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Psyche – Z Psychoanal 67, 2013, 577–594 www.psyche.de Buchbesprechungen Trimborn, Winfrid: Narzissmus und Melancholie. Zur Problematik blockier- ter Individuation. Gießen (Psychosozial-Verlag) 2011. 453 Seiten, 4 39,90. Der Freiburger Psychoanalytiker Winfrid Trimborn hat eine beeindruckende Summe seiner bisherigen psychoanalytischen Erfahrungen und seines Den- kens in einer umfangreichen Sammlung von Aufsätzen vorgelegt, die um die Themen Narzissmus und Melancholie kreisen und sich querlegen zum Zeit- geist therapeutischer Effektivität und einer Form diagnostischer Klassifika- tion, die glaubt, jegliche ätiologischen und psychodynamischen Erklärungen für überflüssig erklären zu können. Dieses Buch will explizit kein systema- tisches Lehrbuch und schon gar kein behandlungstechnisches Manual sein, sondern beansprucht ganz zu Recht, in mehreren Anläufen und unter ver- schiedenen Perspektiven die Psychodynamik und spezielle Problematik de- pressiver und narzisstischer Erkrankungen (in ihrem Zusammenwirken) zu erfassen. Die dafür unbedingt erforderliche Erfahrungsbasis, wie der Autor anhand von ausführlichen und subtilen Fallbeschreibungen überzeugend dar- legt, entsteht allein durch lang dauernde analytische Behandlungen. Und allein in ihnen kann das, was verdinglichend »Störung« genannt wird, in ein inneres Erleben überführt werden und den Symptomen Bedeutung zukom- men – was wiederum Voraussetzung für dauerhafte Wandlungsprozesse ist. In solchen »Behandlungen«, die vielmehr ein wechselseitiges Beziehungsge- schehen bilden, kommt es notwendig und unumgänglich zu emotionalen Ver- strickungen, die immer wieder zur Sprache gebracht und geduldig durchgear- beitet werden müssen. Es geht mithin um eine Arbeit, deren Relevanz und Schwierigkeit zunehmend unterschätzt und banalisiert wird. Oft wird sie, wie Trimborn weiter zeigt, erst gar nicht in Angriff genommen; man beschränkt sich auf die offensichtlich-lärmende Symptomatik und lässt sich nicht weiter auf die dahinter verborgene narzisstisch-depressive Grundstörung ein, da diese beim Therapeuten eine Invasions- und Inkompetenzangst auslöst und von diesem nicht selten auf Kosten der Patienten abgewehrt wird (so berichtet Trimborn von einem Kollegen, der zu einer Patientin sagte: »Ich lasse mich von Ihnen nicht zerstören« und die Behandlung mit der Feststellung been- dete, sie sei nicht therapierbar). In einem originellen Ansatz verbindet Trimborn zur Erklärung der patho- logischen Prozesse integrierend verschiedene psychoanalytische Perspek- tiven und gestaltet sie schlüssig zu einem Gesamtansatz aus. Ausgehend von Freuds früher Beschreibung und Deutung melancholischer Vorgänge und unter Zuhilfenahme weiterer Ansätze (E. Jakobson, A. Green, Winnicott, Lacan, Racamier, Glasser und viele mehr) bietet der Autor einen theo- retischen Bezugsrahmen an, um die recht vielfältigen depressiven Erschei- nungsbilder zu verstehen und sie systematisch in einen Zusammenhang mit narzisstischen Störungen zu setzen. Zusammenfassend ergibt sich folgendes Modell: Ausgehend von traumatischen Störungen der frühen Beziehung des Bezahlt von Michael Heckeroth ([email protected]) © Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

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Buchbesprechungen

Trimborn, Winfrid: Narzissmus und Melancholie. Zur Problematik blockier-ter Individuation. Gießen (Psychosozial-Verlag) 2011. 453 Seiten, 4 39,90.

Der Freiburger Psychoanalytiker Winfrid Trimborn hat eine beeindruckendeSumme seiner bisherigen psychoanalytischen Erfahrungen und seines Den-kens in einer umfangreichen Sammlung von Aufsätzen vorgelegt, die um dieThemen Narzissmus und Melancholie kreisen und sich querlegen zum Zeit-geist therapeutischer Effektivität und einer Form diagnostischer Klassifika-tion, die glaubt, jegliche ätiologischen und psychodynamischen Erklärungenfür überflüssig erklären zu können. Dieses Buch will explizit kein systema-tisches Lehrbuch und schon gar kein behandlungstechnisches Manual sein,sondern beansprucht ganz zu Recht, in mehreren Anläufen und unter ver-schiedenen Perspektiven die Psychodynamik und spezielle Problematik de-pressiver und narzisstischer Erkrankungen (in ihrem Zusammenwirken) zuerfassen. Die dafür unbedingt erforderliche Erfahrungsbasis, wie der Autoranhand von ausführlichen und subtilen Fallbeschreibungen überzeugend dar-legt, entsteht allein durch lang dauernde analytische Behandlungen. Undallein in ihnen kann das, was verdinglichend »Störung« genannt wird, in eininneres Erleben überführt werden und den Symptomen Bedeutung zukom-men – was wiederum Voraussetzung für dauerhafte Wandlungsprozesse ist.In solchen »Behandlungen«, die vielmehr ein wechselseitiges Beziehungsge-schehen bilden, kommt es notwendig und unumgänglich zu emotionalen Ver-strickungen, die immer wieder zur Sprache gebracht und geduldig durchgear-beitet werden müssen. Es geht mithin um eine Arbeit, deren Relevanz undSchwierigkeit zunehmend unterschätzt und banalisiert wird. Oft wird sie, wieTrimborn weiter zeigt, erst gar nicht in Angriff genommen; man beschränktsich auf die offensichtlich-lärmende Symptomatik und lässt sich nicht weiterauf die dahinter verborgene narzisstisch-depressive Grundstörung ein, dadiese beim Therapeuten eine Invasions- und Inkompetenzangst auslöst undvon diesem nicht selten auf Kosten der Patienten abgewehrt wird (so berichtetTrimborn von einem Kollegen, der zu einer Patientin sagte: »Ich lasse michvon Ihnen nicht zerstören« und die Behandlung mit der Feststellung been-dete, sie sei nicht therapierbar).

In einem originellen Ansatz verbindet Trimborn zur Erklärung der patho-logischen Prozesse integrierend verschiedene psychoanalytische Perspek-tiven und gestaltet sie schlüssig zu einem Gesamtansatz aus. Ausgehend vonFreuds früher Beschreibung und Deutung melancholischer Vorgänge undunter Zuhilfenahme weiterer Ansätze (E. Jakobson, A. Green, Winnicott,Lacan, Racamier, Glasser und viele mehr) bietet der Autor einen theo-retischen Bezugsrahmen an, um die recht vielfältigen depressiven Erschei-nungsbilder zu verstehen und sie systematisch in einen Zusammenhang mitnarzisstischen Störungen zu setzen. Zusammenfassend ergibt sich folgendesModell: Ausgehend von traumatischen Störungen der frühen Beziehung des

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Kindes zu einer kontinuierlich versorgenden Umgebung kommt es zu einem»Riss oder Bruch in der Kontinuität der Entwicklung und zu einem vor-zeitigen, äußerst schmerzhaften Gewahrwerden von Abhängigkeit undTrennung«. Da das noch unreife bzw. rudimentäre Ich des Kindes zu einerBewältigung nicht in der Lage ist, entsteht ein »inneres Trauma«, zumal dieMutter, die aufgrund archaisch-ambivalenter Emotionen als höchst bedroh-lich erlebt wird, noch nicht als ein getrenntes Objekt verinnerlicht und alshilfreich empfunden werden kann. In der Folge setzt das Kind exzessiv pri-mitive Abwehroperationen ein, um die vorzeitige Trennung und das Gefühlabsoluter Abhängigkeit ungeschehen zu machen und nicht fühlen zu müs-sen. Zu den eingesetzten Abwehrmechanismen zählt vor allem der Versuch,durch die Herstellung einer projektiv-identifikatorischen Symbiose die ge-fährlichen Gefühle zu kontrollieren. Damit einher gehen, wie Trimborn be-tont, autistoide und narzisstische Phänomene des Rückzugs bzw. der Ein-betonierung.

Wichtig bei diesem Ansatz ist die Einordnung des traumatischen Gesche-hens in einen psychodynamischen Gesamtzusammenhang: So wird die pa-thogene Einwirkung der Eltern zwar zentral berücksichtigt, zugleich aber ge-zeigt, dass die in Frage stehenden Krankheitsbilder erst als das Resultat einerAbwehrorganisation gegen die durch die traumatischen Übergriffe verur-sachte psychische Desorganisation wirklich verständlich werden. Die so ent-stehenden »frühen Störungen« sind zugleich auch als »inzestuöse Strukturen«zu verstehen (stehen also nicht im Gegensatz zum ödipalen Modell): Die nar-zisstische Identifizierung als Folge der Erschütterung der frühen Mutter-Kind-Beziehung, die zu einer ständigen Suche fusionärer Beziehungen führt,zeichnet sich durch den Ausschluss oder die Entwertung eines Dritten aus,der zumeist der Vater ist und selbst erheblich zum Geschehen beiträgt – ja, ingewisser Weise stellt die narzisstisch-inzestuöse Beziehung die stärkste Ab-wehr überhaupt dar (Racamier). Neben der damit verbundenen Verleugnungder archaischen Ambivalenz dem primären Objekt gegenüber kommt esdurch die globale, exzessive und anhaltend regressive narzisstische Identifizie-rung zu einer »Auslöschung des Objekts« bzw. einem dem Bewusstsein ent-zogenen Objektverlust – Green spricht in diesem Zusammenhang von einem»Mord ohne Hass«. Trimborn kann, ausgehend von diesen Überlegungen, zueiner wichtigen Präzisierung kommen: Entscheidend ist nicht allein die ge-störte Objektbeziehung oder das Trauma des Objektverlustes, sondern »dieVerleugnung des Objektversagens bzw. des Objektverlustes durch die melan-cholische Auslöschung des Ichs«. Verbunden mit der Unfähigkeit, die perma-nente Anwesenheit eines »äußeren« Objektes zu ertragen, ist zumeist wenigereine klassische depressive Symptomatik als vielmehr das Erleben von Leere,süchtig-perverse Beziehungsformen, Panik und psychotische Symptome.Eine weitere schwerwiegende Folge eines solchen Geschehens ist der Verlustdes Übergangsraumes bzw. der damit einhergehenden Fähigkeit zu spielenund zu symbolisieren (manifestiert als konkretistisches Denken, Sprachlosig-keit und Denkstörungen).

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Nach dieser grundlegenden Charakterisierung kommt Trimborn zu einerhilfreichen Unterscheidung der pathologischen Entwicklung und Abwehror-ganisation: Es komme entweder zu einer Überbesetzung des Ichs oder desObjekts, jeweils auf Kosten des anderen Pols. Bei den melancholischen Er-krankungen mit klassischer Symptomatik gibt sich das Ich auf und versucht,sich ganz mit dem Objekt zu identifizieren, um jede Form von Trennung, Be-grenzung und Verlust ungeschehen zu machen (»Desubjektivierung«). Aufder anderen Seite, bei den vorwiegend narzisstischen Persönlichkeiten, ver-meidet das Subjekt »die Wahrnehmung und Anerkennung des Objekts alseigenständiges Subjekt« und jegliche Form von Abhängigkeit (»Desobjekti-vierung«). Dies dürfe aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass so narzisstischgestörte Menschen in einer geheimen Symbiose am Objekt festzuhalten undes omnipotent zu kontrollieren versuchen. Unterscheiden sich diese beidenGruppen von Persönlichkeiten also hinsichtlich der Betonung des einen oderanderen Pols, so sind sie doch oft in Partnerschaften in einer »symbiotischenKollusion« verbunden. Um die Illusion von Sicherheit und Vollkommenheitaufrechterhalten zu können, muss so oder so die Differenz und Eigenständig-keit von Subjekt und Objekt strikt verleugnet werden. Hinter der jeweiligenAbwehr zeigen sich oft ein mörderischer Hass und Impulse zerstörerischenVerschlingens und Ausstoßens. Das Auftauchen des Anderen und der Verlustder unbewussten fusionären Phantasie bedeutet dann ein Fallen-gelassen-Werden und die Zerstörung einer ganzen inneren Welt (und ist verbunden mitparanoiden und psychotischen Ängsten).

Trimborn betont nun in einem nächsten Schritt (mit Winnicott), der mirgerade im Hinblick auf schwierige Behandlungssituationen sehr wichtig er-scheint und vielleicht noch weiterer Ausformulierung bedürfte, dass derKranke nur mittels »maximaler Destruktivität« das subjektive Objekt aus sei-ner Kontrolle entlassen und als ein unabhängiges »objektives« Objekt aner-kennen kann. Bedeutet dies zwar einerseits einen Reifungsschritt, so ist erdoch mit der labilisierenden Phantasie der Zerstörung eines idealisierten inne-ren Zustandes und eines idealen Objekts verbunden, der aufgrund der exzes-siven narzisstischen Identifikation als Selbstverlust erlebt wird. In psychoana-lytischen Behandlungen, wenn sie denn ihren Namen verdienen, kommt esentscheidend darauf an, dass das primäre Trauma Eingang in die analytischeBeziehung findet. Nur durch die Zerstörung der omnipotenten Abwehr, dieals Katastrophe erlebt wird, kann die Vernichtungsangst symbolisiert werdenund der Analysand lernen, den Trauerschmerz auszuhalten, und zu einer An-erkennung von Mangel und Begrenzung kommen. Wenn es zu einer solchenAufgabe der Omnipotenz und einer Ablösung vom Primärobjekt kommt, tre-ten sowohl oft unerträgliche (zumeist erst paranoide) Schuldgefühle als auchextreme Verlust- und Verlassenheitsängste auf – Green hat diesen Prozess alsden Übergang von einer weißen zu einer schwarzen Melancholie beschrieben.Nicht wenige Analysanden erleben das Aufbrechen der narzisstischen Ab-wehr bzw. des autistisch-schizoiden Rückzugs als enorme Bedrohung, ja alsWiederholung des primären Traumas, mithin also als ein Fallen ins Bodenlose

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und als eine katastrophische Veränderung (Bion) – Trimborn spricht auch voneiner »Gefahr der Heilung«. Dies alles kann den analytischen Prozess gefähr-den und macht mitunter die Grenzen therapeutischer Hilfe deutlich. Analy-tiker und Analysanden haben in solch schwierigen Situationen, in denen esum Leben und Tod geht, vor allem eines aufzubringen, wie Trimborn miteiner schönen Formulierung sagt: »geduldige Leidenschaft«.

Trimborn beschreibt weiter, dass es entscheidend wichtig ist, dass dasschwache Subjekt die Zerstörung bzw. den Verlust seiner omnipotenten Ab-wehr überlebt, und greift in diesem Zusammenhang die Unterscheidung vonGlasser zwischen einer selbsterhaltenden und einer sadomasochistischen Ge-walt auf. Hass muss in diesem Prozess (auch und gerade vom Analytiker) zu-gelassen und integriert werden. Ja, ohne Zerstörung, wie bereits angedeutet,gibt es keinen Ausweg aus der narzisstischen Sackgasse und kann das subjek-tive Objekt nicht nach außen gestellt und als getrenntes und eigenständigesObjekt außerhalb der eigenen Omnipotenz anerkannt werden. Oder andersformuliert: Das gute Objekt zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es die mitAbhängigkeit und Trennung verbundene Aggressivität und Gewalt ohne Ver-nichtungsangst aushält und erträgt.

Neben dieser Beschreibung des grundlegenden Modells, das Trimborn inseinem Buch in mehreren Anläufen vorstellt, kann ich aus Platzgründen nurnoch auf einige wenige Punkte stichwortartig hinweisen. Besonders erhel-lend ist etwa das, was Trimborn zum analytischen Rahmen zu sagen hat. Umden beschriebenen Entwicklungsvorgang zu ermöglichen, ist es wichtig, dassder Analytiker einen Raum schafft und aufrechterhält, den die Analysandenfür »einen selbstorganisierenden Prozess und kreative Neuentscheidungen«nutzen können. Solche sensiblen Vorgänge dürfen nicht durch ein Manage-ment (aktives Eingreifen, vorschnelle Interpretationen) zunichte gemachtwerden. Ein fester und verbindlicher Rahmen schafft auch erst die Möglich-keit, dass die unumgängliche Abwesenheit des Analytikers ertragen werdenkann. Nur in der und durch die (gleichsam gerahmte) Abwesenheit kann sichder Affekt mit dem Objekt dauerhaft verbinden und zugleich eine Differenzschaffen. Und mehr noch: Nur durch Abwesenheit kann der Verlust symbo-lisiert werden und, was die Notwendigkeit der Ermöglichung und Bearbei-tung der negativen Übertragung unterstreicht, durch die Präsenz des »bö-sen« Objekts die Dauerhaftigkeit eines »guten Objekts« geschaffen werden(Bion, Loch).

Wie fruchtbar dieser Ansatz ist, zeigt sich schließlich auch anhand der subtilinterpretierten Literatur und Filme, die Trimborn gleichsam als klinisches Ma-terial benutzt und wie Behandlungsverläufe liest. Ich möchte hier exempla-risch eine dieser Analysen wenigstens kurz erwähnen. Die Geschichte derHauptfigur des Films Das Piano, der stummen Ada, und ihre Beziehung zuihrem Flügel sowie zu ihrem Mann und ihrem Liebhaber versteht Trimbornals die Entwicklung aus einem narzisstischen bzw. autistischen Rückzug ineine libidinöse Objektbeziehung hinein. Am Ende der Filmerzählung fordertAda ihren neuen Partner auf, ihren Flügel, ihr idealisiertes autistisches Objekt,

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ins Meer zu stoßen. Dabei wickelt sich ein Seil um ihren Fuß und reißt sie mitins Wasser. Erst im allerletzten Moment löst sie sich aus der Verstrickung undentscheidet sich für das Leben. Dies ist als Beschreibung einer »katastrophi-schen Veränderung« zu begreifen, die nur aufgrund der vorangegangenen Ge-schichte als ein dramatisches Geschehen aus Sexualität, Zerstörung und (psy-chischer) Geburt verständlich wird. Hilfreich ist dabei ihr Liebhaber, der es(anders als ihr Ehemann, der mit ihr in einer heillosen sadomasochistischenKollusion verstrickt ist) in einem zähen und geduldigen Ringen schafft, Adavon ihrem autistoiden Objekt zu lösen und ihre narzisstisch-omnipotente Au-tarkie aufzubrechen.

Um auf den Anfang zurückzukommen: Erst die Erfahrung intensiver, langandauernder und zum Kern der Störung vordringender analytischer Behand-lungen, die unausweichlich und notwendig mit emotionalen Stürmen verbun-den ist, schafft die Grundlage einer Theoriebildung, wie sie uns Trimborn inseinem Buch vorstellt. Nur durch das strikt methodische Vorgehen der Psy-choanalyse, das durch nichts zu ersetzen und einmalig gegenüber jeder ande-ren Form der Erfahrungsbildung ist, ist letztlich ein Fortschritt in der Theoriemöglich. Er verdankt sich dem alten und vielfältig geschmähten Junktim vonForschen und Heilen, dessen Aktualität uns Trimborn in beeindruckenderWeise in seinem Buch vergegenwärtigt.

Wolfgang Hegener, Kleinmachnow und Berlin

Storck, Timo: Spiel am Werk. Eine psychoanalytisch-begriffskritische Unter-suchung künstlerischer Arbeitsprozesse. Göttingen (V&R unipress) 2010.369 Seiten, 4 49,90.

Die Kunsthistorikerin Bettina Gockel konstatierte 2010 in ihrer komparativenStudie Die Pathologisierung des Künstlers , die 1980er und 1990er Jahre seiender »Höhepunkt der methodischen Anwendung der Psychoanalyse in derKunst-, Kultur- und Literaturwissenschaft« gewesen. Mit dem UntertitelKünstlerlegenden der Moderne nahm sie Bezug auf Ernst Kris’ und OttoKurz’ Thematik Die Legende vom Künstler (1934). Timo Storck legte im glei-chen Jahr mit einer psychoanalytisch-begriffskritischen Untersuchung künst-lerischer Arbeitsprozesse nicht nur eine Widerlegung dieser Annahme vor,sondern setzte auch einen neuen vorläufigen Höhepunkt.

Gockels Irrtum wird schon allein daran verdeutlicht, dass Storck seine Un-tersuchungen auf Autoren stützt, die zwischen den 1990er Jahren und heuteintensive psychoanalytische Einzelfallstudien abgefasst haben über zahlreicheKünstlerInnen der Gegenwart oder über zeitgenössische Gegenstände derKunst wie Form, Raum, Zeit, ästhetischer Konflikt, Farbe, Arbeit der Bilder,schöpferischer Akt und kreativer Prozess (z.B. E. Gattig, G. Gehrig, H. Kraft,M. Oppermann, R. Reiche, G. Rose, G. Schneider, P. Soldt, K. Nitzschmann,L. Tuymans). Storcks Höhepunkt besteht in seiner innovativen metho-

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dischen Anwendung der Psychoanalyse. Er ging über die intensiven und hochinformativen Einzelfallstudien hinaus. Sie dienten ihm als pilotierende Orien-tierung in der Materie. Zur weiteren Aufklärung künstlerischer Arbeitspro-zesse wählte er 10 Transkripte von 20 vor Bildern aufgezeichneten Werkstatt-gesprächen und 7 Atelierdiskussionen zwischen 2004 und 2008 aus. Daranhatten sich insgesamt 20 bis 25 Künstler und jeweils circa 15 Besucher in einerHamburger Galerie beteiligt. Die Gespräche und Diskussionen wurdennach den Regeln der »Ulmer Textbank« (E. Mergenthaler) transkribiert.Dann erfolgte eine Vorstrukturierung in Hinsicht auf Kategorienbildung derAuswertung (grounded theory) in konzeptgeleitete und empiriegeleiteteProtokategorien. Schließlich wurde das Material kodiert und in Gestalteiner Kombination psychoanalytisch-hermeneutischer, qualitativ-inhaltsanaly-tischer und computergestützter Methoden ausgewertet. Es wurden horizontaleund vertikale Analysen durchgeführt. Dieses Vorgehen füllt die zweite Hälftedes Buches. Die erste Hälfte wird in Anspruch genommen von der Entwick-lung der konzeptgeleiteten Kategorien wie Nicht-Identität, Phantasieren/Spiel, Wiederholung, Angst, Sublimierung/Funktionslust, Sublimierung/Ich-veränderung/Identifizierung, Sublimierung/Libidinisierung/Erogenität, Sub-jektivierung/Projektion, Triangulierung.

Die vorgängige Entwicklung solcher Kategorien wurde geleistet mittelssorgfältiger, differenzierter und sehr ausführlicher begriffs-historischer, be-griffs-konzeptioneller und begriffs-kritischer Diskussionen der folgendenpsychoanalytischen Konzepte und Konzeptzusammenhänge, die sich in denintensiven Einzelfallstudien quasi pilotierend als relevant für den künstleri-schen Arbeitsprozess abgezeichnet hatten: Dynamisch Unbewusstes, defi-niert als »eine auf leiblicher Widerständigkeit beruhende und sich darüber ver-mittelnde Bewegung der Ablenkung, Verfälschung, Negation oder Differenz«(S. 176); durch Phantasieren als Ichfunktion sich fortsetzendes kindlichesSpiel; insbesondere künstlerisches Phantasieren als spezifische Interaktion miteinem materialen Objekt und dessen Repräsentiertheit im Erleben des Künst-lers sowie Wiederanlehnung des Phantasierens an die greif- und sichtbarenObjekte; zweiphasiger Sublimierungsprozess, zunächst als Angst- und Un-lustvermeidung in dynamischer Kompromissbildung und Erleben von nar-zisstischer Funktionslust sowie Affekt des Gelingens, sodann Re-Libidini-sierung der kompromissbildenden Tätigkeit durch Wiederholungsprozesse;psychologische Konzeptualisierung des künstlerischen Arbeitsprozesses nichtals Geburtsvorgang, sondern als intersubjektiven Entwicklungsprozess mitdem Resultat der Subjektwerdung, verstanden als Quasi-Subjektivität, d.h.als ein Objekt, das der Möglichkeit nach von anderen so erlebt werden kann,als sei es ein Subjekt, handelnd auf der Basis von Gedanken, Gefühlen, Vor-stellungen und Absichten, welche in ein In-Beziehung-Stehen eingelassensind: das Kunstwerk sei wie eine Repräsentation von Beziehungen; Ich- undSelbstrepräsentanzveränderung durch die künstlerische Aktion infolge Inter-nalisierung der Interaktionsprozesse mit dem Kunstobjekt; zentral seien Pro-zessidentifizierung und Prozessprojektion im Dienste des künstlerischen Ichs:

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Prozessidentifizierung als Internalisierung von Interaktion und Prozesspro-jektion als Konstituierung von Beziehung; Heraustreten aus der künstleri-schen Dyade durch Einnahme einer dritten Position und Triangulierung i. S.von P. von Matts Opus-Phantasie.

Storck unternimmt die zu diesen Konzepten notwendigen Ausflüge ineinige Kapitel der Begründung der Psychoanalyse als Wissenschaft; ferner indie mit Freud einsetzenden Konzepte von Phantasie und Phantasieren in derPsychoanalyse; in den künstlerischen Prozess als Objektbeziehung im Mög-lichkeits- und Übergangsraum; in den Sublimierungsbegriff und in die künst-lerische Wiederholungsarbeit als Grundlage von Originalität und Subjek-tivierung; in die Identifizierung und Projektion in der wechselseitigenkünstlerischen Subjektivierung und in ein psychoanalytisches Verständnis von›Arbeit‹. Diese Ausflüge sind Gesellenstücke der Kompendik und – nebenbei– archivalische Hebungen von zum Teil in Vergessenheit geratenen psycho-analytischen Grundlagenwerken aus den Depots der Psychoanalyse. Was istdas Resultat der Untersuchung? »Der Stellenwert der Empirie kann […] we-der der einer Illustration des theoretisch Erarbeiteten noch der einer dies-bezüglichen Beweisführung sein. Vielmehr kann es einzig darum gehen, mit-tels psychoanalytischer Methode (und weiteren Methoden [s.o.]) einenverstehenden Zugang zu den Beziehungsszenen zu gewinnen, die das [künst-lerische] Material anbietet und thematisiert, und dies im Rahmen des konzep-tuellen Zusammenhangs als verständliche Realisierungen abstrakt-konzeptu-eller Möglichkeiten erklärbar werden zu lassen« (S. 153). Dieses Fazit kannein mit der erforderlichen Konzentration und Intensität gerüsteter Leser aneiner Einzelanalyse nachvollziehen: die Untersuchung macht die vom Autorkonzeptualisierten Arbeitsprozesse wahrscheinlich.

Weniger wahrscheinlich werden Überlegungen im 7. Kapitel über die Kon-vergenz künstlerischen Arbeitens und psychoanalytischen Arbeitens (S. 18und S. 333–347). Sie wirken wie eine Antwort auf vermutetes Fragen nach derRelevanz dieser Forschung für die klinische Psychoanalyse. Weniger wahr-scheinlich werden solche Überlegungen für den psychoanalytischen Prozessdeshalb, weil das materiale Objekt desselben kein Subjekt i.S. des künstleri-schen Quasi-Subjekts ist, sein kann und darf. Denn Objekt der klinischenPsychoanalyse ist das bereits lebendige Subjekt des Anderen, handelnd aufwirklich eigener Basis von Gedanken, Gefühlen, Vorstellungen und Absich-ten – wie neurotisch, psychotisch, psychosomatisch und normotisch verzerrtauch immer. Vielleicht können solche vermuteten Konvergenzen vom Leserdeshalb nicht ohne Widerspruch nachvollzogen werden, weil sie – im Buchwie ein Appendix wirkend – nur zu einer »Skizze einer negativen Hermeneu-tik und eines Missverstehens des Leibes in der Psychoanalyse« geraten konn-ten. Eine andere Konvergenz ist hingegen plausibler ableitbar: das Arbeiten inpsychoanalytisch begriffenen und konzeptuell gestützten Therapieformen,wie zum Beispiel in Kunst-, Musik- und Bewegungstherapien. Das wirdhochrelevant werden, wenn die in diesen therapeutischen Beziehungen ent-stehenden materialen Objekte (Klang, Farbe, Form, Bewegung) als Selbstob-

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jekte aufgefasst werden und die Patienten darüber mit sich in integrierende Be-rührung gelangen. Das Sprechen und die Sprache im psychoanalytischenProzess (Sprachklang, Sprachbild, Sprachbewegung) waren bisher so nochnicht systematisch untersucht, geschweige denn als Selbstobjekte aufgefasstworden. Der durch das vorliegende Werk neugierig gewordene und inspirierteLeser erwartet zu diesen Kapiteln Fortführungen.

Joachim F. Danckwardt, Tübingen

Härtel, Insa & Olaf Knellessen (Hg.): Das Motiv der Kästchenwahl. Contai-ner in Psychoanalyse, Kunst, Kultur. Psychoanalytische Blätter, Bd. 31.Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2012. 175 Seiten, 4 19,99.

Im Spiegel vom 18.6.2012 behauptet die Historikerin der PsychoanalyseElisabeth Roudinesco kühn, innerhalb der Psychoanalyse sei in den letzten20 Jahren nichts Interessantes mehr geschrieben worden. Zu gerne würde manin dieser Aussage ein weiteres Beispiel des beliebten Psychoanalyse-Bashingssehen, doch einerseits eignet sich die Roudinesco als Feindbild schlecht, zuwohlwollend und zu informiert schreibt sie über die Psychoanalyse, anderer-seits fällt es schwer, Beispiele zu finden, die sie widerlegen würden.

Zweifellos wird viel zur Psychoanalyse publiziert, doch man kann sich oftdes Eindrucks nicht erwehren, dass die Menge an produzierten bits und bytesumgekehrt proportional zum Erkenntnisgewinn steht. Im Bereich der Klinikwerden neue Phänomene, wie das ADHS, mit alten Theorieversatzstückenunterlegt oder alte Phänomen an neue und modische Theorien, wie die Neu-robiologie, in allzu offensichtlich legitimatorischer Absicht angeschlossen, umden Anschluss an den Zeitgeist (und die Krankenkassen) nicht zu verpassen.Dies mag ehrenvoll und berufspolitisch sinnvoll sein, neue Erkenntnisse er-wachsen daraus selten. Im außerklinischen Bereich, der lange unter dem TitelKulturkritik segelte, hat die Psychoanalyse als Erklärungsparadigma ohnehinschon längst ausgedient.

Nicht alles an dieser Entwicklung kann man der steifen Brise, die der Psy-choanalyse seit einigen Jahrzehnten entgegenweht, zuschreiben. Es scheintdafür auch innerpsychoanalytische Gründe zu geben. Thomas Kuhn hat inden 60er Jahren des letzten Jahrhunderts mit seinem Begriff des Paradigmen-wechsels die Wissenschaftstheorie revolutioniert. Kuhn (1996) behauptet,dass wissenschaftliche Theoriegebäude (Paradigmen) nur bis zu einem gewis-sen Grad an neue Phänomene angepasst werden können. Wenn auftauchendePhänomene ein bestimmtes Paradigma überfordern, wird es durch ein neuesersetzt. Tatsächlich scheint die Psychoanalyse einer Welt, in der die Subjekti-vität vielleicht mehr durch die Auseinandersetzung mit dem world wide webals mit Mama und Papa geprägt wird, eigentümlich hilflos gegenüberzuste-hen. Viel mehr als psychoanalytisch unterfütterter Kulturpessimismus wirdda kaum geboten.

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Wie kann man aus dieser Sackgasse einen Ausweg finden? Die Psychoana-lyse, so scheint mir, muss die Fenster öffnen und unvoreingenommen in dieWelt hinausschauen. Und dies ohne den hegemonialen Anspruch, mit den al-ten, ausgetragenen Begriffen der Welt die Welt zu erklären. Es wäre schön, sodenke ich manchmal, wenn Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker sichweltweit in einem freiwilligen Pakt verpflichten würden, zehn Jahre lang aufBegriffe wie Narzissmus, projektive Identifikation oder objet a zu verzichten.

Die Gruppe missing link aus Zürich, die alle zwei Jahre einen Preis für eineherausragende Arbeit auslobt, die die Psychoanalyse mit einem anderen Wis-sensgebiet verknüpft, hat in einem Tagungsband unter dem Titel Das Motivder Kästchenwahl. Container in Psychoanalyse, Kunst, Kultur einen Versuchin dieser Richtung unternommen. Allerdings hat sie, anders als in meinerWunschphantasie, nicht auf gebräuchliche psychoanalytische Begriffe ver-zichtet, sondern im Gegenteil, den Begriff des Containers, der seit der Theo-rie Wilfred Bions in der Psychoanalyse eine ungeheure Konjunktur erfahrenhat, von allen Seiten beleuchten lassen. Neben Psychoanalytikerinnen habensich Philosophinnen, Medienwissenschaftler, Künstlerinnen, Architekten, In-genieure und Logistiker auf das Experiment eingelassen und das Ergebnis ist,so viel sei vorweggenommen, großartig.

Wir erfahren ganz konkret, wie Container den weltweiten Handel revolu-tioniert haben und wie sich die Forschung in Richtung intelligenter Containerbewegt. Container sind schon heute in der Lage, selbstständige Entscheidun-gen zu treffen und auf veränderte Umweltbedingungen zu reagieren, wobeidie Algorithmen für diese Entscheidungsprozesse Bienenvölkern und Amei-senpopulationen abgeschaut werden können (Scholz-Reiter & Dittmer). Wirlernen etwas über den Einfluss von Containern auf die urbane Architektur(Doßmann) und über die politische Bedeutung von Containern, wenn sieetwa für die Unterbringung von Asylsuchenden eingesetzt werden (Bie-mann). (In Zürich werden Container zu sogenannten Verrichtungsboxen um-gebaut, in denen sich Freier und Prostituierte sicher und sauber treffen kön-nen.) Und wir erleben hoch interessante künstlerische Verwendungen vonContainern (etoy).

Gleichzeitig wird uns der Container als Metapher vorgeführt: als Metapherfür das moderne Subjekt, das seine Identität als Knotenpunkt eines Netzeskonstruiert und nicht mehr als Folge seiner Geschichte oder als Resultat einesreflexiven Prozesses (Klose), als Metapher für subjektkonstituierende Einver-leibungs- und Verdauungsprozesse (Heim) oder, im Anschluss an Bion, fürintersubjektive Kommunikations- und Transformationsprozesse (Kennel).Letztere Verwendung der Containermetapher wird freilich von Olaf Knelles-sen scharf kritisiert. Peter Berz, Kultur- und Medienwissenschaftler in Berlin,stellt in einem äußerst klugen Artikel anhand des Containers das antike, ge-nauer: aristotelische Verständnis des Raumes als das den Körper Umfassendeund Begrenzende dem modernen galileischen Raum als mathematisierbarem,leerem Kontinuum gegenüber. Zugleich zeigt Benz, wie die neue topologischeMathematik auf den alten Aristoteles zurückgreift.

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Zweifellos sind alle Beiträge des Sammelbandes informativ und lehrreich.Doch sein eigentlicher Zauber, wenn mir dieses Wort in diesem gänzlich un-passenden Zusammenhang erlaubt sei, liegt anderswo: Er liegt in dem, was imKopf des Lesers geschieht. Liest man das Buch in einem Zug – und dies würdeich dringend empfehlen –, ergeben sich aus den auf den ersten Blick völlig dis-paraten Teilen, den disiecta membra, ein überraschendes Bild und neue Fra-gen, vor allem, wenn die konkreten auf die metaphorischen Container treffen.Die produktive Spannung entsteht, wenn man sich vergegenwärtigt, dass derrasende Erfolg der konkreten Container auf ihrer Normiertheit beruht. DieNormabmessungen erlauben beliebige Stapelbarkeit, optimale Raumausnut-zung und eine ununterbrochene und deshalb rasche Transportkette vom Pro-duzenten zum Konsumenten, und zwar völlig unabhängig von den Inhalten,die sie transportieren. In ihren metaphorischen Bedeutungen, seien es die phi-losophischen oder die psychoanalytischen, geht es um Subjektivierungs- undIndividuierungsprozesse. In gewisser Weise dreht die Metapher des Contai-ners seine konkrete Existenz um 180 Grad: Geht es da um die Frage, wieIndividualität und Einzigartigkeit entsteht, wird dort Optimierung durchEntindividualisierung erreicht. So wird der Begriff des Containers zu einemHybridbegriff, der die Spannung ausleuchtet, in der der moderne Menschzwischen der Forderung nach der Unterwerfung unter die allgemeine Normund der Forderung nach individueller Selbstverwirklichung steht. Anders ge-sagt: Der Container wird im Laufe der Lektüre zum Container seiner unter-schiedlichen und widersprüchlichen Bedeutungen. Wie beim konkreten Con-tainer können die unterschiedlichsten Inhalte mit ihm transportiert werden:Der Container wird zur Metapher seiner selbst.

Walter Benjamin schreibt in der Einleitung zum Ursprung des deutschenTrauerspiels (1978, S. 29): »Die philosophische Geschichte als die Wissen-schaft vom Ursprung ist die Form, die da aus den entlegenen Extremen, denscheinbaren Exzessen der Entwicklung die Konfiguration der Idee als derdurch die Möglichkeit eines sinnvollen Nebeneinanders solcher Gegensätzegekennzeichneten Totalität heraustreten läßt. Die Darstellung einer Idee kannunter keinen Umständen als geglückt betrachtet werden, solange virtuell derKreis der in ihr möglichen Extreme nicht abgeschritten ist.« Dieses Abschrei-ten des Kreises möglicher Extreme ist diesem Band beispielhaft gelungen.

Zum Schluss möchte ich noch verraten, welche Idee in meinem Kopf nachder Lektüre des Bandes, vor allem in der Gegenüberstellung der Arbeiten vonPeter Benz und Robert Heim, die von höchst unterschiedlichen Hintergrund-ontologien ausgehen, entstanden ist. Robert Heims differenzierte Gedankenverweisen auf eine traditionelle Ontologie der Psychoanalyse, die sich an denBegriffen von Leere und Fülle, von Mangel und Vollständigkeit, aber auch amGegensatz von Allgemeinem (Sprache) und Besonderem (individuelle Erfah-rung) abarbeitet. In der impliziten Ontologie von Peter Benz aber, die sichwohl auf eine Traditionslinie berufen kann, die von Spinoza über Nietzschezu Deleuze und zur modernen Mathematik führt, haben all diese Begriffe kei-nen Platz. Hier geht es um Konfigurationen und Gefüge, um Nachbarschaften

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und Formationen. Die Frage stellt sich, ob die Zeit für eine neue Ontologie fürdie Psychoanalyse gekommen ist, und ob eine in dieser Weise erneuerte Psy-choanalyse überhaupt noch diesen Namen für sich beanspruchen könnte.

LITERATUR

Benjamin, W. (1978 [1928]): Ursprung des deutschen Trauerspiels. Frankfurt/M. (Suhr-kamp).

Kuhn, T.S. (1996 [1962]): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Übers. K. Simon.13. Aufl. Frankfurt/M. (Suhrkamp).

Daniel Strassberg, Zürich

Soldt, Philipp & Karin Nitzschmann (Hg.): Arbeit der Bilder. Die Präsenz desBildes im Dialog zwischen Psychoanalyse, Philosophie und Kunstwissen-schaften. Gießen (Psychosozial-Verlag) 2009. 187 Seiten, 4 22,90.

Der Titel Arbeit der Bilder überrascht, da er die gewohnte Perspektive umzu-drehen scheint: nicht der Künstler schafft das Bild oder der Betrachter eignetes sich sehend an, sondern das Bild arbeitet und bekommt damit Subjektcha-rakter. Unter diesem Thema fand 2008 im Bremer Neuen Museum Weserburgeine interdisziplinäre Tagung mit Psychoanalytikern, einem Künstler und Re-ferenten aus Kulturwissenschaft und Philosophie statt. Das vorliegende Buchstellt nun die einzelnen Vorträge einer breiteren Öffentlichkeit vor. Die her-kömmliche psychoanalytische Kunstbetrachtung stellt, angereichert durchdas Konzept der Gegenübertragung, zumeist eine Verbindung zwischen Werkund lebensgeschichtlichen, neurotischen Bedingtheiten im Künstler her. DasBild wird damit zu einer inneren Notwendigkeit. Beim Lesen solcher Textebleibt man klug zurück und stellt verwundert fest, dass der Zauber oder dasBesondere des jeweiligen Kunstwerkes damit nicht erklärbarer geworden ist.Dass dies in diesem Buch anders werden soll, versprechen die Fragen, die Ka-rin Nitzschmann in ihrem Vorwort stellt und denen sich das Buch mit denBeiträgen annähern soll: »Wie kommt es, dass Bilder auf den Betrachter eineemotionale Wirkung ausüben können? Wie ist es möglich, dass Bilder so ver-schiedenartige Eindrücke hinterlassen können? […] ist es denkbar, dass Bil-der einen vom Künstler selbst gar nicht intendierten Sinn entfalten, alsogleichsam eine eigene Subjektivität beanspruchen dürfen?« (S. 7 f.).

Ekkehard Gattig beginnt mit einer Standortbestimmung am Ende der Mo-derne, in der verbindliche Wahrheiten fragwürdig geworden, die Grenzenzwischen äußerer und innerer Realität immer mehr verwischt sind und dieBildhaftigkeit den sprachlichen Diskurs zu ersetzen beginnt. Er endet mit derThese, dass ein Bild eine eigene Subjektivität mit einem eigenen Bild-Unbe-wussten hat, wenn es gelingt, das Sonst-noch-nie-Gesehene darzustellen. Da-durch dass Bilder mehr als eine Wahrheit ausdrücken können, in ihnen Un-

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sichtbares und Rätselhaftes gegenwärtig ist, eröffnen sie einen Raum, in demSubjektivität erfahrbar wird. Wir können dann unseren Standpunkt in derWelt neu erfahren. Die Bildarbeit leitet er von Freuds Konzept der Identifizie-rung ab. Indem eigene Projektionen mit Teilen des Bildes in Kontakt kommenund dann durch das Bild verändert reintrojiziert werden, entsteht etwasNeues, ein Ab-Bild entsprechend einer intrapsychischen Repräsentanz. Wirhaben dann das Gefühl, so etwas noch nie gesehen zu haben.

Der belgische Künstler Luc Tuymans, der mit einem Interview vertretenist, scheint dem zu widersprechen, wenn er Malerei nur als eine diffuse, viel-schichtige Leerstelle sieht, in der sich der Betrachter spiegelt. Die Bilder wür-den schweigen und nichts aussagen, damit sie Denken auslösen. Man könnteihm sagen, dass wir Psychoanalytiker das irrtümlich auch über Jahrzehnte ge-dacht haben: dass wir nur Spiegel ohne Inhalt sind. Sein Wunsch, ein Bild zumalen, das keins ist, wird aber als Reaktion auf das »Bildbombardement« inheutiger Zeit verstehbar. Alle Inhalte verschwänden hinter dem Spektakel, esentstehe ein Vakuum – und dieses Vakuum scheint er in seinen Arbeiten dar-zustellen. Das Verschwinden, das Fehlende oder Zerstörte wird hier als wirk-kräftige Eigenschaft von Bildern aus Sicht des Künstlers benannt und im Buchaus anderer theoretischer Perspektive immer wieder aufgegriffen.

So führt Joachim F. Danckwardt, ausgehend von der Frage, wie sich dasUnbewusste im Bildprozess niederschlägt, an einem Bild von Saul Steinbergaus, wie der Betrachter das verlorene Objekt durch die Identifizierung mit denFormprozessen im Bild ersetzt. Stück für Stück müsse der Künstler, wie auchder Betrachter altes Sehen, eben noch Gesehenes wieder verlassen und sichauf etwas Neues einstellen. Dieser erlebte Objektverlust spiele sowohl beimBetrachter als auch beim Künstler eine große Rolle. Erfahren von Verlustscheint eine notwendige Bedingung für die Arbeit der Bilder zu sein. In sei-nem Beitrag sind zwei wunderbar zu lesende Bilduntersuchungen zu finden.Ausführlich beschreibt er die Bildprozesse in dem Bild Vater (2007) von NeoRauch und in Gerhard Richters Serie Verkündigung nach Tizian (1973). BeiGerhard Richter schildert er, wie die Bildprozesse hin zu mehr Abstraktioneinen Raum schaffen, in dem traumatische Erfahrungen transformierbar wer-den und nicht mehr abgewehrt werden müssen. Dies scheint mir insofern vonBedeutung, als hier die künstlerische Arbeit ein Mittel ist, um die Wieder-holung des Vergessens zu durchbrechen, und als ein Hin zu etwas Neuem be-schrieben wird.

Die These des Textes der Zürcher Philosophin und PsychoanalytikerinLisa Schmuckli ist die Vorrangigkeit des Bildes vor der Sprache. Freuds Satz»Wo Es war, soll Ich werden« überführt sie in: »Wo Visuelles war, soll Erzäh-lung werden«. Galt früher in der Philosophie das Sehen als der höchste derfünf Sinne, da er mit Vernunft, Objektivität und Überblick assoziiert war, er-schüttern heute neue Sehtechniken und bildgebende Verfahren traditionelleSehgewohnheiten. Durch Verlust eines objektiven Bezugsrahmens, der einstdie Zentralperspektive war, verlören die Bilder ihre formale Einbindung.Das Sehen werde »wild«, weil es radikal subjektiv geworden sei. Mit der Ent-

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deckung des Unbewussten im Traum dränge das Unsichtbare in das Bild.Schließlich führe die Beschleunigung der Bilder heute dazu, dass das Sehennoch weiter verwildere, und damit zu einer Automatisierung der Wahrneh-mung bis hin zu einer Anästhesierung im Wahrnehmungsprozess. Durch daswilde Sehen bekomme das Bild eine eigentümliche und unheimliche Macht.Hiermit greift sie den kulturkritischen Strang in diesem Buch auf. Neben demBegehren nach dem Bild steht nun die Gefahr durch das Bild bzw. durch sei-nen Gebrauch.

Die Kritik an den heutigen Sehgewohnheiten findet in Werner Balzers Bei-trag über die Krise der Bildlichkeit und Verkümmerung der symbolischen Re-präsentanzen in dem Buch ihren Höhepunkt. Der Titel seines Aufsatzes»Eyes Mind Shut« ist eine Anspielung auf Kubriks Film Eyes Wide Shut undeine Verkürzung des Wortspiels von Werner Balzer »Eyes wide, mind shut«,womit er die »opto-akustische Erstürmung des Gesamtsensoriums« in unse-rer heutigen Zeit paraphrasiert. Er beschreibt die heutige Zeit mit seiner Bil-derflut als eine Zeit, die die Sichtbarkeit vergöttere und die in eine Krise derRepräsentation geraten sei. Wurzelte das Bildermachen ursprünglich in einerAufhebung von Abschied und Getrenntheit, war ein Bild zunächst reine Ver-körperung, wurden Bilder später zu einem Medium der Erinnerung. Das Bildwurde zu etwas Symbolischem. Diesen Entwicklungsschritt sieht er ange-sichts des Bildkonsums in heutiger Zeit gefährdet. Seiner Meinung nach erle-ben wir heute eine Resomatisierung und Wiederverfleischlichung der Bilder.Er führt dies sehr leidenschaftlich aus, als möchte er den Leser aufrütteln, da-mit er endlich versteht, dass die Bilderflut des Teufels sei (»der Deal mit derenSeelen«). Beim Lesen findet man sich dann nicht in einer Bilder-, sondern ineiner Wortflut wieder und ist manchmal versucht, sein eigenes Denken mittelsProtest zu bewahren. Interessant und spannend wird der Artikel, wenn er dieFunktion der Bilderflut als eine sensorische Hülle beschreibt: das schwacheIch wickelt sich in die Bilder, als wären sie eine Haut. Hier schließt er wiederzum Thema auf und führt in dem Buch einen wichtigen neuen Begriff, den desBildaktes ein. Die »Toxizität der Bilder« gehe nicht aus der Substanz des Bil-des, sondern aus seinem Gebrauch hervor. Durch den damit verbundenen in-teraktiven und situativen Kontext wird das Bild erst in seiner Bedeutung kon-stituiert, eine weitere Bedingung für die Arbeit der Bilder. Es ist eben nichtunwichtig, ob ein Bild in einem Museum, auf einen Bildschirm oder daheimüber dem Sofa hängt. Durch das Element eines musealen oder auratischenRaums kommt nach Balzer ein trianguläres Element in die Rezeption des Bil-des hinein.

Philipp Soldts Überlegungen sind in die Darstellung zweier Bildbeschrei-bungsvignetten aus einer interessanten psychoanalytisch-empirischen Unter-suchung zu ästhetischen Erfahrungen eingebettet. In dieser Studie, die auf dieBeziehung zwischen Bild und Betrachter fokussierte, wurde schnell deutlich,dass sich jede Bildbetrachtung aus der inneren Konflikthaftigkeit des Betrach-ters speist. Es stellte sich die spannende Frage, wie das Bild genutzt wird, umdiesen durch das Bild sozusagen aufgewühlten Konflikt zu bearbeiten. Seine

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Hypothese, dass das Bild dabei als Quasi-Subjekt benutzt wird, wird an einertranskribierten Bildbetrachtung anschaulich dargestellt. Er formuliert dabeiden, wie mir scheint, wichtigen Unterschied zwischen der Arbeit des Bildesund der Arbeit eines neurotischen Symptoms. Anders als beim neurotischenSymptom, das einen Kompromiss zwischen Wunsch und Verbot enthält, er-laube das Übergangsphänomen »Bildlichkeit« im geglückten Fall ein Zugleichjener Polaritäten, die im Konflikt zusammenprallen. Er konstruiert den Ideal-fall, wie eine Bildbetrachtung in eine Objektbeziehung verwandelt werdenkann: Wenn wir uns von einem Bild nicht nur animieren lassen, sondern auchzulassen und aushalten, dass es sich uns entzieht – womit es nicht mehr derreinen Erregungsabfuhr dienen kann –, erschaffe der Betrachter aus dem Bildein Quasi-Subjekt. Dieser Gedanke beschreibt wiederum das, was Luc Tuy-mans in seinem Malprozess zu gestalten versucht.

Zum Abschluss des Buches führt uns Wolfram Bergande durch unter-schiedliche Interpretationen des Bildes Las Meninas von Diego de Velázquez.Er sieht in Las Meninas ein Bild, das exemplarisch vorführt, wie die Perspek-tive eines jeden über ein anderes Selbstbewusstsein vermittelt wird. Ein jederversetzt sich in das Hineinversetzte des anderen, und beide tun das in wech-selseitiger Abhängigkeit. So folgert er im Allgemeinen, dass sich in jedem Bildzwei Selbstbewusstseine gegenüberstehen. Dieser anspruchsvolle Text lädtdazu ein, in dem Bild Las Meninas verschiedene Perspektiven einzunehmen,darüber nachzudenken, wer wo repräsentiert ist und was sich in wem spiegelt,und dies wie in einem unendlichem Kreislauf.

Das Besondere dieses Buches liegt für mich darin, dass es sowohl die dar-gestellten Gedanken mit Vergnügen nachvollziehen und weiterdenken lässt alsauch Lust auf Bilder transportiert und vermittelt. Kritisch fand ich jene, zumGlück seltenen Stellen, in denen sich Versuche andeuten, über die Qualitätvon Bildprozessen aus psychoanalytischer Sicht normative Aussagen zu for-mulieren. Besonders gelungen scheint mir, dass die einzelnen BeiträgeAspekte der vorherigen immer wieder aus einer anderen Perspektive aufgrei-fen. So ist aus einer Zusammenstellung verschiedener Vorträge und unter-schiedlicher Ansätze ein sehr lesenswertes Buch geworden.

Matthias Oppermann, Hamburg

Holm-Hadulla, Rainer M.: Kreativität zwischen Schöpfung und Zerstörung.Konzepte aus Kulturwissenschaften, Psychologie, Neurobiologie und ihrepraktischen Anwendungen. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2011.248 Seiten, 4 19,95.

Muss eine Publikation über Kreativität ihrerseits kreativ sein und also RainerM. Holm-Hadullas Kreativitäts-Kriterium, die »Neukombination von Infor-mationen« (S. 71), erfüllen? Wenn ja: Worin besteht das Neuartige von Holm-Hadullas Studie? Antwort: In der ambivalenten oder – philosophischer for-

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muliert – dialektischen Konzeptualisierung der Kreativität, wie sie der Titelvon Holm-Hadullas Forschungsarbeit indiziert.

Da der »bei weitem größte Teil des menschlichen Wissens« nach Holm-Hadulla »nicht neuronal gespeichert ist, sondern in Mythen, Religionen, Sit-ten, Gebräuchen und Ritualen, Landschaften, Architekturen, Kunstwerken,Sprachen, Texten und Institutionen« (S. 56), kurz: als kulturelles Gedächtnis,bietet es sich an, das Konzept einer dialektischen Kreativität anhand von My-then, literarischen Texten und anderen Kulturzeugnissen zu belegen.

Die Korrelation von Kreativität und Destruktivität wird demgemäß ausge-hend von Schöpfungsmythen verschiedener Kulturvölker untersucht, die dasSchöpferische als »in sich widersprüchlich und konfliktgeladen« (S. 8), alsoals ambivalente Einheit von Kosmos und Chaos darstellen. Auf der Seitedes Chaos finden sich u.a. der »Urschlamm« in den Mythen Altägyptens –»formloses Urchaos« und Keim »alles zukünftigen Werdens« (S. 16) zugleich–, die zerstörerischen Götterväter Uranos, Kronos und Zeus des Alten Grie-chenlands sowie die Sintflut-Erzählung in den mosaischen Religionen. Holm-Hadulla zeichnet die Linie kultureller Vorstellungen schöpferisch-destruktiverKräfte bis zu Nietzsches kreativem Vernichter Zarathustra nach, der als einSchöpfer neuer Werte die alten zerbrechen und somit als »Verbrecher« auftre-ten musste. Zu den Irrläufern, die sich auf Nietzsche beriefen, zählt der Un-tergangssog Hitlers, dem von Holm-Hadulla gar eine »Kreativität des Bösen«zugeschrieben wird, die von »einer eigentümlichen Mischung aus absurderPhantastik und brutaler Rationalität« geprägt gewesen sei (S. 53) und der»Geschichte Deutschlands ein monströses Siegel von einzigartiger Bedeutungeingebrannt« habe (S. 54).

Nicht zuletzt vor diesem düsteren Hintergrund leuchtet Holm-HadullasWarnung ein, »Kreativität zu leichtfertig aufzufassen« und das ihr eigentüm-liche konstruktiv-destruktive Spannungsfeld auszublenden (S. 55). Stattdes-sen sei »ein dynamisches Gleichgewicht zwischen Ordnung und Chaos, Ver-stetigung und Verflüssigung, Konstruktion und Destruktion« anzustreben,»in dem die schöpferischen Kräfte überwiegen« (ebd.).

Holm-Hadulla bringt dieses ideale Gleichgewicht auf die Formel »Struk-turaufbau und Strukturabbau« und stützt sich diesbezüglich auf neurologi-sche Forschungen: Auf der einen Seite stehe der assoziative Kortex als eineArt somatisches Korrelat des unbewussten Denkens (S. 69), auf der anderenSeite das fokussierende, auf kohärenten Strukturen basierende Denken. Bei-des sei integrativ zu denken – mit Freud formuliert: als ein »Wechselspiel vonPrimär- und Sekundärprozess« (S. 89) oder, mit neueren Theorien formuliert:als ein Wechselspiel von »divergentem und konvergentem Denken«, »kristal-liner und fluider Intelligenz« (ebd.). Die »Nachgiebigkeit des Strukturellen«,wie sie etwa Gottfried Benn in Probleme der Lyrik als »für die große Stunde«dichterischer Kreativität konstitutiv erachtete, kann allein also keinen Durch-bruch bewirken; vielmehr muss sich ein gut austariertes Spannungsfeld vonfester Struktur und freier Beweglichkeit ergeben: ein »Gleichgewicht vonKonzentration und Distraktion« (S. 10), neuronal-synaptischer »Hemmung

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und Erregung« (S. 57). Das Zauberwort lautet »Synchronisierung«: Diesergelingt, worauf es ankommt, nämlich das Einschwingen erregter Hirnnerven-zellen in synchrone Oszillationen, die ihrerseits aber wieder offen für »Desyn-chronisierung« bleiben müssen, um das kreative Potential aufrechtzuerhalten– Potential als im Enzephalogramm messbare Hirn-Elektrizität aufgefasst. Alsweiterer Faktor kommt das günstige Zusammenspiel im Hirn-Metabolismushinzu, also u.a. das ausbalancierte Wirkungsfeld der Neurotransmitter Dopa-min, Serotonin und Noradrenalin – Holm-Hadulla verweist an dieser Stelleauf kulturgeschichtliche Vorstellungen eines harmonischen Mischungsverhält-nisses von Körpersäften; ebenso ließe sich an das u.a. Hölderlin sehr geläufigeIdeal der »nüchternen Trunkenheit« (sobria ebrietas) denken.

Ein solcher Brückenschlag zwischen Neuro- und Kulturwissenschaftkönnte zugleich davor bewahren, die Hyper-Komplexität der Hirn-Phäno-mene im Stil gängiger diagnostischer Manuale wie dem DSM-IV oder demICD-10 »zugunsten statistisch operationalisierbarer Klassifikationen« zu re-duzieren (S. 107). Stattdessen plädiert Holm-Hadulla für hermeneutische No-sologie-Konzepte, die z.B. die Symptomatik der Melancholie existenzphilo-sophisch als Modus des In-der-Welt-Seins verstehbar machen, ohne aufMessbarkeit oder statistischer Auswertbarkeit zu beruhen.

Vor dem Hintergrund einer solchen Problematisierung standardisierterPsychopathologie warnt Holm-Hadulla auch vor einer vorschnellen Annähe-rung von Kreativität und psychischen Störungen: »Empirische Studien habengezeigt, dass außergewöhnlich Kreative nicht häufiger psychisch krank sindals die Durchschnittsbevölkerung« (S. 103). Einzig die »poetic writers« könn-ten hier als signifikante Ausnahme gelten, da bei ihnen depressive Störungenund Suizide dreimal so häufig wie beim Durchschnitt der Bevölkerung seien(ebd.).

Um den Brückenschlag zwischen Natur- und Geisteswissenschaft zu ver-tiefen, beschäftigt sich Holm-Hadullas Studie denn auch am intensivsten mitdem Paradigma der Dichtung: einmal anhand des Klassikers Goethe, zumalseines Faust, zum andern anhand des Dichter-Sängers Jim Morrison, dem Be-gründer der legendären Band »The Doors«.

Für Goethe habe die langjährige Arbeit am Faust u.a. die Funktion gehabt,»chaotische Erregungen und diffuse mentale Prozesse«, ähnlich wie in Nar-rativbildungen der Psychotherapie, zu »kohärenten Formen« zu führen(S. 130). Holm-Hadulla begnügt sich allerdings nicht mit der Analyse derproduktionsästhetischen und autorpsychologischen Relevanz des Faust, son-dern geht auch auf werkästhetische Fragen ein, so auf die Interpretationder Faust-Figur und insbesondere auf die »Mütter«-Szene. Es greife zu kurz,die Ironiesignale und zeitgeschichtlichen Anspielungen der Szene (Laternamagica) herauszustellen, wenn man den tiefenpsychologischen Urgrundvon Fausts Abstieg zu den »Müttern« ausblende. Archaische Regressions-ängste würden hier intensiv durchlebt, aber auch ausgehalten und bewältigtmit dem »magischen Schlüssel« einer Union aus Sexualität und Kreativität(S. 123).

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Jim Morrison gelang es demgegenüber nicht oder nur kurzfristig, archai-sche Affekte der Angst und der Aggression kreativ zu gestalten und in kohä-rente Formen zu verwandeln. Anhand des Songs Dawn’s Highway zeigtHolm-Hadulla eindrucksvoll auf, wie der Sänger zwar offenbar versuchte,frühkindliche Erfahrungen der psychischen Intrusion, der Überflutung unddes Strukturverlusts zu beschreiben und dadurch zu bannen (»Geister drin-gen in die wie eine Eierschale zerbrechliche Seele des Kindes ein«, heißt es imSong), doch eine dauerhafte Mentalisierung konnte nicht erreicht werden(S. 145). Stattdessen fühlte sich Morrison von einem Untergangssog erfasstund erkannte sich im Freudschen Theorem des ›Todestriebs‹ wieder, das ihm1962 durch die Lektüre von Norman O. Browns Buch Life Against Death:The Psychoanalytic Meaning of History vermittelt wurde (S. 152).

Mit der Triebpsychologie allein – so wird durch Holm-Hadullas Kommen-tare deutlich – lässt sich Morrisons Schicksal allerdings nicht adäquat begrei-fen. Vielmehr scheint eine frühe Ich-Störung vorzuliegen, die den Sänger nochwährend seiner Erfolgsjahre zwang, sich durch Stilisierung ein künstliches,scheinbar starkes und tragfähiges Ich aufzubauen, das durch die »Idolatrie sei-ner Zeit« (S. 178) auf illusionierende Weise bestätigt, medial aufgeheizt undmanisch potenziert wurde, um sich zuletzt als substanzlos zu erweisen. Auchhinsichtlich seiner künstlerischen Kreativität wurde Morrison durch die feh-lende Strukturiertheit des eigenen Ichs gehandikapt: Es fehlte ihm zwar nichtan originellen Ideen (zumindest nicht in der Anfangsphase), »aber es fehlteihm an Widerstandsfähigkeit, Frustrationstoleranz und Disziplin zum konti-nuierlichen Arbeiten« (S. 154). Starke Affekte und Triebe mussten so aus-agiert werden, statt gestaltet werden zu können; exzessive Erfahrungen mitDrogen und Alkohol dienten dazu, »ein fragiles Selbst zu erregen und gleich-zeitig zu stabilisieren« (ebd.).

Vor dem Hintergrund des positiven Paradigmas von Goethe und des nega-tiven Paradigmas von Morrison stellt Holm-Hadulla den Transfer auf die Pra-xis her und fragt nach Anwendungsbezügen seiner Kreativitätsforschung. Wieschon im neurologisch fundierten Teil des Buchs steht ihm auch hier das Idealeiner Balance zwischen Strukturiertheit und Freiraum, Ordnung und Chaosvor Augen: sowohl in Pädagogik und Bildung als auch in der psychotherapeu-tischen Behandlung. Für Letztere würde dies eine Integration der konträrenKonzepte von Jacques Lacan und Donald W. Winnicott bedeuten (S. 94 f.):Wo Winnicott auf die Herstellung von Kohärenz und die Entwicklung des›wahren Selbst‹ aufgrund der stabilisierenden therapeutischen Bindung ab-zielt, grenzt sich Lacan von jeglichen Konzepten des ›Wohlbefindens‹ ab, weiler sie für illusionär erachtet. Patienten und Therapeuten müssten lernen, denMangel menschlicher Existenz zu ertragen und die Lücken des Sinns nichtetwa durch Interpretationen zuzuschütten, sondern antihermeneutisch offen-zulassen.

Holm-Hadulla selbst hat zusammen mit Kollegen 2009 ein integratives Be-handlungsmodell entwickelt, das nicht nur Ansätze Winnicotts und Lacans,sondern auch anderer psychologischer Schulen außerhalb der Psychoanalyse

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aufgreift: das »ABCDE-Modell« (S. 218). A steht hier für Alliance, also füreine »tragfähige und hilfreiche Beziehung« zum Therapeuten, B steht für Be-havior und schließt an verhaltenstherapeutische Ansätze an; C für »Cogni-tions« – hier geht es um die kognitive Arbeit an dysfunktionalen Einstel-lungs-, Wahrnehmungs- und Denkmustern –, D steht für »Psychodynamik«und »reflektiert das Beziehungsverhalten vor dem Hintergrund unbewussterinnerpsychischer und systemischer Konflikte«; E steht für Existenzielles.

Wenn es in der therapeutischen Praxis auch kaum immer möglich seinwird, alle diese Aspekte gleichermaßen zu berücksichtigen, so ist der integra-tive Ansatz doch mit Sicherheit wegweisend. Das theoretische Fundamenthierzu liefert die vorliegende Studie mit ihrem Versuch einer systematischenIntegration neurologischer, psychologischer und kulturwissenschaftlicherKonzepte, die ebenso verständlich wie kompetent dargestellt werden. Dergroße Bogen, den das Buch schlägt – von den Schöpfungsgeschichten diverserKulturvölker bis zur Pop-Moderne – zeugt von einem ambitionierten Vorha-ben, erlangt jedoch Kohärenz durch das tragende Thema ambivalenter Krea-tivität, das den Anfangs- und Eckpunkt wie auch die Stützpfeiler der Brücken-Architektur bildet. Holm-Hadulla hat seine Kenntnisse also nicht zuletzt inder eigenen Schreibpraxis umzusetzen vermocht, was für deren Validitätspricht.

Sandra Kluwe, Heidelberg

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