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Der Nervenarzt 5•2003 | 413 Zusammenfassung Die Chorea Huntington ist eine autosomal- dominant vererbte, neurodegenerative Erkrankung, bei der depressive und psychoti- sche Syndrome sowie Persönlichkeitsverän- derungen vor Beginn der charakteristischen Bewegungsstörungen häufig sind. Seit 1993 ist ein direkter Gennachweis möglich, der sichere Aussagen über die Trägerschaft zu- lässt. Dabei stellt die Prädiktion einer schwe- ren, mit infauster Prognose verlaufenden Erkrankung ohne kausale Therapiemöglich- keit eine erhebliche psychische Belastung dar.Medizinethische Implikationen hat nicht nur die Problematik der Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik oder die geneti- sche Testung von Kindern.Zu denken ist auch an paranoide und depressive Syndro- me, die die Einwilligungsfähigkeit nachhal- tig einschränken können. Dies betrifft insbe- sondere zwei ethische Prinzipien, die für die Einwilligung des Patienten relevant sind. Frühzeitige kognitive Defizite können zu Störungen des Informationsverständnisses führen.Damit wäre das Prinzip des Verste- hens als Grundlage einer jeden Einwilligung in Frage gestellt. Der „informed consent“ kann aber auch durch Einschränkung der freien Willensentscheidung infolge famili- ärer oder gesellschaftlicher Einflüsse erschwert sein. Auf diese Weise wäre das Prinzip der Freiwilligkeit verletzt. Da zu erwarten ist, dass die Indikation für genetische Untersuchungen in Zukunft Die erstmals von Huntington 1872 de- tailliert beschriebene Chorea ist eine au- tosomal-dominant vererbte, degenerati- ve neuropsychiatrische Erkrankung mit progredientem Verlauf. Die Prävalenz dieser Erkrankung wird in Westeuropa mit 7–8/100000 angegeben; die Pene- tranz des verantwortlichen Gens ist voll- ständig, d. h. Kinder von Patienten mit Chorea Huntington haben ein 50%iges Erkrankungsrisiko. Die Expressivität, d. h. Merkmale wie z. B. Erstmanifestati- onsalter sowie Art und Schwere der klini- schen Symptomatik, ist interindividuell sehr unterschiedlich. So manifestieren sich die Bewegungsstörungen meist zwi- schen dem 3. und 5. Lebensjahrzehnt – zu einem Zeitpunkt, zu dem die Patienten häufig das Gen bereits auf ihre Nach- kommen vererbt haben. Die motori- schen Symptome können allerdings auch schon in der frühen Kindheit oder aber auch erst jenseits des 70. Lebensjahres auftreten.Das klinische Vollbild ist durch die charakteristische Bewegungsstörung sowie unterschiedliche psychiatrische Syndrome und Demenz gekennzeichnet. Eine kausale Therapie steht zz. nicht zur Verfügung.Die Chorea Huntington führt ca. 15 Jahre nach Diagnosestellung qual- voll zum Tode, meist durch rekurrieren- de Infekte und Kachexie (Übersichten in: [17, 24, 27, 30, 34]). Psychiatrische Syndrome In 40–60% der Patienten gehen psychi- atrische Symptome den charakteristi- schen motorischen Symptomen mitun- ter Jahre voraus; sie sind also nicht Re- aktion der krankheitsbedingten Behin- derung sondern sind als organisch be- dingt anzusehen. Auffallend ist die He- terogenität der auftretenden psychiatri- schen Störungen, obgleich es sich bei Übersicht Nervenarzt 2003 · 74:413–419 DOI 10.1007/s00115-002-1413-1 U. Meincke 1 · Ch. Kosinski 2 · K. Zerres 3 · G. Maio 4 1 Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, RWTH Aachen 2 Neurologische Klinik, RWTH Aachen 3 Institut für Humangenetik, RWTH Aachen 4 Zentrum für Ethik und Recht in der Medizin,Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Psychiatrische und ethische Aspekte genetischer Diagnostik am Beispiel der Chorea Huntington © Springer-Verlag 2003 Dr. U. Meincke Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, RWTH Aachen, Pauwelsstraße 30, 52074 Aachen, E-Mail: [email protected] beträchtlich ausgeweitet werden wird, ist es notwendig, von Erfahrungen bei Risikoper- sonen mit dem Gentest auf Chorea Hunting- ton zu lernen und entsprechende ethische Richtlinien zu entwickeln, die dann auch auf andere Erkrankungen übertragen werden können. Schlüsselwörter Autonomie · Chorea Huntington · Einwilligungsfähigkeit · Gentest · Präimplantationsdiagnostik

Psychiatrische und ethische Aspekte genetischer Diagnostik am Beispiel der Chorea Huntington

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Page 1: Psychiatrische und ethische Aspekte genetischer Diagnostik am Beispiel der Chorea Huntington

Der Nervenarzt 5•2003 | 413

Zusammenfassung

Die Chorea Huntington ist eine autosomal-dominant vererbte, neurodegenerativeErkrankung, bei der depressive und psychoti-sche Syndrome sowie Persönlichkeitsverän-derungen vor Beginn der charakteristischenBewegungsstörungen häufig sind. Seit 1993ist ein direkter Gennachweis möglich, dersichere Aussagen über die Trägerschaft zu-lässt. Dabei stellt die Prädiktion einer schwe-ren, mit infauster Prognose verlaufendenErkrankung ohne kausale Therapiemöglich-keit eine erhebliche psychische Belastungdar. Medizinethische Implikationen hat nichtnur die Problematik der Pränatal- undPräimplantationsdiagnostik oder die geneti-sche Testung von Kindern. Zu denken istauch an paranoide und depressive Syndro-me, die die Einwilligungsfähigkeit nachhal-tig einschränken können. Dies betrifft insbe-sondere zwei ethische Prinzipien, die für dieEinwilligung des Patienten relevant sind.Frühzeitige kognitive Defizite können zuStörungen des Informationsverständnissesführen. Damit wäre das Prinzip des Verste-hens als Grundlage einer jeden Einwilligungin Frage gestellt. Der „informed consent“kann aber auch durch Einschränkung derfreien Willensentscheidung infolge famili-ärer oder gesellschaftlicher Einflüsseerschwert sein. Auf diese Weise wäre dasPrinzip der Freiwilligkeit verletzt.

Da zu erwarten ist, dass die Indikationfür genetische Untersuchungen in Zukunft

Die erstmals von Huntington 1872 de-tailliert beschriebene Chorea ist eine au-tosomal-dominant vererbte, degenerati-ve neuropsychiatrische Erkrankung mitprogredientem Verlauf. Die Prävalenzdieser Erkrankung wird in Westeuropamit 7–8/100000 angegeben; die Pene-tranz des verantwortlichen Gens ist voll-ständig, d. h. Kinder von Patienten mitChorea Huntington haben ein 50%igesErkrankungsrisiko. Die Expressivität,d. h. Merkmale wie z. B. Erstmanifestati-onsalter sowie Art und Schwere der klini-schen Symptomatik, ist interindividuellsehr unterschiedlich. So manifestierensich die Bewegungsstörungen meist zwi-schen dem 3.und 5.Lebensjahrzehnt – zu

einem Zeitpunkt, zu dem die Patientenhäufig das Gen bereits auf ihre Nach-kommen vererbt haben. Die motori-schen Symptome können allerdings auchschon in der frühen Kindheit oder aberauch erst jenseits des 70. Lebensjahresauftreten.Das klinische Vollbild ist durchdie charakteristische Bewegungsstörungsowie unterschiedliche psychiatrischeSyndrome und Demenz gekennzeichnet.Eine kausale Therapie steht zz. nicht zurVerfügung.Die Chorea Huntington führtca. 15 Jahre nach Diagnosestellung qual-voll zum Tode, meist durch rekurrieren-de Infekte und Kachexie (Übersichten in:[17, 24, 27, 30, 34]).

Psychiatrische Syndrome

In 40–60% der Patienten gehen psychi-atrische Symptome den charakteristi-schen motorischen Symptomen mitun-ter Jahre voraus; sie sind also nicht Re-aktion der krankheitsbedingten Behin-derung sondern sind als organisch be-dingt anzusehen. Auffallend ist die He-terogenität der auftretenden psychiatri-schen Störungen, obgleich es sich bei

ÜbersichtNervenarzt 2003 · 74:413–419DOI 10.1007/s00115-002-1413-1

U. Meincke1 · Ch. Kosinski2 · K. Zerres3 · G. Maio4

1 Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, RWTH Aachen2 Neurologische Klinik, RWTH Aachen3 Institut für Humangenetik, RWTH Aachen4 Zentrum für Ethik und Recht in der Medizin, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Psychiatrische und ethischeAspekte genetischer Diagnostik am Beispiel der Chorea Huntington

© Springer-Verlag 2003

Dr. U. MeinckeKlinik für Psychiatrie und Psychotherapie,RWTH Aachen, Pauwelsstraße 30,52074 Aachen,E-Mail: [email protected]

beträchtlich ausgeweitet werden wird, ist esnotwendig, von Erfahrungen bei Risikoper-sonen mit dem Gentest auf Chorea Hunting-ton zu lernen und entsprechende ethischeRichtlinien zu entwickeln, die dann auch aufandere Erkrankungen übertragen werdenkönnen.

Schlüsselwörter

Autonomie · Chorea Huntington · Einwilligungsfähigkeit · Gentest · Präimplantationsdiagnostik

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Übersicht

U. Meincke · Ch. Kosinski · K. ZerresG. Maio

Psychiatric and ethical aspects of genetic diagnostics in cases of Huntington’s disease

Summary

Huntington’s disease is an autosomally dom-inant, inherited neurodegenerative disorder.Depression, psychotic syndromes, and per-sonality changes are common psychiatricfeatures, frequently occurring before the on-set of characteristic motor symptoms. Since1993, direct genetic testing has been avail-able, which provides predictive diagnosiseven in neurologically asymptomatic per-sons at risk.The prediction of this devastat-ing disease constitutes a massive psycholog-ical burden. In particular, since possibilities ofprevention or causal therapy are still notknown, ethical aspects are of considerableimportance.This refers for example to preim-plantation diagnostic testing or the testingof children. Besides, it is important to consid-er paranoid or depressive symptoms restrict-ing the competence of decision making forgenetic testing. Early-onset cognitive deficitsmay also lead to fundamental disability inunderstanding. In addition, informed con-sent may be complex due to social or familialissues which may interfere with the autono-my of the applicant. In these circumstances,the counselor may clash between the princi-ple of beneficence/nonmaleficence andrespect for the autonomy of the applicant. Inthe future, genetic tests will be used for anincreasing number of inherited diseases; it istherefore necessary to learn from experi-ences in the predictive testing of Hunting-ton’s disease and to develop ethical codicesthat can be transferred to the practice ofcounseling in other genetic disorders.

Keywords

Autonomy · Competence · Genetic testing ·Huntington’s disease · Preimplantation diagnostic genetic testing

der Chorea Huntington im Gegensatz zuanderen neuropsychiatrischen Erkran-kungen um eine abgegrenzte klinischeEntität mit bekanntem Erbgang undneuropathologischen Veränderungenhandelt.

Während psychotische Störungenmit Prävalenzraten von 3–10% [8, 14, 17]eher selten sind, wird die Lebenszeit-Prävalenz affektiver Störungen in neue-ren Studien mit ca. 30–40% angegeben;ca.20% entwickeln eine Major-Depressi-on [8, 13, 14, 17]. Zirka jeder 4. Patient be-geht zumindest einen Suizidversuch.DieSuizidrate (0,5–12,7%) zeigte sich 4- bis5fach erhöht, wobei das Suizidrisikokurz nach klinischer Diagnosestellungam größten ist. Als Risikofaktoren wur-den depressive Syndrome, Isolation (un-verheiratet, kinderlos) und Suizide inder Familie genannt [10, 11, 12, 28, 32].

Persönlichkeitsveränderungen sindin über 50% der Patienten zu beobachten.Von Kehrer (1928) und Panse (1942) wur-de die Choreopathie mit zwei Prägnanz-typen beschrieben (Übersicht in: [26]):

◗ den reizbaren Typus mit moros-depressiven Verstimmungen, aggres-siven Ausbrüchen und Triebhaftig-keit sowie

◗ den euphorischen Typus mit Unbe-kümmertheit und lange recht guterhaltener Intelligenz.

Im ICD 10 werden sie im Sinne einesmehr symptomorientierten, dimensio-nalen Ansatz als „organisch bedingtePersönlichkeitsveränderung“ eingeord-net, mit Beschreibung der im Vorder-grund stehenden Verhaltensauffälligkei-ten wie z. B. Reizbarkeit, Feindseligkeit,Störung der Impulskontrolle, Aggressi-vität oder Apathie. Im weiteren Verlaufder Chorea Huntington entwickelt sichregelhaft eine subkortikale Demenz ins-besondere mit Störungen der Aufmerk-samkeit und Merkfähigkeit sowie fron-taler Exekutivfunktionen. Eine schwereDemenz liegt aber in der Regel erst Jah-re nach Beginn der motorischen Symp-tome vor [5, 34].

Genetische Testung auf Chorea Huntington

Die Arbeitsgruppe um Gusella konnte1983 das für die Chorea Huntington ver-antwortliche Gen auf dem kurzen Armder Chromosoms 4 lokalisieren, ohne

das Gen selbst zu identifizieren. Damitwar eine indirekte Genotypanalysemöglich,mit der erstmals eine präsymp-tomatische, also prädiktive Testung vonRisikopersonen in informativen Chorea-Familien erfolgen konnte. Dieser Testberuht auf Kopplungsanalysen mit po-lymorphen Markern, die nahe dem Genfür Chorea Huntington lokalisiert sindund mit ihm vererbt werden. Für dieseTestung bedurfte es allerdings der Infor-mation einer ausreichend großen An-zahl von Familienmitgliedern z. B. ausdrei Generationen.

Nach der Chararakterisierung desHuntington Gens (IT 15) wird seit 1993ein direkter Gentest angeboten, bei demdurch DNA-Analyse eine symptomati-sche Diagnose bei bereits betroffenenPatienten oder eine prädiktive Diagnosepräsymptomatischer Risikopersonen,d. h. vor Auftreten motorischer Sympto-me mit über 99%iger Sicherheit möglichist. Patienten mit Chorea Huntingtonweisen im Exon 1 des Huntington Genseine verlängerte Wiederholung vonCAG-Triplets auf. Während die Anzahldieser Repeats bei Normalpersonendurchschnittlich 11–34 beträgt, führteine Repeatlänge von mehr als 40 sicherzum Ausbruch einer Chorea Hunting-ton. Für Repeatlängen zwischen 35–39besteht eine Grauzone diagnostischerUnsicherheit, wobei in den nächsten Ge-nerationen eine Zunahme der CAG-Wiederholungen auftreten kann. Wich-tig ist, dass der Test individuell keine si-cheren Aussagen über Krankheitsverlaufsowie Art und Schwere der Sympto-matik machen kann [21, 27, 34, 37].

Gründe für die Inanspruch-nahme der prädiktiven genetischen Diagnostik

Gründe für Risikopersonen, sich aufChorea Huntington testen zu lassen,umfassen zumeist den Wunsch nach Si-cherheit. Sie ziehen ein sicheres Wissenüber ihren genetischen Status der anhal-tenden und oft als quälend empfunde-nen Unsicherheit vor [19]. Viele Perso-nen stellen sich mit der Hoffnung auf einnegatives Testergebnis vor,um dann ihreZukunftsplanung z. B. hinsichtlich Hei-rat, Kinderwunsch und beruflichem En-gagement zu konkretisieren [4]; in derStudie von Kessler et al. [25] erwartetenca. 74% den Ausschluss der Genträger-schaft. Auch ein positives Testergebnis

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könnte ihnen Zeit geben,sich emotional,medizinisch und finanziell auf die Er-krankung vorzubereiten.Sicherlich stelltder prädiktive Gentest einen Beitrag zurindividuellen Selbstbestimmung undEntfaltungsfreiheit dar (z. B. [7]).

Auf der anderen Seite könnte aberein positives Testergebnis bei Risikoper-sonen und deren Familien zu erhebli-cher psychischer und sozialer Belastungsowie letztendlich zur Suizidalität füh-ren, insbesondere unter Berücksichti-gung des hohen Risikos depressiver Epi-soden (z. B. [11, 25]). In einer Multi-Cen-ter-Studie mit 4527 Personen wurden ineinem 2-jährigen Beobachtungszeit-raum in 0,28% der Untersuchungsper-sonen mit positivem Testergebnis Suizi-de festgestellt; diese geringe Rate ist aberimmerhin noch 10-mal so hoch wie derUS-Durchschnitt [3]. Bei 2% der Perso-nen mit positiven, aber auch 0,3% derPersonen mit negativen Testergebniskam es zu schwerwiegenden psychiatri-schen Folgen (akute Hospitalisierung,Suizidversuch, Suizid) [1]. Doch müssendiese Daten in Hinblick auf ihre Allge-meingültigkeit mit Zweifel und sogarSkepsis betrachtet werden, weil sichervon einer sehr konservativen, paterna-listisch orientierten Personenselektionder beteiligten genetischen Zentren aus-zugehen ist [3] und die Testpersonen nurüber einen kurzen Zeitraum nachver-folgt wurden (ca. 60% weniger als einJahr). Hinzu kommt die sicherlich über-durchschnittliche personelle Ausstat-tung und Expertise der genetischenZentren.Auch wurden in der Studie vonAlmquist et al. [1] keine anderen, insbe-sondere psychosozialen Auswirkungender genetischen Diagnostik im weiterenVerlauf erfasst. Bei 119 der eingeschlos-senen Patienten konnten zudem keineNachuntersuchungen durchgeführt wer-den und auch unsere eigene klinischeErfahrung zeigt, dass nicht wenige Test-personen mit ungünstigem TestergebnisAngebote einer psychologischen Nach-betreuung nicht annehmen.

Zweifellos ist es eine schwere Trau-matisierung zu erfahren, dass man – ob-wohl zz. absolut gesund – an der ChoreaHuntington erkranken wird. Viele Un-tersuchungspersonen erleben das qual-volle Leiden naher Angehöriger in fami-liärer Gemeinschaft mit. Und sie wissen,dass es bislang keine Möglichkeit derTherapie oder Prophylaxe gibt. Es be-steht die Gefahr, dass Risikopersonen

unbedacht der „Macht des Machbaren“verfallen. Dabei könnten manche Pro-banden nicht in der Lage sein, die Fol-gen eines positiven Gentestes auf allenBereichen Ihres Lebens wie z. B. Stigma-tisation und Diskriminierung in Bezugauf Beruf, Familie und soziale Absiche-rung abzuschätzen, wodurch die Tes-tung auch mit erheblichen negativenFolgen für den Probanden verbundensein könnte [31, 35, 36].

In diesem Spannungsfeld steht derArzt, an den sich der Proband mit demWunsch einer prädiktiven Gentestungwendet. Er muss prüfen, aufgrund sei-ner medizinischen und psychologischenFachkompetenz, ob er sich dem Wunschdes Probanden anschließen kann. Diesführt zu der bedeutsamen Frage, unterwelchen Umständen es indiziert und ge-rechtfertigt ist, als Arzt den Wunschnach der Durchführung des gewünsch-ten Testes kritisch zu hinterfragen.

Richtlinien für die Durchführung des prädiktivenGentestes

Bereits bei der Einführung der Gentes-tung war sich die Amerikanische Gesell-schaft für Chorea Huntington dieserProblematik bewusst. 1989 und in über-arbeiteter Form 1994 wurden ausführli-che Richtlinien vorgestellt, die dem Kli-niker Empfehlungen zur Durchführungund Hilfestellung in der Entscheidungs-findung geben sollten. Es wurde ein auf-wendiges obligatorisches Verfahren vor-geschlagen mit genetischer Beratung,neurologischer Untersuchung, psycho-logisch-psychiatrischer Beurteilung, Er-gebnismitteilung und einer anschließen-den interdisziplinären Betreuung.Dane-ben wurden aber auch Voraussetzungenund Ausschlusskriterien entwickelt, beidenen Untersuchungspersonen abge-lehnt oder zumindest zurückgestelltwerden sollten. Die Probanden musstenvolljährig sein und eingehend aufgeklärtwerden über die Charakteristika der Er-krankung sowie Aussagekraft und Ab-lauf des Testes. Ausschlusskriterien be-trafen Probanden mit Diagnosen psychi-atrischer Erkrankungen, die das Beur-teilungsvermögen einschränkten, sowieProbanden mit einem offensichtlichenSuizidrisiko [22].

In der Überarbeitung der amerika-nischen Richtlinien von 1994 wurdenfolgerichtig die Ausschlusskriterien auf-

grund kategorialer psychiatrischer Di-agnosen aufgegeben.Dies trägt Arbeitenwie z. B. von Appelbaum und Grisso [2]sowie Helmchen et al. [18] Rechnung,diedie Bedeutung des psychopathologi-schen und kognitiven Status für die Be-urteilung der Einwilligungsfähigkeitaufzeigten. In den aktuellen amerikani-schen Richtlinien ist die Autonomie hin-sichtlich der Entscheidung zur Testungaber bei bislang psychisch gesundenProbanden – und dabei handelt es sichja zumeist – deutlich eingeschränkt.Eine eingehende Informierung alleinwird nicht mehr als hinreichend angese-hen, es wird vielmehr eine absolut un-abhängige, reiflich überlegte Testung ge-fordert zu einem Zeitpunkt geringen all-gemeinen Stresses, in einem Netzwerkadäquater Hilfen ohne offensichtlicheGefahr für das Auftreten stärkerer de-pressiver Symptome [23]. Zudem wirdnicht wie 1989 eine Evaluation hinsicht-lich Suizidalität ausschließlich bei Pati-enten mit Suizidalität in der Vorge-schichte nahegelegt, sondern allgemeinsei es dem Arzt freigestellt,bei einem ausseiner Sicht bestehenden offensichtli-chen Risiko für Suizidalität oder stärke-rer depressiver Symptome die Testungzurückzustellen. Diese Richtlinien ge-ben dem Arzt z. T. sehr subjektive Krite-rien für die Entscheidungsfindung andie Hand.Zweifelsfrei sind mit dem neu-en Entwurf der Richtlinien paternalisti-sche Ansätze auf Kosten der Autonomiedes Probanden gestärkt. Es stellt sich dieFrage, ob dieses Vorgehen aus medizin-ethischer Sicht gerechtfertigt ist, zumalin den sehr kurzgefassten Internationa-len Richtlinien [15] lediglich das Vorlie-gen schwerer psychiatrischer Störungenund/oder ein hohes Suizidrisiko eineZurückstellung der Testung rechtfertige.

Prinzip des minimalen Paternalismus

Aus medizinethischer Sicht hat sich bis-lang vor allem DeGrazia [9] mit dieserparadigmatischen Problematik der prä-diktiven Gentestung auf Chorea Hun-tington befasst. In seiner Analyse bezüg-lich des Testablaufes und der Aus-schlusskriterien schlägt DeGrazia dasPrinzip des minimalen Paternalismusvor. Falls eine uneingeschränkt autono-me Entscheidung vorliege, dürfe sie derArzt nur übergehen, wenn es klare Hin-weise dafür gebe, dass der Proband

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Übersicht

durch sie in eine extrem schwere Gefahrgeriete. Mit einer derartigen Gefahrmeint der Autor ausschließlich ein signi-fikantes Suizidrisiko. Die Wahrschein-lichkeit des Suizides müsse darüber hin-aus beträchtlich sein, also z. B. bei Sui-zidankündigung im Falle eines positivenTestergebnisses.Das Übergehen des Pro-bandenwunsches müsse mit einer offen-sichtlichen Aussicht auf einen Nutzenfür den Probanden verbunden sein. Da-bei solle seine Freiheit nicht mehr alsunbedingt nötig eingeschränkt werden.Für die Testung bedeute dies, eine Zu-rückstellung einer endgültigen Ableh-nung vorzuziehen.

DeGrazia schlägt konkret vor, dassleichtgradig eingeschränkt autonomeTestpersonen, also z. B. Patienten mit bi-polaren und schizophrenen Störungensowie Suchterkrankungen vom Test zu-rückgestellt werden könnten, wennZweifel an dem Wunsch mit einem po-sitiven Testergebnis weiterleben zu wol-len, bestünden. Bei deutlich einge-schränkter Autonomie, wie sie z. B beileichter Intelligenzminderung und aku-ter psychotischer Störung häufig beste-he, sei diese Entscheidung schon durchschwache Hinweise für eine nachfolgen-de emotionale Instabilität und Depres-sivität gerechtfertigt.

Klinische und ethische Aspektein der Entscheidungsfindungzur prädiktiven Gentestung

Insgesamt wird von DeGrazia die Auto-nomie des Probanden im Entschei-dungsprozess zur prädiktiven Gentes-tung auf Chorea Huntington betont. Esbleibt aber zu prüfen, ob sich DeGraziasPrinzip des minimalen Paternalismusauf unterschiedliche Konstellationen ausder klinischen Praxis zufriedenstellendanwenden lässt. Schwierige Entschei-dungsfindungen in der Beratungs-sprechstunde betreffen häufig Proban-den, bei denen ein depressives Syndromin der Vorgeschichte bekannt ist oderaktuell vorliegt, und insbesondere beidenen sich bereits erkrankte Familien-mitglieder suizidierten. Ratsuchendemit psychiatrischen Vorerkrankungenhaben nach Erhalt eines positiven Test-ergebnisses ein erhöhtes Suizidrisiko [1]und bedürfen in besonderer Weise einersorgfältigen Beratung. In der Entschei-dungsfindung sollte allerdings der aktu-elle affektive und kognitive Status des

Probanden ausschlaggebend sein, wobeiauch die Anwendung von Selbst- undFremdbeurteilungsbögen hilfreich seinkann. Probanden mit leichtgradigen de-pressiven Syndromen und dem glaub-haften Wunsch, auch bei ungünstigemTestergebnis weiterleben zu wollen, sindnach DeGrazia ggf. als minimal einge-schränkt autonome Patienten einzuord-nen, weshalb zu überlegen ist, ob in die-sem Falle die Testung gerechtfertigt seinkönnte. Bei Patienten mit schwererendepressiven Syndromen, insbesonderewenn die Auslösung früherer Episodendurch akute Belastungsfaktoren undSuizidversuche in der Familie bekanntsind, könnte dagegen die Belastungdurch ein möglicherweise positives Test-ergebnis sehr gravierend erscheinen, so-dass die Testung gegen den Willen derProbanden zunächst verschoben werdenkönnte. In diesem Einzelfall könnte da-her das paternalistische Verhalten ge-rechtfertigt erscheinen, die Gentestungzunächst zurückzustellen und den wei-teren Verlauf der depressiven Störungabzuwarten, auch wenn aktuell keineakuten Gefährdungsaspekte vorliegen.

Während man sich generell bei Pro-banden mit psychiatrischen Störungenbezüglich der Einwilligungsfähigkeit imklinischen Alltag recht gut an den Krite-rien DeGrazias (s. oben) orientierenkann, stellen sich in der Sprechstundenun in der Regel aber Gesunde ohnepsychiatrische oder kognitive Symptomemit dem Wunsch nach einem Gentestvor. Sie sind zum Teil bereits durch z. B.das Internet gut vorinformiert und kön-nen meist gute Gründe für die Testungangeben,die ihnen in der Regel nach ein-gehender Aufklärung ermöglicht wird.In welchen Einzelfällen fällt es jedochdem Arzt schwer, den Entschluss zurDurchführung rasch zu fällen? Grund-sätzlich sieht sich der Arzt nicht in derihm vertrauten Rolle,dass ein Patient Be-schwerden hat und ihn um Hilfe ersucht.Hier kommt ein gesunder Mensch zuihm, der bereits mit klarer Absicht vomArzt lediglich eine Dienstleistung erwar-tet.Diese ersucht er,um dann meist weit-reichende Entscheidungen seines priva-ten und beruflichen Lebens zu treffen.Seine Entscheidungsprozesse sind durchdie Testung quasi Folge einer vom Arztdurchgeführten Laborleistung. Der Arzterscheint dabei aus Sicht des Probandennur indirekt beteiligt. Dagegen weiß derArzt aufgrund seiner Fachkompetenz

um die weitreichenden, möglicherweisefatalen Folgen einer Testung. Und dabeiist nicht nur die vom aktuellen psycho-pathologischen Befund abhängig ge-machte Suizidgefahr zu bedenken [9],sondern auch andere Konstellationenkönnten u. U. den Arzt veranlassen, dieTestung auch gegen den Willen des Pro-banden zunächst zurückzustellen.

Dies betrifft beispielsweise die Prü-fung und ggf. den Aufbau eines famili-ären und sozialen Netzes. Zum Beispielkann es bedenklich sein, alleinstehen-den Probanden, die einen nahen Ange-hörigen über viele Jahre aufopfernd ge-pflegt haben, kurz nach dessen Tode dieGentestung zu ermöglichen, wenn einunterstützendes familiäres oder sozialesNetz fehlt. Aus der generellen Hilfs-pflicht des Arztes würde die Verpflich-tung erwachsen, zunächst dahingehendzu wirken, Strukturen aufzubauen, mitderen Hilfe die Probanden auch ein un-günstiges Ergebnis verarbeiten könnten,z. B. in Form von psycho- und sozialthe-rapeutischer Vor- und Nachbetreuung.

Ein strittiger Punkt ist auch die Artund Dauer der Informationsvermittlung.Wie verhält es sich mit jungen Proban-den, deren Elternteil erste leichte moto-rische Symptome entwickelt, der Pro-band also bislang keinen Kontakt mitdem Vollbild der Erkrankung hatte? Wiewill man ihm dies in kurzer Zeit vermit-teln? Soll der Proband mit der Sympto-matik im fortgeschrittenen Stadiumkonfrontiert werden, um ihm seinemögliche Entwicklung und die seinesElternteils vor Augen zu führen? WievielAufklärung in welchem Zeitraum istsinnvoll? Darf man durch allzu konfron-tierende Information der Verdrängungals Coping-Strategie von Vornhereinjede protektive Möglichkeit nehmen? Eswäre durchaus die klinische Situationdenkbar, bei der zwei klinische Aufklä-rungsgespräche nicht ausreichen, umdie möglichen Auswirkungen zu ver-deutlichen, ohne den Patienten mit ei-nem zu raschen Vorgehen zu schaden. Inderartigen Fällen kann eine Verschie-bung des Testes angebracht sein, wennder Patient rasch entschlossen und un-kritisch eine Testung einfordert. Darü-ber hinaus ist es in der Regel angebracht,nach der persönlichen Aufklärung überdie Erkrankung auf zusätzliche Infor-mationsquellen hinzuweisen, insbeson-dere der Deutschen Huntington Hilfee.V. (www.dhh-ev.de).

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Ein weiterer Diskussionspunkt be-trifft die Stabilität der Familienmitglie-der. Ein positives Testergebnis verdop-pelt das Risiko der Kinder, die gar nichtam Beratungsprozedere teilnehmen,sta-tistisch von 25 auf 50%. Wie werden siemit diesem Ergebnis umgehen? Ist sichder Proband wirklich bewusst, welcheAuswirkungen das Testergebnis z. B. aufdie Partnerschaften seiner Kinder habenkann? Was bedeutet es für die Lebens-partner, von einer langjährigen Pflege-bedürftigkeit mit fortschreitender De-menz des Partners zu erfahren? Nichtselten droht eine frühzeitige Isolierungdes Probanden. Es ist wichtig, die anti-zipierten Reaktionen in Abhängigkeitvom Testergebnis zu erfragen, Gefühleund Ängste hinsichtlich des familiärenZusammenhaltes oder der beruflichenStellung bei dem Ratsuchenden, aberggf. auch bei den Angehörigen anzu-sprechen. Auch mögliche Gefühle vonScham und Schuld (z. B. Erhöhung desgenetischen Risikos der Kinder, Verän-derungen der Rollenverteilung) solltennicht umgangen werden. Eine differen-zierte Entscheidungsfindung bedeutetmeist Einbeziehung der Familie undZeit, die sich der Proband bisweilennicht geben will.

Verletzt die Gentestung die Autonomie anderer?

Bei dieser Problematik bietet DeGraziasModell des minimalen Paternalismuswenig Hilfe. Wie verhält es sich bei mo-nozygoten Zwillingen, wenn der eine ge-gen den Willen des anderen eine Testungwünscht, die den Genstatus beider auf-decken würde? Gewährt man die Tes-tung, verletzt man die autonome Ent-scheidung dessen, der es nicht wissenwill. Die Entscheidung so oder so bleibtpaternalistisch. Und ist das Recht aufWissen statt auf Nichtwissen wirklichhöher einzuschätzen, wenn der die Tes-tung Ablehnende nicht an Beratung, In-formation und psychologischem Scree-ning beteiligt ist, die Trägerschaft durchden Zwilling erfährt und dann das Suizi-drisiko kaum einschätzbar ist? Währenddieser Fall sicher ein kaum zu erwarten-des Extrembeispiel darstellt, betrifft die-se Problematik häufiger die Testung vonEnkeln Chorea-Erkrankter gegen denWillen der bislang gesunden Eltern,wenn diese ihren Genstatus nicht erfah-ren möchten.

Ein weiteres Problem ist die Ein-schätzung der Autonomie des Proban-den, hier an einem kurzen Fallbeispielerläutert: Eine junge, finanziell von ih-ren Eltern abhängige Frau gibt erst im 2.Beratungsgespräch an, dass sie zwar aufDruck ihrer Eltern den Gentest durch-führen lassen will. Es sei aber jetzt ihreeigene wohl überlegte Entscheidung.Ihre Eltern könnten schlecht mit der Un-sicherheit leben und die Testung ergebedie Möglichkeit, das gespannte Verhält-nis zu bessern. Es sei ihr klar, dass diesvielleicht auch sehr negative Folgen fürdas Zusammenleben haben könnte,aberdieses Risiko ginge sie ein. Die Patientinist über die Erkrankung und deren prä-diktive Testung sehr gut informiert. Indiesem Fall fällt die Beurteilung der Au-tonomie der Probandin besondersschwer.Auf der einen Seite ist die Fähig-keit zu einer intentionalen Entscheidunggegeben, den Gentest zwecks Verbesse-rung der Beziehung zu den Elterndurchführen zu lassen. Auf der anderenSeite erscheint die innere Freiheit derProbandin zur unbeeinflussten Willens-bestimmung bezüglich der Gentestungdurch Zwang und Druck von außenmassiv beeinträchtigt. In Kenntnis derbesonderen Familiensituation erscheintes deshalb fraglich, als Arzt dem Gentestohne Unterredung im Beisein der Elternzuzustimmen. Es muss unseres Erach-tens Aufgabe des Arztes sein, die Elternin den Informationsprozess zu integrie-ren und zu ermöglichen, dass sie ihrerTochter eine freie Entscheidung gewäh-ren. Die klinische Erfahrung zeigt, dassnoch häufiger die Partner, mitunter sub-til, auf die rasche Durchführung des Tes-tes drängen. Diese klinische Konstellati-on verdeutlicht die Problematik hin-sichtlich der freien Willensbestimmung,die in den nächsten Jahren mehr an Ge-wicht gewinnen wird. Das betrifft z. B.versicherungsrechtliche Fragen, da beizunehmender Anwendung prädiktiverTests die Versicherungsgesellschaftendarauf drängen könnten, die Kenntnisüber die Ergebnisse bereits durchge-führter Tests zur Voraussetzung für denVertragsabschluss zu machen (1).

DeGrazia rechtfertigt die Anwen-dung eines minimalen Paternalismus inder Entscheidungsfindung unter ande-rem damit, dass ein günstiges Testergeb-nis – immerhin mit einer 50%igenWahrscheinlichkeit – grundsätzlich eineBenefizienz ärztlichen Handelns darstel-

le.Aber es ist zu hinterfragen, ob ein ne-gatives Testergebnis überhaupt in jedemFall günstig für den Probanden ist. Wieverhält es sich bei Probanden, die ihreeng vertrauten, bereits erkrankten Ge-schwister pflegen und die mit ihremTestwunsch hauptsächlich die Frage ver-binden: Werde ich das Schicksal meinerFamilie teilen? Verspricht ein günstigesTestergebnis wirklich immer Entlastungoder ist nicht in derartigen Fällen ehereine Belastung durch die Schuld des Ver-schonten (survivor’s guilt) zu erwarten?

Präimplantationsdiagnostik

Die bislang in den Richtlinien nicht er-wähnte, in zahlreichen Ländern aber be-reits praktizierte Präimplantationsdi-agnostik wird z.Z. in Deutschland inten-siv und kontrovers diskutiert. Sie wirdbei Paaren ohne Fertilitätsstörung abermit einem hohen Risiko für ein gene-tisch schwer geschädigtes Kind ange-wendet, um nach bioptischem Aus-schluss der genetischen Anlage nachdem 8-Zellen-Stadium den Embryo indie Gebärmutter einzusetzen. DiePräimplantationsdiagnostik wird aller-dings bislang in Deutschland nichtdurchgeführt, da es strittig ist, ob sie imStadium der Pluripotenz (8-Zellen-Sta-dium) mit dem Embryonenschutzgesetzvereinbar ist.

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Tabelle 1Problemfelder in der Entschei-dungsfindung zur prädiktivenGentestung auf Chorea Huntington

Psychopathologischer Befund (insbesondere depressive und paranoideSyndrome, Demenz)

Psychiatrische Eigenanamnese

Suizide von betroffenen Angehörigen

Fehlende soziale und familiäre Unterstützung

Art und Dauer der Informationsvermittlung

Psychische Stabilität der Familienmitglieder

Verletzung der Autonomie anderer

Freiheit der Willensbestimmung

Survivor’s guilt

Finanzielle Absicherung

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Übersicht

Eine differenzierte Diskussion überdie prinzipielle Vertretbarkeit derPräimplantationsdiagnostik würde denRahmen dieser Arbeit bei weitem über-schreiten. Dabei erscheint eine grund-sätzliche Ablehnung aufgrund medizi-nethischer Gründe und auch unter Be-rücksichtigung der aktuellen Praxis derPränataldiagnostik, die ebenfalls mit er-heblichen ethischen Problemen behaftetist (z. B. [19]), und des Schwanger-schaftsabbruch nach § 218 StGB nichthaltbar [29]. Der von der Bundesärzte-kammer 2000 publizierte Diskussions-entwurf [6] für eine Richtlinie zurPräimplantationsdiagnostik sieht einestrenge Indikationsstellung vor und be-rücksichtigt in erster Linie schwere ge-netische Erkrankungen mit schlechterPrognose und mangelnden Thera-piemöglichkeiten. Es wird ferner ausge-führt, dass die Untersuchung für spät-manifestierende Erkrankungen in derRegel nicht erfolgen soll. Es kann alsodavon ausgegangen werden, dass inDeutschland, wenn die Präimplantati-onsdiagnostik entsprechend der Bedin-gungen der Deutschen Bundesärzte-kammer zulässig werden sollte, die Cho-rea Huntington als spätmanifestierendeErkrankung nicht als Indikation be-trachtet würde.

Testung von Minderjährigen

In den aktuellen Richtlinien wird einegenetische Testung von Minderjährigennicht empfohlen. Dieses Ausschlusskri-terium begründet sich auf eine grund-sätzlich noch nicht ausreichend entwi-ckelte Reife und Autonomie als Voraus-setzung für einen informed consent. Zu-dem steht häufig die Motivation der El-tern im Vordergrund, mit Hilfe der Tes-tung deren eigene Ängste bezüglich desGenstatus ihres Kindes zu mildern. ImFalle eines ungünstigen Testergebnisseskönnten daraus Nachteile für das Kindhinsichtlich Zuwendung und Förderungentstehen. Entwicklungsabhängige un-spezifische Beschwerden könntenfälschlicherweise dem Beginn der Cho-rea Huntington zugeordnet werden.An-dererseits sind Umstände denkbar, beidenen die Belastung durch den persis-tierenden Risikostatus und die testbe-dingte Belastung auch bei Jugendlichengenau abgewogen werden müssen, z. B.wenn ein minderjähriger Proband aus-reichender Reife für einen informed con-

sent aus eigenem Antrieb die Testungwünscht, insbesondere wenn er überviele Jahre um die Erkrankung in derFamilie und über sein eigenes Erkran-kungsrisiko weiß.

In Anbetracht der Tatsache, dassprinzipiell 16-Jährigen nicht per se auf-grund ihres Alters, sondern nur auf-grund einer festgestellten mangelndenReife die Einwilligung zu einer medika-mentösen Behandlung verwehrt werdenkann, legt auch im Falle der Gentestungauf Chorea Huntington eine individuel-le, altersunabhängige Einschätzung derEinwilligungskompetenz nahe. Allge-mein gültige, von der subjektiven Beur-teilung des Arztes weitgehend unabhän-gige Kriterien dieser Kompetenz, bei derauch soziale, emotionale und motivatio-nale Faktoren bedeutsam sind, fehlenaber bislang und sind Gegenstand weite-rer ethischer Forschung.

Resümee

Zusammenfassend ist festzuhalten, dassdie ausführlichen Richtlinien der Ame-rikanischen Huntington-Gesellschaftzur prädiktiven Gentestung [23] gerecht-fertigt erscheinen. Grundsätzlich wirdder Arzt aus Respekt vor der Autonomiedes Probanden dessen Wunsch in derRegel zustimmen,zumal er dem Proban-den nach dem Prinzip der Benefizienzdie mögliche Entlastung durch ein nega-tives Ergebnis nicht vorenthalten möch-te. Besteht aber im individuellen Fall diewohlbegründete Meinung, mit der Tes-tung nicht zu helfen, sondern die An-sicht, dass die negativen Folgen für denProbanden überwiegen, sollte der Bera-ter versuchen, im Dialog mit dem Pro-banden zu einer gemeinsamen Lösungzu kommen. Die Entscheidung zum prä-diktiven Gentest stellt dabei einen zeitli-chen Prozess dar, in dem ein eng koope-rierendes Team aus Genetiker, Neurolo-gen, Psychiater und ggf. Sozialarbeiterdie relevanten Voraussetzungen persön-licher, familärer, sozialer und medizini-scher Art bespricht und deren Bedeu-tung für die Entscheidung erarbeitet.Die Komplexität der Aufklärung aberauch die Vielschichtigkeit der bedeutsa-men Faktoren machen eine aufwendigeVor- und Nachbetreuung absolut erfor-derlich. Dabei sind den kurzgefasstenRichtlinien [15] folgend dem Probandenu. a. eingehend genetische, klinische, so-zioökonomische und testbezogene

Aspekte verständlich zu vermitteln. Eineeinmonatige Bedenkzeit wird als abso-lut erforderlich angesehen, die aber ausklinischer Erfahrung allerdings nichtselten zu kurz sein kann.

Strittig bleibt, wer letzten Endes beidivergierenden Vorstellungen zwischenArzt und Proband das Entscheidungs-recht hat. Der Arzt kann nicht zurDurchführung eines Testes gegen seineÜberzeugung gezwungen werden. Aufder anderen Seite muss der Proband indiesem Falle die Möglichkeit erhalten,sich an anderer Stelle um die gewünsch-te Testung zu bemühen. Aufgabe desArztes in schwierigen Entscheidungs-prozessen zur prädiktiven Gentestungauf Chorea Huntington sollte es aller-dings sein, in eingehenden Gesprächenzusammen mit dem Probanden Lö-sungsmöglichkeiten in den betreffendenKonfliktsituationen zu suchen und Hil-festellungen zu erarbeiten, ggf. auch mitEinbeziehung Angehöriger oder andererBerufsgruppen.

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