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Zentrale Akteure in den Gründungs- jahren der ärztlichen Psychotherapie nach 1945 waren keineswegs Opfer des nationalsozialistischen Regimes oder auch nur „Mitläufer“. Ein geschärfter Blick für die Hand- lungsspielräume dieser Protagonis- ten führt notwendigerweise zu einer anderen Bewertung von konkretem Handeln. Die Standardentlastungs- formel vom Zwang und der Unaus- weichlichkeit verliert damit ihre Glaubwürdigkeit. Hintergrund Die Dokumentation von Philipp Mettauer (2010) zum Verhalten der frühen Prota- gonisten der Lindauer Psychotherapie- wochen in der Zeit des Nationalsozialis- mus und in der Nachkriegszeit hat viele Informationen verfügbar gemacht, die unter Psychotherapeuten lebhafte Dis- kussionen ausgelöst und weiterführende Fragen aufgeworfen haben. Dabei ist of- fenkundig geworden, dass die zentra- len Akteure in den Gründungsjahren der Psychotherapiewochen – insbesonde- re Ernst Speer, Ernst Kretschmer, Johan- nes Heinrich Schultz und Berthold Kihn – keineswegs Opfer des nationalsozialisti- schen Regimes oder auch nur „Mitläufer“ waren. Vielmehr waren sie in jeweils spe- zifischer Weise an der nationalsozialisti- schen Selektions- und Erbgesundheits- politik bis hin zur Rechtfertigung und Durchführung des Programms der Kran- kentötungen aktiv beteiligt, z. T. in zent- ralen Funktionen (zum Forschungsstand über die Zeit bis 1945: Roelcke 2010). Deutlich wurde, dass alle vier Genann- ten wesentliche Überzeugungen, die ihr Verhalten bis 1945 erklären, auch nach 1945 keineswegs aufgegeben haben. Zu solchen Vorstellungen gehörten insbeson- dere diejenige von der biologischen Min- derwertigkeit bestimmter Bevölkerungs- gruppen sowie die Annahme, dass es die Aufgabe und Kompetenz von Ärzten sei, solche Minderwertigkeit festzustellen und dass ebenfalls Ärzte über daraus abgelei- tete Interventionen medizinischer, sozial- pädagogischer, juristischer Art bis hin zur Sterilisation oder sogar Tötung entschei- den sollten (Mettauer 2010). Wie lässt sich das Verhalten von Speer, Kretschmer, Schultz und Kihn in den brei- teren Kontext der Psychotherapie vor und nach 1945 einordnen? Und ergeben sich aus der Betrachtung der historischen Er- eignisse und Entwicklungen möglicher- weise Implikationen für die Psychothera- pie heute? Um diese Fragen zumindest im Ansatz zu beantworten, sollen in Ergän- zung zu der auf die genannten vier Perso- nen fokussierten Studie von Mettauer im Folgenden die breiteren Strukturen und Dynamiken in der Psychotherapie und der teilweise personell mit der Psychothe- rapie verbundenen Psychiatrie nach 1945 dargestellt werden. Diese Strukturen und Dynamiken lassen sich nur angemessen verstehen, wenn auch die Vorgeschich- te der Psychotherapie in den ersten Jahr- zehnten des 20. Jh.s mit in den Blick ge- nommen wird. Unter Zuhilfenahme einer solchen Perspektive soll hier eine Leit- hypothese zum Verständnis der Haltung und des Verhaltens von Psychotherapeu- ten vor und nach 1945 formuliert werden: Die Psychotherapie (ebenso wie die Psychiatrie) ist aufgrund ihrer Beschäf- tigung mit Erleben und Verhalten von Menschen für öffentliche Aufmerksam- keit, Akzeptanz, Wertschätzung und Res- sourcenzuweisung stärker als die organ- medizinischen Disziplinen abhängig von den je zeitspezifischen politischen und ökonomischen Kontexten, die ja selbst mit jeweils spezifischen Menschenbildern und damit verbundenen Verhaltensnor- men eng verknüpft sind. Diese Hypothese erklärt einerseits die in pluralistischen Gesellschaften zu einem je konkreten Zeitpunkt sehr viel heteroge- neren Grundannahmen und Denkschu- len innerhalb der Psychotherapie als in den organmedizinischen Fächern, ande- rerseits die im Vergleich zur Organmedi- zin besonders deutlich sichtbaren Kon- junkturen für einzelne Strömungen und Schulen innerhalb des Gesamtspektrums der Psychotherapie, jeweils in Abhän- gigkeit von den wechselnden politischen Kontexten. Der folgende Beitrag ist in drei Teile gegliedert: Zunächst wird der Forschungs- stand zur Geschichte der Psychotherapie Psychotherapeut 2012 · 57:103–112 DOI 10.1007/s00278-012-0892-1 Online publiziert: 24. Februar 2012 © Springer-Verlag 2012 Volker Roelcke Institut für Geschichte der Medizin, Universität Gießen Psychotherapie in  Westdeutschland nach 1945 Brüche, Kontinuitäten, Thematisierungen   und Reflexionen zur nationalsozialistischen   Vergangenheit Überarbeitete Fassung eines Vortrags anlässlich  der Lindauer Psychotherapiewochen 2011. 103 Psychotherapeut 2 · 2012| Schwerpunkt: Vergessen – Erinnern – Gestalten – Übersicht Redaktion U. Gast, Dammholm-Havetoftloift A. Riehl-Emde, Heidelberg  M. Cierpka, Heidelberg  V. Kast, St. Gallen

Psychotherapie in Westdeutschland nach 1945

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Page 1: Psychotherapie in Westdeutschland nach 1945

Zentrale Akteure in den Gründungs-jahren der ärztlichen Psychotherapie nach 1945 waren keineswegs Opfer des nationalsozialistischen Regimes oder auch nur „Mitläufer“. Ein geschärfter Blick für die Hand-lungsspielräume dieser Protagonis-ten führt notwendigerweise zu einer anderen Bewertung von konkretem Handeln. Die Standardentlastungs-formel vom Zwang und der Unaus- weichlichkeit verliert damit ihre Glaubwürdigkeit.

Hintergrund

Die Dokumentation von Philipp Mettauer (2010) zum Verhalten der frühen Prota-gonisten der Lindauer Psychotherapie-wochen in der Zeit des Nationalsozialis-mus und in der Nachkriegszeit hat viele Informationen verfügbar gemacht, die unter Psychotherapeuten lebhafte Dis-kussionen ausgelöst und weiterführende Fragen aufgeworfen haben. Dabei ist of-fenkundig geworden, dass die zentra-len Akteure in den Gründungsjahren der Psychotherapiewochen – insbesonde-re Ernst Speer, Ernst Kretschmer, Johan-nes Heinrich Schultz und Berthold Kihn – keineswegs Opfer des nationalsozialisti-schen Regimes oder auch nur „Mitläufer“ waren. Vielmehr waren sie in jeweils spe-zifischer Weise an der nationalsozialisti-schen Selektions- und Erbgesundheits-politik bis hin zur Rechtfertigung und Durchführung des Programms der Kran-

kentötungen aktiv beteiligt, z. T. in zent-ralen Funktionen (zum Forschungsstand über die Zeit bis 1945: Roelcke 2010).

Deutlich wurde, dass alle vier Genann-ten wesentliche Überzeugungen, die ihr Verhalten bis 1945 erklären, auch nach 1945 keineswegs aufgegeben haben. Zu solchen Vorstellungen gehörten insbeson-dere diejenige von der biologischen Min-derwertigkeit bestimmter Bevölkerungs-gruppen sowie die Annahme, dass es die Aufgabe und Kompetenz von Ärzten sei, solche Minderwertigkeit festzustellen und dass ebenfalls Ärzte über daraus abgelei-tete Interventionen medizinischer, sozial-pädagogischer, juristischer Art bis hin zur Sterilisation oder sogar Tötung entschei-den sollten (Mettauer 2010).

Wie lässt sich das Verhalten von Speer, Kretschmer, Schultz und Kihn in den brei-teren Kontext der Psychotherapie vor und nach 1945 einordnen? Und ergeben sich aus der Betrachtung der historischen Er-eignisse und Entwicklungen möglicher-weise Implikationen für die Psychothera-pie heute? Um diese Fragen zumindest im Ansatz zu beantworten, sollen in Ergän-zung zu der auf die genannten vier Perso-nen fokussierten Studie von Mettauer im Folgenden die breiteren Strukturen und Dynamiken in der Psychotherapie und der teilweise personell mit der Psychothe-rapie verbundenen Psychiatrie nach 1945 dargestellt werden. Diese Strukturen und Dynamiken lassen sich nur angemessen verstehen, wenn auch die Vorgeschich-te der Psychotherapie in den ersten Jahr-

zehnten des 20. Jh.s mit in den Blick ge-nommen wird. Unter Zuhilfenahme einer solchen Perspektive soll hier eine Leit-hypothese zum Verständnis der Haltung und des Verhaltens von Psychotherapeu-ten vor und nach 1945 formuliert werden:

Die Psychotherapie (ebenso wie die Psychiatrie) ist aufgrund ihrer Beschäf-tigung mit Erleben und Verhalten von Menschen für öffentliche Aufmerksam-keit, Akzeptanz, Wertschätzung und Res-sourcenzuweisung stärker als die organ-medizinischen Disziplinen abhängig von den je zeitspezifischen politischen und ökonomischen Kontexten, die ja selbst mit jeweils spezifischen Menschenbildern und damit verbundenen Verhaltensnor-men eng verknüpft sind.

Diese Hypothese erklärt einerseits die in pluralistischen Gesellschaften zu einem je konkreten Zeitpunkt sehr viel heteroge-neren Grundannahmen und Denkschu-len innerhalb der Psychotherapie als in den organmedizinischen Fächern, ande-rerseits die im Vergleich zur Organmedi-zin besonders deutlich sichtbaren Kon-junkturen für einzelne Strömungen und Schulen innerhalb des Gesamtspektrums der Psychotherapie, jeweils in Abhän-gigkeit von den wechselnden politischen Kontexten.

Der folgende Beitrag ist in drei Teile gegliedert: Zunächst wird der Forschungs-stand zur Geschichte der Psychotherapie

Psychotherapeut 2012 · 57:103–112DOI 10.1007/s00278-012-0892-1Online publiziert: 24. Februar 2012© Springer-Verlag 2012

Volker RoelckeInstitut für Geschichte der Medizin, Universität Gießen

Psychotherapie in Westdeutschland nach 1945Brüche, Kontinuitäten, Thematisierungen  und Reflexionen zur nationalsozialistischen  Vergangenheit

Überarbeitete Fassung eines Vortrags anlässlich der Lindauer Psychotherapiewochen 2011.

103Psychotherapeut 2 · 2012  | 

Schwerpunkt: Vergessen – Erinnern – Gestalten – Übersicht

RedaktionU. Gast, Dammholm-HavetoftloiftA. Riehl-Emde, Heidelberg M. Cierpka, Heidelberg V. Kast, St. Gallen

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bis 1945 skizziert. Im zweiten Teil wird die Entwicklung in Westdeutschland ab 1945 in den Blick genommen. In einem dritten Teil werden drei Typen oder Paradigmen des Umgangs mit der Zeit des Nationalso-zialismus in der Nachkriegsmedizin und insbesondere in der Psychiatrie und Psy-chotherapie charakterisiert.

Psychotherapie bis 1945

Neben der Psychiatrie, die sich als medi-zinische Disziplin zur Behandlung und Erforschung psychischer Krankheiten verstand, und der Psychologie als Wis-senschaft primär von der gesunden Psy-che kam es in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh.s zur Formierung und Institutio-nalisierung einer weiteren Disziplin, der Psychotherapie, die sich ausdrücklich nicht als Bestandteil oder Erweiterung der Psychiatrie, sondern als komplemen-täre oder sogar korrigierende weitere Wis-senschaft und Berufsgruppe verstand (zur universitären Etablierung der Psychiatrie bis 1933: Roelcke 2002; zur Institutionali-sierung der Psychologie: Geuter 1984; zur Formierung des Fachs Psychotherapie: Schröder 1995; zum Verhältnis von Psy-chiatrie, Psychologie und Psychothera-pie: Roelcke 2008a). Drei Faktoren spiel-ten bei diesem Institutionalisierungspro-zess eine Rolle:

1. eine Gegenreaktion zur Orientie-rung der universitären Psychiatrie an den Naturwissenschaften und zu deren zeit-weilig massiver und aggressiver Abgren-zung gegenüber der Psychoanalyse;

2. eine breitere Debatte zur „Krise der Medizin“ in der Weimarer Zeit, in der die Fokussierung der Medizin auf den Körper des Kranken und die Abwendung vom in-dividuellen Patienten mit seiner Subjekti-vität beklagt wurde;

3. die politische Nachfrage nach pro-fessioneller Expertise im Zusammenhang mit den Folgeerscheinungen des 1. Welt-kriegs sowie dem Ausbau von breiten Ver-sorgungs- und Beratungsangeboten im sich ausdehnenden Wohlfahrtsstaat.

Neben der Gründung und Stabili-sierung der psychoanalytischen Institu-te mit den Zentren in Wien und Berlin, daneben der Deutschen und der Interna-tionalen Psychoanalytischen Gesellschaft entstand als Sammelbewegung ärztlicher

Psychotherapeuten 1926 die Allgemeine Ärztliche Gesellschaft für Psychothera-pie (AÄGP), die ab 1930 auch eine eigene Fachzeitschrift herausgab, die Zeitschrift für Psychotherapie und psychische Hygi-ene (Zeller 2001). Theoretisch und me-thodisch wurden in der AÄGP vielfäl-tige eklektische Ansätze verfolgt. Dane-ben wurden auch psychotherapeutische Praktiken proklamiert, die durch die Psy-choanalyse oder deren Abspaltungen in der Tradition von Jung und Adler inspi-riert waren.

Die psychotherapeutische Ausbildung erfolgte in der Zeit der Weimarer Repu-blik entweder in den neu gegründeten außeruniversitären psychoanalytischen Instituten, daneben wenig formalisiert in psychotherapeutisch arbeitenden Pri-vatkliniken oder Ambulanzen oder auch autodidaktisch, jedenfalls (von wenigen, nicht fest institutionalisierten lokalen Ausnahmen abgesehen) weitgehend oh-ne feste universitäre Verankerung.

Für die politische Schwelle von 1933 mit dem Regierungsantritt der National-sozialisten lassen sich für die Psychothe-rapie sowohl Brüche als auch Kontinuitä-ten dokumentieren:

Diskontinuitäten finden sich v. a. durch die Diskriminierung, Entlassung und Vertreibung der vom Regime als „jüdisch“ klassifizierten Psychothera-peuten, die Diskreditierung der angeb-lich „jüdischen“ Psychoanalyse und da-mit zusammenhängend die Schließung der psychoanalytischen Institute (Cocks 1997; Lockot 1985). Jenseits dieser antise-mitisch motivierten Diskriminierungen zeigen sich jedoch auch erhebliche per-sonelle, institutionelle und konzeptuelle Kontinuitäten.

Eine Dimension der Kontinuität be-steht in der anhaltenden institutionel-len Trennung der Psychotherapie von der etablierten Psychiatrie. Professionel-le psychotherapeutische Angebote gab es hauptsächlich in den großen städtischen Zentren oder im Kontext von Kur- und Badeorten, dann meist in Verbindung mit privaten Nervenkliniken oder Sana-torien. Sie waren fast durchgängig völlig separat von psychiatrischen Institutio-nen organisiert. Für die an einigen psy-chiatrischen Universitätskliniken prak-tizierte Form der Psychotherapie (wo-

für als Beispiel die Arbeitsgruppe um Kretschmer in Tübingen bzw. Marburg gelten kann) existierte, soweit bisher be-kannt, keine strukturierte Aus- und Wei-terbildung.

Nach dem Ausscheiden der als „jü-disch“ deklarierten Vorstandsmitglieder aus der AÄGP konnte diese Gesellschaft durchaus weiterexistieren. Entscheidend hierfür war wie bei anderen Fachgesell-schaften, dass die verbliebenen „nichtjü-dischen“ Mitglieder sich in ihrer Orga-nisationsstruktur und ihrem Tätigkeits-spektrum an den Erwartungen und Vor-gaben des neuen Regimes orientierten. Die AÄGP wurde in enger Rücksprache mit den zuständigen politischen Instan-zen des nationalsozialistischen Staats in eine internationale Dachgesellschaft, de-ren Vorsitz Carl Gustav Jung übernahm, und eine nationale deutsche Gesellschaft aufgegliedert. Der in der Literatur wie-derholt benannte Rückzug von Kretsch-mer aus dem Vorstand der neu konfigu-rierten Gesellschaft war allerdings sehr wahrscheinlich nicht – wie von Kretsch-mer und seinen Schülern in der Nach-kriegszeit dargestellt (z. B. Kretschmer 1963, S. 158) – ein Ausdruck von Miss-billigung oder gar Widerstand gegen das neue Regime. Die Tatsache, dass Kretsch-mer sich stattdessen als Vertreter für das Arbeitsgebiet Psychotherapie in den Vor-stand des Deutschen Vereins für Psychia-trie bzw. ab 1934/1935 der Nachfolgeorga-nisation Gesellschaft Deutscher Neurolo-gen und Psychiater kooptieren ließ, und dies unter dem Vorsitzenden Ernst Rü-din, einem radikalen Rassenhygieniker und expliziten Befürworter der natio-nalsozialistischen Gesundheits- und Ste-rilisationspolitik (Schmuhl 2011), ebenso Kretschmers Befürwortung des national-sozialistischen Sterilisationsgesetzes sowie schließlich seine Ernennung zum Dekan der Medizinischen Fakultät in Marburg 1943 sprechen deutlich gegen eine grö-ßere Distanz oder gar Gegnerschaft von Kretschmer zur Gesundheits- und Bevöl-kerungspolitik des Regimes. Zusammen mit einer Reihe von Briefen Kretschmers an verschiedene Vorstandsmitglieder der AÄGP weisen diese Indizien eher darauf hin, dass der Rückzug Ausdruck von Ri-valitäten zwischen einigen historischen Protagonisten (insbesondere Kretsch-

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mer und Matthias Göring) um Einfluss im neuen politischen Kontext und, auf-seiten Kretschmers, auch einer Kränkung war, weil er sich in der Führung der neu-en deutschen und internationalen Gesell-schaft nicht angemessen berücksichtigt fand (Müller 2007).

Die reorganisierte psychotherapeuti-sche Fachgesellschaft war personell und institutionell eng mit einer neuen zentra-len Einrichtung verflochten, die auch als Sammelbecken der „nichtjüdischen“ Ana-lytiker fungierte: nämlich dem Deutschen Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie, das in den Räum-lichkeiten des auf Druck des Regimes ge-schlossenen Berliner Psychoanalytischen Instituts sowie in teilweiser Übernahme der „nichtjüdischen“ Therapeuten einge-richtet wurde. Zweigstellen dieses Insti-tuts wurden in Stuttgart, München und einigen anderen Städten eröffnet (Cocks 1997; Lockot 1985). Für Speer ist auch in der Nachkriegszeit das Jahr 1933 nicht et-wa mit der erzwungenen Vertreibung jü-discher Kollegen verbunden, sondern es wird mit der Einrichtung einer ersten „all-gemeinen Ausbildungsstätte für Psycho-therapie“ – eben in Form des neuen Zen-tralinstituts – nach den zuvor schulen-gebundenen Ausbildungsstätten implizit positiv gewertet (Speer 1949, S. 22).

Dieses Institut offerierte eine eklek-tische, offiziell nichtpsychoanalytische psychotherapeutische Ausbildung, die je-doch inoffiziell durchaus Theorieansätze und Begrifflichkeiten aus der Freud’schen Schule sowie insbesondere aus den Schu-len nach Carl Gustav Jung und Alfred Ad-ler enthielt. Ebenfalls offerierte das Insti-tut in einem geringen Umfang ambulante therapeutische Angebote. Obwohl das In-stitut in quantitativer Hinsicht völlig mar-ginal war, hatte es doch etwa im Bereich der Politikberatung und bei Aktivitäten im Kontext einer regimeaffinen „seeli-schen Gesundheitsführung“ eine hervor-gehobene Position (Roelcke 1996). Das hing u. a. damit zusammen, dass der Di-rektor des Instituts, der analytische Psy-chotherapeut Matthias Göring, ein Cou-sin des Reichsluftfahrtministers Her-mann Göring war. Mitarbeiter des Ins-tituts waren beispielsweise mit der Prä-vention und Therapie von Stresszustän-den und Homosexualität in der Luftwaf-

Zusammenfassung · Abstract

Psychotherapeut 2012 · 57:103–112   DOI 10.1007/s00278-012-0892-1© Springer-Verlag 2012

Volker Roelcke

Psychotherapie in Westdeutschland nach 1945. Brüche, Kontinuitäten, Thematisierungen und Reflexionen zur nationalsozialistischen Vergangenheit

ZusammenfassungProtagonisten aus der Formierungsphase der ärztlichen Psychotherapie nach 1945 (z. B. Ernst Speer, Berthold Kihn) waren an der na-tionalsozialistischen Selektions- und „Erbge-sundheitspolitik“ beteiligt und haben we-sentliche Überzeugungen aus dieser Zeit auch nach 1945 keineswegs aufgegeben. Zur Kontextualisierung und Analyse dieses Be-funds werden die breiteren Strukturen und Dynamiken in der Psychotherapie und der personell mit ihr verbundenen Psychiatrie vor und nach 1945 in den Blick genommen. Es wird die Hypothese formuliert, dass Psy-chotherapie und Psychiatrie aufgrund ihrer Beschäftigung mit Erleben und Verhalten von Menschen für öffentliche Aufmerksam-keit, Akzeptanz, Wertschätzung und Ressour-cenzuweisung stärker als die organmedizini-

schen Disziplinen abhängig von den je zeit-spezifischen politischen und ökonomischen Kontexten sind, da diese Kontexte selbst mit jeweils spezifischen Menschenbildern und Verhaltensnormen verbunden sind. In einem weiteren Schritt werden drei Paradigmen des Umgangs mit der Zeit des Nationalsozialis-mus in der Nachkriegsmedizin charakteri-siert: das Isolationsparadigma, das Kontinui-tätsparadigma und das lokalisierend-komple-xe Paradigma.

SchlüsselwörterPsychotherapie · Geschichte, 20. Jahrhundert · Nationalsozialismus · Zweiter Weltkrieg ·  Allgemeine Ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie

Psychotherapy in West Germany after 1945. Breaks, continuities, debates and reflexions on the Nazi past

AbstractProtagonists during the formation of post-World War II medical psychotherapy (e.g. Ernst Speer, Berthold Kihn) had been in-volved in Nazi selection and “hereditary health” policies and continued to express re-lated attitudes and views in the post-war pe-riod. To contextualize and analyze these find-ings, the broader institutional structures and dynamics in psychotherapy before and after 1945 are described. It is argued that for gain-ing attention, acceptance and resources, psy-chotherapy and psychiatry are much more dependent on the specific political and eco-nomic contexts than somatic medical disci-plines, due to the focus on experiences and 

behavior of human beings. This is related to the fact that such political and economic con-texts are themselves bound to anthropolog-ical conceptions and norms of behavior. In a further step three paradigms of dealing with the Nazi past are identified for post-World War II psychotherapy and psychiatry: the iso-lation paradigm, the continuity paradigm and the localizing-complex paradigm.

KeywordsPsychotherapy · History, 20th century · National Socialism · World War II · General Medical Association for Psychotherapy

fe beschäftigt, ebenso in Projekte zur Be-triebspsychologie im Kontext der Deut-schen Arbeitsfront integriert, die darauf abzielten, die Effizienz von Unternehmen insbesondere im Bereich der Rüstungs-industrie zu steigern (Lockot 1985; Roel-cke 1996; Cocks 1997).

Zusammenfassend lässt sich also mit Blick auf die Zeit des Nationalsozialis-mus nicht einfach von Verfolgung und Unterdrückung der Psychotherapie gene-rell sprechen. Vielmehr wurde die Psycho-

therapie nach dem Ausschluss bzw. Hin-ausdrängen der „jüdischen“ Therapeuten und von explizit psychoanalytischen Kon-zepten durchaus akzeptiert und in ge-wissen Bereichen sogar gefördert, auch gegenüber den Vereinnahmungstenden-zen vonseiten der psychiatrisch-neuro-logischen Fachgesellschaft geschützt. Das heißt, man könnte von einer Fort-führung, aber konzeptuellen Einengung der Psychotherapie und dem teilwei-sen Verlust von Expertise durch den er-

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zwungenen Ausschluss von politisch un-erwünschten Psychotherapeuten nach 1933 sprechen.

Psychotherapie nach 1945

Nach 1945 verstärkte sich die bereits exis-tierende weitgehende institutionelle Tren-nung von Psychiatrie und Psychotherapie: Die weit überwiegende Mehrheit der Psy-chiater reagierte auf die Legitimationskri-se, in die ihr Fach durch die aktive Mit-gestaltung von Zwangssterilisationen und Krankentötungen gekommen war, durch eine Rückbesinnung auf die vermeint-lich „große“ Tradition der deutschen Psy-chiatrie im 19. und frühen 20. Jh. im An-schluss an Wilhelm Griesinger und Emil Kraepelin, nicht aber mit einer systema-tischen Hinwendung zur Psychotherapie. Ein kleiner Teil der Psychiater erinnerte sich daneben auch an alternative, aus der Philosophie gespeiste Ansätze der Zwi-schenkriegszeit und proklamierte eine sog. anthropologische Psychiatrie, die das Erleben der Patienten zu einer zentralen Dimension in Diagnostik und Therapie machte.

Nur eine Minderheit der Psychia-ter propagierte ausdrücklich die Not-wendigkeit von Psychotherapie, aller-dings vor dem Hintergrund psychiatri-scher Klassifikationsschemata und biolo-gischer Krankheitskonzepte. Zu den pro-minentesten zählten Kretschmer, Kihn und Kretschmers Schüler Friedrich Mauz, seit Mitte der 1950er Jahre psychiatrischer Ordinarius in Münster. Kretschmer und Kihn waren zentrale Figuren in der Früh-phase der wieder gegründeten AÄGP und ebenso in den Anfangsjahren der Lindau-er Psychotherapietage; Mauz wurde in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre Präsident der AÄGP und ebenfalls der psychiatri-schen Fachgesellschaft (Silberzahn-Jandt u. Schmuhl 2012). Alle drei Genannten waren allerdings sehr aktiv in die Praxis der Zwangssterilisationen involviert ge-wesen, Kihn und Mauz darüber hinaus auch als Gutachter in der „Aktion T4“, der ersten Phase der Krankentötungen (zu Kretschmer und Kihn: Mettauer 2010; Müller 2007; zu Mauz: Silberzahn-Jandt u. Schmuhl 2012). Nach wie vor hatten al-le vier eine erhebliche Aversion gegen die

Psychoanalyse und gegen nichtmedizini-sche Psychotherapeuten.

Aufgrund des anhaltenden Wider-stands der Psychiater gegenüber der Ein-richtung von speziellen psychotherapeu-tischen Abteilungen innerhalb psychiatri-scher Institutionen und andererseits auf-grund des nach 1945 zunehmenden politi-schen Drucks, psychotherapeutische An-gebote sowohl im universitären Bereich als auch in der breiteren Gesundheits-versorgung zu etablieren, kam es zu einer vollständig separaten Institutionalisie-rung eines integrierten Arbeitsfelds „Psy-chotherapie und psychosomatische Medi-zin“. In diesem Kontext kamen nun – z. T. explizit als Wiedergutmachung bezeich-net – psychoanalytische Konzepte und ihre Repräsentanten zum Zug (Roelcke 2004; Roelcke 2008a), während die nach wie vor mit Begriffen wie Entartung, Ge-meinschaftsunfähigkeit und Erbbiologie operierenden psychiatrischen Psychothe-rapeuten im Umfeld von Kihn, Kretsch-mer und Mauz nicht in der Lage und auch nicht willens waren, neue Ressourcen für eigenständige universitäre psychothera-peutische Arbeitsgruppen zu mobilisie-ren (Mettauer 2010).

Die erste universitäre Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik wur-de in Heidelberg 1949/1950 unter der Lei-tung von Alexander Mitscherlich eröffnet. Ihre Gründungsgeschichte kann als exem-plarisch für die separate universitäre In-stitutionalisierung des Arbeitsgebiets ge-sehen werden. Die Etablierung der Hei-delberger Abteilung war nur gegen mas-siven Widerstand des Ordinarius für Psy-chiatrie, Kurt Schneider, sowie durch poli-tischen Druck von außen und finanziel-le Unterstützung der Rockefeller Foun-dation möglich (Roelcke 2004). Trotz ra-scher Expansion der Abteilung und brei-ter Anerkennung der dort geleisteten Arbeit im In- und Ausland verweigerte die Heidelberger Medizinische Fakultät Mitscherlich bis Anfang der 1960er Jah-re ein Ordinariat. Auch die Medizinische Fakultät der Universität Frankfurt lehnte auf Drängen des dortigen psychiatrischen Ordinarius die Einrichtung eines von der hessischen Landesregierung gestifteten und Mitscherlich zugedachten Lehrstuhls ab, sodass Mitscherlich auf Initiative von Max Horkheimer und Theodor W. Ador-

no letztlich ein Ordinariat für Psycholo-gie in der Frankfurter Philosophischen Fakultät übernahm (Freimüller 2007). Der ursprünglich Frankfurt zugedachte psychotherapeutische Lehrstuhl in einer hessischen medizinischen Fakultät wur-de schließlich, zusammen mit einer kli-nischen Abteilung, der Universität Gie-ßen zugeordnet. Gießen als kleine, vor 1945 besonders an das Regime angepasste und erst 1957 wieder eröffnete Universität konnte das zuvor von Frankfurt abgelehn-te, von der hessischen Landesregierung jedoch gewünschte Ordinariat mit ange-schlossener klinischer Abteilung zur eige-nen Profilierung gut gebrauchen (Roelcke 2008a). Der erste Ordinarius auf dem Gie-ßener Lehrstuhl, Horst-Eberhard Richter, wurde ebenso wie Mitscherlich weit über die Psychotherapie und Medizin hinaus bekannt – auch das ein Indiz für die poli-tische Dimension bei den unterschiedli-chen Konjunkturen der Psychotherapie.

Untrennbar verknüpft mit der poli-tischen war die ökonomische Dimen-sion der Geschichte: Nachdem Mitte der 1960er Jahre die Kosteneffizienz syste-matischer Psychotherapie für spezifische Patientengruppen in einer kontrollierten Langzeitstudie dokumentiert worden war, wurde die psychoanalytische Psychothe-rapie als Regelleistung in das Leistungs-spektrum der gesetzlichen Krankenkas-sen aufgenommen, sodass sie bei Indika-tionsstellung durch einen Arzt für über 80% der Bevölkerung prinzipiell zugäng-lich war. Ab dem Jahr 1970 war das Fach Psychotherapie und psychosomatische Medizin in der bundesweit verbindlichen ärztlichen Approbationsordnung als ob-ligatorisches Lehrfach enthalten, mit der Konsequenz, dass an allen deutschen me-dizinischen Fakultäten entsprechende Ab-teilungen eingerichtet wurden, stets un-abhängig von und häufig im Konflikt mit den psychiatrischen Universitätskliniken.

Die weitgehende institutionelle Zwei-teilung zwischen „traditioneller“ Psychi-atrie und Psychotherapie hielt bis in die frühen 1990er Jahre an. Die sich dann relativ rasch vollziehende Veränderung wurde wiederum durch äußere politi-sche Prozesse veranlasst: Sie wurde we-sentlich durch die grundsätzliche Neu-ordnung der Facharztweiterbildungsre-gelungen nach der Vereinigung der bei-

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den deutschen Staaten verursacht. Eben-so spielte der zunehmende ökonomische Druck im Gesundheitswesen eine erheb-liche Rolle, mit der Notwendigkeit von vergleichsweise kurzfristigen Effizienz-nachweisen für therapeutische Interven-tionen nach Methodiken aus der somati-schen Medizin. Dies führte zu einer ten-denziellen Infragestellung von längerfris-tig angelegten psychoanalytisch-inspirier-ten Verfahrensweisen in der Psychothera-pie und komplementär zu einer Hinwen-dung zu verhaltenstherapeutischen Me-thoden. Psychotherapeutische Elemente wurden auch in der psychiatrischen Fach-arztausbildung stärker gewichtet, und das Curriculum für den neu geschaffenen „Facharzt für psychotherapeutische Me-dizin“ enthielt Elemente aus unterschied-lichen psychotherapeutischen Schulen. Bei der Neubesetzung von Lehrstühlen sowie der Umstrukturierung und Verklei-nerung von universitären und außeruni-versitären Kliniken im Zuge der Gesund-heitsreformen seit den 1990er Jahren wur-den nicht selten die vorher unabhängigen psychotherapeutischen Abteilungen nun in die größeren psychiatrischen „Zentren“ integriert. Die Ende der 1940er Jahre wie-der gegründete psychiatrische Fachgesell-schaft (Deutsche Gesellschaft für Psychia-trie und Nervenheilkunde) ergänzte ihren Namen 1992 durch den Zusatz „Psycho-therapie“. Im Jahr 2011 wurde eine weitere Ergänzung um den Zusatz „psychosoma-tische Medizin“ diskutiert, womit im Fall einer Realisierung die Existenzberechti-gung einer separaten psychosomatisch-psychotherapeutischen Fachgesellschaft infrage gestellt wäre.

Thematisierungen der medizinischen Verbrechen zur Zeit des Nationalsozialismus in der Nachkriegsmedizin

In der Psychiatrie, Psychotherapie und der breiteren Medizin der Nachkriegs-zeit lassen sich ebenso wie in der wei-teren Gesellschaft mehrere Phasen der Thematisierung der medizinischen Ver-brechen rekonstruieren. Zu diesen Ver-brechen gehörten an zentraler Stelle die Zwangssterilisationen und Tötungen von psychisch Kranken und Behinderten, an denen Psychiater und auch Protagonis-

ten der Lindauer Psychotherapiewochen wie Kretschmer, Kihn und Mauz in unter-schiedlicher Weise beteiligt waren. Die in diesen Kontexten entstandenen Ge-schichtsbilder und retrospektiven Recht-fertigungen für unterschiedliche Formen der Beteiligung und Mitverantwortung lohnen einen genaueren Blick (zum Fol-genden, ausführlicher bei Roelcke 2007):

Die Entnazifizierungspolitik der Alli-ierten, allenfalls halbherzig von den deut-schen Behörden unterstützt, zielte zu-nächst darauf, die öffentlichen Verwal-tungen und Eliten unter Ausschluss sol-cher Personen zu erneuern, die in der Zeit vor 1945 Menschenrechtsverstöße began-gen hatten oder für sie Verantwortung trugen. Diese Politik sollte auch einem neuerlichen Rückfall der deutschen Ge-sellschaft in antidemokratische Gesin-nungen vorbeugen. Aus der Perspektive eines Großteils der damaligen deutschen Bevölkerung stellte diese Politik jedoch eine ungerechte „Siegerjustiz“ dar. Trotz-dem empfand eine Vielzahl von Individu-en und sozialen Gruppen die Notwendig-keit, sich von der nationalsozialistischen Vergangenheit zu distanzieren, entweder aus innerer Überzeugung oder um den eigenen Status in der Nachkriegsgesell-schaft nicht zu gefährden.

Aus Sicht der Medizingeschichtsschrei-bung lassen sich drei zentrale Paradigmen für die Bezugnahme auf die Zeit des Na-tionalsozialismus in der Nachkriegsmedi-zin, und insbesondere für die Thematisie-rung der Zwangssterilisationen und sys-tematischen Krankentötungen („Eutha-nasie“) unterscheiden. Diese Paradigmen lassen sich bezeichnen alsFIsolationsparadigma,FKontinuitätsparadigma undFlokalisierend-komplexes Paradigma.

Isolationsparadigma

Dieses Deutungsmuster von der NS-Ver-gangenheit gewann feste Konturen und Prominenz in den frühen und mittleren 1960er Jahren. Zuvor hatte es insbesonde-re in der unmittelbaren Nachkriegszeit ei-nige vereinzelte Publikationen gegeben, in denen die medizinischen Verbrechen aus der Zeit des Nationalsozialismus themati-siert worden waren. Diese Publikationen entstanden meistens im Umfeld der ersten

größeren Gerichtsverfahren zur NS-Me-dizin, sie verschwanden aber nach dem Beginn des kalten Kriegs rasch aus der öffentlichen Aufmerksamkeit und waren in den 1950er und frühen 1960er Jahren weitgehend vergessen (Leibbrand 1946; von Platen-Hallermund 1948; Mitscher-lich u. Mielke 1947).

Diejenigen, die in den 1960er Jahren begannen, sich genauer mit der NS-Ver-gangenheit zu beschäftigen, waren fast alle Repräsentanten der universitären Psychi-atrie, wie etwa Helmut Erhardt, Professor für forensische Psychiatrie in Marburg, Hans-Jörg Weitbrecht, Ordinarius für Psychiatrie in Bonn, oder Walter Schul-te, Nachfolger von Kretschmer als Direk-tor der Psychiatrischen Universitätsklinik in Tübingen. Auch Kretschmer selbst äu-ßerte sich im Kontext seiner Autobiogra-fie zur Zeit des Nationalsozialismus. Die-se Männer hatten die Zeit des Nationalso-zialismus als junge Assistenzärzte oder im Fall von Kretschmer auch bereits als Ordi-narius erlebt und ebenso die Nachkriegs-prozesse gegen diejenigen, die wegen Me-dizinverbrechen angeklagt worden waren. Jetzt, in den 1960er Jahren, fanden sie sich konfrontiert mit Fragen von Kollegen aus dem Ausland und zunehmend auch von Studenten, die das Schweigen der Reprä-sentanten des Fachs kritisierten. Die vo-rangegangenen anderthalb Jahrzehnte, die Ära Adenauer, waren eine Periode des Wiederaufbaus und des Blicks in die Zu-kunft gewesen. Die Urteile von Nürnberg waren als Entlastung für diejenigen inter-pretiert worden, die nicht vor Gericht ge-standen hatten. Die Implikation schien zu sein, dass mit diesen Urteilen alle wirklich Verantwortlichen zur Rechenschaft gezo-gen worden waren und dass kein weite-rer Handlungsbedarf bestand. Auch die Entnazifizierungsverfahren der Alliier-ten transportierten implizit die Botschaft, dass es möglich sei, die Verantwortung für Menschenrechtsverstöße genau zu lokali-sieren und einzelnen Personen zuzuord-nen. Ebenso wurde impliziert, dass die Konfrontation mit der Vergangenheit pri-mär eine juristische Aufgabe sei, die man den Gerichten überlassen könnte.

Diejenigen Psychiater und Psychothe-rapeuten, die ihre Deutungen der Ver-gangenheit in den 1960er Jahren formu-lierten, waren Teil dieser frühen bundes-

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republikanischen Nachkriegskultur. Das Bild der NS-Zeit, das sie konstruierten, hatte als zentrales Merkmal die Tendenz, die historischen Ereignisse und ihre Ak-teure zu isolieren. Eine solche Isolierung erfolgte in dreierlei Hinsicht: erstens als Isolierung in der Zeit, indem Diskonti-nuitäten für die politischen Zäsuren 1933 und 1945 behauptet wurden. Nach diesem Bild begannen die „Probleme“ in der Psy-chiatrie 1933 und sie endeten 1945. – Zwei-tens konstruierten diese Protagonisten ein Bild, das genau abgrenzbare, einzelne Verbrechen behauptete. Demnach hatten z. B. eugenische Ideen und die damit ver-bundene Annahme, dass es möglich sei, einzelnen Menschen einen biologischen Wert zuzuschreiben, zwar eine Bedeutung für die Sterilisationspolitik, aber sie hatten nichts mit den Patiententötungen zu tun. Auch hatte demnach die zentral organi-sierte „Aktion T4“ nichts mit dem Hun-gern und Tod von vielen Tausenden Pa-tienten während der späteren Phasen des Krieges zu tun. In einer dritten Dimen-sion der Isolierung wurde behauptet, die Ursache für die medizinischen Verbre-chen sei eindeutig bei der Politik lokali-sierbar. Damit war implizit ein Bild ver-bunden, wonach Politik und Medizin völ-lig separierte Sphären seien und der Me-dizin politische Ideologie von außen auf-gezwungen worden sei. Die Verantwort-lichen für die Tötungen waren demnach primär Politiker oder einige wenige fana-tische Ideologen unter den Psychiatern, die völlig außerhalb akzeptabler morali-scher und wissenschaftlicher Standards agiert hätten. Demgegenüber hätten die Psychiatrie als Disziplin und die überwie-gende Mehrheit ihrer Repräsentanten ver-sucht, sich trotz des äußeren Drucks wei-terhin an den nichtkontaminierten Nor-men von Wissenschaft und Humanität zu orientieren (Kretschmer 1963, S. 158; Ehr-hardt 1965; Schulte 1965; von Baeyer 1966; Weitbrecht 1969). Speer thematisiert im Kapitel zur Geschichte der Psychothera-pie in seinem Lehrbuch zwar durchaus Er-eignisse aus der Zeit nach 1933; durch die Nichterwähnung der Existenz des natio-nalsozialistischen Regimes und der Aus-wirkungen auch auf die Psychotherapie entsteht das Bild, als hätte es solche Aus-wirkungen nicht gegeben und als hätte Psychotherapie unbehelligt von dem poli-

tischen Umfeld und unkompromittiert weiter betrieben werden können (Speer 1949, S. 12–23).

Damit bezieht sich die Isolation auch auf die Frage der Schuld: Nach diesem Bild von der Vergangenheit gab es einzel-ne wenige Verantwortliche, die eindeu-tig identifiziert werden konnten. Fast al-le von ihnen waren den psychiatrischen Anstalten, aber nicht den psychiatrischen Universitätskliniken oder auch den Psy-chotherapeuten zuzuordnen. Die über-wiegende Mehrheit der Psychiater war nach dieser Interpretation selbst Opfer des Systems, weil ja der Ruf der Berufs-gruppe insgesamt und die große Tradition der deutschen Psychiatrie seit dem 19. Jh. ein „Trauma“ erlitten hatten. Ein solches Geschichtsbild vertrat u. a. auch Ernst Kretschmer, als er sich nach seiner Eme-ritierung in den 1960er Jahren zur Zeit des Nationalsozialismus äußerte. Die Psy-chotherapie hatte in dem Geschichtsbild von Speer sogar durch die Überwindung der Orientierung an Schulen oder deren Gründern profitiert. (Gemeint sind dabei Freud, Adler und Jung; Speer 1949, S. 22).

Dieses Bild der NS-Psychiatrie und -Medizin formierte sich – wie schon er-wähnt – in den 1960er Jahren zum domi-nierenden Interpretationsmuster. Es wur-de allerdings nicht nur von Psychiatern und Psychotherapeuten aus dieser Zeit propagiert, sondern war auch mit brei-teren Interpretationen der NS-Verbre-chen kompatibel, und es lässt sich noch heute in der deutschen Öffentlichkeit fin-den. Erst 2010 hat sich die Deutsche Ge-sellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) unter dem Präsidenten Frank Schneider expli-zit zur Mitverantwortung der Psychiater an Zwangssterilisationen und Krankentö-tungen bekannt (Schneider 2011). Dieses Deutungsmuster taucht schließlich auch noch in heutigen Debatten zur Medizin-ethik auf (Simon 2004): Dort wird es so-wohl von Medizinern als auch von Philo-sophen benutzt, um etwa die NS-Eugenik und Rassenhygiene völlig von der heuti-gen Humangenetik und prädiktiven Me-dizin sowie ebenso die NS-Euthanasie von heutigen Debatten und Praktiken in Be-zug auf das Lebensende von Menschen abzutrennen.

Kontinuitätsparadigma

Diese Form der Thematisierung der NS-Psychiatrie kann als eine Folge der 1968er Debatten und des breiteren Phänomens der neuen sozialen Bewegungen verstan-den werden. In diesem Kontext wuchs die Unzufriedenheit mit der Tatsache, dass in führenden Positionen in Politik, Wirt-schaft und Wissenschaften noch immer Personen tätig waren, die auch zu den Funktionseliten im NS-Staat gehört hat-ten. Besonders Journalisten und Schrift-steller argumentierten, dass es nicht aus-reichend sei, einzelne Täter zu identifi-zieren und vor Gericht zu bringen. Viel-mehr sei es notwendig, umfassend und of-fen die Voraussetzungen für den NS-Staat und seine Verbrechen zu analysieren. Eine angemessene „Vergangenheitsbewälti-gung“ erfordere mehr als Gerichtsverfah-ren, Entschädigungszahlungen und weit-gehend ritualisierte öffentliche Sonntags-reden. Gefordert wurden vielmehr eine systematische Untersuchung der Rollen und Verantwortlichkeiten ganzer sozialer Gruppen und informeller Netzwerke so-wie eine Auseinandersetzung mit den Zu-sammenhängen zwischen Sozial- und Be-völkerungspolitik und ökonomischen Ra-tionalitäten, die schon lange vor, aber auch während und nach dem Nationalsozialis-mus existierten.

Es war in diesem Kontext, dass eine jüngere Generation von Psychiatern neue Netzwerke und Vereinigungen initiier-ten, teilweise in Verbindung mit Patien-ten oder ihren Angehörigen. So formierte sich 1971 die Deutsche Gesellschaft für So-zialpsychiatrie. Protagonisten dieser Ak-tivitäten waren etwa Klaus Dörner, Erich Wulff und Manfred Bauer. Es ist kein Zufall, dass einer dieser Akteure, Erich Wulff, auch für seine politischen Aktivi-täten gegen den Vietnamkrieg bekannt wurde und in diesem Kontext sogar mit Jean-Paul Sartre vor einem UN-Tribunal auftrat (Wulff 2001).

Parallel zu diesen Aktivitäten und ver-bunden mit der Initiative einiger weiterer Psychiater entstand im Auftrag des Deut-schen Bundestags ein Untersuchungsbe-richt zur Lage der deutschen Psychiat-rie, die Psychiatrie-Enquete, die 1975 pu-bliziert wurde. Dort wurden die katastro-phale Zustände der deutschen psychiatri-

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schen Anstalten und der breiteren Versor-gung detailliert dokumentiert, mit Über-füllung der Institutionen, unqualifizier-tem Personal sowie völlig überholten Ver-sorgungskonzepten und enormen Defizi-ten im Bereich der Psychotherapie (Kers-ting 2004).

In dieser Situation formulierten Ver-treter der jüngeren Psychiater und wei-tere Intellektuelle eine neue Interpreta-tion der Vergangenheit der Psychiatrie. In dieser Deutung wurden die Kontinui-täten auf der personellen, der institutio-nellen und der konzeptuellen Ebene weit über die politischen Zäsuren von 1933 und 1945 hinweg in den Vordergrund gestellt. Demnach hatten die Konzepte und Ratio-nalitäten, die die Grundlage der Diskrimi-nierungs-, Selektions- und Vernichtungs-politik nach 1933 gebildet hatten, schon lange vorher existiert, und sie waren auch nach 1945 noch wirksam. Genauso wurde aufgezeigt, dass es eine beträchtliche Zahl von Fachvertretern gab, deren Karrieren eine oder sogar beide der politischen Zä-suren überspannt hatten.

Anfang der 1980er Jahre entwickel-te sich aus diesem erweiterten Kreis von jungen Psychiatern, zusammen mit Pfle-gepersonal, Vertretern der Patienten und vereinzelten Medizinhistorikern ein in-formelles, aber sehr stabiles Netzwerk, der Arbeitskreis zur Erforschung der NS-Euthanasie und Zwangssterilisation. Aus dem Arbeitskreis und in seinem Umfeld entstand ein umfangreiches Œuvre an Publikationen zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Psychiatriepolitik so-wie zur Praxis der Sterilisations- und Tö-tungsprogramme (Beck 1995; Arbeitskreis zur Erforschung der „NS-Euthanasie“ und Zwangssterilisation 2001). Die Psychiater aus diesem Kreis waren ebenso bei der Formulierung und Implementierung neu-er Konzepte zur Sozialpsychiatrie, in die auch Elemente verbaler und nonverbaler Psychotherapie integriert waren, initiativ tätig. Viele der Publikationen aus diesem Kontext interpretierten die biomedizini-schen Disziplinen während des National-sozialismus als Teil und Ausdruck kapita-listischer Gesellschaften in ihrem Spätsta-dium. Sie sahen die NS-Gesundheitspoli-tik und -Sozialpolitik als letztlich durch eine radikale ökonomische Rationalität motiviert (Klee 1983; Ebbinghaus et al.

1984; Aly 1985; Roth u. Dörner 1989). Seit den späten 1970er Jahren wurden ähnli-che Interpretationen auch von Autoren aus der DDR formuliert, etwa von Kaul (1979) oder Thom (Thom u. Spaar 1983).

In dieser Perspektive waren Psychia-ter – und allgemeiner Mediziner – nicht länger Opfer der NS-Zeit, sondern akti-ve Mitspieler des Systems, und sogar häu-fig unter denjenigen, die die Initiative für medizinische Verbrechen ergriffen hat-ten. Damit stellte sich auch die Frage der Verantwortung neu, zumal deutlich wur-de, dass einige der etwa im Kontext der Krankentötungen involvierten Ärzte nun prominente Positionen in der Nachkriegs-psychiatrie und -psychotherapie einnah-men, wie etwa Friedrich Mauz, nun Ordi-narius für Psychiatrie in Münster und ex-poniertes Mitglied, zeitweilig Vorsitzen-der der AÄGP.

Lokalisierend-komplexes Paradigma

Diese Form der Bezugnahme auf die Ver-gangenheit entstand in den 1990er Jahren, u. a. als Reaktion auf die beiden anderen, einander fundamental entgegengesetzten Deutungsmodelle. Der breitere histori-sche Kontext war die Zeit nach dem En-de des kalten Kriegs und dem Zusammen-bruch des Ostblocks, auf kultureller Ebene das Ende der „großen Erzählungen“. Die historische Erforschung der Psychiatrie erfolgte nun mehr und mehr durch pro-fessionelle (Medizin-)Historiker und rich-tete ihre Aufmerksamkeit auf lokale Prak-tiken von ganzen Akteursensembles, zu denen neben den Psychiatern selbst auch die Patienten, Angehörige, Pflegeperso-nal und andere Berufsgruppen gehören (Hohendorf et al. 2002; Fuchs et al. 2007). Damit wurde anerkannt, dass sowohl das Isolationsparadigma, aber auch die „star-ke“ Version des Kontinuitätsparadigmas, das die langfristigen Entwicklungen mit z. T. teleologischen oder geradezu deter-ministischen Implikationen fokussierte, unzureichend waren, um das breite Spekt-rum von empirisch beobachtetem Verhal-ten und auch die bei genauerer Betrach-tung vorhandenen Handlungsspielräume selbst innerhalb des totalitären Staats zu erklären (Walter 1997; Ley 2003; Roelcke 2008b).

Die Arbeiten aus diesem Kontext do-kumentieren einerseits die Bedeutung von längerfristigen Denk- und Hand-lungsmustern, wie etwa die vermeintliche Notwendigkeit der Differenzierung zwi-schen Patienten mit akuten und chroni-schen Erkrankungen oder mit und ohne Arbeitsfähigkeit. Diese Arbeiten illustrie-ren aber auch, dass die Akteure durch sol-che Denkdispositionen nicht absolut de-terminiert waren. Vielmehr verweisen sie auf die Bedeutung spezifisch lokaler Kon-stellationen und Kontingenzen, die sich aus der kreativen Neukombination von vorhandenen intellektuellen und mate-riellen Ressourcen sowie der Vielfalt von auch unerwarteten zwischenmenschli-chen Allianzen ergeben konnten.

Das sich insgesamt hieraus ergebende Bild von der Vergangenheit vereint also Merkmale der beiden vorausgegangenen Paradigmen, geht aber über diese auch in wichtigen Aspekten hinaus: Es impliziert, dass die Handlungsoptionen für Psychia-ter und anderes Personal eingeschränkt waren, aber eben auch, dass es fast im-mer unterschiedliche Handlungsoptio-nen gab (Stobäus 2000; Ley 2003; Roel-cke 2008b). Dieser geschärfte Blick für die Handlungsspielräume führt notwen-digerweise auch zu einer anderen Bewer-tung von konkretem Handeln. Die Stan-dardentlastungsformel vom Zwang und der Unausweichlichkeit verlor damit ihre Glaubwürdigkeit. Diese Interpretation er-öffnete auch den Blick auf die eben nicht uniforme Welt der betroffenen Patienten, die ebenfalls durch ein breites Spektrum an Erfahrungen, teilweise widerständiges Verhalten und unterschiedlichste Formen des Leidens gekennzeichnet war (Fuchs et al. 2007; Rotzoll at al. 2010).

Fazit

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Blick auf die Formen des Um-gangs mit der NS-Vergangenheit in der Psychiatrie und Psychotherapie dreier-lei zeigt: Erstens, dass die hier skizzierten unterschiedlichen Paradigmen ihre Kon-junktur in entsprechend charakterisier-baren Stadien der deutschen Nachkriegs-geschichte und -kultur hatten; zweitens, dass jedes Paradigma mit spezifischen Fokussierungen und Bildern von den Op-

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fern der traumatisierenden Vergangen-heit verbunden ist, und mit daran ge-knüpften charakteristischen Vorstellun-gen von der Lokalisation der Verantwor-tung. Schließlich zeigt dieser Blick auf die verschiedenen Formen der Thematisie-rung, dass die Korrekturen und Verschie-bungen der Interpretation nicht aus dem Zentrum der psychiatrischen und psy-chotherapeutischen Profession, sondern vielmehr von den Rändern oder sogar von außerhalb der Berufsgruppe kamen. Dieser Befund stimmt in Bezug auf die Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion von Psychiatern und Psychotherapeuten nachdenklich.Die Ergebnisse der historischen For-schung, und hier insbesondere die Konti-nuitäten von stigmatisierenden und ent-wertenden Haltungsweisen gegenüber sozialen Randgruppen und psychisch kranken Menschen über die politische Zäsur von 1945 hinweg, dokumentieren, dass die Grenzüberschreitungen zwi-schen 1933 und 1945 nicht spezifisch für die Zeit des Nationalsozialismus waren. Vielmehr lassen sie sich als Beispiele für eine extreme Manifestation von Poten-zialen verstehen, die in der modernen Medizin generell angelegt sind, wie etwa die Tendenz, Menschen nach ihrer biolo-gischen Ausstattung zu bewerten. Solche Haltungen haben in spezifischen poli-tischen und ökonomischen Kontexten eine besondere Plausibilität und Akzep-tanz. Die systematische Konfrontation mit den Gefahren von (historischen) Ver-suchungssituationen für Ärzte, mit wie-derkehrenden Anpassungs- und Recht-fertigungsmechanismen, aber auch mit Handlungsspielräumen gegenüber mög-lichem Unrecht kann heute – analog zur Impfung als „Probeexposition“ gegen-über Krankheitserregern – die Fähigkeit zu kritischer Analyse und professionel-lem Umgang mit Versuchungs- und Zu-mutungssituationen verbessern.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Volker RoelckeInstitut für Geschichte der Medizin, Universi-tät GießenJheringstr. 6, 35392 Gieß[email protected]

Interessenkonflikt.  Der korrespondierende Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

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112 |  Psychotherapeut 2 · 2012

Vorbeugung von Burnout – Sprechstunde im Betrieb

Arbeitnehmer sind an ihrem Arbeitsplatz 

zunehmend psychischen Belastungen ausge-

setzt. Werden erste Anzeichen wie Schlafstö-

rungen, Rückenschmerzen und Erschöpfung 

ignoriert und unbehandelt belassen, können 

schwere Krankheitsverläufe wie Burnout, 

Depressionen und Angststörungen die Folge 

sein. Bei Stress am Arbeitsplatz sollte des-

halb frühzeitig eine fachliche Beratung in 

Anspruch genommen werden um Therapie-

möglichkeiten zu erörtern und den psychi-

schen Folgen entgegen zu wirken. In einem 

Pilotprojekt der Deutschen Gesellschaft für 

Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psy-

chotherapie (DGPM) werden daher seit dem 

letzten Jahr in zwei Großbetrieben psychoso-

matische Sprechstunden von Fach- und Be-

triebsärzten durchgeführt. In einer Pressekon-

ferenz der DGPM in Berlin wurde jetzt über 

die Durchführung und die Funktionsweise 

einer solchen Sprechstunde informiert. Ziel ist 

es, Mitarbeiter mit Beschwerden schnell und 

unkompliziert zu erreichen. Die Daten bleiben 

streng vertraulich beim behandelnden Fach-

arzt und werden dem Arbeitgeber nicht über-

mittelt. Überforderung und Stress am Arbeits-

platz setzen nicht nur Arbeitnehmern zu, es 

schadet langfristig auch den Unternehmen. 

Laut BKK- und DAK-Gesundheitsreport 2011 

machen psychische Erkrankungen inzwischen 

12 Prozent der Fehlzeiten ihrer Versicherten 

aus. Die DGPM hofft daher auf eine weitrei-

chende Unterstützung ihres Projektes, auch 

seitens der Betriebe. 

Quelle: Deutsche Gesellschaft für

Psychosomatische Medizin und

Ärztliche Psychotherapie (DGPM),

www.dgpm.de

Fachnachrichten

Wenn das kranke Herz auf das Gemüt schlägt

Aufgrund des ökonomischen Drucks im Ge-

sundheitswesen ist die Zeit, die Ärzten und 

Pflegepersonal für jeden einzelnen Patienten 

zur Verfügung steht, zurückgegangen. Die 

rein medizinische Behandlung kann zwar 

erbracht, aber die nötige menschliche Inter-

aktion kann nicht mehr im nötigen Umfang 

geleistet werden. In einigen deutschen 

Herzzentren sind deshalb schon eigene 

Psychologen tätig, die speziell auf die Be-

ratung, Unterstützung und Begleitung herz-

chirurgischer Patienten eingestellt sind. Es 

ist wichtig, die Angst und die Sorgen jedes 

einzelnen Patienten frühzeitig zu erkennen 

und qualifizierte psychologische Unterstüt-

zung anzubieten. Aufgrund der emotionalen 

Assoziation in Verbindung mit dem Organ 

Herz, empfinden viele Patienten einen Eingriff 

am Herzen als lebensbedrohliche Situation. 

Vor allem Patienten unter 55 Jahren und 

solche mit geringer sozialer Unterstützung 

zeigen ein vermehrtes Auftreten von Angst 

und Depression. Unbedingt notwendig 

ist die psychologische Betreuung vor und 

nach Herz- und Lungentransplantationen. 

Medizinische Studien zeigen, dass bis zu 25 

Prozent der Patienten, die sich auf der Warte-

liste zur Organtransplantation befinden, an 

depressiven Verstimmungen leiden. Trotz des 

Transplantationsgesetztes, das die psycho-

logische Betreuung ausdrücklich fordert, ist 

diese für Transplantationskandidaten und 

Transplantierte noch zu verbessern. Daher 

appelliert die Fachgesellschaft der deutschen 

Herzchirurgen an die Kostenträger, die Arbeit 

der Psychologen zu vergüten und bei der 

Überarbeitung des Transplantationsgesetzes 

verbindlich abzusichern.

Quelle: Deutsche Gesellschaft für Thorax-,

Herz- und Gefäßchirurgie e.V., www.dgthg.de