simitis, I. (1991): Freuds Moses-Studie als Tagtraum. Stuttgart (Verlag Interna-

tionale Psychoanalyse).

Die Freudsche Konzeption des kulturellen Gedächtnisses 287

Bezahlt von Michael Heckeroth ([email protected])

© Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

– (1993): Zurück zu Freuds Texten. Stumme Dokumente sprechen machen. Frankfurt/M.(Fischer).

Grunberger, B., u. P. Dessuant (1997): Narzißmus, Christentum, Antisemitismus. Einepsychoanalytische Untersuchung. Übers. M. Looser. Stuttgart (Klett-Cotta) 2000.

Hegener, W. (1997): Zur Grammatik psychischer Schrift. Systematische und historischeUntersuchungen zum Schriftgedanken im Werk Sigmund Freuds. Tübingen (editiondiskord).

– (2001): Wege aus der vaterlosen Psychoanalyse. Vier Abhandlungen über Freuds »MannMoses«. Tübingen (edition diskord).

– (2004): Erlösung durch Vernichtung. Zur Psychoanalyse des christlichen Antisemitis-mus. Gießen (Psychosozial-Verlag).

– (2006a): Antisemitismus – Judentum – Psychoanalyse. Einleitung. In: W. Hegener (Hg.)(2006c), 7–28.

– (2006b): »Wie der Jude geworden ist und warum er sich diesen unsterblichen Haß zuge-zogen hat«. Einige Überlegungen zur Entstehungsgeschichte von Freuds »Der MannMoses und die monotheistische Religion«. Z Psychoanal Theor Prax 21, 474–495.

– (2006c) (Hg.): Das unmögliche Erbe. Antisemitismus – Judentum – Psychoanalyse. Gie-ßen (Psychosozial-Verlag).

Heinsohn, G. (1995): Warum Auschwitz? Hitlers Plan und die Ratlosigkeit der Nachwelt.Reinbek b. Hamburg (Rowohlt).

Jablonka, E., u. M. Lamb (2005): Evolution in Four Dimensions. Genetic, Epigenetic, Be-havioral, and Symbolic Variation in the History of Life. Cambridge, London (MIT-Press).

Klein, M. (1935): Beitrag zur Psychogenese der manisch-depressiven Zustände. Ges.Schriften, Bd. I, 2. Übers. E. Vorspohl. Stuttgart (frommann-holzboog) 1996, 29–75.

Le Rider, J. (2002): Freud – von der Akropolis zum Sinai. Die Rückwendung zur Antike inder Wiener Moderne. Über. C. Winterhalter. Wien (Passagen) 2004.

Ley, M. (2002): Holocaust als Menschenopfer. Vom Christentum zur politischen Religiondes Nationalsozialismus. Münster (LIT Verlag).

Maccoby, H. (1973): Jesus und der jüdische Freiheitskampf. Übers. W. Müller. Freiburg(Ahriman-Verlag) 1996.

Rauschning, H. (1940): Gespräche mit Hitler. Zürich (Europa Verlag) 2005.Rice, E. (1990): »Freud and Moses«. The Long Journey Home. New York (New York UP).Robert, M. (1974): Sigmund Freud – zwischen Moses und Ödipus. Die jüdischen Wurzeln

der Psychoanalyse. Übers. H. Krieger München (List).Said, E. W. (2003): Freud und das Nicht-Europäische. Mit einer Einführung von Christo-

pher Bollas und einer Replik von Jacqueline Rose. Übers. M. Mandelkow. Zürich (Dör-lemann) 2004.

Scholem, G. (1967): Die Jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt/M. (Suhr-kamp).

Schönbach, P. (1961): Reaktionen auf die die antisemitische Welle im Winter 1959/1960.Frankfurter Beiträge zur Soziologie. Frankfurt/M. (EVA).

Volkan, V. (1999): Das Versagen der Diplomatie. Zur Psychoanalyse nationaler, ethischerund religiöser Konflikte. Übers. A. Pott. Gießen (Psychosozial-Verlag).

Weizsäcker, V. von (1954): Freud. Die Psychotherapeuten. In: Ders.: Ges. Schriften, Bd. 1.Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1986, 115–194.

Yerushalmi, Y. H. (1991): Freuds Moses. Endliches und unendliches Judentum. Übers. W.Heuß. Berlin (Wagenbach) 1992.

Zweig, A. (1996): Freundschaft mit Freud. Ein Bericht. Berlin (Aufbau Verlag).

288 Wolfgang Hegener

Bezahlt von Michael Heckeroth ([email protected])

© Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

Summary

Trauma, guilt, and tradition. Freud’s conception of cultural memory in ›Moses andMonotheism‹. – In the last years of his life, Freud was intensely preoccupied withthe question of the cultural transmission of traumatic events and the significance ofreligious tradition. Proceeding from the highly topical issue of the origins of anti-Semitism, Moses and Monotheism investigates the development and transmissionof traumatic complexes in history. Freud’s theory of cultural memory is by no me-ans straightforwardly Lamarckian but gives central attention to unconscious formsof communication in cross-generational cultural transmission. Freud links thefoundation and origins of society with a fundamental question of guilt and consi-ders its recognition to be crucial for the success of the entire process of civilizationand for the formation of open tradition. He urges western culture, reeling underthe murderous attacks of Nazism, to pay heed to the fundamental ethical, intellec-tual, and spiritual obligations deriving from Mosaic law. We today can derive a»central European utopia« (Beland) from Freud’s ideas. The decisive step towardmaturity involves a painful process that consists in gradually becoming able to su-stain depressive guilt instead of excessively projecting it onto others and persecu-ting those others (Jews, strangers, foreigners, enemies) for that reason.

Keywords: cultural memory, anti-Semitism, forms of transgenerational tradition,recognition of guilt

Resume

Trauma, culpabilite et tradition. La conception freudienne de la memoire cultu-relle dans ›L’homme Moıse et la religion monotheiste‹. – C’est surtout pendant lesdernieres annees de sa vie que Sigmund Freud a etudie la question de la transmis-sion culturelle d’evenements traumatiques et de la signification de la tradition re-ligieuse. Dans L’homme Moıse et la religion monotheiste, il analyse – en partant dela question tres actuelle de l’origine de l’antisemitisme – le developpement et latransmission de complexes traumatiques dans l’histoire. Sa theorie de la memoireculturelle n’est pas simplement lamarckienne, mais elle tient compte de manierecentrale des formes inconscientes de la communication dans une transmissionculturelle trans-generationnelle (Eickhoff). Freud lie la question du fondement etde l’origine de la societe a celle, fondamentale, de la culpabilite dont la reconnais-sance est consideree par lui comme decisive pour la reussite de l’ensemble du pro-cessus culturel et pour la formation d’une tradition ouverte. Il rappelle a la cultu-re occidentale, qui risque de s’effondre sous les attaques meurtrieres du nazisme,le devoir ethique et intellectuel fondamental, impose par la Loi mosaıque. Au-jourd’hui aussi, nous pouvons deduire des reflexions de Freud une »utopie euro-peenne centrale« (Beland): l’etape decisive de maturite consiste a devenir peu apeu capable, a travers un processus douloureux, de supporter une culpabilite de-pressive et de ne pas la projeter de maniere excessive ni de persecuter l’Autre (juif,etranger, ennemi) pour cette raison.

Mots cles: memoire culturelle, antisemitisme, formes de transmission trans-gene-rationnelle, reconnaissance d’une culpabilite

Die Freudsche Konzeption des kulturellen Gedächtnisses 289

Bezahlt von Michael Heckeroth ([email protected])

© Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart