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Psychoanalyse im 21. JahrhundertKlinische Erfahrung, Theorie, Forschung, Anwendungen

Herausgegeben von Cord Benecke, Lilli Gast,Marianne Leuzinger-Bohleber und Wolfgang Mertens

Berater der HerausgeberUlrich MoserHenri ParensChrista Rohde-DachserAnne-Marie SandlerDaniel Widlöcher

Rolf-Peter WarsitzJoachim Küchenhoff

Psychoanalyse alsErkenntnistheorie –

psychoanalytischeErkenntnisverfahren

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. JedeVerwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustim-mung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Ver-vielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherungund Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-022276-2

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-026781-7epub: ISBN 978-3-17-026782-4mobi: ISBN 978-3-17-026783-1

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich derjeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinenEinfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Geleitwort zur Reihe

Die Psychoanalyse hat auch im 21. Jahrhundert nichts von ihrerBedeutung und Faszination verloren. Sie hat sich im Laufe ihres nunmehr als einhundertjährigen Bestehens zu einer vielfältigen und durchausauch heterogenen Wissenschaft entwickelt, mit einem reichhaltigentheoretischen Fundus sowie einer breiten Ausrichtung ihrer Anwendun-gen.

In dieser Buchreihe werden die grundlegenden Konzepte, Methodenund Anwendungen der modernen Psychoanalyse allgemeinverständlichdargestellt. Worin besteht die genuin psychoanalytische Sichtweise aufForschungsgegenstände wie z. B. unbewusste Prozesse, Wahrnehmen,Denken, Affekt, Trieb/Motiv/Instinkt, Kindheit, Entwicklung, Persön-lichkeit, Konflikt, Trauma, Behandlung, Interaktion, Gruppe, Kultur,Gesellschaft u. a.m.? Anders als bei psychologischen Theorien und derenÜberprüfung mittels empirischer Methoden ist der Ausgangspunkt derpsychoanalytischen Theoriebildung und Konzeptforschung in der Regelzunächst die analytische Situation, in der dichte Erkenntnisse gewonnenwerden. In weiteren Schritten können diese methodisch trianguliertwerden: durchKonzeptforschung,Grundlagenforschung, experimentelleÜberprüfung, Heranziehung von Befunden aus den Nachbarwissen-schaften sowie Psychotherapieforschung.

Seit ihren Anfängen hat sich die Psychoanalyse nicht nur als einepsychologische Betrachtungsweise verstanden, sondern auch kultur-wissenschaftliche, sozialwissenschaftliche sowie geisteswissenschaftlichePerspektiven hinzugezogen. Bereits Freud machte ja nicht nur Anleihenbei denMetaphern der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts, sondernentwickelte die Psychoanalyse im engen Austausch mit geistes- undkulturwissenschaftlichen Erkenntnissen. In den letzten Jahren sind vorallem neurowissenschaftliche und kognitionspsychologische Konzepte

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und Befunde hinzugekommen. Dennoch war und ist die klinischeSituation mit ihren spezifischen Methoden der Ursprung psychoanalyti-scher Erkenntnisse. Der Blick auf die Nachbarwissenschaften kann jenach Fragestellung und Untersuchungsgegenstand bereichernd sein,ohne dabei allerdings das psychoanalytische Anliegen, mit spezifischerMethodik Aufschlüsse über unbewusste Prozesse zu gewinnen, aus denAugen zu verlieren.

Auch wenn psychoanalytische Erkenntnisse zunächst einmal in dergenuin psychoanalytischen Diskursebene verbleiben, bilden impliziteKonstrukte aus einschlägigen Nachbarwissenschaften einen stillschwei-genden Hintergrund wie z. B. die derzeitige Unterscheidung von zweigrundlegenden Gedächtnissystemen. Eine Betrachtung über die unter-schiedlichen Perspektiven kann den spezifisch psychoanalytischenZugang jedoch noch einmal verdeutlichen.

Der interdisziplinäre Austausch wird auf verschiedeneWeise erfolgen:Zum einen bei der Fragestellung, inwieweit z. B. Klinische Psychologie,Entwicklungspsychologie, Entwicklungs-psychopathologie, Neurobio-logie, Medizinische Anthropologie zur teilweisen Klärung von psycho-analytischen Kontroversen beitragen können, zum anderen inwieweit diepsychoanalytische Perspektive bei der Beschäftigung mit den obigenFächern, aber auch z. B. bei politischen, sozial-, kultur-, sprach-,literatur- und kunstwissenschaftlichen Themen eine wesentliche Berei-cherung bringen kann.

In der Psychoanalyse fehlen derzeit gut verständliche Einführungen indie verschiedenen Themenbereiche, die den gegenwärtigen Kenntnis-stand nicht nur klassisch freudianisch oder auf eine bestimmte Richtungbezogen, sondern nach Möglichkeit auch richtungsübergreifend undGemeinsamkeiten aufzeigend darstellen. Deshalb wird in dieser Reiheauch auf einen allgemein verständlichen Stil besonderer Wert gelegt.

Wir haben die Hoffnung, dass die einzelnen Bände für den psycho-therapeutischen Praktiker in gleichemMaße gewinnbringend sein könnenwie auch für sozial- und kulturwissenschaftlich interessierte Leser, diesich einen Überblick über Konzepte, Methoden und Anwendungen dermodernen Psychoanalyse verschaffen wollen.

Die Herausgeberinnen und HerausgeberCord Benecke, Lilli Gast,

Marianne Leuzinger-Bohleber und Wolfgang Mertens

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Geleitwort zur Reihe

Inhalt

Geleitwort zur Reihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Teil 1 Erkenntnistheorie der Psychoanalyse: Kritische Revisioneiner Kontroverse im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

1 Die Frage nach der wissenschaftstheoretischen Positionder Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

2 Zur Geschichte des Methodenpluralismus in denWissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

3 Psychoanalyse als Naturwissenschaft der Seele: DieWahrheit der psychoanalytischen Erkenntnis und dasnaturwissenschaftliche Paradigma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503.1 Grünbaums wissenschaftstheoretische Kritik der

Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513.2 Neurowissenschaften und ihr Verhältnis zum

naturwissenschaftlichen Paradigma . . . . . . . . . . . . . . 574 Psychoanalyse als Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

4.1 Der philosophische Verstehensbegriff und diePsychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

5 Der Status der Psychoanalyse als Wissenschaft und dieKontroverse um die Metapsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 705.1 Zur Frage der Metapsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . 745.2 Die psychoanalytische Einzelfallstudie – die neue

via regia der psychoanalytischen Forschung? . . . 81

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Teil 2 Psychoanalyse als Erkenntnistheorie:Die psychoanalytische Erfahrung als Grundlage jederpsychoanalytischen Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

6 Die Grundlagen der psychoanalytischen Erfahrung . . . . 877 Der Gegenstand der psychoanalytischen Erkenntnis . . . . 948 Das Material der psychoanalytischen Erkenntnis . . . . . . 979 Methoden der psychoanalytischen Erkenntnis . . . . . . . . . 10010 Ziele der psychoanalytischen Kur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

10.1 Die Erweiterung des Sprachraums und dieFähigkeit, sich im Sprechen wiederzuerkennen . . . . 108

10.2 Die Anerkennung der eigenen Handlungen . . . . . 10910.3 Die Erweiterung und das Beweglich-Werden

der narrativen Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11110.4 Die Arbeit am Erinnerungsvermögen und die

Verflüssigung der Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . 112

Teil 3 Prolegomena zu einer dialektischen Methodologie derPsychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

11 Einleitung: Zwischenbemerkung zum Fortgang derArgumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

12 Negativ-anthropologische Prolegomena einerdialektischen Epistemologie der Psychoanalyse . . . . . . . . 124

13 Erkenntnisanthropologische Konsequenzen: Skizzen einerdialektischen Methodologie der Psychoanalyse . . . . . . . . 133

14 Freie Assoziation und gleichschwebende Aufmerksamkeit,Prosodie des Sprechens und Rêverie des Zuhörens: Elementeeiner dialektischen Methodologie der Psychoanalyse . . . . . . 14514.1 Zwischenleiblichkeit: Prosodie und Semanalyse . . . 15014.2 Rêverie und negative Semiotik . . . . . . . . . . . . . . . . 156

15 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168

Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184

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Inhalt

Vorwort

Sich mit Erkenntnistheorien zu befassen, mag manchen als trockeneAufgabe erscheinen, zumal das Themaweit weg von der klinischen Praxisder Psychoanalyse angesiedelt zu sein scheint. Doch der Schein trügt.Denn diese Überlegungen, wie psychoanalytische Erkenntnis aufzufassenist, fundieren die klinische Praxis und von ihnen zu wissen, erlaubt esauch dem praktisch tätigen Psychoanalytiker oder der Psychoanalytike-rin, seine oder ihre eigene Tätigkeit besser zu verstehen und dasVerständnis für die eigene Haltung und Handlungsweise zu schärfen.Erkenntnistheorie ist daher nicht praxisfern, sondern erlaubt die Wegeder Erkenntnis in jeder Therapiestunde zu verstehen.

Zugleich gibt das erkenntnistheoretische Feld den Schauplatz ab, aufdemmanche Auseinandersetzungen ausgetragen werden, die die Psycho-analyse als Wissenschaft im Kern treffen. Wer je als Vertreterin oderVertreter psychoanalytischer Organisationen in Leitlinien-Konferenzengesessen hat, weiß ein Lied davon zu singen, wie praktisch folgenreich diewissenschaftstheoretische Verortung der Psychoanalyse ist. Sie wirkt sichaus in die höchst konkreten Entscheidungen, welche Art von Forschungals wissenschaftlich validiert zu gelten hat. Erkenntnistheorie zubetreiben ist also nicht Selbstzweck, sondern Fundament für dieselbstbewusste Vertretung des Fachs in der therapeutic community.

Schließlich ermöglicht es die Erkenntnistheorie der Psychoanalyse,innerhalb der scientific community ihren Platz zu finden und zubehaupten. Das ist für eine Querschnittsdisziplin besonders wichtig,denn die Psychoanalytikerin und der Psychoanalytiker bewegen sich,wenn sie den Spuren Sigmund Freuds folgen, in verschiedenenWelten, siearbeiten u. U. therapeutisch, wenden aber psychoanalytisches Denken inder Literaturinterpretation, im Verstehen kultureller und gesellschaftli-cher Phänomene und in anderen Bereichen an, und sie werden heraus-

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gefordert von den anderen kooperierenden oder antagonistisch einge-stellten Wissenschaften, die von den Erkenntnissen der Psychoanalyseprofitiert haben oder die sich gegen dieselben stellen. Transdisziplinari-tät, die dieses Denken in vielen Bereichen erfordert, gerät schnell zu einerungemütlichen Zwischenposition, die zwischen allen Stühlen landet undzu einer Heimatlosigkeit führt, weil diejenigen, die sich an mehrerenOrten aufhaltenwollen, nirgendwo richtig dazu zu gehören scheinen. Umsich der eigenen Position zu vergewissern, ist es nötig, die fürs eigene Fachgeltenden Erkenntnisformen definieren zu können, so dass die Grund-lagen der transdisziplinären Arbeit allen transparent gemacht werdenkönnen. Erkenntnistheorie ist also auch Voraussetzung eines begründe-ten und sicheren Dialogs oder Polylogs mit anderen Wissenschaften.

Nun beansprucht unser Buch, das wir dem Leser und der Leserinvorstellen, freilich schon imTitel mehr, als dass wir die Erkenntnistheorieder Psychoanalyse freilegen. Wir wollen zugleich das Selbstbewusstseinder Psychoanalyse als Wissenschaft insofern stärken, als wir davonausgehen, dass die Psychoanalyse sich nicht nur erkenntnistheoretisch inden bestehenden Modellen zu situieren braucht, sondern vielmehr eineneigenen, unverwechselbaren erkenntnistheoretischen Weg geht. Dahermeinen wir, dass die Psychoanalyse selbst eine Erkenntnistheorie suigeneris bereithält, die es allerdings herzuleiten, zu begründen und zubeschreiben gilt. Wir beschreiben nicht einen Sonderweg der Psycho-analyse, vielmehr indes einen spezifischen Weg – den es freilich imkomplexen Netzwerk erkenntnistheoretischer Positionen zu beschreibengilt, dem also nichts Mystisches anhaftet, der aber doch der Psycho-analyse eigentümlich ist. Den Weg zu beschreiben, verlangt allerdings,der Komplexität erkenntnistheoretischer Positionen nachzugehen. Dahermöge die Leserin oder der Leser dieses Buchs nachsichtig sein mitmancher dichten und befrachteten Darstellung – der rote Faden desBuchs bleibt, so hoffen wir, immer deutlich. Psychoanalyse ist selbstErkenntnistheorie, sie ist nicht nur Gegenstand derselben.

Freimütig bekennen wir unsere Freude ein, die wir hatten, als wir vonden Reihenherausgebern gefragt wurden, ob wir gemeinsam bereit seien,uns des schwierigen Themas anzunehmen. Wohl wissend, dass einsolches Buchprojekt unsere ohnehin eng geplante Arbeitszeit gehörigbelasten würde, worüber wir alles andere als Freude empfanden, habenwir ohne Zögern zugestimmt. Zuerst ging es uns darum, die große Ideeeiner Reihe, die sich der Psychoanalyse im 21. Jahrhundert widmet, mit

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Vorwort

einem Beitrag unterstützen zu können. Zudem haben wir die Anfrage alsProvokation gern aufgenommen, ein uns beiden seit langem umtreiben-des Thema gründlich, »am Stück« und nicht nur in Bruchstücken, zubehandeln. Nicht zuletzt haben wir die Aussicht, nach einemmehr als 20Jahre dauernden Intervall wieder ein Buch gemeinsam zu schreiben, wo jadie gemeinsame Arbeit mit und an Philosophie und Psychoanalyse in derZwischenzeit immer weitergeführt worden war, als sehr reizvollempfunden.

Unser Dank richtet sich an die Reihenherausgeber und ProfessorinnenCord Benecke, Lilli Gast, Marianne Leuzinger-Bohleber und WolfgangMertens für die Aufforderung, an der Buchreihe des W. KohlhammerVerlags »Psychoanalyse im 21. Jahrhundert. Disziplinen, Konzepte,Anwendungen« mitzuarbeiten. Wir danken außerdem und insbesondereHerrn Dr. Ruprecht Poensgen als dem Verlagsleiter des KohlhammerVerlags für seine geduldige und andauernde Unterstützung. Im Endspurtder Fertigstellung schließlich haben uns Daniel Märkisch und KevinNeufeldt mit nie endendem Einsatz unterstützt; auch ihnen sei herzlichgedankt.

Kassel und Basel, im Februar 2015Rolf-Peter Warsitz und Joachim Küchenhoff

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Vorwort

Teil 1 Erkenntnistheorie derPsychoanalyse: KritischeRevision einer Kontroverseim 20. Jahrhundert

1 Die Frage nach der wissenschaftstheo-retischen Position der Psychoanalyse

Einführung

Die Frage, welche Art von Wissenschaft die Psychoanalyse als Wis-senschaft vom Unbewussten eigentlich ist, beschäftigt sie von allemAnfang an. Es ist ein eigentümliches Schwanken in den Positionen desGründers der Psychoanalyse, Sigmund Freud, zu erkennen, der sichdieser Frage allerdings nicht gern gestellt hat. Er wollte, dass die Psy-choanalyse Teil der klinischen Medizin sein solle, zugleich aber gingsein Anspruch weit darüber hinaus. Er konnte nicht umhin zu bemer-ken, dass es die Sprache ist, die für die psychoanalytische Praxis zentralist – und dass die Psychoanalyse damit, auch wenn sie klinisch-thera-peutisch bedeutsam ist, sich nicht ohne weiteres einem naturwissen-schaftlichen Paradigma unterstellen kann.

Lernziele

l Die Positionen Freuds zur Epistemologie der Psychoanalyse kennenl Die epistemologische oder wissenschaftstheoretische Fragestellung

würdigenl Erkennen können, dass die Psychoanalyse sich den gängigen di-

chotomen wissenschaftstheoretischen Zuordnungen nicht zuordnenlässt, und die Argumente dafür kennen

Was zeichnet die psychoanalytische Erkenntnis aus, woran bemisst siesich, wie ist sie überprüfbar? Was für eine Art von Wissenschaft ist diePsychoanalyse? Eine Naturwissenschaft? Eine Geisteswissenschaft? EineKulturwissenschaft? Diese Frage nach einer psychoanalytischen Episte-mologie wurde von S. Freud eher unwirsch an den Rand gedrängt, wie-

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wohl er eine implizite Epistemologie dann doch vorgelegt hat. 1915schrieb Freud an Ferenczi: »Ich halte darauf, daß man Theorien nichtmachen soll – sie müssen einem als ungebetene Gäste ins Haus fallen,während man mit Detailuntersuchungen beschäftigt ist« (Freud &Ferenczi, 1996, Brief vom 31. 7. 1915, S. 138).

Freuds offensichtliche Aversion gegen Philosophie, Wissenschafts-und Erkenntnistheorie vermag nicht zu verhehlen, dass er in vielfältigerWeise sich darin versucht hat, durchaus widersprüchlich und durchauswechselnd in den Formulierungen seines Werks, seine Theoriekonzeptemit dem Regulativ aller klinischen Theorie, dem Vorrang der klinischenErfahrung auszustatten. Psychoanalytische Theorie sollte vornehmlichdem Zweck dienen, die Psychoanalyse als Wissenschaft vom Unbe-wussten zu elaborieren. 1923 charakterisiert Freud die »Psychoanalyseals empirische Wissenschaft«, als eine sich an und durch Erfahrungkonstituierende und stetig wandelnde Disziplin:

»Die Psychoanalyse ist kein System wie die philosophischen, das von einigenscharf definierten Grundbegriffen ausgeht, mit diesen das Weltganze zuerfassen sucht, und dann, einmal fertig gemacht, keinen Raum mehr hat fürneue Funde und bessere Einsichten. Sie haftet vielmehr an den Tatsachen ihresArbeitsgebiets, sucht die nächsten Probleme der Beobachtung zu lösen, tastetsich an der Erfahrung weiter, ist immer unfertig, immer bereit, ihre Lehrenzurechtzurücken oder abzuändern. Sie verträgt es so gut wie die Physik oder dieChemie, daß ihre obersten Begriffe unklar, ihre Voraussetzungen vorläufigesind, und erwartet eine scharfe Bestimmung derselben von zukünftiger Arbeit«(Freud, 1923, S. 229).

In »Some Elementary Lessons in Psycho-Analysis« unterstreicht Freuddiese Bestimmung noch:

»Die Psychoanalyse ist ein Stück der Seelenkunde der Psychologie […] UnsereWahrnehmungen, Vorstellungen, Erinnerungen, Gefühle und Willensakte, alldies gehört zum Psychischen […] Wir studieren diese Erscheinungen, findenihre Gesetze und machen selbst praktische Anwendungen von ihnen […] Es istnun einmal nicht anders in den Naturwissenschaften. Die Psychoanalyse istauch eine Naturwissenschaft. Was sollte sie denn sonst sein. Aber ihr Fall liegtanders« (Freud, 1940, S. 142 f.).

Um diese Frage, wie anders der Fall der Psychoanalyse gelagert seinkönnte, werden sich unsere folgenden Überlegungen drehen. Denn diesescheinbar klar die Psychoanalyse als Naturwissenschaft des Seelischenoder des Unbewussten situierende Bestimmung Freuds wirft im Detailgravierende Fragen auf wie die, was für ein Typ von Erfahrung der

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Teil 1 Erkenntnistheorie der Psychoanalyse

psychoanalytischen Praxis zugrunde liegt. Weiter oben im selben Texthatte er die freie Assoziation als technischeGrundregel beschrieben, danndie gleichschwebende Aufmerksamkeit als erfahrungsgestützte Methodedes Analytikers, sich seinem eigenen Unbewussten zu überlassen, ummit dem Unbewussten in der Rede des Analysanten1 in Kontakt zukommen, was allein zur »Psychoanalyse als Deutungskunst« führenkönne (a. a.O., S. 214 f.).

Von einer Auffassung der Psychoanalyse als einer reinen Sprach-wissenschaft bis zu einer Konzeption der Psychoanalyse als Naturwiss-enschaft des Seelischen finden sich bei Freud Belege und auch wider-sprüchliche Überlegungen. So schreibt er in seinem späten Vermächtnis,dem »Abriß der Psychoanalyse« von 1938 (Freud, 1941, S. 80):

»Die Psychoanalyse […] erklärt die vorgeblichen somatischen Begleitvorgängefür das eigentliche Psychische, sieht dabei zunächst von der Qualität desBewußtseins ab […], und das allgemeine Ungenügen an der gebräuchlichenAuffassung des Psychischen hat zur Folge gehabt, daß ein Begriff desUnbewußten immer dringlicher Aufnahme ins psychologische Denken ver-langte, obwohl in so unbestimmter und unfaßbarer Weise, daß er keinenEinfluß auf die Wissenschaft gewinnen konnte. Nun scheint es sich in dieserDifferenz zwischen der Psychoanalyse und der Philosophie nur um einegleichgültige Frage der Definition zu handeln, ob man den Namen desPsychischen der einen oder der anderen Reihe verleihen soll. In Wirklichkeit istdieser Schritt höchst bedeutungsvoll geworden. Während man in der Bewußt-seins-Psychologie nie über jene lückenhaften, offenbar von anderswo abhängi-gen Reihen hinauskam, hat die andere Auffassung, das Psychische sei an sichunbewußt, gestattet, die Psychologie zu einer Naturwissenschaft wie jedeandere auch auszugestalten.«

Schon 1917 gibt Freud nun ein zwar implizites, aber dezidiertes episte-mologisches Programm seiner im Werden begriffenen Psychoanalyse alseiner Wissenschaft vom Unbewussten. In der ersten »Vorlesung zurEinführung in die Psychoanalyse« schreibt er:

1 Hierwie überall im Folgenden benutzenwir die aktive Form: Analysant ist gemäßder im Lateinischen gebräuchlichen Unterscheidung von Gerundium undGerundivum derjenige, der analysiert, während der Analysand derjenige ist, deranalysiert wird.Wir betonen damit die aktive Arbeit desjenigen, der eine Analyseunternimmt und der sich eben nicht einer Analyse unterzieht oder unterwirft.

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1 Die Frage nach der wissenschaftstheoretischen Position

»In der analytischen Behandlung geht nichts anderes vor als ein Austausch vonWorten zwischen dem Analysierten und dem Arzt […] Das Gespräch, in demdie psychoanalytische Behandlung besteht, verträgt keinenZuhörer; es läßt sichnicht demonstrieren. […] Sie können also eine psychoanalytische Behandlungnicht mit anhören. Sie können nur von ihr hören undwerden die Psychoanalyseim strengsten Sinne des Wortes nur vom Hörensagen kennen lernen« (Freud,1917, S. 9).

Freud zufolge vermögen die etablierten Wissenschaften vom Seelischen(deskriptive sowie biologische Psychiatrie einschließlich der Neurowissen-schaften, Psychologie und Philosophie) keinen Hinweis auf die genuinpsychoanalytische Fragestellung des Zusammenhangs von Leiblichem undSeelischem und zur Psychodynamik des Unbewussten zu liefern.

S. Freuds spätes Plädoyer für eine naturwissenschaftliche Psychologie,der die Psychoanalyse epistemologisch zuzuordnen sei, lässt sich also inihrer schillernden Vieldeutigkeit auch ganz anders lesen denn reinszientistisch. Darüber hinaus kennen wir genug anderslautende Über-legungen aus seiner Feder, die unseren vorsichtigen Öffnungsversuch derPsychoanalyse zu einer Disziplin, die »auch eine Geisteswissenschaft«(qua Kultur-, Geschichts- und Sprachwissenschaft) ist, rechtfertigen, z. B.die nicht minder bekannte aus der Epikrise der Falldarstellung desFräuleins Emmy von R.:

»Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen, sondern bin bei Lokaldia-gnosen und Elektroprognostik groß geworden wie andere Neuropathologen,und so berührt es mich selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten,die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des ernstenGepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren. Ich muß mich damit trösten,daß für diese Ergebnisse die Natur des Gegenstandes offenbar eher ver-antwortlich ist als meine Vorliebe; Lokaldiagnostik und elektrische Reaktionenkommen bei dem Studium der Hysterie eben nicht zur Geltung, während eineeingehende Darstellung der seelischen Vorgänge, wie man sie vom Dichter zuerhalten gewohnt ist, mir gestattet, bei Anwendung einiger psychologischerFormeln doch eine Art von Einsicht in denHergang einerHysterie zu gewinnen.Solche Krankengeschichten wollen beurteilt werden wie psychiatrische, habenaber vor letzteren eines voraus, nämlich die innige Beziehung zwischen Lei-densgeschichte und Krankheitssymptomen« (Freud & Breuer, 1895/1970,S. 227).

Der Psychoanalyse bleibt es vorbehalten, die epistemische »Lücke«zwischen der Psychiatrie und den psychologischen Grundlagendiszi-plinen zu schließen. Diese Lücke betrifft den Bereich des dynamischenUnbewussten.

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Teil 1 Erkenntnistheorie der Psychoanalyse