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Quellen zur Geschichte Thüringens Literarisches Leben · Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie, und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie leben

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Quellen zur Geschichte Thüringens

Literarisches Leben

„Hin sind meine Zaubereyn...“

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Quellenzur Geschichte

Thüringens

„Hin sind meine Zaubereyn...“

Herausgegeben von

Heidi-Melanie Maier und Thomas Neumann

Literarisches Leben

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Titelabbildung: Prospero’s Insel aus Shakespeares Sturm.

Titelzitat aus: William Shakespeare: Der Sturm. Übersetzt vonAugust Wilhelm Schlegel, in: Shakespeare’s drama-tische Werke, übersetzt von A. W. Schlegel. DritterTheil: Der Sturm. Berlin 1798, S. 133.

Text Rückseite: Friedrich Schleiermacher: Zueignung an die Unver-ständigen, in: Ders.: Vertraute Briefe über FriedrichSchlegels Lucinde. Lübeck, Leipzig 1800, S. 7-11,dort S. 11.

Landeszentrale für politische Bildung ThüringenRegierungsstraße 73, 99084 Erfurtwww.thueringen.de/de/lzt2004ISBN 3-931426-82-3

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Literarisches LebenInhalt

Inhalt

Einführung ....................................................................11

Die „Künste der Geselligkeit zu lehren“ –Zwischen Alltag und Poesie....................................................11Geselligkeit und Romantik.....................................................13Literarisches Leben.................................................................17Prinzipien der Textauswahl und Textwiedergabe...................22

„Romantische“ Literatur? ...................................................27

01. August Wilhelm Schlegel: Shakespeare und der Geist des romantischen Schauspiels...........................28

02. Ludwig Tieck, Wilhelm Heinrich Wackenroder:Die Ewigkeit der Kunst....................................................45

„Angenehme Lektüre“ – Der blonde Eckbert ...................49

03. Ludwig Tieck: Der blonde Eckbert..................................5004. August Wilhelm Schlegel an Ludwig Tieck,

11. Dezember 1797...........................................................7105. August Wilhelm Schlegel: Zu Tiecks ‚Volksmärchen‘....7306. Ludwig Tieck: Zum ‚blonden Eckbert‘............................81

„Blaue Blume“? .....................................................................85

07. Friedrich von Hardenberg gen. Novalis: Ein Märchen....86

Lebensentwürfe...................................................................115

08. August Wilhelm Schlegel: Über den Roman.................11609. Friedrich Schlegel: Lucinde – Lehrjahre der

Männlichkeit...................................................................118

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Literarisches Leben Inhalt

10. Friedrich Schleiermacher: Notiz zur ‚Lucinde‘..............14811. Friedrich Schleiermacher: Zueignung an die

Unverständigen...............................................................153

Dramatische Lektüre – Shakespeare................................157

12. William Shakespeare: Der Sturm. Übersetzt von Ludwig Tieck..........................................160

13. William Shakespeare: Der Sturm. Übersetzt von August Wilhelm Schlegel .......................161

14. Ludwig Tieck: Briefe über W. Shakespeare...................17115. August Wilhelm Schlegel: Anmerkungen zum

Übersetzen von Shakespeare..........................................174

„Schöne Perlen...“ – Das Athenaeum................................183

16. August Wilhelm Schlegel, Friedrich Schlegel: Eine Vorbemerkung, ein Sonett und einige ‚Notizen‘....185

17. Athenaeums-Fragmente..................................................19118. Friedrich von Hardenberg gen. Novalis:

Hymnen an die Nacht.....................................................197

Naturphilosophie.................................................................203

19. Friedrich Schleiermacher: Ueber das Gesellige in der Religion oder über Kirche und Priestertum.........204

20. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Epikurisch Glaubensbekentniß Heinz Wiederporsts......210

21. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Vorrede zu ‚Ideen zu einer Philosophie der Natur‘ ........220

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Literarisches LebenInhalt

Romantische Naturwissenschaft.........................................225

22. Johann Wilhelm Ritter: Fragmente eines Physikers.......22623. Gotthilf Heinrich Schubert: Von der Liebe

der Geschlechter und von der Zeugung..........................23024.August Johann Georg Carl Batsch: Botanik für

Frauenzimmer und Pflanzenliebhaber.............................234

Kritische Geselligkeit ..........................................................241

25. Caroline de la Motte Fouqué: Ueber deutsche Geselligkeit..................................................242

Anmerkungen.......................................................................261

Kurzbiographien....................................................................267Chronologisches Verzeichnis literarischer Werke.................285Literaturverzeichnis...............................................................289Verzeichnis der Abbildungen.................................................294Drucknachweise.....................................................................295

Texte.................................................................................295Abbildungen.....................................................................295

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„PFEFFEL, MATTHISSON UND SCHLEGEL.Ach, wie jammert es mich, hier eure Namen zu finden!

Schöne Perlen! ihr seid wahrlich in Gold nicht gefaßt.“*

* Fürchtegott Christian Fulda: Antixenien. Trogalien zur Verdauungder Xenien. Hg. v. Ludwig Grimm. Berlin: Behr 1903 (DeutscheLiteraturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts), S. 11.

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Literarisches LebenEinführung

Einführung

Die „Künste der Geselligkeit zu lehren“ 1 –Zwischen Alltag und Poesie

„Lieber Freund ich muß mich rasend sputen, daher kömt dieConfusion in meinen Schreiben, ich unterhielte mich gern län-ger mit Ihnen, nur habe ich nicht viel Zeit. Die schöne Gesel-ligkeit kostet gar viele Zeit.“2 schrieb Dorothea Mendelssohn-Veit-Schlegel (nachfolgend Schlegel) an ihren Freund, denTheologen und Philosophen Friedrich Schleiermacher am 16. Januar 1800. Die beiden hatten sich einige Zeit nicht gese-hen und Schlegel griff Erinnerungen an gemeinsam verbrachteTage auf. Ihr Brief tritt an die Stelle einer direkten Unterhaltungmit dem Adressaten. Er ist dahingeworfen und wirkt, als müsseer schnell erzählt und gesprochen werden. Dorothea verwirrtsich in ihren Formulierungen an manchen Stellen, sammelt ihreGedanken neu und schließt den Brief schnell ab, um ihn noch indie Post zu geben.In dieser kleinen Situation ist alles enthalten, was in den hiervorliegenden Bänden im Mittelpunkt der Darstellung steht: DieVerbindung, die gegenseitige Abhängigkeit und Durchdringungvon Alltag und Dichtung innerhalb einer Gruppe von Personen,deren Lebenswelten durch geselliges Beisammensein und intel-lektuellen Austausch bestimmt sind. Die auf drei Bände ange-legte Ausgabe* widmet sich drei Themenbereichen. Band 1 ent-hält Quellen zum alltäglichen Lebenum 1800. Band 2 gibt einenBlick auf das Tagesgeschehen in transzendierter Form: Diebeteiligten Personen schildern den erlebten Alltag in ihren

Die Bände 21, 22 und 23 der Reihe Quellen zur GeschichteThüringenssind thematisch aufeinander abgestimmt.

*

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Literarisches Leben Einführung

Briefen. Durch die literarische und wissenschaftliche Bildungder Briefschreiber und durch die künstlerische Bearbeitung derGedanken und Erlebnisse wird Alltäglichkeit neu gestaltet.Band 3 bietet eine Auswahl der in den dokumentierten alltägli-chen Lebenswelten entstandenen literarischen Texte. Damitsind die Bände Beleg für ein Kommunikationsmodell um 1800.Dieses ist geprägt durch die außergewöhnliche örtliche und zeit-liche Konstellation der Protagonisten. Diese sind das Bindegliedin der vorliegenden Dokumentation. Die Akteure gehören zu dem als Freundschaftsbund zu be-zeichnenden Romantikerkreis in Jena. Deren Zusammenkunftkristallisiert sich in der dortigen ‚Wohngemeinschaft‘ der Schle-gels und ist in ihrer erweiterten Form bei den regelmäßigenTreffen zu beobachten. Die Brüder Schlegel, Friedrich undAugust Wilhelm, Dorothea Mendelssohn-Veit-Schlegel undCaroline Michaelis-Böhmer-Schlegel-Schelling, Novalis undFriedrich Schleiermacher, Friedrich Immanuel Niethammer undJohann Gottlieb Fichte u.a. sind an diesen geselligen Rundenbeteiligt. Man logiert bei den Schlegels, lädt Freunde undBekannte aus dem universitären Umfeld zu größeren Rundenein und pflegt einen regen Gedankenaustausch.Warum steht der Personenkreis um die Brüder Schlegel in Jenaim Mittelpunkt der Darstellung? Warum ist es die unter demzusammenfassenden Begriff ‚Romantikerkreis‘ bekannte Perso-nengruppe, die hier das Interesse des Lesers wecken soll? DieAntwort ist relativ einfach: Der Romantikerkreis ist zeitlich undgeographisch gut einzugrenzen: Die komplexen Verbindungender Personen untereinander sind anschaulich und in angemesse-nem Umfang darstellbar. Außerdem sind ihre Beziehungen sointensiv, dass nahezu alle Lebensbereiche in den Korresponden-zen thematisiert werden. Die beteiligten Personen warenwährend ihrer Jenaer Zeit gesellschaftlich noch nicht etabliert.Sie standen in keinen festen Anstellungsverhältnissen und konn-ten auf keine materielle Sicherheit bauen, alltägliche Sorgenund Nöte – wie z.B. drückende Schulden, Wohnungsnot und

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Literarisches LebenEinfürung

Beschäftigungsprobleme – nahmen neben intellektuellen Pro-blemen einen breiten Raum in den Gesprächen und Korrespon-denzen ein. Gerade dies macht die Verbindung und Verquickungder künstlerisch-philosophischen Themen zum Alltagsleben erstdeutlich. Denn nur sie erlaubt es, die alltägliche Lebensweltgemeinsam mit der literarischen zu sehen und eine gegenseitigeDurchdringung anzunehmen.

Geselligkeit und Romantik

„Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie.Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte Gattungen derPoesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie,und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auchPoesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie, undNaturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie leben-dig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetischmachen, den Witz poetisiren, und die Formen der Kunst mitgediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen, unddurch die Schwingungen des Humors beseelen. Sie umfaßt alles,was nur poetisch ist, vom größten wieder mehre Systeme in sichenthaltenden Systeme der Kunst, bis zu dem Seufzer, dem Kuß,den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosen Gesang.“3

Friedrich Schlegels Charakterisierung formuliert pointiert denKern der unter dem Namen Romantik bekannten literarischenEpoche. Darunter ist eine literarische, natur- und geisteswis-senschaftliche Bewegung um das Jahr 1800 zusammengefasst.Zentral ist ihr – und ihren Protagonisten – ein Streben nach Ein-heit und Ganzheit. Damit einher geht der Wunsch nach einemumfassenden Gesamtkunstwerk, der Aufhebung der Wider-sprüche und Gegensätze zwischen Leben und Kunst. Die Beto-nung der Inhalte verschiebt sich dabei zu emotionalen Wertenund Maßstäben, sodass nicht nur Vernunft, Rationalität und

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Literarisches Leben Einführung

klassische Schlichtheit im Zentrum der Literatur, der Kunst unddes Lebens stehen, wie beispielsweise in der Weimarer Klassik,sondern Phantasie und Intellekt zusammengehen. Die mystische Frömmigkeit des Pietismus und der schrankenlo-se Individualismus des Sturm und Drangs waren Anknüpfungs-punkte, die die Romantik aufgriff. Auch sie setzten auf die sub-jektive Emotionalität und suchten einen auf Empfindsamkeitund Selbstbespiegelung basierten Weg nach Innen. Doch beiden Romantikern war es nicht nur die Suche nach dem eigenenIch. Es ging nicht um den puren Subjektivismus, sondern manging weiter, um einen Weg zur Welt zu finden und um eine neueWeltsicht zu gewinnen.Daher sind es auch qualitativ andere Gruppierungen undFreundschaftsbünde unter den Romantikern als es die Zusam-menschlüsse in der Empfindsamkeit oder der Klassik waren.Keine harmonische Verbindung stand mehr im Mittelpunkt,sondern ein Geistesbund zum Austausch von Ideen. Kontro-verse Standpunkte und Meinungen waren dem eher förderlich.Dies kann man unschwer am Schlegelkreis und seinen Mitglie-dern sehen.Zu dem engeren Kreis sind zu zählen: Friedrich Schlegel (1772-1829), August Wilhelm Schlegel (1767-1845), Dorothea Schle-gel (1763-1839), Caroline Schelling (1763-1809) und ihreTochter Auguste Böhmer (1785-1800), Friedrich Freiherr vonHardenberg, genannt Novalis (1772-1801), der Philosoph Frie-drich Schleiermacher (1768-1834) – der aber nie in Jena war –,Ludwig Tieck (1773-1853), der Physiker Johann Wilhelm Ritter(1776-1810) und der Theologe, Philosoph und Jenaer ProfessorFriedrich Immanuel Niethammer (1766-1848), der dem JenaerKreis eng verbunden war. Nicht zu vergessen ist der Biographder Romantiker Henrik Steffens (1773-1845), der in seinenLebenserinnerungen einen interessanten Blick auf den JenaerRomantikerkreis wirft. An der Ausbildung des Kreises und ander Formulierung der philosophischen, literarischen und lebens-weltlichen Ideen waren vor allem auch die Philosophen Fried-

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Literarisches LebenEinführung

rich Wilhelm Joseph Schelling (1775-1854), Johann GottliebFichte (1762-1814) und der Pädagoge August Ludwig Hülsen(1765-1810) beteiligt. Im Sinne Friedrich Schlegels stand im Mittelpunkt der Gruppedas gemeinsame Denken und Philosophieren – auch bei wider-sprüchlichen Positionen. Für dieses gemeinsame Denken hatteFriedrich Schlegel den Begriff der Symphilosophie geschaffen– und dehnte diesen auch auf andere Lebensbereiche aus.Synexistieren und Synfaulenzen gehörten selbstverständlich zuden gemeinsamen Erlebnissen der Romantiker.Der Zusammenschluss der Gruppe war kein Zufall. Mit Jenawar ein ideeller und intellektueller Ort für eine Gruppe vonIntellektuellen geschaffen, die an keinem festen Standort situiertund nicht institutionell gebunden waren. Sie verband dasgemeinsame Wissen, dass eine geistige Veränderung der Ge-sellschaft nur gemeinschaftlich herbeigeführt werden könne.Der zeitliche Rahmen, in dem sich die geselligen Kreise derRomantiker in Jena zusammenfanden, war dabei maßgeblichvon Friedrich Schlegel und seinem Bruder August Wilhelmabhängig. Daher wird der Zusammenschluss auch als Schlegel-kreis bezeichnet.1793 hatte Friedrich Schlegel sein Studium der Rechtswissen-schaft aufgegeben und versuchte, sich als freier Schriftsteller zuetablieren. Nach zwei Jahren Aufenthalt in Dresden, wo sichschon ein kleiner Kreis von Freunden um ihn sammelte, folgteab August 1796 der erste längere Aufenthalt in Jena. Nach demScheitern der Mitarbeit an Friedrich Schillers Horenging er imJuli 1797 frustriert nach Berlin. Dort begegnete er seiner späte-ren Ehefrau Dorothea Veit und lebte einige Zeit zusammen mitFriedrich Schleiermacher in einer Art geistigen Wohngemein-schaft. Ebenso machte er dort die Bekanntschaft mit LudwigTieck. Gemeinsam mit seinem Bruder August Wilhelm gründe-te er die wichtigste Zeitschrift der Romantik, das Athenaeum.Damit hatten sich die Mitglieder des Schlegelkreises eine ge-meinsame Diskussionsplattform und ein Publikationsorgan

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Literarisches Leben Einführung

geschaffen. Nach seinem Berlinaufenthalt kehrte Friedrich imHerbst 1799 nach Jena zurück. Caroline, Dorothea, Novalis undTieck stießen zu dem Jenaer Kreis und man versuchte das zuverwirklichen, was man als Lebensmodell und intellektuelleHerausforderung in Briefen, Romanen und Gedichten theore-tisch formuliert hatte. Nur knapp zwei Jahre sollten diese gesel-ligen Runden überdauern.Im Jahr 1800 musste das Athenaeumim dritten Jahr sein Er-scheinen einstellen. Im Frühjahr 1801 starb Novalis, AugustWilhelm Schlegel ging nach Berlin und Friedrich Schlegel ver-ließ im April 1801 Jena, nachdem er vergeblich versucht hatte,sich als Dozent an der Universität zu etablieren. Von Jena ginger nach Dresden und dann weiter nach Paris, immer von Doro-thea begleitet. 1804 heirateten sie. In Paris machten seineSanskritstudien den Schwerpunkt seiner Beschäftigung aus. 1808 konvertierten er und Dorothea zum Katholizismus. Weite-re Versuche sich beruflich zu etablieren sollten erst 1809 durchdie Vermittlung einer Stelle als Hofsekretär in Wien durch sei-nen Bruder enden.Die geselligen Kreise der Romantiker hatten sich aus Jena ver-abschiedet und die einzelnen Mitglieder des Freundeskreisesgingen getrennte Wege. Neue Lebens-, Diskussions- und Lese-kreise bildeten sich in Dresden, in Berlin und an anderen Orten.Aber die Besonderheiten der Jenaer Treffen und geselligen Run-den lagen in der einmaligen Konstellation eines relativgeschlossenen Personenkreises, ihrer freundschaftlichen undintellektuellen Bindungen untereinander und ihrer größtenteilsunsicheren Lebenssituationen. Friedrich Schlegel formulierte den Anspruch und seine Einlö-sung des geselligen Bundes in Jena in einem kurzen Text imAthenaeum: „Vielleicht würde eine ganz neue Epoche der Wis-senschaften und Künste beginnen, wenn die Symphilosophieund Sympoesie so allgemein und so innig würde, daß es nichtsseltnes mehr wäre, wenn mehre sich gegenseitig ergänzendeNaturen gemeinschaftliche Werke bildeten.“4

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Literarisches LebenEinführung

Schlegel begründete damit ein Programm, das nicht nur dieLiteratur, sondern das ganze Leben umschließen sollte. Die For-derung nach einem Gesamtkunstwerk lag im Raum und deshalbkann man für die vorliegenden Bände formulieren: es geht umdie Durchdringung – und letztendlich um die Poetisierung – desganzen Lebens. Dass diese Forderung nur eine theoretische warscheint einleuchtend. Und natürlich gelang es nicht immer, vorallem nicht im Alltag und innerhalb der Zweierbeziehungen derGruppe, Poesie und Wirklichkeit miteinander zu vereinigen.Aber die Bestrebungen aller Beteiligten zielten in eine gemein-same Richtung.Und vielleicht gelang es nur Caroline, den Anspruch an Freiheit,den Friedrich Schlegel in seinem Roman Lucinde formulierthatte in der Realität umzusetzen. Sie löste sich über alle Kon-ventionen hinweg aus ihrer bürgerlichen Existenz. Sie bekam einuneheliches Kind, tat sich mit August Wilhelm Schlegel zusam-men, um schließlich einen neuen Lebensweg mit Friedrich Wil -helm Joseph Schelling einzuschlagen. Dabei hatte sie stets dieSelbstbestimmung als Individuum im Auge. Die männlichenMitglieder des Romantikerkreises sollten nicht so bestimmt nachden freiheitlichen Grundsätzen der Jenaer Jahre leben.Dass Lebensführung, Liebe und Beziehungen zwischen denFreunden ein wichtiges Thema auch des Alltags waren, bestä-tigt ein Ausruf von Novalis in einem Brief an Caroline: „OhneLiebe hielt ichs gar nicht aus. Mündlich recht viel Neues undSchönes.“5

Literarisches Leben

Die Literatur der Frühromantik eröffnete dem damaligen Leserneue Welten. Um dies zu verstehen, muss man sich vergegen-wärtigen, dass Lektüre frühestens seit der Mitte des achtzehn-ten Jahrhunderts auch Ansätze zur Auseinandersetzung mit der

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Literarisches Leben Einführung

eigenen Identität, dem eigenen Selbstverständnis und der Po-sitionierung in der Gesellschaft bot. Bis dahin nahm die reli-giöse Lektüre zur Erbauung den größten Teil des „Lektürevo-lumens“ ein. Und wer überhaupt lesen konnte, las andererseitsaufgrund der nur schweren Zugänglichkeit von Büchern mehr-fach dasselbe. Neben Kalendern, Zeitungen und gelegentlichenFlugblättern war dies fast ausschließlich religiöse Gebrauchsli-teratur, wie die Bibel, Andachts-, Gesang- und Gebetbücher undKatechismen. Religiöse Erbauungslektüre hatte dabei nicht dasZiel der Unterhaltung, sondern das einer moralisch-religiösenErhebung und Belehrung des Einzelnen und gleichzeitig derBestätigung des Bestehenden.Das 18. Jahrhundert brachte diesbezüglich grundlegende Ver-änderungen mit sich. Zumindest in den Städten entstand durchdie Vorläufer der industriellen Revolution, die sich vor allemauch auf die Buchindustrie auswirkte, ein handel- und gewer-betreibendes Bürgertum, das zu Geld und sozialem Prestigegelangte. Man verlangte nach neuen Lesestoffen. Das Interessean religiöser Erbauungsliteratur nahm gemessen an dem Anstiegder Titel für die Bereiche Belletristik und Sachliteratur drama-tisch ab. Die mehrfache Lektüre wurde durch das einmaligeLesen, besonders von Romanen, ersetzt. Die Wahl der Lesestof-fe war fast ausschließlich dem Wandel des Geschmacks, derMode, unterworfen. Der alle gesellschaftlichen Bereiche durch-dringende Geist der Aufklärung veränderte die Literatur und dieFunktionen des Buchmarktes. Die philosophisch-literarischenGegenbewegungen zu den aufklärerischen Entwicklungen soll-ten nicht lange auf sich warten lassen. Die Autoren des Sturmund Drangs, der gegen das Rationale der Aufklärung eine los-gelöste Empfindsamkeit und Entfesselung von Phantasie undGefühl setzten, waren die erste literarische Opposition, die sichformierte. Daneben entwickelte sich aber auch die Klassik, diedie Formlosigkeit des Gefühls wiederum bändigte und Naturund Welt als geordneten Organismus sah, in dem der Menschsich harmonisch entfalten sollte.

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Letztlich versuchte die Romantik die Extreme des Zeitalters,strengen Rationalismus, die Entfesselung des Gefühls und dieHarmonie mit der Welt in Einklang zu bringen. Sie zielte auf dieVerbindung von Gegensätzen ab. Das voneinander Getrenntesollte wieder vereint sein: „Sie will, und soll auch Poesie undProsa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie, und Naturpoesie baldmischen, bald verschmelzen [...].“6 Dichtung, Malerei undMusik sollten eins werden, die Sinneswahrneh-mungen sichverbinden. Raum und Zeit, Anfang und Ende, Leben und Tod,Vergangenheit und Zukunft, Wirklichkeit und Möglichkeit fie-len letztlich in einer unendlichen Wahrheit zu-sammen, die es zuergründen galt. Damit einher ging ein er-wachendes Interesse ander Geschichte. Das Mittelalter wurde als nationaler Ursprunggesehen, in dem es erstmals so etwas wie eine Identität desVolkes und eine eigenständige national geprägte Kunst gab,alles allerdings romantisierend verklärend. Über die Auseinan-dersetzung mit der Herkunft sollte sich Erkenntnis über daseigene Wesen einstellen. Geschichtliches Denken und histori-sche Forschung unter Einbezug der Sprachforschung traten inden Bemühungen der Brüder Grimm besonders zu Tage. IhrSammeln von Werken der Vergangenheit führte zu den Editio-nen der bekannten Kinder- und Hausmärchenund Achim vonArnims und Clemens Brentanos Engagement für die Zeugnisseder nationalen Vergangenheit schlugen sich in der SammlungDes Knaben Wunderhorn nieder. Ludwig Tieck und Novalisnahmen Struktur und Stimmung der Volksliteratur teilweise inihren Märchen und Erzählungen auf, Tieck insbesondere imPhantasus(1812-1816). Diese Märchen- und Textsammlungen sollten, vor allem natür-lich wegen ihrer großen Popularität, das Verständnis und Bildvon der Romantik bis in die Gegenwart hinein prägen. Hierzugehören vor allem auch die in die Trivial- und Unterhaltungsli-teratur einfließenden romantischen Elemente. Über dieseursprüngliche Kunstform der Volksmärchen und Volksliedersuchten die Romantiker zu einer Einheit mit der Welt, die sie als

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Literarisches Leben Einführung

verloren ansahen, zurückzugelangen. Diese Sehnsucht nacheinem harmonischen Ausgleich zwischen den Temperamentenging mit dem Motiv des Unterwegsseins, der Sehnsucht und desHeimwehs einher. Die Literatur und die Briefe der Romantikerweisen an vielen Stellen eine starke Sehnsuchtsmetaphorik auf,konzentriert zusammengefasst in dem von Novalis geprägtenSymbol der Blauen Blume (Text 7). Die Erforschung desWesens der Welt schloss die psychologische Durchdringung desMenschen mit ein. Dies sollte weitreichende Folgen haben. Aufliterarischem Gebiet spiegelten sich hier die Einflüsse derSchauerromantik. Die naturwissenschaftlichen Ideen derRomantiker beeinflussten mit ihrer Verbindung von Naturwis-senschaft bzw. Natur und Geist maßgeblich die Psychologie, dieMedizin und alle auf die Seelenzustände des Menschen rekur-rierenden Wissenschaften.Die Auswirkungen der romantischen Ideale und Lebensent-würfe blieben nicht auf die Theorie beschränkt. Sie wirktenauch auf das eigene Leben – zuerst auf das der Romantiker –wie im Jenaer Kreis – und dann auf das der Leser romantischerLiteratur. Romantik war zu einem umfassenden Projekt dergegenseitigen Durchdringung von Kunst und Leben geworden.Um den Ideen, Gedanken und literarischen und philosophi-schen Überlegungen des Kreises um die Brüder Schlegel zueiner breiteren Öffentlichkeit zu verhelfen, gründeten Friedrichund August Wilhelm Schlegel eine Zeitschrift, das Athenaeum.Sie stand als Plattform für Veröffentlichungen zur Verfügungund ermöglichte das Experimentieren mit Literatur. Und letzt-lich war dies ein Projekt, in dem die angerissenen Lebensent-würfe, Utopien und Vorstellungen von einem Gesamtkunstwerkrealisiert werden konnten. Insofern war das Athenaeumder Brü-der Schlegel ein paradigmatisches Projekt. Die gemeinsameArbeit an der Zeitschrift berührte aber nicht nur die literarischeArbeit der beiden Kritiker. Durch die Zusammenarbeit mit ihrenRomantiker-Freunden wurden nach und nach auch die über dieLiteratur weit hinaus weisenden Gebiete der Philosophie und

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Religion, der Staatskunde und Naturwissenschaft, der Pädago-gik und Psychologie behandelt und literarisch transzendiert.Damit wurde ein umfassendes Konzept der gegenseitigenDurchdringung von Leben und Kunst, Kultur und Geist insLeben gerufen. Die theoretische und literarische Formulierungder propagierten romantischen Thesen war Friedrich Schlegel inseinem Roman Lucindeunter breiter Teilnahme der Öffentlich-keit gelungen. Er stilisiert darin Liebe als Erlösung und Religi-on, integriert sie aber gleichzeitig auch in eine psychologischdifferenzierte Situation, die männliche und weibliche Perspekti-ven berücksichtigt und ein überindividuelles Ideal menschlicherGemeinschaft und Geselligkeit propagiert. Ein weiterer Faktor, der die literarische Produktion der Roman-tiker maßgeblich beeinflusste – und zwar auch über das Jahr1800 hinaus – war der durchgängige Bezugspunkt Shakespeare.In der Auseinandersetzung mit ihm gelangte man nicht nur zueinem tieferen Verständnis der Musikalität seiner Sprache, son-dern auch zu einem ästhetisch fundierten kritischen Umgangmit seinen Werken. Hier nahm nicht nur die romantische Litera-turkritik ihren Anfang.Die Wirkung des Jenaer Kreises auf Philosophie und Literaturkann kaum überschätzt werden. Ebenso hielten die Einflüsse derSchellingschen Philosophie auf die Generation der Naturwis-senschaftler um 1800 nachhaltig an. Die Wechselwirkungenzwischen Naturwissenschaft, literarischen Texten, die naturwis-senschaftliche Elemente integrierten (Novalis), und philosophi-schen Abhandlungen führten zu einem komplexen Netz vonBeziehungen: das Projekt Gesamtkunstwerk war für einenMoment der Geschichte real geworden und sollte europaweitseine Wirkung entfalten – ausgehend von den romantischenZentren Deutschlands wie Jena, Dresden, Berlin, Göttingenoder Stuttgart – und in der späten Phase der Romantik wiederBerlin.Der kleine Jenaer Kreis mit seinen frühromantischen Dichtun-gen sollte über die Lebenswege der beteiligten Protagonisten

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und ihrer literarischen Texte bis in die späte Romantik derZwanziger- und Dreißigerjahre hinein seine Wirkung fortsetzen.Dass mit den frühen Bemühungen und engen Verbindungenzwischen Literatur und Philologie, zwischen Philosophie,Natur- und Geschichtswissenschaft der Grundstein für einenationale Geschichtsbetrachtung und auch für die Identitätsbil-dung einer deutschen Nation – mit allen damit verbundenenproblematischen Aspekten – gelegt wurde, war dem kleinenJenaer Kreis um 1800 noch nicht klar. Trotz der schwierigenpolitischen Verhältnisse zur Jahrhundertwende sollte erst zuBeginn des zweiten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts, bedingtdurch die napoleonische Kriege 1812/13, das öffentlicheBewusstsein für nationale Identität in Literatur empfänglichsein bzw. werden.Die Zeit hatte sich gewandelt. Das neue Jahrhundert hatte in sei-nem zweiten Jahrzehnt schon ganz Europa umstrukturiert. Aberschon kurz nach der Auflösung der Jenaer Kreise und der Neu-definition romantischer Lebensentwürfe hätte man behauptenkönnen: „Da ist andere Zeit geworden...“.7 Die Einschätzung hatsich bis in die Gegenwart nicht verändert, und man kann miteinem Wort von Martin Walser auf die Frage „Weshalb ist 1790bis 1800 noch mal Ihr Lieblingsjahrzehnt?“ schließen: „Dahaben deutsche Geistesmenschen sich die Revolution, die hiernicht war, erschrieben. Unverabredet. Lauter Vulkanausbrüche.Eine nie mehr erkaltende Lava.“8

Prinzipien der Textauswahl und Textwiedergabe

Wo nicht anders aufgeführt, wird als Textgrundlage immer diejeweilige historisch-kritische Ausgabe herangezogen. Gegebe-nenfalls werden Erstdrucke oder, wo es sich um ungedruckteDokumente handelt, die Handschriften als Druckvorlage ge-nutzt. Die Texte werden nach den Werkausgaben wiedergege-

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Literarisches LebenEinführung

ben, typographische Besonderheiten der historisch-kritischenAusgaben werden vernachlässigt, gegebenenfalls wurde in denAnmerkungen auf Besonderheiten hingewiesen. Textergänzun-gen wurden im einzelnen kenntlich gemacht durch [eckigeKlammern], unterschiedliche Darstellungsformen der Ausgabenwurden vereinheitlicht. Textauslassungen wurden ebenfalls miteckigen Klammern „[...]“ gekennzeichnet. Verzichtet wurde aufdie Fußnoten innerhalb der Texte, Texteingriffe werden aberimmer kenntlich gemacht. Textverbesserungen werden in denAnmerkungen nachgewiesen. Dem verderbten Text in denAnmerkungen folgt eine schließende eckige Klammer „]“, derwiederum der verbesserte Text folgt.Hervorhebungen in den Textvorlagen wurden vereinheitlichtund sind kursiviert dargestellt. Abweichungen werden gege-benenfalls in den Anmerkungen erklärt. Streichungen in denManuskripten und deren Kenntlichmachung in den Werkaus-gaben wurden nicht übernommen. Nachträgliche Ergänzungenin den Handschriften oder Druckvorlagen werden mit {ge-schweiften Klammern} hervorgehoben.Unterschiedliche Schreibungen der Namen werden in den Tex-ten nicht angeglichen. Ansonsten werden die Namen in denerklärenden Texten jeweils in der zeitlich richtigen Anset-zungsform oder in einer Kurzform, in den Überschriften in derzusammengesetzten Form (Dorothea Mendelssohn-Veit-Schle-gel) verwendet. Gegebenenfalls findet der Leser separate Hin-weise in den Anmerkungen.Zeilenwechsel werden gegebenenfalls mit einem Schrägstrich„/“ kenntlich gemacht. Weitere Besonderheiten und Abwei-chungen werden in den Anmerkungen erläutert.

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Literarisches Leben Einführung

Anmerkungen

1 Friedrich Schlegel an August Wilhelm Schlegel, 13. April 1792, in: KFSA23, Nr. 18, S. 48-50, dort S. 49.

2 Dorothea Mendelssohn-Veit-Schlegel an Friedrich Schleier-macher, 16. Januar 1800, in: KGAV.3, Nr. 773, S. 345-348, dortS. 347.

3 Friedrich Schlegel: Athenaeumsfragment 116, in: Athenaeum1798, Ersten Bandes, Zweytes Stück; S. 204-206, dort S. 204 f.

4 Friedrich Schlegel: Athenaeums-Fragment 125, in: Athenaeum1798, Ersten Bandes Zweytes Stück, S. 209-210, dort S. 209.

5 Novalis an Caroline Michaelis-Böhmer-Schlegel-Schelling, 20.Januar 1799, in: NS 4, Nr. 131, S. 274-276, dort S. 276.

6 Friedrich Schlegel: Athenaeumsfragment 116, in: Athenaeum1798, Ersten Bandes, Zweytes Stück, S. 204-206, dort S. 204.

7 Adrian Hummel (Hg.): „Da ist andere Zeit geworden ...“. EineAnthologie poetologischer Entwürfe der deutschen Romantik.München 1994.

8 Moritz von Uslar: 100 Fragen an ... Martin Walser, in: Süddeut-sche Zeitung. Magazin (2003) Nr. 44, 30.10.2003, S. 7-11, S. 10[Frage Nr. 78].

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Literarisches Leben

„Romantische“ Literatur?

Die Positionen der Frühromantik festzuschreiben ist ein schwie-riges Unterfangen: die Protagonisten waren heterogen, ihreliterarischen und poetologischen Äußerungen einem offenenund sich wandelnden Prozess unterwerfen. Die Frühromantikerwaren Kinder der Aufklärung und kamen aus bürgerlich-gelehr-ten Familien. Damit gehörten sie außerhalb adliger Kreise zurersten Generation mit geistig-künstlerischer Sozialisation.Praktisch bedeutete dies: sie lasen alles, was ihnen in dieHände kam. Die Frühromantiker sahen sich selbst am Beginneiner neuen Epoche. Zu einer ausgewiesenen Vorliebe für dasMittelalter fanden sie ihre Vorbilder in Dante, Cervantes undShakespeare (Text 1). Mit diesem Erbe in Händen fühlten siesich berufen, etwas gänzlich Neues zu schaffen – in literarischerwie auch gesellschaftlicher Hinsicht: sie waren die Erneuerereiner entfremdeten Welt. Gegen die Betonung des Rationalenund der Spezialisierung setzten sie auf ein ganzheitliches Welt-bild. Zum Rationalismus kam das Gefühl – jedoch nicht imSinne einer gefühlsverliebten Überschwänglichkeit, sondern indem einer ich-bezogenen Subjektivität. Die Erforschung desInneren war dabei ein Weg zur Welt: „Wir werden die Welt ver-stehn, wenn wir uns selbst verstehn, weil wir und sie integrante‚Hälften‘ sind.“1 Der reine Subjektivismus sollte überwundenwerden, mit der Kunst als Weg zur Einheit mit der Welt. Nurdurch eine Romantisierung des Lebens, der Literatur und derKünste sei die seit der Französischen Revolution deutlichgewordene Krise der Gesellschaft zu bewältigen. Wenn Fried-

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rich Schlegel von der romantischen Poesie als progressiverUniversalpoesie sprach oder Ludwig Tieck in „der Vollendungder Kunst (...) am reinsten und schönsten das geträumte Bildeines Paradieses, einer unvermischten Seligkeit“ (Text 2)beschwor, dann war dies die Sehnsucht nach einer Welt, dieKunst und Leben verbindet. Die Sehnsucht nach ihr fand ihrenAusdruck in den Texten der Romantiker.

1. August Wilhelm Schlegel:Shakespeare und derGeist des romantischen

Schauspiels

Unserm gleich anfangs vorgelegten Plane gemäß haben wir unsjetzt mit dem englischen und spanischen Theater zu beschäfti-gen. Wir wurden im Vorhergehenden schon verschiedentlichveranlaßt, bald das eine, bald das andre beiläufig zu erwähnen,teils um manche Begriffe durch den Gegensatz in ein helleresLicht zu setzen, teils wegen des Einflusses, den sie nach außenhin verbreitet haben. Sowohl die Engländer als die Spanier besit-zen eine sehr reiche dramatische Literatur; beide haben eineMenge fruchtbarer und talentvoller Schauspieldichter gehabt,worunter auch die weniger bewunderten und berühmten, imGanzen genommen, ungemeines Geschick für dramatische Bele-bung und Einsicht in das Wesen theatralischer Wirkung bewei-sen. Die Geschichte ihres Theaters hat keinen Zusammenhangmit der des italienischen und französischen, denn es hat sichganz ohne fremde Einwirkung aus eigner Kraftfülle entwickelt:die Versuche, es auf Nachahmung der Alten oder gar der Fran-zosen zurückzuführen, sind entweder ohne Folgen gebliebenoder erst sehr spät in den Zeiten des Verfalls zum Vorscheingekommen. Die Ausbildung dieser beiden Bühnen ist ebenfallsunabhängig voneinander; die spanischen Dichter haben die eng-lischen durchaus nicht gekannt, und bei diesen konnte ich in der

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älteren und bedeutendsten Periode noch keine Spur der Bekannt-schaft mit spanischen Schauspielen (wiewohl allerdings mitNovellen und Romanen) entdecken; erst in der Zeit Karls desZweiten finden sich Übersetzungen aus dem Calderon.2

Es haben unter dem Menschengeschlecht so vielfältige Mittei-lungen von Jahrhundert zu Jahrhundert und von Nation zu Nati-on stattgefunden, und der menschliche Geist ist mehrenteils soträge zum Erfinden, daß das Ursprüngliche in jedem Fache gei-stiger Bemühungen überall eine seltne Erscheinung ist. Wir sindbegierig zu sehen, wie es geraten wird, wenn unternehmendeKöpfe, unbekümmert darum, daß etwas schon anderswo inhoher Vollkommenheit vorhanden gewesen, sich bestreben esganz von vorn wieder zu erfinden; wenn sie den Grund desneuen Gebäudes auf eignem Boden legen und alle Zurüstungen,alles Baugerät aus eignen Mitteln herbeischaffen. Wir teilengewissermaßen die Freude des Gelingens, wenn wir sie raschvon der anfänglichen Unbeholfenheit und Bedürftigkeit zu fer-tiger Meisterschaft fortschreiten sehen. Diesen anziehendenAnblick würde uns die Geschichte des griechischen Theatersgewähren, wenn uns dessen roheste Anfänge aufbewahrt wären,die noch gar nicht einmal aufgeschrieben wurden: allein es istleicht, aus der Vergleichung des Aeschylus mit dem Sophoklesweiter zurückzuschließen. Die Griechen hatten ihre Schauspiel-kunst von keinem andern Volke ererbt oder entlehnt, sie warursprünglich und einheimisch und eben darum konnte sie einelebendige Wirkung hervorbringen. Hiermit hatte es schon eineEndschaft erreicht, als Griechen Griechen nachahmten, nämlichals die alexandrinischen Dichter nach den großen Musterngelehrt und kritisch Dramen ausarbeiten. Bei den Römern tratdas Gegenteil ein: sie hatten Form und Gehalt ihrer Schauspie-le von den Griechen überkommen, sie versuchten es nie, hierinmündig zu werden und ihre eigne Sinnesart auszusprechen; des-wegen nehmen sie auch in der Geschichte der dramatischenKunst eine so unbedeutende Stelle ein. Unter den Völkern desneueren Europa haben bis jetzt nur die Engländer und Spanier

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(die deutsche Schaubühne ist erst im Werden) ein durchaus ori-ginales, nationales und in seiner eigenen Gestalt zu einer festenAusbildung gediehenes Theater. Jene Kunstrichter, welche die Alten auf solche Weise fürmusterhaft halten, daß in der Poesie wie in allen übrigen Kün-sten kein Heil zu hoffen sei außer auf dem Wege der Nachah-mung, behaupten, jene eben genannten Nationen haben geradedeswegen, weil sie diesen Weg nicht betreten, lauter regelloseWerke auf die Bühne gefördert, die durch einzelne schöne Zügeglänzen mögen, an denen aber die barbarische Formlosigkeitdes Ganzen immer verwerflich bleibe. Wir haben über dieseAnsicht schon im Eingange gegenwärtiger Vorlesungen dasNötige im allgemeinen erinnert, müssen uns aber hier nochetwas näher damit einlassen.Wäre die Behauptung richtig, so würde alles, was die Werke dervollendetsten englischen und spanischen Dramatiker, einesShakespeare und Calderon, unterscheidet, sie bloß unter dieAlten herabsetzen; sie würden auf keine Weise für die Theoriewichtig sein und könnten höchstens durch die Annahme merk-würdig scheinen, der Eigensinn dieser Nationen, sich durchausnicht nach den Regeln bequemen zu wollen, möchte den Dich-tern desto unbeschränkteren Spielraum gelassen haben, ihreangestammte Originalität, wiewohl gleichsam hinter demRücken der Kunst, zu offenbaren. Allein selbst diese Annahmedürfte bei näherer Beleuchtung sehr zweifelhaft werden. Derdichterische Geist bedarf allerdings einer Umgrenzung, um sichinnerhalb derselben mit schöner Freiheit zu bewegen, wie es alleVölker schon bei der ersten Erfindung des Silbenmaßes gefühlthaben; er muß nach Gesetzen, die aus seinem eignen Wesen her-fließen, wirken, wenn seine Kraft nicht ins Leere hinaus ver-dunsten soll.Formlos zu sein darf also den Werken des Genius auf keineWeise gestattet werden, allein es hat damit auch keine Gefahr.Um dem Vorwurfe der Formlosigkeit zu begegnen, verständigeman sich nur über den Begriff der Form, der von den meisten,

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namentlich von jenen Kunstrichtern, welche vor allem auf stei-fe Regelmäßigkeit dringen, nur mechanisch und nicht, wie ersollte, organisch gefaßt wird. Mechanisch ist die Form, wenn siedurch äußre Einwirkung irgendeinen Stoffe bloß als zufälligeZutat, ohne Beziehung auf dessen Beschaffenheit erteilt wird,wie man z.B. einer weichen Masse eine beliebige Gestalt gibt,damit sie solche nach der Erhärtung beibehalte. Die organischeForm hingegen ist eingeboren, sie bildet von innen heraus underreicht ihre Bestimmtheit zugleich mit der vollständigen Ent-wicklung des Keimes. Solche Formen entdecken wir in derNatur überall, wo sich lebendige Kräfte regen, von der Kristal-lisation der Salze und Mineralien an bis zur Pflanze und Blumeund von dieser bis zur menschlichen Gesichtsbildung hinauf.Auch in der schönen Kunst, wie im Gebiete der Natur, der höch-sten Künstlerin, sind alle echten Formen organisch, d.h. durchden Gehalt des Kunstwerkes bestimmt. Mit einem Worte, dieForm ist nichts anders als ein bedeutsames Äußres, die spre-chende, durch keine störenden Zufälligkeiten entstellte Physio-gnomie jedes Dinges, die von dessen verborgnem Wesen einwahrhaftes Zeugnis ablegt.Hieraus leuchtet ein, daß der unvergängliche, aber gleichsamdurch verschiedne Körper wandernde Geist der Poesie, so oft ersich im Menschengeschlechte neu gebiert, aus den Nahrungs-stoffen eines veränderten Zeitalters sich auch einen andersgestalteten Leib zubilden muß. Mit der Richtung des dichteri-schen Sinnes wechseln die Formen, und wenn man die neuenDichterarten mit den alten Gattungsnamen belegt und sie nachderen Begriffe beurteilt, so ist dies eine ganz unbefugte Anwen-dung von dem Ansehen des klassischen Altertums. Niemandsoll vor einer Gerichtsbarkeit belangt werden, unter die er nichtgehört. Wir können gern zugeben, die meisten dramatischenWerke der englischen und spanischen Dichter seien im Sinneder Alten weder Tragödien, noch Komödien: es sind ebenromantische Schauspiele. Daß die Bühne eines Volkes, welchesbei deren Gründung und Ausbildung von fremden Vorbildern

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nichts gewußt, noch wissen wollen, viel Eignes und Abwei-chendes haben wird, sogar seltsam Abstechendes gegen dieTheater andrer Nationen, die dabei ein gemeinschaftlichesMuster der Nachahmung vor Augen gehabt: dies wird schonjedermann voraussetzen, und das Gegenteil würde eherbefremdlich scheinen. Wenn aber die gleichzeitig entstandnenund dennoch unbekannt gebliebenen Bühnen zweier Völker, diein physischer, moralischer, politischer und religiöser Hinsicht soweit voneinander abstehen, wie die Engländer und Spanier,neben den äußern und innern Verschiedenheiten die auffallend-sten Züge der Verwandtschaft an sich tragen, so muß wohl derGedankenloseste auf diese Erscheinung aufmerksam werden,und es wird sich ihm natürlich die Vermutung aufdrängen, beider Entwicklung beider habe dasselbe oder wenigstens eingleichartiges Prinzip obgewaltet. Indessen ist diese Zusammen-stellung des englischen und des spanischen Theaters in ihremgemeinschaftlichen Gegensatz mit aller dramatischen Literatur,die aus Nachahmung der Alten erwachsen, so viel wir wissen,noch niemals versucht worden. Könnte man einen Lands- undZeitgenossen und verständigen Bewunderer des Shakespeareund einen andern des Calderon wieder auferwecken und sie mitden Werken des ihnen fremden Dichters bekannt machen, sowürden beide, mehr von einem nationalen als allgemeinenGesichtspunkte ausgehend, ohne Zweifel sich nur mit Mühehineinversetzen und viel dagegen einzuwenden haben. Hiermuß nun die vermittelnde Kritik3 eintreten, die vielleicht voneinem Deutschen am besten ausgeübt werden kann, der wederin englischer noch in spanischer Nationalität befangen, abereiner wie der andern durch Neigung befreundet ist und durchkeine Eifersucht gehindert wird, das Große, was früher geleistetworden, anzuerkennen.Die Ähnlichkeit des englischen und spanischen Theaters be-steht nicht bloß in der kühnen Vernachlässigung der Einheitenvon Ort und Zeit3a und in der Vermischung komischer und tra-gischer Bestandteile: was man immer noch als bloß verneinen-

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de Eigenheiten betrachten könnte, daß sie sich nämlich nichtnach den Regeln und der Vernunft (in der Meinung gewisserKunstrichter gleichbedeutende Wörter) hätten fügen wollenoder können; sondern sie liegt weit tiefer im innersten Gehaltder Dichtungen und in den wesentlichen Beziehungen, wodurchjene abweichende Form ein wahres Erfordernis wird, die mitihrer Gültigkeit zugleich ihre Bedeutung erhält. Was sie mitein-ander gemein haben, ist der Geist der romantischen Poesie, dra-matisch ausgesprochen. Doch damit wir uns gleich mit dergehörigen Einschränkung erklären, so ist unsers Erachtens dasspanische Theater bis zu seinem Verfall seit dem Anfange desachtzehnten Jahrhunderts fast durchgehends romantisch; dasenglische ist es nur in seinem Stifter und größten Meister,Shakespeare, auf vollkommne Weise: in den späteren ist dasromantische Prinzip mehr oder weniger ausgeartet oder ganzverlorengegangen, wiewohl die kraft dessen eingeführten Ver-fahrungsweisen der dramatischen Darstellung dem Äußern nachziemlich beibehalten worden sind. Wie sich dennoch hierbei dieverschiedne Sinnesart zweier Völker offenbart hat, eines nördli-chen und eines südlichen; jenes mit einer ahnungsvollen, diesesmit einer glühenden Einbildungskraft begabt; jenes mit grü-belndem Ernst in sich gekehrt, dieses durch rege Leidenschaft-lichkeit nach außen getrieben: das wird am besten am Schlußedieses Abschnittes in einer Parallele zwischen den zwei einziggroßen Dichtern, Shakespeare und Calderon, zusammengefaßtwerden können.Über den Ursprung und das Wesen des Romantischen sprach ichin der ersten Vorlesung und will hier nur weniges in Erinnerungbringen. Die antike Kunst und Poesie geht auf strenge Sonde-rung des Ungleichartigen, die romantische gefällt sich in unauf-löslichen Mischungen; alle Entgegengesetzten, Natur undKunst, Poesie und Prosa, Ernst und Scherz, Erinnerung undAhnung, Geistigkeit und Sinnlichkeit, das Irdische und Göttli-che, Leben und Tod, verschmilzt sie auf das innigste miteinan-der. Wie die ältesten Gesetzgeber ihre ordnenden Lehren und

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Vorschriften in abgemessenen Weisen erteilten; wie dies schonvom Orpheus4, dem ersten Besänftiger des noch wilden Men-schengeschlechts, fabelhaft gerühmt wird: so ist die gesamtealte Poesie und Kunst gleichsam ein rhythmischer Nomos5, eineharmonische Verkündigung der auf immer festgestelltenGesetzgebung einer schön geordneten und die ewigen Urbilderder Dinge in sich abspiegelnden Welt. Die romantische hinge-gen ist der Ausdruck des geheimen Zuges zu dem immerfortnach neuen und wundervollen Geburten ringenden Chaos, wel-ches unter der geordneten Schöpfung, ja in ihrem Schoße sichverbirgt: der beseelende Geist der ursprünglichen Liebeschwebt hier von neuem über den Wassern. Jene ist einfacher,klarer, und der Natur in der selbständigen Vollendung ihrer ein-zelnen Werke ähnlicher; diese, ungeachtet ihres fragmentari-schen Ansehens, ist dem Geheimnis des Weltalls näher. Dennder Begriff kann nur jedes für sich umschreiben, was doch derWahrheit nach niemals für sich ist; das Gefühl wird alles inallem zugleich gewahr.Was nun die dichterische Gattung betrifft, womit wir uns hierbeschäftigen, so verglichen wir die antike Tragödie mit einerGruppe in der Skulptur, die Figuren entsprechen dem Charakter,ihre Gruppierung der Handlung, und hierauf ist, als auf das ein-zige Dargestellte, die Betrachtung bei beiden Arten von Kunst-werken ausschließlich gerichtet. Das romantische Drama denkeman sich hingegen als ein großes Gemälde, wo außer derGestalt und Bewegung in reicheren Gruppen auch noch dieUmgebung der Personen mitabgebildet ist, nicht bloß die näch-ste, sondern ein bedeutender Ausblick in die Ferne, und diesalles unter einer magischen Beleuchtung, welche den Eindruckso oder anders bestimmen hilft.Ein solches Gemälde wird weniger vollkommen begrenzt seinals die Gruppe, denn es ist wie ein ausgeschnittenes Bruchstückaus dem optischen Schauplatze der Welt. Indessen wird derMaler durch die Einfassung der Vorgründe, durch das gegen dieMitte gesammelte Licht und andre Mittel den Blick gehörig

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festzuhalten wissen, daß er weder über die Darstellung hinaus-schweife, noch etwas in ihr vermisse.In der Abbildung der Gestalt kann die Malerei nicht mit derSkulptur wetteifern, weil jene sie nur durch eine Täuschung undaus einem einzigen Gesichtspunkte auffaßt; dagegen erteilt sieihren Nachahmungen mehr Lebendigkeit durch die Farbe, diesie besonders in den feinsten Abstufungen des geistigen Aus-drucks in den Gesichtern zu benutzen weiß. Auch läßt sie durchden Blick, welchen die Skulptur doch immer nur unvollkommengeben kann, weit tiefer im Gemüt lesen und dessen leisesteRegungen vernehmen. Ihr eigentlicher Zauber liegt endlichdarin, daß sie an körperlichen Gegenständen sichtbar macht,was am wenigsten körperlich ist, Licht und Luft.Gerade dergleichen Schönheiten sind dem romantischen Dramaeigentümlich. Es sondert nicht strenge, wie die alte Tragödie,den Ernst und die Handlung unter den Bestandteilen des Lebensaus; es faßt das ganze bunte Schauspiel desselben mit allenUmgebungen zusammen, und indem es nur das zufällig neben-einander Befindliche abzubilden scheint, befriedigt es die unbe-wußten Forderungen der Phantasie, vertieft uns in Betrachtun-gen über die unaussprechliche Bedeutung des durch Anordnung,Nähe und Ferne, Kolorit und Beleuchtung harmonisch geword-nen Scheines und leiht gleichsam der Aussicht eine Seele.Der Wechsel der Zeiten und Örter, vorausgesetzt, daß sein Ein-fluß auf die Gemüter mitgeschildert ist, und daß er der theatra-lischen Perspektive in Bezug auf das in der Ferne Angedeuteteoder von deckenden Gegenständen halb Versteckte zustattenkommt; der Kontrast von Scherz und Ernst, vorausgesetzt, daßsie im Grade und der Art ein Verhältnis zueinander haben; end-lich die Mischung der dialogischen und lyrischen Bestandteile,wodurch der Dichter es in der Gewalt hat, seine Personen mehroder weniger in poetische Naturen zu verwandeln, sind nachmeiner Ansicht im romantischen Drama nicht etwa bloße Lizen-zen, sondern wahre Schönheiten. In allen diesen Punkten, undnoch in manchen andern, werden wir die englischen und spani-

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schen Werke, welche vorzugsweise diesen Namen verdienen,einander vollkommen ähnlich finden, wie weit sie auch sonstvoneinander abstehen mögen.Wir handeln zuerst vom englischen Theater, weil es früher zurReife gediehen ist als das spanische. Bei beiden müssen wir uns insbesondere mit Shakespeare und Calderon beschäftigen,aber in umgekehrter Ordnung. Shakespeare steht unter denEngländern voran; was etwa über die früheren oder gleichzei-tigen Altertümer der englischen Bühne zu bemerken ist, wirdsich bei der Übersicht ihrer Geschichte nachholen lassen. Calde-ron aber hat viele Vorgänger gehabt, er ist zugleich der Gipfelund beinahe der Beschluß der dramatischen Kunst unter denSpaniern.Indem ich hier in der Kürze, welche der Umfang meines Vor-habens mir auferlegt, von einem Dichter reden soll, auf dessenStudium ich mehrere Jahre meines Lebens verwandt habe, be-finde ich mich in einiger Verlegenheit. Ich weiß nicht, wo ichanfangen soll, weil ich gar nicht würde aufhören können, wennich alles sagen wollte, was ich bei seinen Werken empfundenund über sie gedacht habe. So wie bei einem Menschen, somacht auch vielleicht bei einem Dichter die allzuvertrauteBekanntschaft ungeschickt, sich in die Lage anderer zu verset-zen, die ihn erst kennenlernen: man ist an seine auffallendenEigenheiten zu sehr gewöhnt, um ihren ersten Eindruck beurtei-len zu können. Dagegen sollte man von seiner Handelsweise,seinen geheimeren Absichten und der Bedeutung seines ganzenTuns genauere Rechenschaft abzulegen wissen als andere.Shakespeare ist der Stolz seiner Nation. Ein neuerer Dichter hatihn mit Recht den Genius der britischen Insel genannt. Er warschon der Liebling seiner Zeitgenossen, und nach dem Zwi-schenraume des puritanischen Fanatismus, der ungefähr einMenschenalter nach ihm eintrat und alle freie Geistesbildungverbannte, nach der Regierung Karls des Zweiten, während wel-cher man ihn entweder gar nicht oder sehr entstellt auf dieBühne brachte, ist sein Ruhm etwa zu Anfange des vorigen

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Jahrhunderts aus dem Dunkel der Vergessenheit glänzender auf-erstanden; er wuchs seitdem immer mit dem Fortgange der Zei-ten und wird auch in den folgenden Jahrhunderten, dies sage ichmit größter Zuversicht voraus, fortfahren gewaltig anzuwach-sen, wie eine von den Alpen herunterrollende Schneelawine. Alseine bedeutende Ausbreitung seines Ruhmes dürfen wir wohldie enthusiastische Aneignung wie eines, obgleich in der Frem-de gebornen, Landsmannes anrechnen, womit er in Deutschlandaufgenommen worden ist, seit man ihn kennt. Für das südlicheEuropa bleibt vielleicht die Sprache und die Unmöglichkeit ihntreu zu übersetzen, ein unüberwindliches Hindernis der allge-meinen Anerkennung. In England wetteiferten die größtenSchauspieler in Shakespeares Rollen, die Buchdrucker er-schöpften sich in prächtigen Ausgaben seiner Werke, die Malerin Darstellungen seiner Szenen. Shakespeare ist, wie demDante, die hier vielleicht unentbehrliche, obwohl lästige Ehrezuteil geworden, als ein klassischer Autor des Altertums behan-delt zu werden. Man hat die ältesten Ausgaben sorgfältig ver-glichen und wo die Lesearten verderbt schienen, mancherleiVerbesserungen versucht; man hat eine ganze vergessene Lite-ratur aus jener Zeit aufgestöbert, um etwas zur Erklärung vonShakespeares Ausdrücken und Anspielungen Dienliches darinzu finden. Der Ausleger sind so viele aufeinander gefolgt, daßihre Arbeiten nebst den kritischen Streitigkeiten, Widerlegun-gen, Rechtfertigungen usw., eine nicht unbeträchtliche Biblio-thek ausmachen. Diese Bemühungen sind Lobes und Dankeswert; vorzüglich die historischen Untersuchungen über dieQuellen, woraus Shakespeare seine Stoffe geschöpft, über diedamalige Verfassung der Schaubühne und dergleichen mehr.Allein schon in Hinsicht auf die bloß philologische Kritik kannich häufig nicht gleicher Meinung mit den Kommentatoren sein.Wo sie es aber vollends unternehmen, über den Dichter als sol-chen zu reden, ihn zu beurteilen, zu meistern, da muß ich michgänzlich von ihnen trennen. Fast nirgends finde ich das Rechte,geschweige das Erschöpfende gesagt, und diese Kritiker schei-

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nen mir nur stammelnde Dolmetscher jener allgemeinen an Ver-götterung grenzenden Bewunderung ihrer Landsleute zu sein.Es mag in England auch Leute geben, die ebenso denken;wenigstens hat ein satirischer Dichter den Shakespeare im Ver-hältnis zu seinen Auslegern als den Aktäon6 geschildert, der vonseinen eignen Hunden zu Tode gehetzt wird, und indem er inAusführung dieses Bildes den Ovid7 parodiert, eine der Frauen,die über den großen Dichter geschrieben, als die kläffendeLycisca8 bezeichnet.Wir wollen zuvörderst einige falsche Ansichten wegräumen, umdie Stätte für unsre Huldigung zu reinigen und uns ihr alsdannumso freier hingeben zu können.Nach allen Stimmen zu urteilen, die von dorther noch zu unsherüberhallen, wußten die Zeitgenossen Shakespeares gar wohl,was sie an ihm hatten; sie fühlten und verstanden ihn besser alsdie meisten, die späterhin sich haben vernehmen lassen. Einsvon den Lobgedichten, womit man damals die Herausgabe einesSchriftstellers zu begleiten pflegte, und noch dazu von einemUngenannten, gehört zu dem schönsten und treffendsten, was jeüber den Dichter gesagt worden (Es fängt an mit den Worten: Amind reflecting ages past,und ist unterzeichnet:J. M. S.9). Indes-sen kam schon frühzeitig die Vorstellung in Gang, Shakespearesei ein rohes Genie gewesen und habe blindlings unzusammen-hängende Dichtungen auf gut Glück hingeschüttet. Ben Jon-son10, ein jüngerer Zeitgenosse und Nebenbuhler Shakespeares,der im Schweiße seines Angesichts, aber mit geringem Erfolgdas englische Schauspiel nicht romantisch, sondern nach demMuster der Alten zu bilden strebte, meinte, er habe nicht genugausgestrichen und weil er wenig Schulgelehrsamkeit besessen,verdanke er der Natur mehr als der Kunst. Auch der gelehrte undzuweilen etwas pedantische Milton11 stimmt in diesen Ton ein,wenn er sagt: „Unser süßer Shakespeare, das Kind der Phanta-sie, wirbelt seine angebornen wilden Waldgesänge.“12 Dochgereicht es ihm zur Ehre, Shakespeares Süßigkeit, die verkann-teste unter seinen Eigenschaften, empfunden zu haben. Die

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neueren Herausgeber, sowohl in ihren Vorreden, die jedoch alsrhetorische Übungen im Lobpreisen des Dichters gemeint sind,als in ihren einzelnen Bemerkungen, gehen viel weiter. Nichtnur geben sie die Regellosigkeit seiner Stücke nach gar nicht aufsie anwendbaren Grundsätze zu, sondern sie beschuldigen ihndes Bombastes, einer verworrenen, ungrammatischen, witzeln-den Schreibart und der verkehrtesten Possenreißerei. Pope13

behauptet, er habe gewiß besser, aber vielleicht auch schlechter,als irgendein andrer, geschrieben. Alle Auftritte und Stellen, dieseinem kleinlichen Geschmacke nicht zusagten, wollte er auf dieRechnung verfälschender Schauspieler setzen und war auf dembesten Wege, wenn man ihn gehört hätte, uns einen schmählichverstümmelten Shakespeare zu bescheren. Man darf sich alsonicht wundern, wenn die Ausländer, die Deutschen der neuestenZeit ausgenommen, solche Urteile nach ihrer Unkenntnis über-treiben. Sie reden von Shakespeares Schauspielen als abenteuer-lichen Ungeheuern, die nur in einer wüsten, barbarischen Zeitvon einem beinah verbrannten Gehirn ans Licht gefördert wer-den mochten; und Voltaire14 schlägt dem Fasse den Boden ein,indem er sich erdreistet zu sagen, Hamlet, das tiefsinnige Meis-terwerk des philosophischen Dichters, „scheine von einem be-soffenen Wilden herzurühren“. Daß Ausländer, besonders Fran-zosen, die oft von der Vorzeit und dem sogenannten Mittelalterso wunderlich sprechen, als ob erst durch Ludwig den Vier-zehnten15 die Menschenfresserei in Europa wäre abgestellt wor-den, sich die Meinung von Shakespeares barbarischem Zeitaltereingeschwatzt, möchte hingehen; aber daß die Engländer sicheine solche Verleumdung jener glorreichen Epoche ihrerGeschichte, worin der Grund zu ihrer jetzigen Größe gelegt wor-den, gefallen lassen, ist mir unbegreiflich. Shakespeare blühteund schrieb in der letzten Hälfte der Regierung der Elisabeth16

und in der ersten König Jakob des Ersten,17 also unter gelehrtenund die Wissenschaft ehrenden Monarchen. Die Politik desneueren Europa, die dessen Länder in mannigfaltige Wechsel-berührung setzte, hat schon ein Jahrhundert früher ihren Anfang

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genommen. Die Sache der Protestanten war in England sogleichmit Elisabeths Thronbesteigung entschieden; also kann nichteinmal die Anhänglichkeit an den Glauben der Väter als Beweisder herrschenden Finsternis angeführt werden. Der Eifer für dasStudium der Alten war so lebhaft erwacht, daß sogar Frauen amHofe, und die Königin selbst, mit der lateinischen und griechi-schen Sprache vertraut waren und es wenigstens in der ersten biszur Fertigkeit im Sprechen gebracht hatten: eine Kenntnis, dieman jetzt an den europäischen Höfen gewiß vergeblich suchenwürde. Handel und Schiffahrt, welche die Engländer schon nachallen vier Weltteilen trieben, machten sie mit den Sitten und gei-stigen Hervorbringungen anderer Nationen bekannt, und siewaren damals, wie es scheint, gegen fremde Sitten gastfreier alsjetzt. Italien hatte ungefähr alles, was seine Literatur auszeich-net, schon gehabt, und man übersetzte in England fleißig ausdem Italienischen, sogar mit Glück in Versen. Auch mit der spa-nischen Literatur war man nicht unbekannt: es läßt sich nach-weisen, daß man den Don Quixote18 kurz nach seiner Erschei-nung in England gelesen habe. Bacon19, der Stifter der neuerenExperimentalphysik, und von dem man sagen kann, daß er, wasvon der herrschenden Philosophie des achtzehnten Jahrhundertsnoch diesen Namen verdient, in seiner Tasche hatte, war einZeitgenosse Shakespeares. Er wurde zwar erst nach dessen Todedurch Schriften berühmt: aber welche Begriffe mußten imUmlauf sein, damit ein solcher Denker aufstehen konnte! Man-che Fächer des menschlichen Wissens sind seitdem mehr ange-baut worden, nur gerade diejenigen, welche für die Poesie ganzunersprießlich sind: mit Chemie, mit Mechanik, mit Manufaktu-ren, mit Land- und Staatswirtschaft macht man keine Gedichte.Ich habe an einem andern Ort die Anmaßungen der heutigen sichso nennenden Aufklärung, die auf alle früheren Zeitalter ver-ächtlich herabsieht, geprüft; ich habe gezeigt, wie im Grundenur alles kleinlich, flach und haltungslos geworden. DerHochmut auf die, wie man wähnte, nunmehr mündig geworde-ne menschliche Vernunft ist schmählich zu Falle gekommen,

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und was diese Pädagogen des Menschengeschlechts gebauthaben, ist wie Kartenhäuser zusammengestürzt.Was nun den Ton der damaligen Geselligkeit insbesonderebetrifft, so muß man wohl unterscheiden zwischen Bildung undAbgeschliffenheit. Die letzte, welche origineller Wechselmittei-lung ganz und gar ein Ende macht und alles unter die fade Ein-förmigkeit gewisser Formeln zwängt, war dem Zeitalter Shakes-peares allerdings fremd, wie sie es großenteils noch dem heuti-gen England ist. Es war gesunde Kraftfülle vorhanden, die sichkeck und oft mutwillig kundgab. Der ritterliche Geist war nochnicht erloschen, und eine Königin, die weit mehr für ihrGeschlecht als für ihre Würde Huldigung begehrte und diedurch ihre Entschlossenheit, Klugheit und große Gesinnung inder Tat Begeisterung einflößen konnte, entflammte diesen Geistzu edler Ruhmbegierde. Auch Reste der Feudalunabhängigkeitgab es noch: der Adel hielt auf Pracht in den Kleidertrachtenund zahlreiches Gefolge, so daß jeder große Herr fast einen klei-nen Hof um sich hatte. Überhaupt war der Unterschied der Stän-de stark bezeichnet, und dies ist für den dramatischen Dichtersehr erwünscht. Im Gespräch liebte man rasche unerwarteteErwiderungen, wodurch ein witziger Einfall wie ein Federballso lange hin und her geschnellt wird, bis man sich müde darangespielt hat. Dies und den Mißbrauch der Wortspiele (für wel-che König Jakob selbst eine große Liebhaberei hatte, so daßman sich über die Allgemeinheit der Mode nicht wundern darf)mag man für einen falschen Geschmack halten; aber es für einZeichen der Rohheit und Barbarei zu nehmen, wäre ebenso, alswenn man aus dem ausschweifenden Luxus eines Volkes aufdessen Armut schließen wollte. Dergleichen witzelndeGespräche kommen beim Shakespeare häufig vor, wo es seinZweck mit sich bringt, den wirklichen Ton der damaligenGesellschaft zu schildern; es folgt daraus gar nicht, daß er siegebilligt hätte, vielmehr scheint er selbst darüber zu spotten.Hamlet sagt bei Gelegenheit des Totengräbers „Wahrhaftig,Horatio, ich habe seit drei Jahren darauf geachtet, das Zeitalter

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wird so spitzfindig, daß der Bauer dem Hofmann auf die Fersentritt.“ Und Lorenzo im Kaufmann von Venedigüber den Laun-celot:

0 heilige Vernunft, was eitle Worte!Der Narr hat ins Gedächtnis sich ein HeerWortspiele eingeprägt. Und kenn' ich dochGar manchen Narrn an einer bessern Stelle,So aufgestutzt, der um ein spitzes WortDie Sache Preis gibt.

Übrigens legt Shakespeare an tausend Stellen ein ungemeingroßes Gewicht auf den echten und feinen Weltton und warntvor jedem Abwege davon, sowohl von seiten des bäuerischenUngeschicks als der gezierten Geckerei; er gibt nicht nur dietreffendsten Lehren darüber, er stellt ihn dar in allen seinenAbstufungen nach Stand, Alter und Geschlecht. Was läßt sichnun noch anführen, worauf man die Behauptung von den wüs-ten Sitten jener Zeit gründen könnte? Etwa die Unanständig-keiten? Gälte dieser Beweis, so müßte man auch das Zeitalterdes Perikles20 und des Augustus21 roh und ungesittet schelten,denn Aristophanes22 und Horaz23, die doch beide für Muster derUrbanität galten, lassen es wahrlich nicht an den gröbsten Unan-ständigkeiten fehlen. Das verschiedne sittliche Urteil der Völkerhierüber hängt von ganz andern Ursachen ab. Es ist wahr,Shakespeare bringt uns zuweilen in anstößige Gesellschaft;andre Male läßt er Zweideutigkeiten in Gegenwart der Frauenoder gar von ihnen selbst sagen. Dies war also vermutlich eindamals nicht unerhörter Mutwille. Dem großen Haufen zu ge-fallen, tat er es gewiß nicht, denn in vielen seiner Stücke kommtnicht das mindeste dieser Art vor und in welcher zarten Jung-fräulichkeit sind manche seiner weiblichen Rollen gehalten!Wenn man sieht was sich andre dramatische Dichter in England,zu seiner Zeit und noch viel später, erlaubten, so muß man ihnvergleichungsweise keusch und sittsam nennen. Auch dürfenwir einige Umstände in der damaligen Einrichtung des Theaters

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nicht vergessen. Die weiblichen Rollen wurden nicht von Frau-en, sondern von Knaben gespielt; die Zuschauerinnen gingennicht anders als verlarvt ins Schauspiel. Unter dieser Karnevals-verkleidung mochten sie sich dann gefallen lassen, manchesanzuhören, und man getraute sich, es in ihrer Gegenwart zusagen, was sonst nicht schicklich gewesen wäre. Es ist löblich,wenn bei allem Öffentlichen, und also auch auf der Bühne, fürAnständigkeit gesorgt wird, allein man kann darin auch zu weitgehen. Eine ängstliche Splitterrichterei, die in jedem dreistenScherz eine Sünde wittert, ist ein zweideutiges Kennzeichenvon Reinheit der Sitten; meistens verbirgt sich vielmehr dasBewußtsein einer verunreinigten Einbildungskraft hinter dieserHeuchelei. Die Vorsicht, nichts berühren zu lassen, was auf dassinnliche Verhältnis beider Geschlechter Bezug hat, kann aufeinen Grad steigen, wo sie höchst lästig für den dramatischenDichter wird und der Kühnheit seiner Darstellungen den größ-ten Abbruch tut. Nach solchen Bedenklichkeiten müßten man-che der schönsten Verwicklungen in Shakespeares Schauspie-len, z. B. Gleiches mit Gleichem, Ende gut Alles gut,auch nochso schonend behandelt, für anstößig erklärt werden.

August Wilhelm Schlegel: Shakespeare und der Geist desromantischen Schauspiels [Fünfundzwanzigste Vorlesung], in:August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über dramatische Kunstund Literatur. 2 Tle. Teil 2. Hg. v. Edgar Lohner. Stuttgart 1967(Kritische Schriften und Briefe 6), S. 107-119.

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Abb. 1: Shakespeares Dramatische Werke (1797)

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2. Ludwig Tieck, Wilhelm Heinrich Wackenroder:Die Ewigkeit der Kunst

Es geschieht nicht selten, daß Leute unsern Enthusiasmus da-durch zu hemmen suchen, daß sie uns die Nichtigkeit und Ver-gänglichkeit aller menschlichen Dinge vor die Augen stellen.Vielen Gemüthern ist es eigen, daß ihre Phantasie schon unwill-kührlich die Bilder von Tod und Ewigkeit erweckt, um der etwa-nigen Begeisterung ein bestimmtes Ziel zu setzen. Auf dieseGeschicklichkeit setzen sie einen hohen Werth, und meinen, daßnur das sogenannte Unvergängliche und Unsterbliche ihrerAnbetung würdig sey.Wenn wir die Zahl der Gestirne betrachten und erwägen, denLauf der Zeit, die schon über so manche Vergangenheit hin-übergeschritten ist, wenn wir uns dann in die bodenlose Tiefeder Ewigkeit verlieren, so erzittert der Mensch oft in sich selber,und sagt zu sich: Wie kannst Du den Preis dieser kleinen Gegen-wart so hoch anschlagen, da sie sich wie ein unbemerkter Punktin dem unermeßlichen Ocean verläuft? Was kann Deine innigeVerehrung verdienen, da Du nicht sicher bist, ob nicht blindeVergessenheit alle Deine Götter einmal verschlingt?Wenn nun vor dem Bilde eines Helden, eines großen Künstlersunsre Seele in wollüstigen Schauern zittert, wenn wir gleichsamdie ganze Welt und alle ihre Menschen in diesen Einen Moment,in diese Eine Anbetung zusammenpressen möchten, und wie dasinnerste Rad eines Uhrwerks allen übrigen Seelen denselbenSchwung mittheilen wollten: so lächelt ein andrer oftwehmüthig und mit stiller Größe über unsern lautschallendenHymnus, und zeigt auf die tiefen Abgründe der Vergangenheit,auf die unbekannte ewige Zukunft, wir scheuen ihn wie thörich-te Kinder, und er möchte uns gar zu gern wieder das Gefühl derallgemeinen Unbedeutenheit mittheilen.Gern möchtest Du uns dadurch alles Große und Edle alltäglichmachen, durch den schwarzen Schatten des Todes strebst Duallen Glanz zu verlöschen. Du bildest Dir ein, die bloße Vor-

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Abb. 2: Jena und Umgebung um 1800

stellung der Vernichtung, das blinde Ungeheuer Zeit dürftenüber unsere höchste und reinste Liebe triumphiren, unbekanntenGötzenbildern müsse alles sich neigen, und desto furchtbarersey die Gewalt, je räthselhafter und unverständlicher sie sey.Wenn wir in reicher, frischer Lebensgegenwart unbefangeneBlicke auf die Welt und in unser Inneres werfen, wenn wir denhohen Gang der edelsten Geister wahrnehmen und alle ihre Tha-ten, Gesinnungen und Kunst ganz nahe an unsern Herzenfühlen, dann erscheinen uns die Phantome trüb’und leer, diesonst unsre Phantasie gar zu leicht mit Entsetzen und Ehrfurchterfüllen, wir empfinden es lebendigst, wie unsre Liebe ewig sey,wie kein Tod sie beschatten könne, kein Bild der Ewigkeit sieunbedeutend machen dürfe.Wir haben uns an die Vorstellung gewöhnt, Ewigkeit nur unterdem Bilde der zukünftigen Zeit zu denken, so mit schwindeln-dem Blick in die ungemeßne Länge künftiger Jahre hinabzu-schauen, und uns den wiederkehrenden Kreislauf von Bege-

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benheiten und Ereignissen dazu zu denken. Eine lange Reiheunkenntlicher Gestalten zwingt uns eine blinde Ehrfurcht ab,wir entsetzen uns vor einem trüben Bilde unsrer eignen Phanta-sie, wir fürchten uns vor uns selber. Ist es denn die majestätischeUnvergänglichkeit, die auf uns zukömmt? Wir vergessen, daßdie Gegenwart eben so gut ewig zu nennen sey, daß die Ewig-keit sich in den Unfang einer Handlung, eines Kunstwerkszurückziehn könne, nicht deswegen, weil sie unvergänglichdaure, sondern weil jene groß, weil dieses vollendet ist. Stattnach außen geht hier die Ewigkeit gleichsam nach innen, ineinem Fruchtkorn sieht man nicht die Entwickelung der Felderund Saaten, sondern in Saat und Pracht des Gefildes das ehe-malige Korn.Alles, was vollendet, das heißt, was Kunst ist, ist ewig undunvergänglich, wenn es auch die blinde Hand der Zeit wiederauslöscht, die Dauer ist zufällig, Zugabe; ein vollendetes Kunst-werk trägt die Ewigkeit in sich selbst, die Zeit ist ein zu groberStoff, als daß es aus ihr Nahrung und Leben ziehn könne.Wenn daher auch Geschlechter, Erden und Welten vergehn, soleben doch die Seelen aller großen Thaten, aller Dichtungen,aller Kunstwerke. – In der Vollendung der Kunst sehen wir amreinsten und schönsten das geträumte Bild eines Paradieses,einer unvermischten Seligkeit. Gemählde verbleichen, Gedichteverklingen; – aber Verse und Farben waren es auch nicht, dieihnen ihr Daseyn schufen. In sich selbst trägt die Gegenwart derKunst ihre Ewigkeit, und bedarf der Zukunft nicht, denn Ewig-keit bezeichnet nur Vollendung.Darum ist es ein unkünstlerischer Geist, der die trüben Schattendes Todes und der Vergänglichkeit auf alle glänzende Lebens-stellen wirft. Tod und Bild der zukünftigen Ewigkeit sind derwahren Kunst entgegengesetzt, sie heben sie auf und zerstörensie, denn sie schieben dem Geistigsten, in sich Fertigsten einengroben Stoff als nothwendige Bedingung unter, da die Kunst in sich keine Bedingungen kennt, und ihr Ganzes keine Theilehat.

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Dergleichen Art, den Tod jedem Leben beyzumischen, ist über-haupt manierirte Poesie, es sind Striche und Linien, die inner-halb des Rahmens groß und keck scheinen mögen, die aber,neben einem andern wahrhaft großen Gemählde gesehn, ver-schwinden, und nur eine gewisse, bestimmte Geschicklichkeitdes Meisters verrathen.Lasset uns darum unser Leben in ein Kunstwerk verwandeln,und wir dürfen kühnlich behaupten, daß wir dann schon irrdischunsterblich sind.

Ludwig Tieck, Wilhelm Heinrich Wackenroder: Die Ewigkeitder Kunst, in: [Wilhelm Heinrich Wackenroder:] Phantasienüber die Kunst für Freunde der Kunst. Hg. v. Ludwig Tieck.Hamburg 1799, S. 124-130.

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„ Angenehme Lektüre“ – Der blonde Eckbert

Die Erzählung ‚Der blonde Eckbert‘ erschien 1797 in TiecksSammlung der ‚Volksmährchen‘. Die als Natur-Märchen,Kunst-Märchen oder auch Märchennovelle, sogar als ‚Wahn-sinns-Märchen‘ kategorisierte Erzählung stand dabei in derNähe zur sogenannten ‚gothic novel‘ – dem zeitgenössischenSchauer-Roman. Tieck griff auf Erzählkonstrukte zurück, dieder zeitgenössische Leser aus Schillers ‚Geisterseher‘ (1789)oder auch dem (Unterhaltungs-) Roman ‚Der Genius‘ (1791-1795) von Carl Grosse kannte. Allerdings ging Tieck weit überdas Triviale dieser Vorbilder hinaus. Das Besondere und Neuar-tige besteht darin, dass das Schauerliche nicht bloß als ästheti-sche Inszenierung gestaltet ist. Der Text nimmt den Leser aufeine Reise zwischen Wahnvorstellung und Wirklichkeit derFiguren mit und lässt ihn lange Zeit im ungewissen darüber, wodie Geschehnisse verortet sind. Letztlich aber ist das Grauen alsdämonische Bedrohung einer rationalen Realität gestaltet undaus dieser nicht herauszulösen. Der Schlüssel zu Tiecks ‚Derblonde Eckbert‘ liegt in dieser einfachen Wendung: „Das Wun-derbarste vermischte sich mit dem Gewöhnlichsten.“ (Text 3)Untrennbar davon wird aber auch Moralisch-Lehrhaftes inneuartiger Weise dargeboten und mit dem knappen moralischenUrteil skizziert: „Siehe, das Unrecht bestraft sich selbst!“

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3. Ludwig Tieck:Der blonde Eckbert

In einer Gegend des Harzes wohnte ein Ritter, den man ge-wöhnlich nur den blonden Eckbert nannte. Er war ohngefährvierzig Jahr alt, kaum von mittler Größe, und kurze hellblondeHaare lagen schlicht und dicht an seinem blassen eingefallenenGesichte. Er lebte sehr ruhig für sich und war niemals in denFehden seiner Nachbarn verwickelt, man sah ihn nur seltenaußerhalb den Ringmauern seines kleinen Schlosses. Sein Weibliebte die Einsamkeit eben so sehr, und beide schienen sich vonHerzen zu lieben, nur klagten sie gewöhnlich darüber, daß derHimmel ihre Ehe mit keinen Kindern segnen wolle.Nur selten wurde Eckbert von Gästen besucht, und wenn esauch geschahe, so wurde ihrentwegen fast nichts in dem ge-wöhnlichen Gange des Lebens geändert, die Mäßigkeit wohntedort, und die Sparsamkeit selbst schien alles anzuordnen. Eck-bert war alsdann heiter und aufgeräumt, nur wenn er allein war,bemerkte man an ihm eine gewisse Verschlossenheit, eine stillezurückhaltende Melankolie.Niemand kam so häufig auf die Burg, als Philipp Walther, einMann, an dem sich Eckbert sehr gehängt hatte, weil er an ihmohngefähr dieselbe Art zu denken fand, die er selbst hatte. Erwohnte eigentlich in Franken, hielt sich aber oft über ein halbesJahr in der Nähe von Eckberts Burg auf, sammelte Kräuter undSteine, und beschäftigte sich damit, sie in Ordnung zu bringen,er lebte von einem kleinen Vermögen und war daher von Nie-mand abhängig. Eckbert begleitete ihn oft auf seinen einsamenSpaziergängen, und mit jedem Jahre entspann sich zwischenihnen eine genauere Freundschaft.Es giebt Stunden, in denen es den Menschen ängstigt, wenn ervor seinem Freunde ein Geheimniß haben soll, was er bis dahinoft mit vieler Sorgfalt versteckt hat, die Seele fühlt dann einenunwiderstehlichen Trieb, sich ganz mitzutheilen, dem Freundeauch das Innerste aufzuschließen, damit er um so mehr unser

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Freund werde. In diesen Augenblicken geben sich die zarten See-len einander zu erkennen, und zuweilen geschieht es wohl auch,daß einer vor der Bekanntschaft des andern zurückschreckt.Es war schon im Herbst als Eckbert an einem neblichten Abendmit seinem Freunde und seinem Weibe Bertha um das Feuereines Kamines saß. Die Flamme warf einen hellen Schein durchdas Gemach und spielte oben an der Decke, die Nacht sah fin-ster zu den Fenstern hinein und die Bäume draußen schütteltensich vor nasser Kälte. Walther klagte über den weiten Rückweg,den er habe, und Eckbert schlug ihm vor, bei ihm zu bleiben, diehalbe Nacht unter traulichen Gesprächen zuzubringen, und dannnoch in einem Gemache des Hauses bis am Morgen zu schlafen.Walther ging den Vorschlag ein, und nun ward Wein und dieAbendmahlzeit hereingebracht, das Feuer durch Holz vermehrt,und das Gespräch der Freunde ward immer heitrer und vertrau-licher.Als das Abendessen abgetragen war, und sich die Knechte wie-der entfernt hatten, nahm Eckbert die Hand Walthers und sagtezu ihm: Freund, Ihr solltet Euch einmal von meiner Frau die Geschichte ihrer Jugend erzählen lassen, die seltsam genugist. – Gern, sagte Walther, und man sezte sich wieder um denKamin.Es war jezt grade Mitternacht, der Mond sah abwechselnd durchdie vorüberflatternden Wolken. Ihr müßt mir verzeihn, fing Bertha an, aber mein Mann sagt, daß Ihr so edel denkt, daß esunrecht ist, Euch etwas zu verhehlen. Nur müßt Ihr meineErzählung für kein Mährchen halten, so sonderbar sie auch klin-gen mag.Ich bin in einem Dorfe gebohren, mein Vater war ein armerHirte. Die Haushaltung bei meinen Eltern war nicht zum bestenbestellt, sie wusten sehr oft nicht, wo sie das Brodt hernehmensollten. Was mich aber noch weit mehr jammerte, war, daß meinVater und meine Mutter sich oft über ihre Armuth entzweiten,und einer dem andern dann bittere Vorwürfe machte. Sonst hört’ich beständig von mir, daß ich ein einfältiges dummes Kind sei,

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Abb. 3: Titelblatt von Ludwig Tiecks ‚Volksmärchen‘ (1797)

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das nicht das unbedeutendste Geschäft auszurichten wisse, undwirklich war ich äußerst ungeschickt und unbeholfen, ich ließalles aus den Händen fallen, ich lernte weder nähen noch spin-nen, ich konnte nichts in der Wirthschaft helfen, nur die Nothmeiner Eltern verstand ich außerordentlich gut. Oft saß ich dannim Winkel und füllte meine Vorstellungen damit an, wie ichihnen helfen wollte, wenn ich plötzlich reich würde, wie ich siemit Gold und Silber überschütten und mich an ihrem Erstaunenlaben wollte, dann sah ich Geister heraufschweben, die mirunterirrdische Schätze entdeckten, oder mir kleine Kieselgaben, die sich nachher in Edelsteine verwandelten, kurz, diewunderbarsten Phantasien beschäftigten mich dann, und wennich nun aufstehn mußte, um irgend etwas zu helfen, oder zu tra-gen, so zeigte ich mich noch viel ungeschickter, weil mir derKopf von allen den seltsamen Vorstellungen schwindelte.Mein Vater war immer sehr ergrimmt auf mich, daß ich eine soganz unnütze Last des Hauswesens24 sei, er behandelte michdaher oft sehr grausam, und es war selten, daß ich ein freund-liches Wort von ihm vernahm. So war ich ungefähr acht Jahr altgeworden, und es wurden nun ernstliche Anstalten gemacht, daßich etwas thun, oder lernen sollte. Mein Vater glaubte, es wärenur Eigensinn oder Trägheit von mir, um meine Tage in Müs-siggang hinzubringen, genug, er sezte mir mit Drohungen unbe-schreiblich zu, da diese aber doch nichts fruchteten, züchtigte ermich auf die grausamste Art und fügte hinzu, daß diese Strafemit jedem Tage wiederkehren sollte, weil ich doch nur einunnützes Geschöpf sei.Die ganze Nacht hindurch weint’ich herzlich, ich fühlte mich soaußerordentlich verlassen, ich hatte ein solches Mitleid mit mirselber, daß ich zu sterben wünschte. Ich fürchtete den Anbruchdes Tages, ich wuste durchaus nicht, was ich anfangen sollte;ich wünschte mir alle mögliche Geschicklichkeit und konnte gar nicht begreifen, warum ich einfältiger war, als die übrigenKinder von meiner Bekanntschaft. Ich war der Verzweiflungnahe.

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Als der Tag graute, stand ich auf und eröfnete fast ohne daß iches wuste, die Thür unsrer kleinen Hütte. Ich stand auf dem frei-en Felde, bald darauf war ich in einem Walde, in den der Tagfast noch gar nicht hineinschien. Ich lief immerfort, ohne michumzusehn, ich fühlte keine Müdigkeit, denn ich glaubte immer,mein Vater würde mich noch wieder einholen, und durch meineFlucht noch grausamer gegen mich werden.Als ich aus dem Walde wieder heraustrat, stand die Sonne schonziemlich hoch, ich sah jezt etwas dunkles vor mir liegen, aufdem ein dichter Nebel lag. Bald mußte ich über Hügel klettern,bald durch einen zwischen Felsen gewundenen Weg gehn, undich errieth nun, daß ich mich wohl in dem benachbarten Gebür-ge befinden müsse, und ich fing an, mich in der Einsamkeit zufürchten. Denn ich hatte in der Ebene noch keine Berge gesehn,und das bloße Wort Gebürge, wenn ich davon hatte reden hören,hatte meinem kindischen Ohre äußerst fürchterlich geklungen.Ich hatte nicht das Herz zurückzugehn, sondern eben meineAngst trieb mich vorwärts; oft sah ich mich erschrocken um,wenn der Wind über mir weg durch die Bäume fuhr, oder einferner Holzschlag weit durch den stillen Morgen hintönte. Alsmir Köhler und Bergleute endlich begegneten und ich einefremde Aussprache hörte, wäre ich vor Entsetzen fast in Ohn-macht gesunken.Ihr vergebt mir meine Weitschweifigkeit; so oft ich von dieserGeschichte spreche, werde ich wider Willen geschwätzig, undEckbert, der einzige Mensch dem ich sie erzählt habe, hat michdurch seine Aufmerksamkeit verwöhnt.Ich kam durch mehrere Dörfer und bettelte, weil ich jezt Hun-ger und Durst empfand, ich half mir so ziemlich mit meinenAntworten durch, wenn ich gefragt ward. – So war ich ohnge-fähr vier Tage fortgewandert, als ich auf einen kleinen Fußsteiggerieth, der mich von der großen Straße immer mehr entfernte.Die Felsen um mich her gewannen jezt eine andre, weit seltsa-mere Gestalt. Es waren Klippen die auf einander gepackt waren,und das Ansehn hatten, als wenn sie der erste Windstoß durch-

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einander werfen würde. Ich wuste nicht, ob ich weiter gehn soll-te. Ich hatte des Nachts immer im Walde geschlafen, denn eswar grade zur schönsten Jahrszeit, oder in abgelegnen Schäfer-hütten; hier traf ich aber gar keine menschliche Wohnung undkonnte auch nicht vermuthen in dieser Wildniß auf eine zustoßen, die Felsen wurden immer furchtbarer, ich mußte oftdicht an schwindlichten Abgründen vorbeigehn, und endlichhörte sogar der Weg unter meinen Füßen auf. Ich war ganz trost-los, ich weinte und schrie, und in den Felsenthälern hallte meineStimme auf eine schreckliche Art zurück. Nun brach die Nachtherein, und ich suchte mir eine Mooßstelle aus, um dort zu ruhn.Ich konnte nicht schlafen, die Nacht hindurch hörte ich die selt-samsten Töne, bald hielt ich es für wilde Thiere, bald für denWind, der durch die Felsen klage, bald für fremde Vögel. Ichbetete und schlief nur spät gegen Morgen ein.Ich erwachte, als mir der Tag ins Gesicht schien. Vor mir war einsteiler Felsen, ich kletterte in der Hofnung hinauf, von dort denAusgang aus der Wildniß zu entdecken, und vielleicht Wohnun-gen oder Menschen gewahr zu werden. Als ich aber oben stand,war alles so, wie um mich her, so weit nur mein Auge reichte,alles war mit einem trüben Dufte überzogen, der Tag war grauund trübe, und keinen Baum, keine Wiese, kein Gebüsch selbstkonnte mein Auge entdecken, einzelne Sträucher ausgenom-men, die einsam und betrübt in einigen Felsenritzen emporgeschossen waren. Es ist unbeschreiblich, welche Sehnsucht ichempfand, nur eines Menschen ansichtig zu werden; wäre esauch der fremdeste, hätte ich mich auch vor ihm fürchten müs-sen. Zugleich empfand ich einen peinigenden Hunger, ich seztemich nieder und beschloß zu sterben. Aber nach einiger Zeittrug die Lust zu leben dennoch den Sieg davon, ich rafte michauf und ging unter Thränen, unter abgebrochenen Ausrufungenden ganzen Tag hindurch, am Ende war ich mich meiner kaumnoch bewußt, ich war müde und erschöpft, ich wünschte kaumnoch zu leben, und fürchtete doch den Tod.

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Gegen Abend schien die Gegend umher etwas freundlicher zuwerden, meine Gedanken, meine Wünsche lebten wieder auf,die Lust zum Leben erwachte in allen meinen Adern. Ich glaub-te jezt, das Gesause einer Mühle aus der Ferne zu hören, ich ver-doppelte meine Schritte, und wie wohl, wie leicht ward mir, alsich endlich wirklich die Gränze der öden Felsen erreichte, Wäl-der und Wiesen mit fernen angenehmen Bergen lagen wiedervor mir. Mir war, als wenn ich aus der Hölle in ein Paradiesgetreten wäre, die Einsamkeit, meine Hülflosigkeit schien mirnun gar nicht fürchterlich.Statt der gehoften Mühle, stieß ich auf einen Wasserfall, dermeine Freude freilich um vieles minderte, ich schöpfte mit derHand einen Trunk aus dem Flusse, als mir plötzlich war, als hörteich in einiger Entfernung ein leises Husten. Nie bin ich so ange-nehm überrascht worden, als in diesem Augenblick, ich gingnäher und ward an der Ecke des Waldes eine alte Frau gewahr,die sich auszuruhn schien. Sie war fast ganz schwarz gekleidet,eine schwarze Kappe bedeckte ihren Kopf und einen großenTheil des Gesichts, in der Hand hielt sie einen Krückenstock.Ich näherte mich ihr, und bat um ihre Hülfe, sie ließ mich nebensich niedersetzen und gab mir Brod und etwas Wein. Indem ichaß, sang sie mit kreischendem Ton ein geistliches Lied. Als siegeendet hatte, sagte sie mir, ich möchte ihr folgen.Ich war über diesen Antrag sehr erfreut, so wunderlich mir auchdie Stimme und das Wesen der Alten vorkam. Mit ihrem Krük-kenstock ging sie ziemlich behende, und bei jedem Schritte ver-zog sie ihr Gesicht, worüber ich im Anfange lachen muste. Diewilden Felsen traten immer weiter hinter uns zurück, wir gingenüber eine angenehme Wiese, und dann durch einen ziemlich lan-gen Wald. Als wir heraustraten, ging die Sonne grade unter, undich werde den Anblick und die Empfindung dieses Abends nievergessen. In das sanfteste Roth und Gold war alles verschmol-zen, die Bäume standen mit ihren Wipfeln in der Abendröthe,und über den Feldern lag der entzückende Schein, die Wälderund die Blätter der Bäume standen still, der reine Himmel sah

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aus wie ein aufgeschlossenes Paradies, und die Abendglockender Dörfer tönten seltsam wehmüthig über die Flur hin. Meinejunge Seele bekam jezt zuerst eine Ahndung von der Welt undihren Begebenheiten. Ich vergaß mich und meine Führerin,mein Geist und meine Augen schwärmten nur zwischen dengoldnen Wolken.Wir stiegen nun einen Hügel hinan, der mit Birken bepflanzt war,von oben sah man in ein kleines Thal voller Birken, mitten in denBäumen lag eine kleine Hütte. Ein munteres Bellen kam uns entgegen, und bald sprang ein kleiner behender Hund die Altean, und wedelte, dann kam er zu mir, besah mich von allen Sei-ten und kehrte dann mit freundlichen Gebehrden zur Altenzurück.Als wir vom Hügel hinunter gingen, hörte ich einen wunder-baren Gesang, der aus der Hütte zu kommen schien, wie voneinem Vogel; es sang also:

WaldeinsamkeitDie mich erfreut,So morgen wie heutIn ewger Zeit,O wie mich freutWaldeinsamkeit.

Diese wenigen Worte wurden beständig wiederholt; wenn ich esbeschreiben soll, so war es fast, als wenn Waldhorn und Schall-meye durcheinander spielen.Meine Neugier war außerordentlich gespannt; ohne daß ich aufden Befehl der Alten wartete, trat ich mit in die Hütte. Die Däm-merung war schon eingebrochen, alles war ordentlich aufge-räumt, einige Becher standen auf einem Wandschranke, fremd-artige Gefäße auf einem Tische, in einem kleinen glänzendenKäfig hing ein Vogel am Fenster, und er war es wirklich, der dieWorte sang. – Die Alte keichte und hustete, sie schien sich garnicht wieder erholen zu können, bald streichelte sie den kleinenHund, bald sprach sie mit dem Vogel, der ihr nur mit seinengewöhnlichen Worten Antwort gab: übrigens that sie gar nicht,

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als wenn ich zugegen wäre. Indem ich sie so betrachtete, über-lief mich mancher Schauer, denn ihr Gesicht war in einer ewi-gen verzerrten Bewegung, indem sie dazu wie vor Alter mit demKopfe schüttelte, so daß man gar nicht wissen konnte, wie ihreigentliches Aussehn war.Als sie sich erholt hatte, zündete sie Licht an, deckte einen ganzkleinen Tisch und trug das Abendessen auf. Jezt sah sie sich nachmir um und hieß mir einen von den geflochtnen Rohrstühlen zunehmen. So saß ich ihr nun dicht gegenüber und das Licht standzwischen uns. Sie faltete ihre knöchernen Hände und betete laut,indem sie immer ihre Gesichtsverzerrungen machte, so daß esmich beinahe wieder zum Lachen gebracht hätte; aber ich nahmmich sehr in Acht, um sie nicht boshaft zu machen.Nach dem Abendessen betete sie wieder, und dann wies sie mirin einer ganz kleinen Kammer ein Bette an; sie schlief in derStube. Ich wachte nicht lange, ich war halb betäubt, aber in derNacht wacht’ich einigemal auf, und denn hörte ich die Altehusten und mit dem Hunde sprechen und den Vogel dazwischen,der im Traum zu seyn schien und immer nur einzelne Worte vonseinem Liede sang. Das machte mit den Birken, die dicht vordem Fenster rauschten, und mit dem Gesang einer entferntenNachtigall ein so wunderbares Gemisch, daß es mir immer garnicht war, als sei ich erwacht, sondern als fiele ich nur in einenandern noch seltsamern Traum.Am Morgen weckte mich die Alte, und wies mich bald nachherzur Arbeit an, ich mußte nemlich spinnen, und ich lernte es nunauch bald, dabei hatte ich noch für den Hund und für den Vogelzu sorgen. Ich lernte mich bald in die Wirthschaft finden, undalle Gegenstände umher wurden mir bekannt; nun war mir, alsmüßte alles so seyn, ich dachte gar nicht mehr daran, daß dieAlte etwas seltsames an sich habe, daß die Wohnung etwasabentheuerlich liege, und daß an dem Vogel etwas Außerordent-liches25 sei. Seine Schönheit fiel mir zwar immer auf, denn seineFedern glänzten mit allen möglichen Farben, das schönste Hell-blau und das brennendste Roth wechselte an ihm, und wenn er

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sang, blähte er sich stolz auf, so daß sich seine Federn nochprächtiger zeigten.Oft ging die Alte aus und kam erst am Abend zurück, ich gingihr dann mit dem Hunde entgegen, und sie nannte mich Kindund Tochter. Ich ward ihr endlich von Herzen gut, wie sichunser Sinn denn an alles, besonders in der Kindheit gewöhnt. Inden Abendstunden lehrte sie mich lesen, ich begriff es bald, undes ward nachher in meiner Einsamkeit eine Quelle von unendli-chem Vergnügen, denn sie hatte einige alte geschriebeneBücher, die wunderbare Geschichten enthielten.Die Erinnerung an meine damalige Lebensart ist mir noch bisjezt immer seltsam, von keinem menschlichen Geschöpfe be-sucht, nur in einem so kleinen Familienzirkel einheimisch, dennder Hund und der Vogel machten denselben Eindruck auf mich,den sonst nur längst gekannte Freunde hervorbringen. Ich habemich immer nicht wieder auf den seltsamen Namen des Hundesbesinnen können, so oft ich ihn auch damals nannte.Vier Jahre hatte ich so mit der Alten gelebt, und ich mochteüberhaupt ohngefähr zwölf Jahr alt sehn, als sie mir endlichmehr vertraute, und mir ein Geheimniß entdeckte. Der Vogellegte nemlich an jedem Tage ein Ei, in dem sich eine Perl oderein Edelstein befand. Ich hatte schon immer bemerkt, daß sieheimlich in dem Käfige wirthschafte, ich hatte mich aber niedarum genau bekümmert. Sie trug mir jezt das Geschäft auf, inihrer Abwesenheit diese Eier zu nehmen und in die fremdartigenGefäße wohl zu verwahren. Sie ließ mir meine Nahrung zurückund blieb nun länger aus, Wochen, Monathe; mein Rädchenschnurte, der Hund bellte, der wunderbare Vogel sang und dabeiwar alles so still in der Gegend umher, daß ich mich in derganzen Zeit keines Sturmwinds, keines Gewitters erinnere. KeinMensch verirrte sich dorthin, kein Wild kam unserer Behausungnahe, ich war zufrieden und sang und arbeitete mich von einemTage zum andern hinüber. – Der Mensch wäre vielleicht rechtglücklich, wenn er so ungesehn sein Leben bis ans Ende fort-führen könnte.

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Aus dem wenigen, was ich las, bildete ich mir ganz wunderlicheVorstellungen von der Welt und den Menschen, alles war von mirund meiner Gesellschaft hergenommen; wenn von launigenMenschen die Rede war, konnte ich sie mir nicht anders vorstel-len, wie den kleinen Spitz, prächtige Frauenzimmer sahen immerwie der Vogel aus, alle alte Frauen wie meine wunderliche Alte.– Ich hatte auch von Liebe etwas gelesen, und spielte nun in mei-ner Phantasie seltsame Geschichten mit mir selber. Ich dachtemir den schönsten Ritter von der Welt, ich schmückte ihn mitallen Vortreflichkeiten aus, ohne eigentlich zu wissen, wie er nunnach allen meinen Bemühungen aussah: aber ich konnte einrechtes Mitleid mit mir selber haben, wenn er mich nicht wiederliebte; dann sagte ich lange rührende Reden in Gedanken her,zuweilen auch wohl laut, um ihn nur zu gewinnen. – Ihr lächelt,wir sind jezt alle über diese Zeit der Jugend hinüber.Es war mir jezt lieber, wenn ich allein war, denn dann war ichselbst die Gebieterin26 im Hause. Der Hund liebte mich sehr, undthat alles was ich wollte, der Vogel antwortete mir mit seinemLiede auf alle meine Fragen, mein Rädchen drehte sich immermunter, und so fühlte ich im Grunde nie einen Wunsch nachVeränderung. Wenn die Alte von ihren langen Wanderungenzurückkam, lobte sie immer meine Aufmerksamkeit, sie sagte,daß ihre Haushaltung, seit ich dazu gehöre, weit ordentlichergeführt werde, sie freute sich über meinen Wachsthum und meingesundes Aussehn, kurz, sie ging ganz mit mir wie mit einerTochter um.Du bist brav, mein Kind! sagte sie einst zu mir, mit einemschnarrenden Tone; wenn Du so fortfährst, wird es Dir auchimmer gut gehn: aber nie gedeiht es, wenn man von der rechtenBahn abweicht, die Strafe folgt nach, wenn auch noch so spät. –Indem sie das sagte, achtete ich eben nicht sehr darauf, denn ichwar in allen meinen Bewegungen sehr lebhaft; aber in der Nachtfiel es mir wieder ein, und ich konnte nicht begreifen, was siedamit hatte sagen wollen. Ich überlegte alle Worte genau, ichhatte wohl von Reichthümern gelesen, und am Ende fiel mir ein,

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daß ihre Perlen und Edelsteine wohl etwas Kostbares seynkönnten. Dieser Gedanke wurde mir bald noch deutlicher. Aberwas konnte sie mit der rechten Bahn meinen? Ganz konnte ichden Sinn ihrer Worte noch immer nicht fassen.Ich war jezt vierzehn Jahr alt, und es ist ein Unglück für denMenschen, daß er seinen Verstand nur darum bekömmt, um dieUnschuld seiner Seele zu verlieren. Ich begriff nemlich wohl,daß es nur auf mich ankomme, in der Abwesenheit der Altenden Vogel und die Kleinodien zu nehmen, und damit die Welt,von der ich gelesen hatte, aufzusuchen. Zugleich war es mirdann vielleicht möglich, den überaus schönen Ritter anzutref-fen, der mir immer noch im Gedächtnisse lag.Im Anfange war dieser Gedanke nichts weiter als jeder andreGedanke, aber wenn ich so an meinem Rade saß, so kam er mirimmer wider Willen zurück, und ich verlohr mich so darinn, daßich mich schon geputzt sah und Ritter und Prinzen um mich her.Wenn ich mich dann so verlohren hatte, konnte ich ordentlichbetrübt werden, wenn ich wieder aufsah, und mich in der klei-nen engen Wohnung antraf. Wenn ich meine Geschäfte that,bekümmerte sich die Alte nicht weiter um mich.An einem Tage ging meine Wirthin wieder fort, und sagte mir,daß sie diesmal länger als gewöhnlich ausbleiben würde, ichsolle ja auf alles ordentlich Acht geben und mir die Zeit nichtlang werden lassen. Ich nahm mit einer gewissen Bangigkeit vonihr Abschied, denn es war mir, als würde ich sie nicht wieder-sehn. Ich sah ihr lange nach und wußte selbst nicht, warum ichso beängstigt war, es war fast, als wenn mein Vorhaben schonvor mir stände, ohne mich dessen deutlich bewußt zu seyn.Nie hab’ ich des Hundes und des Vogels mit einer solchenÄmsigkeit gepflegt, sie lagen mir näher am Herzen als sonst.Die Alte war schon einige Tage abwesend, als ich mit dem festen Vorsatze aufstand, mit dem Vogel die Hütte zu verlassen,und die sogenannte Welt aufzusuchen. Es war mir enge undbedrängt zu Sinne, ich wünschte wieder da zu bleiben, und dochwar mir der Gedanke widerwärtig; es war ein seltsamer Kampf

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in meiner Seele, wie ein Streiten von zwei widerspenstigen Gei-stern in mir. In dem einen Augenblick kam mir die ruhige Ein-samkeit27 so schön vor, dann entzückte mich wieder die Vorstel-lung einer neuen Welt, mit allen ihren wunderbaren Mannigfal-tigkeiten.Ich wußte nicht, was ich aus mir selber machen sollte, der Hundsprang mich unaufhörlich freundlich an, der Sonnenschein brei-tete sich munter über die Felder aus, die grünen Birken funkel-ten: ich hatte die Empfindung, als wenn ich etwas sehr Eiligeszu thun hätte, ich nahm also den kleinen Hund, band ihn in derStube fest, und nahm dann den Käfig mit dem Vogel unter denArm. Der Hund krümmte sich und winselte über diese unge-wohnte Behandlung, er sah mich mit bittenden Augen an, aberich fürchtete mich ihn mit mir zu nehmen. Noch nahm ich einsvon den Gefäßen, das mit Edelsteinen angefüllt war, und steck-te es zu mir, die übrigen ließ ich stehn.Der Vogel drehte den Kopf auf eine wunderliche Weise, als ichmit ihm zur Thür hinaustrat, der Hund strengte sich sehr an mirnachzukommen, aber er mußte zurückbleiben. Ich vermied den Weg nach den wilden Felsen, sondern gingnach der entgegengesezten Seite. Der Hund bellte und winselteimmerfort, und es rührte mich recht inniglich; der Vogel wollteeinigemal zu singen anfangen, aber da er getragen ward, mußtees ihm unbequem seyn.So wie ich weiter ging, hörte ich das Bellen immer schwächer,und endlich hörte es ganz auf. Ich weinte und wäre beinahe wie-der umgekehrt, aber die Sucht etwas Neues zu sehn, trieb michvorwärts.Schon war ich über Berge und durch einige Wälder gekommen,als es Abend ward, und ich in einem Dorfe einkehren mußte. Ichwar sehr blöde, als ich in die Schenke trat, man wies mir eineStube und ein Bette an, ich schlief ziemlich ruhig, nur daß ichvon der Alten träumte, die mir drohte.Meine Reise war ziemlich einförmig, aber je weiter ich ging, jemehr ängstigte mich die Vorstellung von der Alten und dem

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kleinen Hunde; ich dachte daran, daß er wahrscheinlich ohnemeine Hülfe verhungern müsse, im Walde glaubt’ich oft, dieAlte würde mir plötzlich entgegentreten. So legte ich unterThränen und Seufzern den Weg zurück; so oft ich ruhte, und denKäfig auf den Boden stellte, sang der Vogel sein wunderlichesLied, und ich erinnerte mich dabei recht lebhaft des schönenverlassenen Aufenthalts. Wie die menschliche Natur vergeßlichist, so glaubt’ich jezt, meine vormalige Reise in der Kindheit seinicht so trübselig gewesen als meine jetzige, ich wünschte michwieder in derselben Lage zu seyn.Ich hatte einige Edelsteine verkauft, und kam nun nach einerWanderschaft von vielen Tagen in einem Dorfe an. Schon beimEintritt ward mir wundersam zu Muthe, ich erschrack undwußte nicht worüber; aber bald erkannt’ich mich, denn es wardasselbe Dorf, in welchem ich geboren war. Wie ward ich über-rascht! wie liefen mir vor Freude, wegen tausend seltsamerErinnerungen, die Thränen von den Wangen! Vieles war verän-dert, es waren neue Häuser entstanden, andre die man damalserst errichtet hatte, waren jezt in einem baufälligen Zustande,ich traf auf Brandstellen; alles war weit kleiner, gedrängter alsich erwartet hatte. Unendlich freute ich mich darauf, meineEltern nun nach so manchen Jahren wieder zu sehen; ich fanddas kleine Haus, die wohlbekannte Schwelle, der Griff der Thürwar noch ganz so wie damals, es war mir als hätte ich sie nurgestern erst angelehnt, mein Herz klopfte ungestüm, ich öfnetesie hastig, – aber ganz fremde Gesichter saßen in der Stubeumher und stierten mich an. Ich fragte nach dem Schäfer Mar-tin, und man sagte mir, er sei schon seit drey Jahren mit seinerFrau gestorben. – Ich trat schnell zurück, und ging laut weinendaus dem Dorfe hinaus.Ich hatte es mir so schön gedacht, sie mit meinem Reichthumezu überraschen, durch den seltsamsten Zufall war das nun wirk-lich geworden, was ich in der Kindheit immer nur träumte, –und jezt war alles umsonst, sie konnten sich nicht mit mir

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freuen, und das, worauf ich am meisten immer im Leben gehofthatte, war für mich auf ewig verlohren.In einer angenehmen Stadt miethete ich mir ein kleines Hausmit einem Garten, und nahm eine Aufwärterin zu mir. So wun-derbar, als ich es vermuthet hatte, kam mir die Welt nicht vor,aber ich vergaß die Alte und meinen ehemaligen Aufenthaltetwas mehr, und so lebt’ich im Ganzen recht zufrieden.Der Vogel hatte schon seit lange nicht mehr gesungen, ich er-schrack daher nicht wenig, als er in einer Nacht plötzlich wie-der anfing, und zwar mit einem veränderten Liede. Er sang:

WaldeinsamkeitWie liegst du weit!O Dir gereutEinst mit der Zeit.Ach einzge FreudWaldeinsamkeit!

Ich konnte die Nacht hindurch nicht schlafen, alles fiel mir vonneuem in die Gedanken, und mehr als jemals fühlt’ich, daß ichUnrecht gethan hatte. Als ich aufstand, war mir der Anblick desVogels ordentlich zuwider, er sah immer nach mir hin, und seineGegenwart ängstigte mich. Er hörte nun mit seinem Liede garnicht wieder auf, und er sang es lauter und schallender, als ersonst gewohnt gewesen war. Je mehr ich ihn betrachtete, je bän-ger machte er mich, ich öfnete endlich den Käfig, steckte dieHand hinein und faßte seinen Hals, herzhaft drückte ich die Fin-ger zusammen, er sah mich bittend an, ich ließ los, aber er warschon gestorben. – Ich begrub ihn im Garten.Jezt wandelte mich oft eine Furcht vor meiner Aufwärterin an,ich dachte an mich selbst zurück und glaubte, daß sie mich aucheinst berauben oder wohl gar ermorden könne. – Schon langekannt’ ich einen jungen Ritter, der mir überaus gefiel, ich gabihm meine Hand, – und hiermit Herr Walther ist meineGeschichte geendigt. –Ihr hättet sie damals sehn sollen, fiel Eckbert hastig ein – ihreJugend, ihre Unschuld, ihre Schönheit, und welch einen unbe-

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greiflichen Reiz ihr ihre einsame Erziehung gegeben hatte. Siekam mir vor wie ein Wunder, und ich liebte sie ganz unbe-schreiblich. Ich hatte kein Vermögen, aber durch ihre Liebe kamich in diesen Wohlstand, wir zogen hieher, und unsre Verbin-dung hat uns bis jezt noch keinen Augenblick gereut. –Aber über mein Schwatzen, fing Bertha wieder an, ist es schontief in die Nacht geworden, – wir wollen uns schlafen legen!Sie stand auf und ging nach ihrer Kammer, Walther wünschteihr mit einem Handkusse eine gute Nacht, und sagte: Edle Frau,ich danke Euch, ich kann mir Euch recht vorstellen, mit demseltsamen Vogel, und wie Ihr den kleinen Strohmi füttert. –Ohne zu antworten ging sie hinein.Auch Walther legte sich schlafen, nur Eckbert ging noch un-ruhig im Saale auf und ab. – Ist der Mensch nicht ein Thor? finger endlich an; ich bin erst die Veranlassung, daß meine Frau ihreGeschichte erzählt, und jezt gereut mich diese Vertraulichkeit! –Wird er sie nicht mißbrauchen? Wird er sie nicht andern mit-theilen? Wird er nicht vielleicht, denn das ist die Natur des Men-schen, eine unselige Habsucht nach unsern Edelgesteinen emp-finden, und deswegen Plane anlegen und sich verstellen?Es fiel ihm ein, daß Walther nicht so herzlich von ihm Abschiedgenommen hatte, als es nach einer solchen Vertraulichkeit wohlnatürlich gewesen wäre. Wenn die Seele erst einmal zum Arg-wohn gespannt ist, so trift sie auch in allen KleinigkeitenBestätigungen an. Dann warf sich Eckbert wieder sein unedlesMißtrauen gegen seinen wackern Freund vor, und konnte dochnicht davon zurückkehren. Er schlug sich die ganze Nacht mitdiesen Vorstellungen herum, und schlief nur wenig.Bertha war krank, und konnte nicht zum Frühstück erscheinen,Walther schien sich nicht viel darum zu kümmern, und verließauch den Ritter ziemlich gleichgültig. Eckbert konnte seinBetragen nicht begreifen, er besuchte seine Gattin, sie lag ineiner Fieberhitze und sagte, die Erzählung in der Nacht müssesie auf diese Art gespannt haben.

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Seit diesem Abende besuchte Walther nur selten die Burg sei-nes Freundes, und wenn er auch kam, ging er nach einigenunbedeutenden Worten wieder weg. Eckbert ward durch diesesBetragen im äußersten Grade gepeinigt, er ließ sich zwar gegenBertha und Walther nichts davon merken, aber jeder muste dochseine innerliche Unruhe an ihm gewahr werden.Mit Bertha’s Krankheit ward es immer bedenklicher, der Arztschüttelte den Kopf, die Röthe von ihren Wangen war ver-schwunden und ihre Augen wurden immer glühender. – Aneinem Morgen ließ sie ihren Mann an ihr Bette rufen, die Mägdemußten sich entfernen.Lieber Mann, fing sie an, ich muß Dir etwas entdecken, daßmich fast um meinen Verstand gebracht hat, das meine Gesund-heit zerrüttet, so eine unbedeutende Kleinigkeit es auch schei-nen mag. – Du wirst Dich erinnern, daß ich mich immer nicht,so oft ich von meiner Geschichte sprach, trotz aller angewand-ten Mühe auf den Namen des kleinen Hundes besinnen konnte,mit dem ich so lange umging. – An jenem Abende sagte Waltherbeim Abschiede plötzlich zu mir: Ich kann mir Euch recht vor-stellen, wie Ihr den kleinen Strohmi füttertet. – Ist das Zufall?Hat er den Nahmen errathen, oder hat er ihn mit Vorsatzgenannt? Und wie hängt dieser Mensch dann mit meinemSchicksale zusammen? – Zuweilen ist es mir eingefallen, ichbilde mir diesen Zufall nur ein, aber es ist gewiß, nur zu gewiß.Ein gewaltiges Entsetzen befiel mich, als mich ein fremderMensch so auf meine Erinnerungen half. – Was sagst Du, Eck-bert?Eckbert sah seine leidende Gattin mit einem tiefen Gefühle an,er schwieg, und dachte bei sich nach, dann sagte er ihr einigetröstende Worte und verließ sie. – In einem abgelegenen Ge-mache ging Eckbert in einer unbeschreiblichen Unruhe auf undab, Walther war seit vielen Jahren sein einzger Umgang gewe-sen, und doch war dieser Mensch jezt der einzige in der Welt,dessen Daseyn ihn drückte und peinigte. Es schien ihm, alswürde ihm froh und leicht seyn, wenn nur dieser einzige

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Mensch aus dem Wege geschaft wäre. – Er nahm seine Arm-brust, um sich zu zerstreuen und auf die Jagd zu gehn.Es war ein rauher stürmischer Wintertag, tiefer Schnee lag aufden Bergen und bog die Zweige der Bäume nieder. Er streifteumher, der Schweiß stand ihm auf der Stirne, er traf auf keinWild, und das vermehrte seinen Unmuth. Plötzlich sah er sich inder Ferne etwas bewegen, es war Walther, der Moos von denBäumen sammelte; ohne zu wissen was er that, legte er an,Walther sah sich um und drohte mit einer stummen Gebehrde,aber indem flog der Bolzen fort und Walther stürzte nieder.Eckbert fühlte sich leicht und beruhigt, und doch trieb ihn einSchauder nach seiner Burg zurück; er hatte einen großen Weg zumachen, denn er hatte sich weit hinein in die Wälder verirrt. –Als er ankam, war Bertha schon gestorben, sie hatte vor ihremTode noch viel von Walther und der Alten gesprochen.Eckbert lebte nun eine lange Zeit in der größten Einsamkeit, erwar schon sonst immer etwas schwermüthig gewesen, weil ihndie seltsame Geschichte seiner Gattin etwas beunruhigte, erhatte immer schon einen unglücklichen Vorfall befürchtet, dersich ereignen könnte: aber jezt war er ganz mit sich selber zer-fallen. Die Ermordung seines Freundes stand ihm unaufhörlichvor Augen, er lebte unter wenigen innern Vorwürfen.Um sich zu zerstreuen, begab er sich zuweilen nach der näch-sten großen Stadt, wo er Gesellschaften und Feste besuchte. Erwünschte durch irgend einen Freund, die Leere in seiner Seeleauszufüllen, und wenn er dann wieder an Walther zurückdachte,so erschrack er schon vor dem Worte Freund; er war überzeugt,daß es ihm nothwendig mit allen seinen Freunden unglücklichgehn müsse. Er hatte so lange mit Bertha in einer schönen Ruhegelebt, die Freundschaft Walthers hatte ihn so manches Jahr hin-durch beglückt, und jezt waren beide so plötzlich dahingerafft,daß ihm sein Leben in manchen Augenblicken mehr wie ein selt-sames Mährchen, als wie ein wirklicher Lebenslauf erschien.Ein Ritter, Hugo von Wolfsberg, hing sich an den stillen betrüb-ten Eckbert, er schien eine wahrhafte Zuneigung gegen ihn zu

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empfinden. Eckbert fand sich auf eine wunderbare Art über-rascht, er kam der Freundschaft des Ritters um so schneller ent-gegen, je weniger er sie vermuthet hatte. Beide waren nun häu-fig zusammen, der Fremde erzeigte Eckbert alle möglichenGefälligkeiten, einer ritt fast nicht mehr ohne den andern aus, inallen Gesellschaften trafen sie sich, kurz, sie schienen beideunzertrennlich von einander zu seyn.Eckbert war immer nur auf kurze Augenblicke froh, denn erfühlte es deutlich, daß ihn Hugo nur aus einem Irthume liebe; erkannte ihn nicht, er wuste seine Geschichte nicht, und er fühltewieder denselben Drang, sich ihm ganz mitzutheilen, damit erversichert seyn könne, in wie fern jener Freund sei. Dann hiel-ten ihn wieder Bedenklichkeiten und die Furcht, verabscheuetzu werden, zurück. In manchen Stunden war er so sehr von sei-ner Nichtswürdigkeit überzeugt, daß er glaubte, kein Menschkönnte ihn seiner Achtung würdigen, der ihn nur etwas näherkenne. Aber er konnte sich nicht widerstehn; auf einem einsa-men Spatzierritt, entdeckte er seinem Freunde seine ganzeGeschichte, und sagte ihm, ob er wohl einen Mörder liebenkönne. Hugo war gerührt und suchte ihn zu trösten, Eckbertfolgte ihm mit leichtern Herzen zur Stadt.Es schien aber seine Verdammniß zu seyn, grade in der Stundedes Vertrauens Argwohn zu schöpfen, denn kaum waren sie inden Saal getreten, als ihm beim Schein der vielen Lichter dieMinen seines Freundes nicht gefielen. Er glaubte ein hämischesLächeln zu bemerken, es fiel ihm auf, daß er nur wenig mit ihmsprach, daß er mit den Anwesenden viel redete, und seiner garnicht zu achten schien. Ein alter Ritter war in der Gesellschaft,der immer sich als den Gegner Eckberts gezeigt, und sich oftnach seinem Reichthum, nach seiner Frau, auf eine eigne Arterkundigt hatte; zu diesem ging jezt Hugo, und beide spracheneine Zeitlang heimlich, indem sie beständig nach Eckbert hin-sahn. Dieser sah jezt seinen Argwohn bestätigt, er glaubte sichverrathen, und eine schreckliche Wuth bemeisterte sich seiner.Indem er noch immer hinstarrte, sah er plötzlich Walthers Kopf,

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alle seine Minen, die ganze, ihm so wohlbekannte Gestalt, er sahnoch immer hin, und ward überzeugt, daß Niemand als Walthermit dem Alten spreche. – Sein Entsetzen war unbeschreiblich,außer sich stürzte er hinaus, verließ noch in der Nacht die Stadtund kehrte nach vielen Irrwegen auf seine Burg zurück.Wie ein unruhiger Geist eilte er jezt von Gemach zu Gemach,kein Gedanke hielt ihm Stand, er eilte von entsetzlichen Vor-stellungen zu noch entsetzlichern, und kein Schlaf kam in seineAugen. Oft fiel er auf den Gedanken, daß er wahnsinnig sei, undsich nur selber durch seine Einbildungskraft alles erschaffe,dann erinnerte er sich wieder der Züge Walthers, und alles wardihm immer mehr ein Räthsel. Er beschloß eine Reise zu machen,um seine Vorstellungen wieder zu ordnen; den Gedanken anFreundschaft, den Wunsch nach Umgang hatte er nun auf ewigaufgegeben.Er zog fort, ohne sich einen bestimmten Weg vorzusetzen, ja erbetrachtete die Gegenden nur wenig die vor ihm lagen. Als ermit seinem Pferde einige Tage durchtrabt hatte, sah er sichplötzlich in einem Gewinde von Felsen verirrt, in denen sichnirgends ein Ausweg entdecken ließ. Endlich traf er auf einenalten Bauer, der ihm einen Ausweg, einem Wasserfall vorüberzeigte: er wollte ihm zur Danksagung einige Münzen geben, derBauer aber schlug sie aus. – Was gilts? sagte Eckbert zu sich sel-ber, ich könnte mir wieder einbilden, daß dies Niemand andersals Walther sei, – und indem sah er sich noch einmal um, und eswar Niemand anders als Walther. – Eckbert spornte sein Roß, soschnell es nur laufen konnte, durch Wiesen und Wälder, bis eserschöpft unter ihm zusammenstürzte. – Unbekümmert sezte ernun seine Reise zu Fuß fort.Er stieg träumend einen Hügel hinan, es war, als wenn er einnahes muntres Bellen hörte, Birken säuselten dazwischen, under hörte mit wunderlichen Tönen ein Lied singen:

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WaldeinsamkeitMich wieder freut,Mir geschieht kein Leid,Hier wohnt kein NeidVon neuem mich freutWaldeinsamkeit.

Jezt war es um das Bewußtsein, um die Sinne Eckberts ge-schehn, er konnte sich nicht aus dem Räthsel herausfinden, ober jezt träume oder ehemals von einem Weibe Bertha geträumthabe, das Wunderbarste vermischte sich mit dem Gewöhnlich-sten, die Welt um ihn her war verzaubert, und er keines Gedan-kens, keiner Erinnerung mächtig.Eine krumgebückte Alte schlich hustend mit einer Krücke denHügel heran. – Bringst Du meinen Vogel? meine Perlen? Mei-nen Hund? schrie sie ihm entgegen. Siehe, das Unrecht bestraftsich selbst. Niemand als ich war Dein Freund Walther, DeinHugo – Gott im Himmel! sagte Eckbert stille vor sich hin, – in welcherentsezlichen Einsamkeit hab’ich denn mein Leben hinge-bracht! –Und Bertha war Deine Schwester.Eckbert fiel zu Boden.Warum verließ sie mich tückisch? Sonst hätte sich alles gut undschön geendet, ihre Probezeit war ja schon vorüber. Sie war dieTochter eines Ritters, die er bei einem Hirten erziehn ließ, dieTochter Deines Vaters.Warum hab’ich diesen schrecklichen Gedanken immer geahn-det? rief Eckbert aus.Weil Du in früher Jugend Deinen Vater einst davon erzählenhörtest: er durfte seiner Frau wegen diese Tochter nicht bei sicherziehn lassen, denn sie war von einem andern Weibe. –Eckbert lag wahnsinnig in den lezten Zügen; dumpf und ver-worren hörte er die Alte sprechen, den Hund bellen, und denVogel sein Lied wiederholen.

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Ludwig Tieck: Der blonde Eckbert, in: [Ludwig Tieck:] PeterLeberechts Volksmärchen. Berlin 1797, Bd. 1, S. 191-242.

4. August Wilhelm Schlegel an Ludwig Tieck,11. Dezember1797

Jena, den 11ten December [1797]. Es ist schön, daß unsre Brie-fe einander auf halbem Wege ent-gegen gekommen sind. DieCorrespondenz ist also nun förmlich eingerichtet, bis zur per-sönlichen Bekanntschaft, auf die ich mich lebhaft freue. HabenSie Dank für die übersandten Volksmährchen, sie haben mireine sehr angenehme Lectüre gewährt, es verdrießt mich nunnoch mehr, daß sie ein Anderer, wie mir däucht, nicht mit son-derlicher Einsicht, beurtheilt hat, und ich sinne darauf, wie dieseVersäumniß wieder gut zu machen wäre. Ihr Don Quixote sollmir gewiß nicht entgehen; ich bin überzeugt, daß es Ihnen sehrdamit gelingen wird, da Sie die darstellende Prosa so in IhrerGewalt haben. Der Don Quixote ist vielleicht unter allen Roma-nenvor W. Meister derjenige, der am meisten von dem epischenNumerus hat, worüber ich in der Beurtheilung von Hermannund Dorothea einiges gesagt. Die vielen spanischen Participienwerden Ihnen einige Noth machen – ich denke, sie müssen inden meisten Fällen in direkte Sätze aufgelöst werden, so daßungefähr eine so leichte Wortfolge und Structur, wie im Wil -helm Meister, bey gleicher Fülle, heraus käme.Ihr Prolog unter den Volksmährchen ist ein allerliebster Einfall,und voll von allerliebsten Einfällen. In dem blonden Ekbert fandich ganz die Erzählungsweise Göthe’s in seinem Mährchen, imWilhelm Meister u.s.w. Sie haben sich diesen reizenden Über-fluß bey gleicher Klarheit und Mäßigung auf eine Art angeeig-net, die nicht bloß ein tiefes und glückliches Studium, sondernursprüngliche Verwandtschaft der Geister verräth. So auch mitden Liedern. Man hätte mich mit einigen davon täuschen kön-

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nen, sie wären von Göthe. Seltener glaubte ich darin einen vonden zerstreuten Zauberklängen in Shakspeares Liedern zuhören. Überhaupt würde man, wie mir däucht, Ihre innige Ver-trautheit mit diesem Dichter weniger vermuthen. Vielleichtkommt es nur daher, weil Sie noch nichts in ShakspearesFormdramatisirt haben. Ein romantisch-komisches Schauspiel, derernsthafte Theil in fünffüßigen Jamben, auch wohl mit unter-mischten Reimen, nur der komische Dialog in Prosa, das müßteIhnen herrlich gelingen. Ich glaube, Sie müssen bey Ihren näch-sten Dichtungen hauptsächlich darauf achten, Ihre Kraft zueiner recht entschiedenen Wirkung zu konzentriren, und viel-leicht ist selbst die äußere Schwierigkeit hiezu ein Mittel. – Den Lovell lese ich mit großem Interesse, doch scheint mir vonihm bis zu einigen der Volksmährchen noch ein großer Schritt zuseyn. Im Berneckund der schönen Magelonefinde ich nocheinige Erinnerungen an die frühere Manier. Jener hat mich über-haupt am wenigsten befriedigt. In der Magelone wurde mir dieSchwierigkeit sichtbar, schwärmerische Regungen der Liebe ineinem alten Kostüm ohne moderne Einmischungen darzustellen.Doch sind die Lieder allerliebst, auch einige Stellen der Erzäh-lung, z.B. den Traum S. 185, 186 könnte Göthe eben so geschrie-ben haben.Sie verzeihen, theuerster Freund, daß ich Ihnen mein Urtheil sounbefangen sage, als ob wir schon Jahre lang mit einanderumgegangen wären. Lassen Sie mich doch auch einmal IhreMeynung über meine Gedichte im Almanach erfahren, wenn esIhnen nicht mühselig ist, und Sie es in der Kürze können.Auf Ihre Briefe über Shakspeare bin ich sehr begierig. Wie sindSie mit meinem Aufsatze über Romeo zufrieden gewesen? Ichhoffe, Sie werden in Ihrer Schrift unter anderm beweisen,Shakspeare sey kein Engländer gewesen. Wie kam er nur unterdie frostigen, stupiden Seelen auf dieser brutalen Insel? Freylichmüssen sie damals noch mehr menschliches Gefühl und Dich-tersinn gehabt haben, als jetzt. Ihre beyden Conjecturen28 imSturmleuchten mir sehr ein – doch weiß ich nicht, ob ich sie in

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die Übersetzung aufnehmen darf – es würde eine Note fordern,und ich mache keine Noten. – Die Englischen Kritiker verstehensich gar nicht auf Shakspeare– ich will Ihnen ein Beyspiel einerschlechten Conjectur von Malone geben, der doch sonst für denbesten gilt, und auch, wo es bloß auf das diplomatische Verglei-chen und Auftreiben veralteter Redensarten ankömmt, wirklichist. Die Stelle ist in What you will in meiner Übersetzung S. 197.She took the ring of me: I’ll none of it. Hier will Malone29 nachmeein Fragezeichen setzen: Sie sollte den Ring von mir genom-men haben? Der dumme Mensch kann nämlich nicht begreifen,daß Viola Gegenwart des Geistes genug hat, um in Olivia’sErfindung hinein zu gehn, und sie nicht gegen den MalvolioLügen zu strafen. – So ist im Romeo eine Stelle, über die sichJohnson den Kopf zerbricht, obgleich nichts leichter zu verstehnist. Es wäre rühmlich für unsre Nation, wenn wir einmal einekritische Ausgabedes Englischen Shakspeare bekämen, welcheden in England erschienenen vorzuziehen wäre. Nicht seltenwünschte ich Sie über einzelne Stellen Shakspeares befragen zukönnen, ob Sie sie eben so wie ich verstehen. Leben Sie recht wohl.

Ihr ergebenster / A. W. Schlegel.

August Wilhelm Schlegel an Ludwig Tieck, 11. Dezember 1797,in: H. Lüdeke (Hg.): Ludwig Tieck und die Brüder Schlegel.Briefe mit Einleitung und Anmerkungen. Frankfurt am Main1930, S. 33-35.

5. August Wilhelm Schlegel:Zu Tiecks ‚Volksmärchen‘

Wer also einiges Bedürfniß für alle diese Dinge hat, wird sichgern von jener materiellen Masse, jener breiten Natürlichkeit,

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zu luftigeren Bildungen der Fantasie wenden, die bald heiternScherz hingaukeln, bald die Musik zarter Regungen anklingenlassen. Ihm wird alsdann eine ruhige Darstellung sehr erquik-kend entgegen kommen, die, wenn sie auch noch nicht bis zurVollendung gediehen ist, doch in der milden Temperatur eineskünstlerischen Sinnes geboren wurde. Die theils dramatisirten,theils erzählten Volksmährchen von Tieck unter dem NamenPeter Leberecht,30 sind von dieser Art: doch scheinen sie bisjetzt nicht mit der Aufmerksamkeit bewillkommt worden zuseyn, auf die eine so gefällige Erscheinung wohl rechnen dürf-te, wenn es nicht gar wenige gäbe, welche in der Dichtung nurdie Dichtung suchen. Ob dieß letzte daher rührt, daß dieUrheber derselben ihre Unabhängigkeit so selten zu behauptenwissen, oder ob der Mangel an reinem Sinn dafür genöthigt hat,zu fremden Hülfsmitteln seine Zuflucht zu nehmen, um Eingangzu finden, will ich hier nicht untersuchen. Allein gewiß ist es,daß vieles, was für Poesie gegeben und genommen wird, durchetwas ganz anders sein Glück macht. Wie man guten Seelenimmer die Gewalt der Liebe ans Herz legt, haben wir eben gese-hen; andre und mitunter berühmte Männer sind in dem Falle,daß die Lüsternheit bey ihnen ein nothwendiges Ingrediens zueinem Gedicht ist, ohne welches sie sich gar nicht getrauen esschmackhaft zu machen. Gegentheils können andre die Tugendniemals los werden, und ergießen ihr Bächlein, da gute Lehreund Warnung innen fleußt, hinter dem Dichterlande vorbey, umdie Äcker der Pädagogik und Aszetik zu wässern. Die Unschuldeiner Muse, welche weder ein bloß leidenschaftliches Interessezu erregen sucht, noch dem gröberen Sinne schmeichelt, nochmoralischen Zwecken fröhnt, kann daher leicht als Unbedeu-tendheit misverstanden werden. Und in der That ist es auch einenähere Beziehung auf die Wirklichkeit, was unter diesen Volks-mährchen vorzüglich den gestiefelten Kater31 mehr in Umlaufgebracht, und nach dem Maße des gegebnen Ärgernisses ihmLeser und Tadler verschafft hat. In einer Erzählung der MutterGans das leibhaftige Deutsche Theater sammt allem Zubehör

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aufs Theater zu bringen, ist wahrlich unerhört. Wenn die Satirenoch methodisch, deklamatorisch, gallicht wäre; aber gradeumgekehrt, sie ist durchaus muthwillig und possenhaft, kurzgegen alle rechtliche Ordnung. Ich gebe den Verfasser verloren:er wird sich niemals von den Streichen, die er ausgetheilt hat,erholen können. Oder glaubt er, den großen Schikaneder32 unge-straft antasten zu dürfen? Besonders, da er es mit den Schild-bürgern durch seine Geschichtschronikderselben unheilbar ver-dorben hat,33 und wie ein Korsar kecklich in die Häfen dieserangesehenen Nazion eingelaufen ist, die durch ihr Schutz- undTrutzbündniß mit den ebenfalls zahlreichen Philistern nochfurchtbarer wird. Sie werden es ihm schon einzutränken wissen,und den Spaß auf eine Art verstehn, daß es ihm vergehn soll,welchen zu machen. Eher möchte der Prolog zu einem Schau-spiele, das niemals aufgeführt wird, vor der Polizey der Ernst-haftigkeit durchschlüpfen: der ganz heterogene Sinn der vomTheaterwesen entlehnten Einkleidung wird vielleicht nicht allenklar werden, weil sie in dem theologischphilosophischen Vor-spiele selbst zu eifrig mitagiren, um Unrath zu merken. Was denTheaterdirektor betrifft, über den hier viel spekulirt wird, so ister eine lieberale Person, die gern jedes in seiner Art leben läßt;wenn nur die Lampenputzer nicht in seinem Namen empfind-lich werden, daß man ihren Verkündigungen über ihn denSchwäbischen Dialekt aufrückt.Dieß sind ungefähr die Schalkheiten, die sich unter dem ehr-samen Titel Volksmährchen (Böcke unter den Schafen) einge-drängt haben. Kann ihnen die unbesonnene Leichtigkeit, womitsie in die Welt gesprungen sind, keine Verzeihung auswirken;scheinen sie vielmehr wegen des jugendlichen Talents, das nochviel dergleichen befürchten läßt, doppelt bedenklich, so wirdman sie wenigstens über der kindlichen Unbefangenheit, womitdie übrigen Stücke behandelt sind, vergessen. Man erkennt inallen dieselbe Hand, aber gewiß nicht an der Einförmigkeit derManier. Der Dichter bestrebt sich vielmehr überall den Ton desGegenstandes zu halten, und er trifft ihn gewöhnlich mit der

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Sicherheit einer unabsichtlichen Richtung. Deswegen konnte eraus der Geschichte von den Heymons Kindern, in zwanzig alt-fränkischen Bildern,34 nichts anders machen wollen als einenpoetischen Holzschnitt. Die genaue Beobachtung der Perspekti-ve muß man einem solchen schon erlassen; aber in den eckich-ten und groben Umrissen dieser kolossalen Figuren dürfte leichtmehr Natur und Karakter seyn, als in der Kritik eines Kunst-richters, der sie unnatürlich und karakterlos nennt, ihre Erdich-tung der Unwissenheit und dem Aberwitz zuschreibt, und dasGanze vornehm in die Jahrmarktsbuden zurückweist. Man soll-te sich doch hüten, in einem prosaischen Zeitalter ehrliche alteVolkssagen so schnöde anzulassen, denen es, wie unförmlich sieauch sonst seyn mögen, schwerlich ganz an poetischer Energiefehlt. Auf dem Grund und Boden solcher Mährlein ist der Feen-pallast des göttlichen Meisters Ariosto35 erbaut; und es könnteschon deswegen anziehend seyn, sie in ihrer ursprünglichenrohen Treuherzigkeit vorgeführt zu sehen, um damit die wel-schen Umbildungen eines hellen und feinen Verstandes zu ver-gleichen. Der jüngste und gewaltigste unter den Heymonskin-dern, Reynold, ist Ariosto’s Rinaldo,

Figliuol d’Amon, Signor di Mont’Albano;und sein Pferd Bayart, das in der Geschichte eine so große Rollespielt, und zuletzt der Aussöhnung seines Herrn mit Kaiser Karlaufgeopfert und ertränkt wird (eine Begebenheit, welche Kin-dern und auch Erwachsenen, welche sich noch nicht gegen der-gleichen abgehärtet haben, immer eine große Rührung kostenwird, wie der Hund Argos beym Homer36) ist derselbe Bayardo,der gleich zu Anfang des Orlando furioso37 so klug, gewandt undstark erscheint. Hat dieß treffliche Roß etwa keinen Karakter,weil die Motive seiner Handlungen nicht gründlich genug nachder Pferdepsychologie zergliedert worden sind? Das ist nun sodie Art der Poesie, daß sie die lebendigen Kräfte hinstellt,unbekümmert um das Problem, warum ihre Eigenthümlichkeitgrade diese und keine andre ist. Wenn nicht ein geheimer Grund

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zu einem bestimmten Daseyn in ihnen läge, so wären es ja ebenkeine Naturen.In der wundersamen Liebesgeschichte der schönen Mageloneund des Grafen Peter aus der Provencehat sich der Erzählereine zu schwere Aufgabe gemacht, die vielleicht nicht rein zulösen war. Die Anlage ist einfältig,

Und tändelt mit der Unschuld süßer Liebe,So wie die alte Zeit;

aber diesen Gang der Begebenheiten sollte nun ein Spiel derEmpfindungen entfaltend begleiten, das nur über den Lieben-den schwebt, und sich ihnen nicht recht aneignen will. Jeneschlichten Sitten und der reiche Ausdruck einer Schwärmerey,die alle Gegenstände in ihre glühenden Farben taucht, konntenvermischt, aber nicht völlig verschmelzt werden, und man fühltdas Fremdartige und die Willkühr der Zusammenstellung. Zwardie Poesie ist die gemeinschaftliche Zunge aller Zeiten,Geschlechter, Alter und Sitten; und wenn sich die innre Regungin Gesang ausathmet, findet sie in einer höhern Region die Sim-plicität wieder, die ihr unter dem rednerischen Bemühen, sich inder gewöhnlichen Sprache vollständig mitzutheilen, verlorengegangen war. Die eben gerügte Mishelligkeit erstreckt sichalso nicht auf die zahlreich eingestreueten Lieder. Hätte derDichter den lyrischen Theil der Darstellung ganz auf sie verspa-ren, und noch mehr eine Erzählung mit Gesang (eine Gattung,von der sich eben so wohl eine mannichfaltige Bearbeitung den-ken läßt, als von dem Schauspiele mit Gesang) daraus machenkönnen, als schon geschehn ist, so hätte für den verändertenPunkt der Betrachtung gewiß alles an Wahrheit und Harmoniegewonnen. Allein auch wie es jetzt steht, fehlt es nicht an beste-chenden Reizen: die Poesie geht nie so in das Blühende undÜppige über, daß nicht eine leichtere Fülle sichtbar bliebe undihre Bilder gestaltet eine nicht bloß fruchtbare, sondern beflü-gelten Phantasie.

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Die reifsten Stücke in der Sammlung scheinen mir Ritter Blau-bart und der blonde Ekbert, jenes unter den dramatischen, die-ses unter den erzählten: es läßt sich daraus ungefähr abnehmen,was Tieck in beyden Gattungen leisten kann, ohne daß ich ent-scheiden möchte, zu welcher ihn seine Anlagen mehr hinneigen.Die Umgebungen, wodurch das Ammenmährchen Blaubart zumUmfange eines Schauspiels erweitert ist, sind mit Einsicht undSchicklichkeit gewählt: nichts ablenkendes und störendes, wennauch manches entbehrliche ist in die Zusammensetzung aufge-nommen worden. Die Figuren sind bestimmt gezeichnet, viel-leicht durch zu schneidende Gränzen gesondert: wenn mannicht darauf etwas rechnen will, daß, da die ganze Erdichtungder ungeübtesten Fassungskraft entgegen kommt, auch die ein-zelnen Gegenstände in ihr leichter erkennbar seyn müssen, alsin einer erwachsenen Welt. Das Wunderbare ist in eine vertrau-liche Nähe gerückt, der Dialog ist ungezwungen und ohneAnmaßung, und die Handlung bewegt sich in leichten Wendun-gen fort, bis sie zu den entscheidenden Momenten gelangt, wodie Besonnenheit, in der wir durch eine heitre Gegenwart immererhalten werden, in eine lebhaftere Theilnahme übergehen kann.Die Neugier der Agnes nach dem verbotnen Zimmer steigt mitgroßer Wahrheit von der ersten unmerklichen Anmuthung durchalle Grade hindurch bis zu einem unwiderstehlichen Gelüste,ohne daß sich der Dichter auch nur einen Augenblick zu langedabey verweilt hätte. Durch die Behandlung der folgenden Sze-nen hat er gezeigt, daß er selbst eine volle tragische Wirkung zuerreichen fähig ist, wo sie, wie durch den Schrecken geschieht,unmittelbar die Fantasie berührt. Es ist ein meisterhafter Zug,wie Agnes in ihrem zerrütteten Zustande zu sehn glaubt, daßsich das Gesicht der Alten während der Gespenstergeschichteverzerre; und eben so ergreifend offenbart sich überhaupt ihreAngst, ohne in ein widerwärtiges Grausen überzugehn.Im blonden Ekbert werden ebenfalls Schauer erregt, an denenkeine Häßlichkeit der Erscheinungen Theil hat, und die um soüberraschender treffen, weil sie nicht mit großen Zurüstungen

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herbeygeführt werden. Durch die ganze Erzählung geht einestille Gewalt der Darstellung, die zwar nur von jener Kraft desGeistes herrühren kann, welcher „die Gestalten unbekannterDinge“ bis zur hellen Anschaulichkeit und Einzelnheit Redestehn, deren Organ jedoch hier vorzüglich die Schreibart ist:eine nicht sogenannte poetische, vielmehr sehr einfach ge-baute, aber wahrhaft poetisirte Poesie. Das Geheimniß ihresMaßes und ihrer Freyheit, ihres rhythmischen Fortschrittes, undihres schön entfaltenden Überflusses hat, für unsre Sprachewenigstens, Goethe38 entdeckt; und die Art wie Tieck seinenStyl, besonders im Wilhelm Meister39 und in dem goldnenMährchen, dem Mährchen par excellence, studirt haben muß,um es ihm so weit abzulernen, würde allein schon seinen Sinnfür dichterische Kunst bewähren.Die schmeichelnden kleinen Lieder habe ich oben bey Gele-genheit der Magelone40 erwähnt; auch in den andern Stückensind ihrer einzelne eingeflochten. Es liegt ein eigner Zauber inihnen, dessen Eindruck man nur in Bildern wiederzugeben ver-suchen kann. Die Sprache hat sich gleichsam alles Körper-lichen begeben, und löst sich in einen geistigen Hauch auf. DieWorte scheinen kaum ausgesprochen zu werden, so daß es fastnoch zarter wie Gesang lautet: wenigstens ist es die unmittel-barste und unauflöslichste Verschmelzung von Laut und Seele,und doch ziehn die wunderbaren Melodien nicht unverstandenvorüber. Vielmehr ist diese Lyrik in ihrer heimlichen Beschrän-kung höchst dramatisch; der Dichter darf nur eben die Situazi-on andeuten, und dann den süßen Flötenton hervorlocken, umdas Thema auszuführen. In diesen klaren Thautropfen der Poe-sie spiegelt sich alle die jugendliche Sehnsucht nach dem Unbe-kannten und Vergangenen, nach dem was der frische Glanz derMorgensonne enthüllt, und der schwülere Mittag wieder mitDunst umgiebt; die ganze ahndungsvolle Wonne des Lebensund der fröhliche Schmerz der Liebe. Denn eben dieses Hell-dunkel schwebt und wechselt darin: ein Gefühl, das nur aus derinnersten Seele kommen kann, und doch leicht und lose in der

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Außenwelt umhergaukelt; Stimmen, von der vollen Brust weg-gehoben, die dennoch wie aus weiter Ferne leise herüberhallen.Es ist der romantische Ausdruck der wahrsten Innigkeit, schlichtund fantastisch zugleich.Um mehr als alles bisher gesagte in eins zusammenzufassen: ichweiß nicht, wer außer Goethen unter uns ähnliche Liedergedichtet hätte. Wenn man nun dazu und zu der Nachbildungder Goetheschen Poesie hinzunimmt, daß Tieck nach dem Bey-spiele desselben Meisters in dem Prolog die Hans-SachsischeManier41 glücklich genug auf neuere Gegenstände angewendet,so sieht man, daß er sein Vorbild eben so wenig einseitig gefaßthat, als er ihm ohne selbständige Aneignung nachgefolgt ist. Erverbindet damit ein tiefes und vertrautes Studium Shakspeare’s(für den Goethe ein neues Medium der Erkenntniß gewordenist; so daß nun von beyden gemeinschaftlich eine Dichterschuleausgehn kann) und eben das, was ihn für die Entwickelung sei-ner Anlagen so richtig leitete, läßt hoffen, daß er sie auch vorungünstigen Einflüssen zu bewahren wissen wird. Seine Einbil-dungskraft, die sich im William Lovell42 zum Theil in trübenFantomen herumtrieb und ihre Flüge verschwendete, ist seitdemauffallend zu größerer Heiterkeit und Klarheit hindurchgedrun-gen. Das Trauerspiel Karl von Bernek43 und sonst hie und daSpuren von Gewölk gehören nach dem ersten Morgennebel an.In jenem weniger das Einzelne als die Kraftlosigkeit desGanzen. Man schreibt freylich die Trauerspiele nicht so oben-hin: in dieser Gattung artet allzugroße Leichtigkeit unfehlbar inOberflächlichkeit aus. Enthaltsamkeit und Mäßigung, seltneEigenschaften bey jungen Dichtern, sind dem Verfasser derVolksmährchen so natürlich, daß sie für ihn keiner besondernEmpfehlung bedürfen; desto mehr hat er die zweyte Hälfte vondem Rath seines Freundes Shakspeare zu beherzigen, der, wie erdem Schauspieler ermahnt hat, niemals die Bescheidenheit derNatur zu überschreiten, zu der ersten Warnung vor dem „Over-done“ sogleich die zweyte vor dem „Come tardy off“44 hinzu-fügt. Er vergesse nicht, daß alle Wirkung der Kunst einem

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Brennpunkte gleicht, diesseits und jenseits dessen es nicht zün-det, er behalte immer ihr Höchstes vor Augen, und achte seinschönes Talent genug, um nichts geringeres leisten zu wollen,als das Beste was er vermag. Er sammle sich, er dränge zusam-men, und ziehe auch die äußere Formen vor, welche von selbstdazu nöthigen.

August Wilhelm Schlegel: Zu Tiecks ‚Volksmärchen‘ in: [AugustWilhelm Schlegel: Beyträge zur Kritik der neuesten Litteratur,]Athenaeum 1798, Ersten Bandes Erstes Stück, S.141-177, dortS. 167-177.

6. Ludwig Tieck:Zum ‚blonden Eckbert‘ (1840)

Ich war noch sehr jung, begann Wangen wieder, so jung, daß ichnicht den Mut hatte, mitzusprechen oder eine Meinung abzuge-ben, wenn ich unter verständigen Männern mich befand: einBeweis, daß ich vom vorigen Jahrhundert spreche. So war ichdenn im Hause jenes Autors oft ein stummer Zuhörer, der lieberlernte als lehrte. Der Dichter jenes Märchens erhielt den Kor-rekturbogen desselben und teilte auf Verlangen die kleineErzählung seinen Zuhörern mit. Die Gesellschaft bestand ausder Schwester des Dichters, die sich auch als Schriftstellerinbekannt gemacht hat, dem liebenswürdigen Wackenroder, demjungen Hausarzt, Byng45, ein echter Mensch, wie es nur Wenigegibt, dem Musikdirektor des Berliner Theaters Wessely46 unddem bekannten Musikus Zelter47. Es war im Sommer 1796, alssich diese Gesellschaft zusammengefunden hatte. Man billigte,man lobte das Märchen, aber Alle vereinigten sich mit Wacken-roder, als dieser laut und bestimmt erklärte, das Wort „Waldein-samkeit“ sei undeutsch, unerhört und durchaus nicht zu gebrau-chen. Der Autor, der das Wort, ohne darüber zu denken oder zu

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zweifeln, viel weniger, um einen Anstoß zu erregen, geschrie-ben, war nicht wenig über den Chor seiner Freunde erstaunt, dereinstimmig das Wort verdammte und verlangte, daß er wenig-stens, der Natur der Sprache zu gefallen, Waldeseinsamkeitschreiben sollte. Vergebens, daß der Autor Frühlingsglanzundselbst Herbstmanoeuvre für sich anführte, jeder der Gegenwär-tigen, die alle Deutsch zu verstehen glaubten, hatte wichtigeGründe, den ketzerischen Ausdruck zu verwerfen. Der über-strittene, aber nicht überzeugte Autor schwieg endlich, korri-gierte aber nicht. Und, wie der Erfolg gezeigt, er war so sehr imRecht, daß Zeitungsnachrichten jetzt den damals angefochtenenAusdruck nicht vermeiden. [...]Waldeinsamkeit? rief Ferdinand aus. Wie geraten Sie nur aufdiese Waldeinsamkeit?Ei, erwiderte sie, das alberne Wort verfolgt mich ordentlich seiteinigen Tagen. Der Herr Helmfried las mir neulich ein Märchenvor, der blonde Eckbert, wo die paar Verse von dieser berüch-tigten und beliebten Waldeinsamkeit stehn. Ein verzauberterVogel singt:

Waldeinsamkeit, Die mich erfreut

und so weiter. – Der alte Baron Wangen, der schon seit langeden Autor des Märchens kennt, hat unserm Helmfried bei derGelegenheit noch eine hübsche Anekdote erzählt. Kommen Sie,Freund (so wendete sie sich zum entfernt stehenden Helmfried),erzählen Sie den Scherz, über den ich so herzlich habe lachenmüssen.Helmfried sagte: Sie wissen, wie unser alter Baron von je dieBekanntschaft der Literaten gesucht hat, so war er denn auch inJena, als Wilhelm Schlegel,48 der feinwitzige, dort lebte, undunter den Freunden um 1800 sich auch unser Verfasser des Eck-bert dort befand. Die Freunde neckten sich oft geistreich undwitzig, und niemals empfand einer den Einfall des andern übel

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oder erwiderte mit Bitterkeit. Schlegel sagte: So oft hört man,wie dieser und jener wünschte, wegen Geschäfte und Zeitman-gel, nur das Beste, Allerbeste eines Dichters zu lesen und ihn inkürzester Zeit ganz kennen zu lernen; er wünscht gleichsam dieQuintessenz seines ganzen Wesens, wie den Saft einer Zitroneschnell und für immer sättigend zu genießen. Genoveva49 undnoch mehr der Lovell sind zu weitläufig, nicht weniger der Zer-bino, Kater und verkehrte Welt50 mystisch und unverständlich,und selbst der blonde Eckbert füllt mehr als einen Bogen: aberdie wahre Quintessenz Deiner Dichtung, Freund, die man jedemVerehrer als den Inhalt Deines Wesens zum Genuß und Ver-ständnis reichen kann, sind diese Verse:

Waldeinsamkeit,Die mich erfreut,So morgen wie heutIn ew’ger Zeit:0 wie mich freutWaldeinsamkeit!

Wem das noch zu weitläufig ist, diesem Freunde der Literaturmöchte nicht zu helfen sein. So scherzte der liebenswürdigeWilhelm Schlegel, und so hat mir neulich der Baron Wangendiese Anekdote erzählt. – [...]

Ludwig Tieck: Zum ‚blonden Eckbert‘, in: Ludwig Tieck: [Wald-einsamkeit,] Schriften 1836-1852. Hg. v. Uwe Schweikert.Frankfurt am Main 1986, S. 857-935, dort S. 859, 864-865.

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„Blaue Blume“?

Die blaue Blume ist heute das zentrale Symbol für die Roman-tik. Erstmals verwendet hat es Novalis in seinem Fragmentgebliebenen Roman ‚Heinrich von Ofterdingen‘ (1802). Dieblaue Blume verkörpert die Sehnsucht schlechthin: nach Liebe,nach Freundschaft, nach der Einheit mit einem Ganzen odernach dem Geist der Poesie. Sie versinnbildlicht das ewige Wer-den und das sich Ausrichten auf die Unendlichkeit. Das Symbolverdichtet damit wesentliche Aspekte des romantischen Fühlensund wird zu einer überzeitlichen Metapher für die Sehnsucht.Dies klingt im ‚Heinrich von Ofterdingen‘ an, der als eines derfür die Epoche typischen Werke gesehen werden kann. Insbe-sondere von August Wilhelm und Friedrich Schlegel ist derRoman als Inbegriff des romantischen Romans bezeichnet wor-den. Der in zwei Teile gegliederte Roman schildert im erstenTeil ‚Die Erwartung‘ den Bildungsweg eines jungen Künstlers.Der Protagonist Heinrich fährt mit einer Kutsche gemeinsammit seiner Mutter zu seinem Großvater nach Augsburg underfährt in Gesprächen mit Mitreisenden und episodenhaftenBegebenheiten an den Rastorten eine innere Reifung. Die äuße-re Reise dient als Abbild der inneren Entwicklung. Doch derTraum von einer blauen Blume muss als Beginn einer Reisenach Innen betrachtet werden, einer Reise, die ihn in das Reichdes Irrationalen, des nicht mehr Erklärbaren, in das Reich derPoesie führen wird. Und dies löst sich von allem bisher Gehör-ten oder Gelesenen und folgt keinem literarischen Vorbild mehr.Der zweite Teil ‚Die Erfüllung‘ blieb Fragment; er sollte dieVerwandlung der Wirklichkeit in das Märchen der Phantasiebringen. Während der erste Teil formal mit volkstümlichen Ele-menten spielt, Märchen, Liedern und Balladen, zeugen dieFragmente des zweiten Teils von einer formalen Wandlung und

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poetischen Auflösung zum Gesang. Novalis schrieb darüber anFriedrich Schlegel: „Es sollte mir lieb seyn, wenn ihr Romanund Märchen in einer glücklichen Mischung zu bemerkenglaubtet, und der erste Theil euch eine noch innigere Mischungim 2ten Theile profezyhte. Der Roman soll allmälich in Märchenübergehn.“51 Dies ist bezeichnend für die Hochschätzung derPhantasie durch die Romantik – mit tieferer Bedeutung. Denndieser Phantasieentwurf ist weit mehr als eine Art Experiment,mehr als ein Gedankenspiel. Es zeugt von der Suche und demVordringen des romantischen Individuums in die Wirklichkeit.

7. Friedrich von Hardenberg gen. Novalis:Ein Mär chen

[...] Die lange Nacht war eben angegangen. Der alte Held schlugan seinen Schild, daß es weit umher in den öden Gassen derStadt erklang. Er wiederholte das Zeichen dreymal. Da fingendie hohen bunten Fenster des Pallastes an von innen heraus hellezu werden, und ihre Figuren bewegten sich. Sie bewegten sichlebhafter, je stärker das röthliche Licht ward, das die Gassen zuerleuchten begann. Auch sah man allmählich die gewaltigenSäulen und Mauern selbst sich erhellen; Endlich standen sie imreinsten, milchblauen Schimmer, und spielten mit den sanfte-sten Farben. Die ganze Gegend ward nun sichtbar, und der Wie-derschein der Figuren, das Getümmel der Spieße, der Schwerd-ter, der Schilder, und der Helme, die sich nach hier und daerscheinenden Kronen, von allen Seiten neigten, und endlichwie diese verschwanden, und einem schlichten, grünen KranzePlaz machten, um diesen her einen weiten Kreis schlossen: allesdies spiegelte sich in dem starren Meere, das den Berg umgab,auf dem die Stadt lag, und auch der ferne hohe Berggürtel, dersich rund um das Meer herzog, ward bis in die Mitte mit einemmilden Abglanz überzogen. Man konnte nichts deutlich unter-

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scheiden; doch hörte man ein wunderliches Getöse herüber, wieaus einer fernen ungeheuren Werkstatt. Die Stadt erschien dage-gen hell und klar. Ihre glatten, durchsichtigen Mauern warfendie schönen Strahlen zurück, und das vortreffliche Ebenmaaß,der edle Styl aller Gebäude, und ihre schöne Zusammenordnungkam zum Vorschein. Vor allen Fenstern standen zierlicheGefäße von Thon, voll der mannichfaltigsten Eis- und Schnee-blumen, die auf das anmuthigste funkelten.Am herrlichsten nahm sich auf dem großen Platze vor dem Pal-laste der Garten aus, der aus Metallbäumen und Krystallpflan-zen bestand, und mit bunten Edelsteinblüthen und Früchtenübersäet war. Die Mannichfaltigkeit und Zierlichkeit der Gestal-ten, und die Lebhaftigkeit der Lichter und Farben gewährten dasherrlichste Schauspiel, dessen Pracht durch einen hohen Spring-quell in der Mitte des Gartens, der zu Eis erstarrt war, vollendetwurde. Der alte Held ging vor den Thoren des Pallastes langsamvorüber. Eine Stimme rief seinen Namen im Innern. Er lehntesich an das Thor, das mit einem sanften Klange sich öffnete, undtrat in den Saal. Seinen Schild hielt er vor die Augen. Hast dunoch nichts entdeckt? sagte die schöne Tochter Arcturs, mit kla-gender Stimme. Sie lag an seidnen Polstern auf einem Throne,der von einem großen Schwefelkrystall künstlich erbaut war,und einige Mädchen rieben ämsig ihre zarten Glieder, die wieaus Milch und Purpur zusammengeflossen schienen. Nach allenSeiten strömte unter den Händen der Mädchen das reizendeLicht von ihr aus, was den Pallast so wundersam erleuchtete.Ein duftender Wind wehte im Saale. Der Held schwieg. Laßmich deinen Schild berühren, sagte sie sanft. Er näherte sichdem Throne und betrat den köstlichen Teppich. Sie ergriff seineHand, drückte sie mit Zärtlichkeit an ihren himmlischen Busenund rührte seinen Schild an. Seine Rüstung klang, und einedurchdringende Kraft beseelte seinen Körper. Seine Augenblitzten und das Herz pochte hörbar an den Panzer. Die schöneFreya schien heiterer, und das Licht ward brennender, das vonihr ausströmte. Der König kommt, rief ein prächtiger Vogel, der

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im Hintergrunde des Thrones saß. Die Dienerinnen legten einehimmelblaue Decke über die Prinzessin, die sie bis über denBusen bedeckte. Der Held senkte seinen Schild und sah nachder Kuppel hinauf, zu welcher zwey breite Treppen von beydenSeiten des Saals sich hinauf schlangen. Eine leise Musik gingdem Könige voran, der bald mit einem zahlreichen Gefolge inder Kuppel erschien und herunter kam.Der schöne Vogel entfaltete seine glänzenden Schwingen, be-wegte sie sanft und sang, wie mit tausend Stimmen, dem Köni-ge entgegen:

Nicht lange wird der schöne Fremde säumen.Die Wärme naht, die Ewigkeit beginnt.Die Königin erwacht aus langen Träumen,Wenn Meer und Land in Liebesglut zerrinnt.Die kalte Nacht wird diese Stätte räumen,Wenn Fabel erst das alte Recht gewinnt.In Freyas Schooß wird sich die Welt entzündenUnd jede Sehnsucht ihre Sehnsucht finden.

Der König umarmte seine Tochter mit Zärtlichkeit. Die Geisterder Gestirne stellten sich um den Thron, und der Held nahm inder Reihe seinen Platz ein. Eine unzählige Menge Sterne fülltenden Saal in zierlichen Gruppen. Die Dienerinnen brachten einenTisch und ein Kästchen, worin eine Menge Blätter lagen, aufdenen heilige tiefsinnige Zeichen standen, die aus lauter Stern-bildern zusammengesetzt waren. Der König küßte ehrfurchts-voll diese Blätter, mischte sie sorgfältig untereinander, undreichte seiner Tochter einige zu. Die andern behielt er für sich.Die Prinzessin zog sie nach der Reihe heraus und legte sie aufden Tisch, dann betrachtete der König die seinigen genau, undwählte mit vielem Nachdenken, ehe er eins dazu hinlegte.Zuweilen schien er gezwungen zu seyn, dies oder jenes Blatt zuwählen. Oft aber sah man ihm die Freude an, wenn er durch eingutgetroffenes Blatt eine schöne Harmonie der Zeichen undFiguren legen konnte. Wie das Spiel anfing, sah man an allenUmstehenden Zeichen der lebhaftesten Theilnahme, und die

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sonderbarsten Mienen und Gebehrden, gleichsam als hätte jederein unsichtbares Werkzeug in Händen, womit er eifrig arbeite.Zugleich ließ sich eine sanfte, aber tief bewegende Musik in derLuft hören, die von den im Saale sich wunderlich durcheinanderschlingenden Sternen, und den übrigen sonderbaren Bewegun-gen zu entstehen schien. Die Sterne schwangen sich, bald lang-sam bald schnell, in beständig veränderten Linien umher, undbildeten, nach dem Gange der Musik, die Figuren der Blätter aufdas kunstreichste nach. Die Musik wechselte, wie die Bilder aufdem Tische, unaufhörlich, und so wunderlich und hart auch dieÜbergänge nicht selten waren, so schien doch nur Ein einfachesThema das Ganze zu verbinden. Mit einer unglaublichen Leich-tigkeit flogen die Sterne den Bildern nach. Sie waren bald allein Einer großen Verschlingung, bald wieder in einzelne Haufenschön geordnet, bald zerstäubte der lange Zug, wie ein Strahl, inunzählige Funken, bald kam durch immer wachsende kleinereKreise und Muster wieder Eine große, überraschende Figur zumVorschein. Die bunten Gestalten in den Fenstern bliebenwährend dieser Zeit ruhig stehen. Der Vogel bewegte unaufhör-lich die Hülle seiner kostbaren Federn auf die mannichfaltigsteWeise. Der alte Held hatte bisher auch sein unsichtbaresGeschäft ämsig betrieben, als auf einmal der König voll Freu-den ausrief: Es wird alles gut. Eisen, wirf du dein Schwerdt indie Welt, daß sie erfahren, wo der Friede ruht. Der Held riß dasSchwerdt von der Hüfte, stellte es mit der Spitze gen Himmel,dann ergriff er es und warf es aus dem geöffneten Fenster überdie Stadt und das Eismeer. Wie ein Komet flog es durch dieLuft, und schien an dem Berggürtel mit hellem Klange zu zer-splittern, denn es fiel in lauter Funken herunter.Zu der Zeit lag der schöne Knabe Eros in seiner Wiege undschlummerte sanft, während Ginnistan seine Amme die Wiegeschaukelte und seiner Milchschwester Fabel die Brust reichte.Ihr buntes Halstuch hatte sie über die Wiege ausgebreitet, daßdie hellbrennende Lampe, die der Schreiber vor sich stehenhatte, das Kind mit ihrem Scheine nicht beunruhigen möchte.

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Der Schreiber schrieb unverdrossen, sah sich nur zuweilen mür-risch nach den Kindern um, und schnitt der Amme finstereGesichter, die ihn gutmüthig anlächelte und schwieg.Der Vater der Kinder ging immer ein und aus, indem er jedes-mal die Kinder betrachtete und Ginnistan freundlich begrüßte.Er hatte unaufhörlich dem Schreiber etwas zu sagen. Dieser ver-nahm ihn genau, und wenn er es aufgezeichnet hatte, reichte erdie Blätter einer edlen, göttergleichen Frau hin, die sich an einenAltar lehnte, auf welchem eine dunkle Schaale mit klarem Was-ser stand, in welches sie mit heiterm Lächeln blickte. Sie tauch-te die Blätter jedesmal hinein, und wenn sie bey’m Herausziehngewahr wurde, daß einige Schriften stehen geblieben und glän-zend geworden war, so gab sie das Blatt dem Schreiber zurück,der es in ein großes Buch heftete, und oft verdrießlich zu seynschien, wenn seine Mühe vergeblich gewesen und alles aus-gelöscht war. Die Frau wandte sich zu Zeiten gegen Ginnistanund die Kinder, tauchte den Finger in die Schaale, und sprützteeinige Tropfen auf sie hin, die, sobald sie die Amme, das Kind,oder die Wiege berührten, in einen blauen Dunst zerrannen, dertausend seltsame Bilder zeigte, und beständig um sie herzog undsich veränderte. Traf einer davon zufällig auf den Schreiber, sofielen eine Menge Zahlen und geometrische Figuren nieder, dieer mit vieler Ämsigkeit auf einen Faden zog, und sich zum Zier-rath um den magern Hals hing. Die Mutter des Knaben, die wiedie Anmuth und Lieblichkeit selbst aussah, kam oft herein. Sieschien beständig beschäftigt, und trug immer irgend ein StückHausgeräthe mit sich hinaus: bemerkte es der argwöhnische undmit spähenden Blicken sie verfolgende Schreiber, so begann ereine lange Strafrede, auf die aber kein Mensch achtete. Alleschienen seiner unnützen Widerreden gewohnt. Die Mutter gabauf einige Augenblicke der kleinen Fabel die Brust; aber baldward sie wieder abgerufen, und dann nahm Ginnistan das Kindzurück, das an ihr lieber zu trinken schien. Auf einmal brachteder Vater ein zartes eisernes Stäbchen herein, das er im Hofegefunden hatte. Der Schreiber besah es und drehte es mit vieler

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Lebhaftigkeit herum, und brachte bald heraus, daß es sich vonselbst, in der Mitte an einem Faden aufgehängt, nach Nordendrehe. Ginnistan nahm es auch in die Hand, bog es, drückte es,hauchte es an, und hatte ihm bald die Gestalt einer Schlangegegeben, die sich nun plötzlich in den Schwanz biß. Der Schrei-ber ward bald des Betrachtens überdrüßig. Er schrieb allesgenau auf, und war sehr weitläuftig über den Nutzen, den dieserFund gewähren könne. Wie ärgerlich war er aber, als seinganzes Schreibwerk die Probe nicht bestand, und das Papierweiß aus der Schaale hervorkam. Die Amme spielte fort. Zuwei-len berührte sie die Wiege damit, da fing der Knabe an wach zuwerden, schlug die Decke zurück, hielt die eine Hand gegen dasLicht, und langte mit der Andern nach der Schlange. Wie er sieerhielt, sprang er rüstig, daß Ginnistan erschrak, und der Schrei-ber beynah vor Entsetzen vom Stuhle fiel, aus der Wiege, stand,nur von seinen langen goldernen Haaren bedeckt, im Zimmer,und betrachtete mit unaussprechlicher Freude das Kleinod, dassich in seinen Händen nach Norden ausstreckte, und ihn heftigim Innern zu bewegen schien. Zusehends wuchs er.Sophie, sagte er mit rührender Stimme zu der Frau, laß mich ausder Schaale trinken. Sie reichte sie ihm ohne Anstand, und erkonnte nicht aufhören zu trinken, indem die Schaale sich immervoll zu erhalten schien. Endlich gab er sie zurück, indem er dieedle Frau innig umarmte. Er herzte Ginnistan, und bat sie umdas bunte Tuch, das er sich anständig um die Hüften band. Diekleine Fabel nahm er auf den Arm. Sie schien unendlichesWohlgefallen an ihm zu haben, und fing zu plaudern an. Ginni-stan machte sich viel um ihn zu schaffen. Sie sah äußerst reizendund leichtfertig aus, und drückte ihn mit der Innigkeit einerBraut an sich. Sie zog ihn mit heimlichen Worten nach der Kam-merthür, aber Sophie winkte ernsthaft und deutete nach derSchlange; da kam die Mutter herein, auf die er sogleich zuflogund sie mit heißen Thränen bewillkommte. Der Schreiber waringrimmig fortgegangen. Der Vater trat herein, und wie er Mut-ter und Sohn in stiller Umarmung sah, trat er hinter ihren

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Rücken zur reitzenden Ginnistan, und liebkoste ihr. Sophie stiegdie Treppe hinauf. Die kleine Fabel nahm die Feder des Schrei-bers und fing zu schreiben an. Mutter und Sohn vertieften sichin ein leises Gespräch, und der Vater schlich sich mit Ginnistanin die Kammer, um sich von den Geschäften des Tags in ihrenArmen zu erholen. Nach geraumer Zeit kam Sophie zurück. DerSchreiber trat herein. Der Vater kam aus der Kammer und gingan seine Geschäfte. Ginnistan kam mit glühenden Wangenzurück. Der Schreiber jagte die kleine Fabel mit vielenSchmähungen von seinem Sitze, und hatte einige Zeit nöthigseine Sachen in Ordnung zu bringen. Er reichte Sophien die vonFabel vollgeschriebenen Blätter, um sie rein zurück zu erhalten,gerieth aber bald in den äußersten Unwillen, wie Sophie dieSchrift völlig glänzend und unversehrt aus der Schaale zog undsie ihm hinlegte. Fabel schmiegte sich an ihre Mutter, die sie andie Brust nahm, und das Zimmer aufputzte, die Fenster öffnete,frische Luft hereinließ und Zubereitungen zu einem köstlichenMahle machte. Man sah durch die Fenster die herrlichsten Aus-sichten und einen heitern Himmel über die Erde gespannt. Aufdem Hofe war der Vater in voller Thätigkeit. Wenn er müde war,sah er hinauf ans Fenster, wo Ginnistan stand, und ihm aller-hand Näschereien herunterwarf. Die Mutter und der Sohn gin-gen hinaus, um überall zu helfen und den gefaßten Entschlußvorzubereiten. Der Schreiber rührte die Feder, und machteimmer eine Fratze, wenn er genöthigt war, Ginnistan um etwaszu fragen, die ein sehr gutes Gedächtniß hatte, und alles behielt,was sich zutrug. Eros kam bald in schöner Rüstung, um die dasbunte Tuch wie eine Schärpe gebunden war, zurück, und batSophie um Rath, wann und wie er seine Reise antreten solle.Der Schreiber war vorlaut, und wollte gleich mit einem aus-führlichen Reiseplan dienen, aber seine Vorschläge wurdenüberhört. Du kannst sogleich reisen; Ginnistan mag dich beglei-ten, sagte Sophie; sie weiß mit den Wegen Bescheid, und istüberall gut bekannt. Sie wird die Gestalt deiner Mutter anneh-

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men, um dich nicht in Versuchung zu führen. Findest du denKönig, so denke an mich; dann komme ich um dir zu helfen.Ginnistan tauschte ihre Gestalt mit der Mutter, worüber derVater sehr vergnügt zu seyn schien; der Schreiber freute sich,daß die beiden fortgingen; besonders da ihm Ginnistan ihr Ta-schenbuch zum Abschiede schenkte, worin die Chronik desHauses umständlich aufgezeichnet war; nur blieb ihm die klei-ne Fabel ein Dorn im Auge, und er hätte, um seiner Ruhe undZufriedenheit willen, nichts mehr gewünscht, als daß auch sieunter der Zahl der Abreisenden seyn möchte. Sophie segnete dieNiederknieenden ein, und gab ihnen ein Gefäß voll Wasser ausder Schaale mit; die Mutter war sehr bekümmert. Die kleineFabel wäre gern mitgegangen, und der Vater war zu sehr außerdem Hause beschäftigt, als daß er lebhaften Antheil hätte neh-men sollen. Es war Nacht, wie sie abreisten, und der Mondstand hoch am Himmel. Lieber Eros, sagte Ginnistan, wir müs-sen eilen, daß wir zu meinem Vater kommen, der mich langenicht gesehn und so sehnsuchtsvoll mich überall auf der Erdegesucht hat. Siehst du wohl sein bleiches abgehärmtes Gesicht?Dein Zeugniß wird mich ihm in der fremden Gestalt kenntlichmachen.

Die Liebe ging auf dunkler BahnVom Monde nur erblickt,Das Schattenreich war aufgethanUnd seltsam aufgeschmückt.

Ein blauer Dunst umschwebte sieMit einem goldnen Rand,Und eilig zog die FantasieSie über Strom und Land.

Es hob sich ihre volle BrustIn wunderbarem Muth;Ein Vorgefühl der künft’gen LustBesprach die wilde Glut.

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Die Sehnsucht klagt’und wußt’es nicht,Daß Liebe näher kam,Und tiefer grub in ihr GesichtSich hoffnungsloser Gram.

Die kleine Schlange blieb getreu:Sie wies nach Norden hin,Und beyde folgten sorgenfreyDer schönen Führerin.

Die Liebe ging durch WüsteneynUnd durch der Wolken Land,Trat in den Hof des Mondes einDie Tochter an der Hand.

Er saß auf seinem Silberthron,Allein mit seinem Harm;Da hört’er seines Kindes Ton,Und sank in ihren Arm.

Eros stand gerührt bey den zärtlichen Umarmungen. Endlichsammelte sich der alte erschütterte Mann, und bewillkommteseinen Gast. Er ergriff sein großes Horn und stieß mit vollerMacht hinein. Ein gewaltiger Ruf dröhnte durch die uralte Burg.Die spitzen Thürme mit ihren glänzenden Knöpfen und die tie-fen schwarzen Dächer schwankten. Die Burg stand still, dennsie war auf das Gebirge jenseits des Meers gekommen. Vonallen Seiten strömten seine Diener herzu, deren seltsame Gestal-ten und Trachten Ginnistan unendlich ergötzten, und den tapfernEros nicht erschreckten. Erstere grüßte ihre alten Bekannten,und alle erschienen vor ihr mit neuer Stärke und in der ganzenHerrlichkeit ihrer Naturen. Der ungestüme Geist der Flut folgteder sanften Ebbe. Die alten Orkane legten sich an die klopfendeBrust der heißen leidenschaftlichen Erdbeben. Die zärtlichenRegenschauer sahen sich nach dem bunten Bogen um, der vonder Sonne, die ihn mehr anzieht, entfernt, bleich da stand. Derrauhe Donner schalt über die Thorheiten der Blitze, hinter denunzähligen Wolken hervor, die mit tausend Reizen dastandenund die feurigen Jünglinge lockten. Die beyden lieblichen

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Schwestern, Morgen und Abend, freuten sich vorzüglich überdie beyden Ankömmlinge. Sie weinten sanfte Thränen in ihrenUmarmungen. Unbeschreiblich war der Anblick dieses wunder-lichen Hofstaats. Der alte König konnte sich an seiner Tochternicht satt sehen. Sie fühlte sich zehnfach glücklich in ihrerväterlichen Burg, und ward nicht müde die bekannten Wunderund Seltenheiten zu beschauen. Ihre Freude war ganz unbe-schreiblich, als ihr der König den Schlüssel zur Schatzkammerund die Erlaubniß gab, ein Schauspiel für Eros darin zu veran-stalten, das ihn so lange unterhalten könnte, bis das Zeichen desAufbruchs gegeben würde. Die Schatzkammer war ein großerGarten, dessen Mannichfaltigkeit und Reichthum alle Beschrei-bung übertraf. Zwischen den ungeheuren Wetterbäumen lagenunzählige Luftschlösser von überraschender Bauart, eins immerköstlicher, als das Andere. Große Heerden von Schäfchen, mitsilberweißer, goldner und rosenfarbner Wolle irrten umher, unddie sonderbarsten Thiere belebten den Hayn. Merkwürdige Bil-der standen hie und da, und die festlichen Aufzüge, die seltsa-men Wagen, die überall zum Vorschein kamen, beschäftigtendie Aufmerksamkeit unaufhörlich. Die Beete standen voll derbuntesten Blumen. Die Gebäude waren gehäuft voll von Waffenaller Art, voll der schönsten Teppiche, Tapeten, Vorhänge,Trinkgeschirre und aller Arten von Geräthen und Werkzeugen,in unübersehlichen Reihen. Auf einer Anhöhe erblickten sie einromantisches Land, das mit Städten und Burgen, mit Tempelnund Begräbnissen übersäet war, und alle Anmuth bewohnterEbenen mit den furchtbaren Reizen der Einöde und schrofferFelsengegenden vereinigte. Die schönsten Farben waren in denglücklichsten Mischungen. Die Bergspitzen glänzten wie Lust-feuer in ihren Eis- und Schneehüllen. Die Ebene lachte im fri-schesten Grün. Die Ferne schmückte sich mit allen Veränderun-gen von Blau, und aus der Dunkelheit des Meeres wehtenunzählige bunte Wimpel von zahlreichen Flotten. Hier sah maneinen Schiffbruch im Hintergrunde, und vorne ein ländliches

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fröliches Mahl von Landleuten; dort den schrecklich schönenAusbruch eines Vulkans, die Verwüstungen des Erdbebens, undim Vordergrunde ein liebendes Paar unter schattenden Bäumenin den süßesten Liebkosungen. Abwärts eine fürchterlicheSchlacht, und unter ihr ein Theater voll der lächerlichsten Mas-ken. Nach einer andern Seite im Vordergrunde einen jugendli-chen Leichnam auf der Baare, die ein trostloser Geliebter fest-hielt, und die weinenden Eltern daneben; im Hintergrunde eineliebliche Mutter mit dem Kinde an der Brust und Engel sitzendzu ihren Füßen, und aus den Zweigen über ihrem Haupte her-unterblickend. Die Szenen verwandelten sich unaufhörlich, undflossen endlich in eine große geheimnißvolle Vorstellungzusammen. Himmel und Erde waren in vollem Aufruhr. AlleSchrecken waren losgebrochen. Eine gewaltige Stimme rief zuden Waffen. Ein entsetzliches Heer von Todtengerippen, mitschwarzen Fahnen, kam wie ein Sturm von dunkeln Bergen her-unter, und griff das Leben an, das mit seinen jugendlichenSchaaren in der hellen Ebene in muntern Festen begriffen war,und sich keines Angriffs versah. Es entstand ein entsetzlichesGetümmel, die Erde zitterte; der Sturm brauste, und die Nachtward von fürchterlichen Meteoren erleuchtet. Mit unerhörtenGrausamkeiten zerriß das Heer der Gespenster die zarten Glie-der der Lebendigen. Ein Scheiterhaufen thürmte sich empor,und unter dem grausenvollsten Geheul wurden die Kinder desLebens von den Flammen verzehrt. Plötzlich brach aus demdunklen Aschenhaufen ein milchblauer Strom nach allen Seitenaus. Die Gespenster wollten die Flucht ergreifen, aber die Flutwuchs zusehends, und verschlang die scheusliche Brut. Baldwaren alle Schrecken vertilgt. Himmel und Erde flossen in süßeMusik zusammen. Eine wunderschöne Blume schwamm glän-zend auf den sanften Wogen. Ein glänzender Bogen schloß sichüber die Flut auf welchem göttliche Gestalten auf prächtigenThronen, nach beyden Seiten herunter, saßen. Sophie saß zuoberst, die Schaale in der Hand, neben einem herrlichen Manne,mit einem Eichenkranze um die Locken, und einer Friedens-

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palme statt des Szepters in der Rechten. Ein Lilienblatt bog sichüber den Kelch der schwimmenden Blume; die kleine Fabel saßauf demselben, und sang zur Harfe die süßesten Lieder. In demKelche lag Eros selbst, über ein schönes schlummerndesMädchen hergebeugt, die ihn fest umschlungen hielt. Eine klei-nere Blüthe schloß sich um beyde her, so daß sie von den Hüf-ten an in Eine Blume verwandelt zu seyn schienen.Eros dankte Ginnistan mit tausend Entzücken. Er umarmte siezärtlich, und sie erwiederte seine Liebkosungen. Ermüdet vonder Beschwerde des Weges und den mannichfaltigen Gegen-ständen, die er gesehen hatte, sehnte er sich nach Bequemlich-keit und Ruhe. Ginnistan, die sich von dem schönen Jünglinglebhaft angezogen fühlte, hütete sich wohl des Trankes zu er-wähnen, den Sophie ihm mitgegeben hatte. Sie führte ihn zueinem abgelegenen Bade, zog ihm die Rüstung aus, und zogselbst ein Nachtkleid an, in welchem sie fremd und verführe-risch aussah. Eros tauchte sich in die gefährlichen Wellen, undstieg berauscht wieder heraus. Ginnistan trocknete ihn, und riebseine starken, von Jugendkraft gespannten Glieder. Er gedachtemit glühender Sehnsucht seiner Geliebten, und umfaßte insüßem Wahne die reitzende Ginnistan. Unbesorgt überließ ersich seiner ungestümen Zärtlichkeit, und schlummerte endlichnach den wollüstigsten Genüssen an dem reizenden Busen sei-ner Begleiterin ein.Unterdessen war zu Hause eine traurige Veränderung vorge-gangen. Der Schreiber hatte das Gesinde in eine gefährlicheVerschwörung verwickelt. Sein feindseliges Gemüth hattelängst Gelegenheit gesucht, sich des Hausregiments zu be-mächtigen, und sein Joch abzuschütteln. Er hatte sie gefunden.Zuerst bemächtigte sich sein Anhang der Mutter, die in eiserneBande gelegt wurde. Der Vater ward bey Wasser und Brod eben-falls hingesetzt. Die kleine Fabel hörte den Lärm im Zimmer.Sie verkroch sich hinter dem Altare, und wie sie bemerkte, daßeine Thür an seiner Rückseite verborgen war, so öffnete sie die-selbe mit vieler Behendigkeit, und fand, daß eine Treppe in ihm

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hinunterging. Sie zog die Tür nach sich, und stieg im Dunkelndie Treppe hinunter. Der Schreiber stürzte mit Ungestüm herein,um sich an der kleinen Fabel zu rächen, und Sophien gefangenzu nehmen. Beyde waren nicht zu finden. Die Schaale fehlteauch, und in seinem Grimme zerschlug er den Altar in tausendStücke, ohne jedoch die heimliche Treppe zu entdecken.Die kleine Fabel stieg geraume Zeit. Endlich kam sie auf einenfreyen Platz hinaus, der rund herum mit einer prächtigen Co-lonnade geziert, und durch ein großes Thor geschlossen war.Alle Figuren waren hier dunkel. Die Luft war wie ein ungeheu-rer Schatten; am Himmel stand ein schwarzer strahlender Kör-per. Man konnte alles auf das deutlichste unterscheiden, weiljede Figur einen andern Anstrich von Schwarz zeigte, und einenlichten Schein hinter sich, warf; Licht und Schatten schienenhier ihre Rollen vertauscht zu haben. Fabel freute sich in einerneuen Welt zu seyn. Sie besah alles mit kindlicher Neugierde.Endlich kam sie an das Thor, vor welchem auf einem massivenPostument52 eine schöne Sphinx lag.Was suchst du? sagte die Sphinx; mein Eigenthum, erwiederteFabel. – Wo kommst du her? – Aus alten Zeiten; – Du bist nochein Kind – Und werde ewig ein Kind seyn. – Wer wird dir bey-stehn? – Ich stehe für mich. Wo sind die Schwestern, fragteFabel? – Überall und nirgends, gab die Sphinx zur Antwort. –Kennst du mich? – noch nicht. – Wo ist die Liebe? – In der Ein-bildung. – Und Sophie? – Die Sphinx murmelte unvernehmlichvor sich hin, und rauschte mit den Flügeln. Sophie und Liebe,rief triumphirend Fabel, und ging durch das Thor. Sie trat in dieungeheure Höhle, und ging frölich auf die alten Schwestern zu,die bey der kärglichen Nacht einer schwarzbrennenden Lampeihr wunderliches Geschäft trieben. Sie thaten nicht, als ob sieden kleinen Gast bemerkten, der mit artigen Liebkosungen sichgeschäftig um sie erzeigte. Endlich krächzte die eine mit rauhenWorten und scheelem Gesicht: Was willst du hier, Müßiggänge-rin? wer hat dich eingelassen? Dein kindisches Hüpfen bewegtdie stille Flamme. Das Öl verbrennt unnützer Weise. Kannst du

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dich nicht hinsetzen und etwas vornehmen? – Schöne Base,sagte Fabel, am Müßiggehn ist mir nichts gelegen. Ich mußterecht über eure Thürhüterin lachen. Sie hätte mich gern an dieBrust genommen, aber sie mußte zu viel gegessen haben, siekonnte nicht aufstehn. Laßt mich vor der Thür sitzen, und gebtmir etwas zu spinnen; denn hier kann ich nicht gut sehen, undwenn ich spinne, muß ich singen und plaudern dürfen, und daskönnte euch in euren ernsthaften Gedanken stören. – Hinaussollst du nicht, aber in der Nebenkammer bricht ein Strahl derOberwelt durch die Felsritzen, da magst du spinnen, wenn du sogeschickt bist; hier liegen ungeheure Haufen von alten Enden,die drehe zusammen; aber hüte dich: wenn du saumseligspinnst, oder der Faden reißt, so schlingen sich die Fäden umdich her und ersticken dich. – Die Alte lachte hämisch, undspann. Fabel raffte einen Arm voll Fäden zusammen, nahmWocken53 und Spindel, und hüpfte singend in die Kammer. Siesah durch die Öffnung hinaus, und erblickte das Sternbild desPhönixes. Froh über das glückliche Zeichen fing sie an lustig zuspinnen, ließ die Kammerthür ein wenig offen, und sang halb-leise:

Erwacht in euren Zellen,Ihr Kinder alter Zeit;Laßt eure Ruhestellen,Der Morgen ist nicht weit.

Ich spinne eure FädenIn Einen Faden ein;Aus ist die Zeit der Fehden.Ein Leben sollt’ihr seyn.

Ein jeder lebt in Allen,Und All’ in Jedem auch.Ein Herz wird in euch wallen,Von Einem Lebenshauch.

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Noch seyd ihr nichts als Seele,Nur Traum und Zauberey.Geht furchtbar in die HöhleUnd neckt die heil’ge Drey.

Die Spindel schwang sich mit unglaublicher Behendigkeit zwi-schen den kleinen Füßen; während sie mit beyden Händen denzarten Faden drehte. Unter dem Liede wurden unzählige Lich-terchen sichtbar, die aus der Thürspalte schlüpften und durch dieHöhle in scheuslichen Larven sich verbreiteten. Die Alten hat-ten während der Zeit immer mürrisch fortgesponnen, und aufdas Jammergeschrey der kleinen Fabel gewartet, aber wie ent-setzten sie sich, als auf einmal eine erschreckliche Nase überihre Schultern guckte, und wie sie sich umsahen, die ganzeHöhle voll der gräßlichsten Figuren war, die tausenderley Unfugtrieben. Sie fuhren in einander, heulten mit fürchterlicher Stim-me, und wären vor Schrecken zu Stein geworden, wenn nicht indiesem Augenblicke der Schreiber in die Höhle getreten wäre,und eine Alraunwurzel bey sich gehabt hätte. Die Lichterchenverkrochen sich in die Felsklüfte und die Höhle wurde ganzhell, weil die schwarze Lampe in der Verwirrung umgefallenund ausgelöscht war. Die Alten waren froh, wie sie den Schrei-ber kommen hörten, aber voll Ingrimms gegen die kleine Fabel.Sie riefen sie heraus, schnarchten sie fürchterlich an und verbo-ten ihr fortzuspinnen. Der Schreiber schmunzelte höhnisch, weiler die kleine Fabel nun in seiner Gewalt zu haben glaubte undsagte: Es ist gut, daß du hier bist und zur Arbeit angehalten wer-den kannst. Ich hoffe, daß es an Züchtigungen nicht fehlen soll.Dein guter Geist hat dich hergeführt. Ich wünsche dir langesLeben und viel Vergnügen. – Ich danke dir für deinen guten Wil -len, sagte Fabel; man sieht dir jetzt die gute Zeit an; dir fehlt nurnoch das Stundenglas und die Hippe,54 so siehst du ganz wie derBruder meiner schönen Basen aus. Wenn du Gänsespulenbrauchst, so zupfe ihnen nur eine Handvoll zarten Pflaum ausden Wangen. Der Schreiber schien Miene zu machen, über sieherzufallen. Sie lächelte und sagte: Wenn dir dein schöner Haar-

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wuchs und dein geistreiches Auge lieb sind, so nimm dich inAcht; bedenke meine Nägel, du hast nicht viel mehr zu verlie-ren. Er wandte sich mit verbißner Wuth zu den Alten, die sichdie Augen wischten, und nach ihren Wocken umhertappten. Siekonnten nichts finden, da die Lampe ausgelöscht war, undergossen sich in Schimpfreden gegen Fabel. Laßt sie doch gehn,sprach er tückisch, daß sie euch Taranteln fange, zur Bereitungeures Öls. Ich wollte euch zu euerm Troste sagen, daß Eros ohneRast umherfliegt, und eure Scheere fleißig beschäftigen wird.Seine Mutter, die euch so oft zwang, die Fäden länger zu spin-nen, wird morgen ein Raub der Flammen. Er kitzelte sich, umzu lachen, wie er sah,55 daß Fabel einige Thränen bey dieserNachricht vergoß, gab ein Stück von der Wurzel der Alten, undging naserümpfend von dannen. Die Schwestern hießen derFabel mit zorniger Stimme Taranteln suchen, ohngeachtet sienoch Öl vorräthig hatten, und Fabel eilte fort. Sie that, als öffnesie das Thor, warf es ungestüm wieder zu, und schlich sich leisenach dem Hintergrunde der Höhle, wo eine Leiter herunter hing.Sie kletterte schnell hinauf, und kam bald vor eine Fallthür, diesich in Arkturs Gemach öffnete.Der König saß umringt von seinen Räthen, als Fabel erschien.Die nördliche Krone zierte sein Haupt. Die Lilie hielt er mit derLinken, die Wage in der Rechten. Der Adler und Löwe saßen zuseinen Füßen. Monarch, sagte die Fabel, indem sie sich ehr-furchtsvoll vor ihm neigte; Heil deinem festgegründeten Thro-ne! frohe Botschaft deinem verwundeten Herzen! baldige Rück-kehr der Weisheit! Ewiges Erwachen dem Frieden! Ruhe derrastlosen Liebe! Verklärung des Herzens! Leben dem Alterthumund Gestalt der Zukunft! Der König berührte ihre offene Stirnmit der Lilie: Was du bittest, sey dir gewährt. – Dreymal werdeich bitten, wenn ich zum viertenmale komme, so ist die Liebevor der Thür. Jetzt gieb mir die Leyer. – Eridanus! bringe sie her,rief der König. Rauschend strömte Eridanus von der Decke, undFabel zog die Leyer aus seinen blinkenden Fluten.

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Fabel that einige weißagende Griffe; der König ließ ihr denBecher reichen, aus dem sie nippte und mit vielen Danksagun-gen hinweg eilte. Sie glitt in reizenden Bogenschwüngen überdas Eismeer, indem sie fröliche Musik aus den Saiten lockte.Das Eis gab unter ihren Tritten die herrlichsten Töne von sich.Der Felsen der Trauer hielt sie für Stimmen seiner suchendenrückkehrenden Kinder, und antwortete in einem tausendfachenEcho.Fabel hatte bald das Gestade erreicht. Sie begegnete ihrer Mut-ter, die abgezehrt und bleich aussah, schlank und ernst gewor-den war, und in edlen Zügen die Spuren eines hoffnungslosenGrams, und rührender Treue verrieth.Was ist aus dir geworden, liebe Mutter? sagte Fabel, du scheinstmir gänzlich verändert; ohne inneres Anzeichen hätt’ich dichnicht erkannt. Ich hoffte mich an deiner Brust einmal wieder zuerquicken; ich habe lange nach dir geschmachtet. Ginnistanliebkoste sie zärtlich, und sah heiter und freundlich aus. Ichdachte es gleich, sagte sie, daß dich der Schreiber nicht würdegefangen haben. Dein Anblick erfrischt mich. Es geht mirschlimm und knapp genug, aber ich tröste mich bald. Vielleichthabe ich einen Augenblick Ruhe. Eros ist in der Nähe, und wenner dich sieht, und du ihm vorplauderst, verweilt er vielleichteinige Zeit. Indeß kannst du dich an meine Brust legen; ich willdir geben, was ich habe. Sie nahm die Kleine auf den Schooß,reichte ihr die Brust, und fuhr fort, indem sie lächelnd auf dieKleine hinunter sah, die es sich gut schmecken ließ. Ich binselbst Ursach, daß Eros so wild und unbeständig geworden ist.Aber mich reut es dennoch nicht, denn jene Stunden, die ich inseinen Armen zubrachte, haben mich zur Unsterblichengemacht. Ich glaubte unter seinen feurigen Liebkosungen zuzerschmelzen. Wie ein himmlischer Räuber schien er michgrausam vernichten und stolz über sein bebendes Opfer trium-phiren zu wollen. Wir erwachten spät aus dem verbotenen Rau-sche, in einem sonderbar vertauschten Zustande. Lange silber-weiße Flügel bedeckten seine weißen Schultern, und die reit-

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zende Fülle und Biegung seiner Gestalt. Die Kraft, die ihn soplötzlich aus einem Knaben zum Jünglinge quellend getrieben,schien sich ganz in die glänzenden Schwingen gezogen zuhaben, und er war wieder zum Knaben geworden. Die stille Glutseines Gesichts war in das tändelnde Feuer eines Irrlichts, derheilige Ernst in verstellte Schalkheit, die bedeutende Ruhe inkindische Unstätigkeit, der edle Anstand in drollige Beweglich-keit verwandelt. Ich fühlte mich von einer ernsthaften Leiden-schaft unwiderstehlich zu dem muthwilligen Knaben gezogen,und empfand schmerzlich seinen lächelnden Hohn, und seineGleichgültigkeit gegen meine rührendsten Bitten. Ich sah meineGestalt verändert. Meine sorglose Heiterkeit war verschwun-den, und hatte einer traurigen Bekümmerniß, einer zärtlichenSchüchternheit Platz gemacht. Ich hät[tte]56 mich mit Eros vorallen Augen verbergen mögen. Ich hatte nicht das Herz in seinebeleidigenden Augen zu sehn, und fühlte mich entsetzlichbeschämt und erniedrigt. Ich hatte keinen andern Gedanken, alsihn, und hätte mein Leben hingegeben, um ihn von seinen Unar-ten zu befreyen. Ich mußte ihn anbeten, so tief er auch allemeine Empfindungen kränkte.Seit der Zeit, wo er sich aufmachte und mir entfloh, so rührendich auch mit den heißesten Thränen ihn beschwor, bey mir zubleiben, bin ich ihm überall gefolgt. Er scheint es ordentlich dar-auf anzulegen, mich zu necken. Kaum habe ich ihn erreicht, sofliegt er tückisch weiter. Sein Bogen richtet überall Verwüstun-gen an. Ich habe nichts zu thun, als die Unglücklichen zu trö-sten, und habe doch selbst Trost nöthig. Ihre Stimmen, die michrufen, zeigen mir seinen Weg, und ihre wehmüthigen Klagen,wenn ich sie wieder verlassen muß, gehen mir tief zu Herzen.Der Schreiber verfolgt uns mit entsetzlicher Wuth, und rächtsich an den armen Getroffenen. Die Frucht jener geheimnißvol-len Nacht, waren eine zahlreiche Menge wunderlicher Kinder,die ihrem Großvater ähnlich sehn, und nach ihm genannt sind.Geflügelt wie ihr Vater begleiten sie ihn beständig, und plagendie Armen, die sein Pfeil trifft. Doch da kömmt der fröliche Zug.

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Ich muß fort; lebe wohl, süßes Kind. Sei[ne] Nähe erregt meineLeidenschaft. Sey glücklich in deinem Vorhaben. – Eros zogweiter, ohne Ginnistan, die auf ihn zueilte, einen zärtlichenBlick zu gönnen. Aber zu Fabel wandte er sich freundlich, undseine kleinen Begleiter tanzten fröhlich um sie her. Fabel freutesich, ihren Milchbruder wieder zu sehn, und sang zu ihrer Leyerein munteres Lied. Eros schien sich besinnen zu wollen und ließden Bogen fallen. Die Kleinen entschliefen auf dem Rasen. Gin-nistan konnte ihn fassen, und er litt ihre zärtlichen Liebkosun-gen. Endlich fing Eros auch an zu nicken, schmiegte sich anGinnistans Schooß, und schlummerte ein, indem er seine Flügelüber sie ausbreitete. Unendlich froh war die müde Ginnistan,und verwandte kein Auge von dem holden Schläfer. Währenddes Gesanges waren von allen Seiten Taranteln zum Vorscheingekommen, die über die Grashalme ein glänzendes Netz zogen,und lebhaft nach dem Takte sich an ihren Fäden bewegten.Fabel tröstete nun ihre Mutter, und versprach ihr baldige Hülfe.Vom Felsen tönte der sanfte Wiederhall der Musik, und wiegtedie Schläfer ein. Ginnistan sprengte aus dem wohlverwahrtenGefäß einige Tropfen in die Luft, und die anmuthigsten Träumefielen auf sie nieder. Fabel nahm das Gefäß mit und setzte ihreReise fort. Ihre Saiten ruhten nicht, und die Taranteln folgtenauf schnellgesponnenen Fäden den bezaubernden Tönen.Sie sah bald von weitem die hohe Flamme des Scheiterhaufens,die über den grünen Wald emporstieg. Traurig sah sie gen Him-mel, und freute sich, wie sie Sophieens blauen Schleyer erblick-te, der wallend über der Erde schwebte, und auf ewig die unge-heure Gruft bedeckte. Die Sonne stand feuerroth vor Zorn amHimmel, die gewaltige Flamme sog an ihrem geraubten Lichte,und so heftig sie es auch an sich zu halten schien, so ward siedoch immer bleicher und fleckiger. Die Flamme ward weißerund mächtiger, je fahler die Sonne ward. Sie sog das Licht immerstärker in sich und bald war die Glorie um das Gestirn des Tagesverzehrt und nur als eine matte, glänzende Scheibe stand es nochda, indem jede neue Regung des Neides und der Wuth den Aus-

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bruch der entfliehenden Lichtwellen vermehrte. Endlich warnichts von der Sonne mehr übrig, als eine schwarze ausgebrann-te Schlacke, die herunter ins Meer fiel. Die Flamme war überallen Ausdruck glänzend geworden. Der Scheiterhaufen war ver-zehrt. Sie hob sich langsam in die Höhe und zog nach Norden.Fabel trat in den Hof, der verödet aussah; das Haus war unterdeßverfallen. Dornsträuche wuchsen in den Ritzen der Fensterge-simse und Ungeziefer aller Art kribbelte auf den zerbrochenenStiegen. Sie hörte im Zimmer einen entsetzlichen Lärm; derSchreiber und seine Gesellen hatten sich an dem Flammentodeder Mutter geweidet, waren aber gewaltig erschrocken, wie sieden Untergang der Sonne wahrgenommen hatten.Sie hatten sich vergeblich angestrengt, die Flamme zu löschen,und waren bey dieser Gelegenheit nicht ohne Beschädigungengeblieben. Der Schmerz und die Angst preßte ihnen entsetzlicheVerwünschungen und Klagen aus. Sie erschraken noch mehr, alsFabel ins Zimmer trat, und stürmten mit wüthendem Geschreyauf sie ein, um an ihr den Grimm auszulassen. Fabel schlüpftehinter die Wiege, und ihre Verfolger traten ungestüm in dasGewebe der Taranteln, die sich durch unzählige Bisse an ihnenrächten. Der ganze Haufen fing nun toll an zu tanzen, wozuFabel ein lustiges Lied spielte. Mit vielem Lachen über ihre pos-sierlichen Fratzen ging sie auf die Trümmer des Altars zu, undräumte sie weg, um die verborgene Treppe zu finden, auf der siemit ihrem Tarantelgefolge hinunter stieg. Die Sphinx fragte:Was kommt plötzlicher, als der Blitz? – Die Rache, sagte Fabel.– Was ist am vergänglichsten? – Unrechter Besitz. – Wer kenntdie Welt? – Wer sich selbst kennt. – Was ist das ewige Geheim-niß? – Die Liebe. – Bey wem ruht es? – Bei Sophieen. DieSphinx krümmte sich kläglich, und Fabel trat in die Höhle.Hier bringe ich euch Taranteln, sagte sie zu den Alten, die ihreLampe wieder angezündet hatten und sehr ämsig arbeiteten. Sieerschraken, und die eine lief mit der Scheere auf sie zu, um siezu erstechen. Unversehens trat sie auf eine Tarantel, und diesestach sie in den Fuß. Sie schrie erbärmlich. Die andern wollten

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ihr zu Hülfe kommen und wurden ebenfalls von den erzürntenTaranteln gestochen. Sie konnten sich nun nicht an Fabel ver-greifen, und sprangen wild umher. Spinn’uns gleich, riefen siegrimmig der Kleinen zu, leichte Tanzkleider. Wir können uns inden steifen Röcken nicht rühren, und vergehn fast vor Hitze,aber mit Spinnensaft mußt du den Faden einweichen, daß ernicht reißt, und wirke Blumen hinein, die im Feuer gewachsensind, sonst bist du des Todes. – Recht gern, sagte Fabel und gingin die Nebenkammer.Ich will euch drey tüchtige Fliegen verschaffen, sagte sie zu denKreuzspinnen, die ihre luftigen Gewebe rund um an der Deckeund den Wänden angeheftet hatten, aber ihr müßt mir gleichdrey hübsche, leichte Kleider spinnen. Die Blumen, die hineingewirkt werden sollen, will ich auch gleich bringen. Die Kreuz-spinnen waren bereit und fingen rasch zu weben an. Fabelschlich sich zur Leiter und begab sich zu Arktur. Monarch sagtesie, die Bösen tanzen, die Guten ruhn. Ist die Flamme ange-kommen? – Sie ist angekommen, sagte der König. Die Nacht istvorbey und das Eis schmilzt. Meine Gattin zeigt sich von wei-tem. Meine Feindinn ist versenkt. Alles fängt zu leben an. Nochdarf ich mich nicht sehn lassen, denn allein bin ich nicht König.Bitte was du willst. – Ich brauche, sagte Fabel, Blumen, die imFeuer gewachsen sind. Ich weiß, du hast einen geschicktenGärtner, der sie zu ziehen versteht. – Zink, rief der König, giebuns Blumen. Der Blumengärtner trat aus der Reihe, holte einenTopf voll Feuer, und säete glänzenden Samenstaub hinein. Eswährte nicht lange, so flogen die Blumen empor. Fabel sam-melte sie in ihre Schürze, und machte sich auf den Rückweg.Die Spinnen waren fleißig gewesen, und es fehlte nichts mehr,als das Anheften der Blumen, welches sie sogleich mit vielemGeschmack und Behendigkeit begannen. Fabel hütete sich wohldie Enden abzureißen, die noch an den Weberinnen hingen. Sie trug die Kleider den ermüdeten Tänzerinnen hin, die trie-fend von Schweiß umgesunken waren, und sich einige Augen-blicke von der ungewohnten Anstrengung erholten. Mit vieler

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Geschicklichkeit entkleidete sie die hagern Schönheiten, die esan Schmähungen der kleinen Dienerin nicht fehlen ließen, undzog ihnen die neuen Kleider an, die sehr niedlich gemachtwaren und vortrefflich paßten. Sie pries während diesesGeschäftes die Reize und den liebenswürdigen Charakter ihrerGebieterinnen, und die Alten schienen ordentlich erfreut überdie Schmeicheleyen und die Zierlichkeit des Anzuges. Sie hat-ten sich unterdeß erholt, und fingen von neuer Tanzlust beseeltwieder an, sich munter umherzudrehen, indem sie heimtückischder Kleinen langes Leben und große Belohnungen versprachen.Fabel ging in die Kammer zurück, und sagte zu den Kreuzspin-nen: Ihr könnt nun die Fliegen getrost verzehren, die ich in eureWeben gebracht habe. Die Spinnen waren so schon ungeduldigüber das hin- und herreißen, da die Enden noch in ihnen warenund die Alten so toll umhersprangen; sie rannten also hinaus,und fielen über die Tänzerinnen her; diese wollten sich mit derScheere vertheidigen, aber Fabel hatte sie in aller Stille mitge-nommen. Sie unterlagen also ihren hungrigen Handwerksgenos-sen, die lange keine so köstlichen Bissen geschmeckt hatten,und sie bis auf das Mark aussaugten. Fabel sah durch die Fel-senkluft hinaus, und erblickte den Perseus mit dem großeneisernen Schilde. Die Scheere flog von selbst dem Schilde zu,und Fabel bat ihn, Eros Flügel damit zu verschneiden, und dannmit seinem Schilde die Schwestern zu verewigen, und das großeWerk zu vollenden.Sie verließ nun das unterirdische Reich, und stieg frölich zuArkturs Pallaste.Der Flachs ist versponnen. Das Leblose ist wieder entseelt. DasLebendige wird regieren, und das Leblose bilden und gebrau-chen. Das Innere wird offenbart, und das Äußre verborgen. DerVorhang wird sich bald heben, und das Schauspiel seinenAnfang nehmen. Noch einmal bitte ich, dann spinne ich Tageder Ewigkeit. – Glückliches Kind, sagte der gerührte Monarch,du bist unsre Befreyerin. – Ich bin nichts als Sophiens Pathe,sagte die Kleine. Erlaube daß Turmalin, der Blumengärtner, und

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Gold mich begleiten. Die Asche meiner Pflegemutter muß ichsammeln, und der alte Träger muß wieder aufstehn, daß die Erdewieder schwebe und nicht auf dem Chaos liege.Der König rief allen Dreyen, und befahl ihnen, die Kleine zubegleiten. Die Stadt war hell, und auf den Straßen war ein leb-haftes Verkehr. Das Meer brach sich brausend an der hohlenKlippe, und Fabel fuhr auf des Königs Wagen mit ihren Beglei-tern hinüber. Turmalin sammelte sorgfältig die auffliegendeAsche. Sie gingen rund um die Erde, bis sie an den alten Riesenkamen, an dessen Schultern sie hinunter klimmten. Er schienvom Schlage gelähmt, und konnte kein Glied rühren. Gold legteihm eine Münze in den Mund, und der Blumengärtner schobeine Schüssel unter seine Lenden. Fabel berührte ihm dieAugen, und goß das Gefäß auf seiner Stirn aus. So wie das Was-ser über das Auge in den Mund und herunter über ihn in dieSchüssel floß, zuckte ein Blitz des Lebens ihm in allen Muskeln.Er schlug die Augen auf und hob sich rüstig empor. Fabel sprangzu ihren Begleitern auf die steigende Erde, und bot ihm freund-lich guten Morgen. Bist du wieder da, liebliches Kind? sagte derAlte; habe ich doch immer von dir geträumt. Ich dachte immer,du würdest erscheinen, ehe mir die Erde und die Augen zuschwer würden. Ich habe wohl lange geschlafen. Die Erde istwieder leicht, wie sie es immer den Guten war, sagte Fabel. Diealten Zeiten kehren zurück. In Kurzem bist du wieder unter altenBekannten. Ich will dir fröliche Tage spinnen, und an einemGehülfen soll es auch nicht fehlen, damit du zuweilen an unsernFreuden Theil nehmen, und im Arm einer Freundinn Jugend undStärke einathmen kannst. Wo sind unsere alten Gastfreundin-nen, die Hesperiden? – An Sophiens Seite. Bald wird ihr Gartenwieder blühen, und die goldne Frucht duften. Sie gehen umherund sammeln die schmachtenden Pflanzen.Fabel entfernte sich, und eilte dem Hause zu. Es war zu völligenRuinen geworden. Epheu umzog die Mauern. Hohe Büschebeschatteten den ehmaligen Hof, und weiches Moos polstertedie alten Stiegen. Sie trat ins Zimmer. Sophie stand am Altar,

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der wieder aufgebaut war. Eros lag zu ihren Füßen in vollerRüstung, ernster und edler als jemals. Ein prächtiger Kron-leuchter hing von der Decke. Mit bunten Steinen war der Fuß-boden ausgelegt, und zeigte einen großen Kreis um den Altarher, der aus lauter edlen bedeutungsvollen Figuren bestand.Ginnistan bog sich über ein Ruhebett, worauf der Vater in tie-fem Schlummer zu liegen schien, und weinte. Ihre blühendeAnmuth war durch einen Zug von Andacht und Liebe unendlicherhöht. Fabel reichte die Urne, worin die Asche gesammelt war,der heiligen Sophie, die sie zärtlich umarmte.Liebliches Kind, sagte sie, dein Eifer und deine Treue haben direinen Platz unter den ewigen Sternen erworben. Du hast dasUnsterbliche in dir gewählt. Der Phönix gehört dir. Du wirst dieSeele unsers Lebens seyn. Jetzt wecke den Bräutigam auf. DerHerold ruft, und Eros soll Freya suchen und aufwecken.Fabel freute sich unbeschreiblich bey diesen Worten. Sie riefihren Begleitern Gold und Zink, und nahte sich dem Ruhebette.Ginnistan sah erwartungsvoll ihrem Beginnen zu. Gold schmolzdie Münze und füllte das Behältniß, worin der Vater lag, miteiner glänzenden Flut. Zink schlang um Ginnistans Busen eineKette. Der Körper schwamm auf den zitternden Wellen. Bückedich, liebe Mutter, sagte Fabel, und lege die Hand auf das Herzdes Geliebten.Ginnistan bückte sich. Sie sah ihr vielfaches Bild. Die Ketteberührte die Flut, ihre Hand sein Herz; er erwachte und zog dieentzückte Braut an seine Brust. Das Metall gerann, und ward einheller Spiegel. Der Vater erhob sich, seine Augen blitzten, undso schön und bedeutend auch seine Gestalt war, so schien dochsein ganzer Körper eine feine unendlich bewegliche Flüssigkeitzu seyn, die jeden Eindruck in den mannigfaltigsten und reit-zendsten Bewegungen verrieth.Das glückliche Paar näherte sich Sophien, die Worte der Weiheüber sie aussprach, und sie ermahnte, den Spiegel fleißig zuRathe zu ziehn, der alles in seiner wahren Gestalt zurückwerfe,jedes Blendwerk vernichte, und ewig das ursprüngliche Bild

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festhalte. Sie ergriff nun die Urne und schüttete die Asche in dieSchaale auf dem Altar. Ein sanftes Brausen verkündigte die Auf-lösung, und ein leiser Wind wehte in den Gewändern undLocken der Umstehenden.Sophie reichte die Schaale dem Eros und dieser den Andern.Alle kosteten den göttlichen Trank, und vernahmen die freund-liche Begrüßung der Mutter in ihrem Innern, mit unsäglicherFreude. Sie war jedem gegenwärtig, und ihre geheimnißvolleAnwesenheit schien alle zu verklären.Die Erwartung war erfüllt und übertroffen. Alle merkten, wasihnen gefehlt habe, und das Zimmer war ein Aufenthalt der Seli-gen geworden. Sophie sagte: das große Geheimniß ist allenoffenbart, und bleibt ewig unergründlich. Aus Schmerzen wirddie neue Welt geboren, und in Thränen wird die Asche zumTrank des ewigen Lebens aufgelöst. In jedem wohnt die himm-lische Mutter, um jedes Kind ewig zu gebären. Fühlt ihr die süßeGeburt im Klopfen eurer Brust?Sie goß in den Altar den Rest aus der Schaale hinunter. Die Erdebebte in ihren Tiefen. Sophie sagte: Eros, eile mit deinerSchwester zu deiner Geliebten. Bald seht ihr mich wieder.Fabel und Eros gingen mit ihrer Begleitung schnell hinweg. Eswar ein mächtiger Frühling über die Erde verbreitet. Alles hobund regte sich. Die Erde schwebte näher unter dem Schleyer.Der Mond und die Wolken zogen mit frölichem Getümmel nachNorden. Die Königsburg strahlte mit herrlichem Glanze überdas Meer, und auf ihren Zinnen stand der König in voller Prachtmit seinem Gefolge. Überall erblickten sie Staubwirbel, indenen sich bekannte Gestalten zu bilden schienen. Sie begegne-ten zahlreichen Schaaren von Jünglingen und Mädchen, dienach der Burg strömten, und sie mit Jauchzen bewillkommten.Auf manchen Hügeln saß ein glückliches eben erwachtes Paarin lang’ entbehrter Umarmung, hielt die neue Welt für einenTraum, und konnte nicht aufhören, sich von der schönen Wahr-heit zu überzeugen.

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Die Blumen und Bäume wuchsen und grünten mit Macht. Allesschien beseelt. Alles sprach und sang. Fabel grüßte überall alteBekannte. Die Thiere nahten sich mit freundlichen Grüßen denerwachten Menschen. Die Pflanzen bewirtheten sie mit Früch-ten und Düften, und schmückten sie auf das Zierlichste. KeinStein lag mehr auf einer Menschenbrust, und alle Lasten warenin sich selbst zu einem festen Fußboden zusammengesunken.Sie kamen an das Meer. Ein Fahrzeug von geschliffenem Stahllag am Ufer festgebunden. Sie traten hinein und lösten das Tau.Die Spitze richtete sich nach Norden, und das Fahrzeug durch-schnitt, wie im Fluge, die buhlenden Wellen. Lispelndes Schilfhielt seinen Ungestüm auf, und es stieß leise an das Ufer. Sie eil-ten die breiten Treppen hinan. Die Liebe wunderte sich über diekönigliche Stadt und ihre Reichthümer. Im Hofe sprang derlebendiggewordne Quell, der Hain bewegte sich mit den süße-sten Tönen, und ein wunderbares Leben schien in seinen heißenStämmen und Blättern, in seinen funkelnden Blumen undFrüchten zu quellen und zu treiben. Der alte Held empfing siean den Thoren des Pallastes. Ehrwürdiger Alter, sagte Fabel,Eros bedarf dein Schwerdt. Gold hat ihm eine Kette gegeben,die mit einem Ende in das Meer hinunter reicht, und mit demandern um seine Brust geschlungen ist. Fasse sie mit mir an, undführe uns in den Saal, wo die Prinzessin ruht. Eros nahm aus derHand des Alten das Schwerdt, setzte den Knopf auf seine Brust,und neigte die Spitze vorwärts. Die Flügelthüren des Saals flo-gen auf, und Eros nahte sich entzückt der schlummerndenFreya. Plötzlich geschah ein gewaltiger Schlag. Ein heller Fun-ken fuhr von der Prinzessin nach dem Schwerdte; das Schwerdtund die Kette leuchteten, der Held hielt die kleine Fabel, die beynah umgesunken wäre. Eros Helmbusch wallte empor, Wirfdas Schwerdt weg, rief Fabel, und erwecke deine Geliebte. Erosließ das Schwerdt fallen, flog auf die Prinzessin zu, und küßtefeurig ihre süßen Lippen. Sie schlug ihre großen dunkeln Augenauf, und erkannte den Geliebten. Ein langer Kuß versiegelte denewigen Bund.

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Von der Kuppel herunter kam der König mit Sophien an derHand. Die Gestirne und die Geister der Natur folgten in glän-zenden Reihen. Ein unaussprechlich heitrer Tag erfüllte denSaal, den Pallast, die Stadt, und den Himmel. Eine zahlloseMenge ergoß sich in den weiten königlichen Saal, und sah mitstiller Andacht die Liebenden vor dem Könige und der Köni-ginn knieen, die sie feyerlich segneten. Der König nahm seinDiadem vom Haupte, und band es um Eros goldene Locken. Deralte Held zog ihm die Rüstung ab, und der König warf seinenMantel um ihn her. Dann gab er ihm die Lilie in die linke Hand,und Sophie knüpfte ein köstliches Armband um die verschlun-genen Hände der Liebenden, indem sie zugleich ihre Krone aufFreyas braune Haare setzte.Heil unsern alten Beherrschern, rief das Volk. Sie haben immerunter uns gewohnt, und wir haben sie nicht erkannt! Heil uns!Sie werden uns ewig beherrschen! Segnet uns auch! Sophiesagte zu der neuen Königinn: Wirf du das Armband eures Bun-des in die Luft, daß das Volk und die Welt euch verbunden blei-ben. Das Armband zerfloß in der Luft, und bald sah man lichteRinge um jedes Haupt, und ein glänzendes Band zog sich überdie Stadt und das Meer und die Erde, die ein ewiges Fest desFrühlings feyerte. Perseus trat herein, und trug eine Spindel undein Körbchen. Er brachte dem neuen Könige das Körbchen.Hier, sagte er, sind die Reste deiner Feinde. Eine steinerne Plat-te mit schwarzen und weißen Feldern lag darin, und danebeneine Menge Figuren von Alabaster und schwarzem Marmor. Esist ein Schachspiel, sagte Sophie; aller Krieg ist auf diese Platteund in diese Figuren gebannt. Es ist ein Denkmal der alten trü-ben Zeit. Perseus wandte sich zu Fabeln, und gab ihr die Spin-del. In deinen Händen wird diese Spindel uns ewig erfreuen,und aus dir selbst wirst du uns einen goldnen unzerreißlichenFaden spinnen. Der Phönix flog mit melodischem Geräusch zuihren Füßen, spreizte seine Fittiche vor ihr aus, auf die sie sichsetzte, und schwebte mit ihr über den Thron, ohne sich wiederniederzulassen. Sie sang ein himmlisches Lied, und fing zu

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spinnen an, indem der Faden aus ihrer Brust sich hervorzuwin-den schien. Das Volk gerieth in neues Entzücken, und allerAugen hingen an dem lieblichen Kinde. Ein neues Jauchzenkam von der Thür her. Der alte Mond kam mit seinem wunder-lichen Hofstaat herein, und hinter ihm trug das Volk Ginnistanund ihren Bräutigam, wie im Triumph, einher.Sie waren mit Blumenkränzen umwunden; die königliche Fami-lie empfing sie mit der herzlichsten Zärtlichkeit, und das neueKönigspaar rief sie zu seinen Statthaltern auf Erden aus.Gönnet mir, sagte der Mond, das Reich der Parzen, dessen selt-same Gebäude eben auf dem Hofe des Pallastes aus der Erdegestiegen sind. Ich will euch mit Schauspielen darin ergötzen,wozu die kleine Fabel mir behülflich seyn wird.Der König willigte in die Bitte, die kleine Fabel nickte freund-lich, und das Volk freute sich auf den seltsamen unterhaltendenZeitvertreib. Die Hesperiden ließen zur Thronbesteigung Glückwünschen, und um Schutz in ihren Gärten bitten. Der König ließsie bewillkommen, und so folgten sich unzählige fröliche Both-schaften. Unterdessen hatte sich unmerklich der Thron verwan-delt, und war ein prächtiges Hochzeitbett geworden, über des-sen Himmel der Phönix mit der kleinen Fabel schwebte. DreyKaryatiden aus dunkelm Porphyr trugen es hinten, und vornruhte dasselbe auf einer Sphinx aus Basalt. Der König umarmteseine erröthende Geliebte, und das Volk folgte dem Beyspiel desKönigs, und liebkoste sich unter einander. Man hörte nichts, alszärtliche Namen und ein Kußgeflüster. Endlich sagte Sophie:Die Mutter ist unter uns, ihre Gegenwart wird uns ewigbeglücken. Folgt uns in unsere Wohnung, in dem Tempel dortwerden wir ewig wohnen, und das Geheimniß der Welt bewah-ren. Die Fabel spann ämsig, und sang mit lauter Stimme:

Gegründet ist das Reich der Ewigkeit,In Lieb’ und Frieden endigt sich der Streit,Vorüber ging der lange Traum der Schmerzen,Sophie ist ewig Priesterin der Herzen.

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Friedrich von Hardenberg gen. Novalis: Ein Märchen, aus:Ders.: Heinrich von Ofterdingen, in: Novalis, Schriften, ErsterBand, Das dichterische Werk, Hg. v. Paul Kuckholm u. RichardSamuel, Stuttgart 31977, S. 290-315.

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Lebensentwürfe

Lebensentwürfe

Die in den großen Hauptstätten um 1800 entstehenden gesell-schaftlichen und literarischen Salons geben Zeugnis davon, wieman Zeit miteinander verbrachte und mit kulturellen und gesel-ligen Inhalten füllte: man traf sich, plauderte über Kunst undLiteratur, die neuesten gesellschaftlichen Skandale, spielte Kar-ten und fühlte sich einem exklusiven Zirkel zugehörig. Darüberhinaus waren die Salons auch ein Ort emanzipatorischer per-sönlicher Entwicklungen, sei es auf individuellem, musikali-schem, literarischem oder wissenschaftlich-philosophischemGebiet, gaben sie doch Anlass und Ermunterung zu eigenstän-diger Betätigung in einem anregenden Umfeld. Innerhalb dieserSalonkultur nahm der Jenaer Kreis der Romantiker eine Son-derstellung ein. Er fand sich weitab von den gesellschaftlichenMetropolen und beschränkte sich zudem auf eine kleine GruppePersonen. Diese pflegten den gesellschaftlich-geselligen Aus-tausch nicht nur in ihrer Freizeit, sondern verstanden die gesel-ligen Aktivitäten als selbstverständlichen Teil der täglichenLebensgestaltung. Die Jenaer Lebens- und Arbeitsgemeinschaftder Brüder Schlegel, zusammen mit Caroline und Dorothea,erweitert durch den regen Austausch mit den Romantikerfreun-den, schlug sich auch in den literarischen Erzeugnissen derGruppe nieder. August Wilhelm Schlegel formulierte es 1798 so:„Der Punkt, wo die Litteratur das gesellige Leben am unmittel-barsten berührt, ist der Roman.“ (Text 8) In diesem Sinne griffsein Bruder Friedrich Schlegel diese Anmerkung auf, um mitseinem Erstlingsroman ‚Lucinde‘ der Öffentlichkeit einen frei-heitlichen und auf gegenseitige Freizügigkeit und Toleranzbegründeten Lebensentwurf vorzustellen. In dem Roman findenSchlegels Hauptfiguren, Julius und Lucinde ihre Bestimmung inihrer Liebe, werden einander zum gegenseitigen Universum.

Literarisches Leben

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Romantisch ist der Roman in seiner umfassenden Totalität, mitder Schlegel das romantische Lebensideal explizit in denRomanverlauf integriert. Die Bezeichnung ‚Freie Liebe‘ ist ausheutiger Perspektive für den vorgestellten Beziehungsentwurfsicherlich nicht zutreffend, aber im historischen Kontext desJahres 1800 löste der Roman bei den Zeitgenossen vehementeund ablehnende Reaktionen aus. Der Roman erhielt vernichten-de Besprechungen in verschiedenen Zeitungen. Man sah sichvon Seiten der Romantiker veranlasst, „korrigierende Hinwei-se“ zum Verständnis von Schlegels ‚Lucinde‘ zu geben, wie etwain Friedrich Schleiermachers ‚Notiz‘ (Text 10) oder in der‚Zueignung an die Unverständigen‘ (Text 11). Dass die in der‚Lucinde‘ vorgestellten Lebensentwürfe Diskrepanzen zur Rea-lität aufwiesen, wurde durch die Auflösung des Jenaer Kreises1801 deutlich. Die anfänglich enthusiastisch geschildertengeselligen Lebensumstände und der kreative Austausch unter-einander hatte auch seine Schattenseiten: „Auch in dem wasreine Darstellung und Tatsache scheint, hat sich Allegorie ein-geschlichen, und unter die schöne Wahrheit bedeutende Lügengemischt.“ (Text 9)

8. August Wilhelm Schlegel:Über den Roman

Der Punkt, wo die Litteratur das gesellige Leben am unmittel-barsten berührt, ist der Roman. Bey ihm offenbart sich daher amauffallendsten der ungeheure Abstand zwischen den Klassen derlesenden Menge, die man durch den bloß postulirten Begriffeines Publikums in eine Einheit zusammenschmelzt: hier kön-nen die Unternehmungen des Meisters, dessen Blick, seinemZeitalter voraus, in gränzenlose Fernen dringt, dem regsten undvielseitigsten Streben nach Bildung begegnen, so wie eben hierdie stupide Genügsamkeit des Handwerkers, der nur denselben

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verworrnen Knäuel der Begebenheiten auf- und abzuwindenversteht, unaufhörlich für die Sättigung schlaffer Leerheit arbei-tet. Die gesetzlose Unbestimmtheit, womit diese Gattung nachso unzähligen Versuchen immer noch behandelt wird, bestärktin dem Glauben, als habe die Kunst gar keine Foderungen andieselbe zu machen, und das eigentliche Geheimniß bestehedarin, sich alles zu erlauben; während sie doch vielmehr auf dieHöhe der Aufgabe hindeutet, die wie eine irrazionale Gleichungnur durch unendliche Annäherung gelöst werden kann. Wer hältsich nicht im Stande einen Roman zu schreiben? Daß nebst vie-len und wichtigen Erfodernissen unter andern auch ein bedeu-tendes Menschenleben dazu nöthig ist, läßt man sich nicht imTraume einfallen. Wie könnten sonst die beliebten Roman-schreiber so fruchtbar, und die fruchtbaren so beliebt seyn? NurEinen Roman geschrieben zu haben, wird für gar nichts gerech-net: man muß beynah mit jeder Messe wieder erscheinen, umnicht auf der Liste der Beliebten ausgestrichen zu werden. Ichhabe sogar von Schriftstellern gehört, welche gestehn, daß sieaus allen Kräften eilen, den Vorrath von Romanen, den sie nochin sich tragen, auszuschütten, ehe die Geläufigkeit ihrer Federund ihrer Phantasie mit den zunehmenden Jahren erstarrt. Wieverschieden von der Sprödigkeit des zurückhaltenden Genius,der wie die Löwin nur eins gebiert, aber einen Löwen! Jene dür-fen sich nicht brüsten, wenn sie für den Augenblick vor diesemglänzen: ihr Ruhm wird ebenfalls erstarren, sobald sie ihn nichtmehr beständig warm halten können.

August Wilhelm Schlegel: Über den Roman, in: [August Wil -helm Schlegel: Beyträge zur Kritik der neuesten Litteratur,]Athenaeum 1798, Ersten Bandes Erstes Stück, S. 141-177, dortS. 149-150.

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9. Friedrich Schlegel:Lucinde – Lehrjahr e derMännlichkeit

Pharao zu spielen mit dem Anscheine der heftigsten Leiden-schaft und doch zerstreut und abwesend zu sein; in einem Au-genblick von Hitze alles zu wagen und sobald es verloren war,sich gleichgültig wegzuwenden: das war nur eine von denschlimmen Gewohnheiten, unter denen Julius seine wilde Ju-gend verstürmte. Diese eine ist genug, den Geist eines Lebenszu schildern, welches in der Fülle der empörten Kräfte selbstden unvermeidlichen Keim eines frühen Verderbens enthielt.Eine Liebe ohne Gegenstand brannte in ihm und zerrüttete seinInnres. Bei dem geringsten Anlaß brachen die Flammen der Lei-denschaft aus; aber bald schien diese aus Stolz oder aus Eigen-sinn ihren Gegenstand selbst zu verschmähen, und wandte sichmit verdoppeltem Grimme zurück in sich und auf ihn, um da amMark des Herzens zu zehren. Sein Geist war in einer beständi-gen Gärung; er erwartete in jedem Augenblick, es müsse ihmetwas Außerordentliches begegnen. Nichts würde ihn befremdethaben, am wenigsten sein eigner Untergang. Ohne Geschäft undohne Zweck trieb er sich umher unter den Dingen und unter denMenschen wie einer, der mit Angst etwas sucht, woran seinganzes Glück hängt. Alles konnte ihn reizen, nichts mochte ihmgenügen. Daher kam es, daß ihm eine Ausschweifung nur solange interessant war, bis er sie versucht hatte und näher kann-te. Keine Art derselben konnte ihm ausschließend zur Gewohn-heit werden: denn er hatte eben so viel Verachtung als Leicht-sinn. Er konnte mit Besonnenheit schwelgen und sich in denGenuß gleichsam vertiefen. Aber weder hier noch in den man-cherlei Liebhabereien und Studien, auf die sich oft sein jugend-licher Enthusiasmus mit einer gefräßigen Wißbegier warf, fander das hohe Glück, das sein Herz mit Ungestüm foderte. Spurendavon zeigten sich überall, täuschten und erbitterten seine Hef-tigkeit. Am meisten Reiz hatte der Umgang aller Art für ihn undso oft er auch sogar sie überdrüssig ward, waren es doch die

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gesellschaftlichen Zerstreuungen, zu denen er endlich immerwieder zurückkehrte. Die Frauen kannte er eigentlich gar nicht,ungeachtet er schon früh gewohnt war, mit ihnen zu sein. Sieerschienen ihm wunderbar fremd, oft ganz unbegreiflich undkaum wie Wesen seiner Gattung. Junge Männer aber, die ihmeinigermaßen glichen, umfaßte er mit heißer Liebe und miteiner wahren Wut von Freundschaft. Doch war das allein für ihnnoch nicht das rechte. Es war ihm, als wolle er eine Welt umar-men und könne nichts greifen. Und so verwilderte er dennimmer mehr und mehr aus unbefriedigter Sehnsucht, ward sinn-lich aus Verzweiflung am Geistigen, beging unkluge Handlun-gen aus Trotz gegen das Schicksal und war wirklich mit einerArt von Treuherzigkeit unsittlich. Er sah wohl den Abgrund vorsich, aber er hielt es nicht der Mühe wert, seinen Lauf zu mäßi-gen. Er wollte lieber gleich einem wilden Jäger den jähenAbhang rasch und mutig durchs Leben hinunterstürmen, als sichmit Vorsicht langsam quälen.Bei diesem Charakter mußte er oft in der geselligsten und fröh-lichsten Gesellschaft einsam sein, und er fand sich eigentlich amwenigsten allein, wenn niemand bei ihm war. Dann berauschteer sich in Bildern der Hoffnung und Erinnerung und ließ sichabsichtlich von seiner eignen Fantasie verführen. Jeder seinerWünsche stieg mit unermeßlicher Schnelligkeit und fast ohneZwischenraum von der ersten leisen Regung zur grenzenlosenLeidenschaft. Alle seine Gedanken nahmen sichtbare Gestaltund Bewegung an und wirkten in ihm und wider einander mitder sinnlichsten Klarheit und Gewalt. Sein Geist strebte nichtdie Zügel der Selbstherrschaft fest zu halten, sondern warf siefreiwillig weg, um sich mit Lust und mit Übermut in dies Chaosvon innerm Leben zu stürzen. Er hatte weniges erlebt und wardoch voll Erinnerungen, auch aus früher Jugend: denn ein son-derbarer Augenblick von leidenschaftlicher Stimmung, einGespräch, ein Geschwätz aus der Tiefe des Herzens blieb ihmewig teuer und deutlich, und noch nach Jahren wußte er’sgenau, als wäre es gegenwärtig. Aber alles was er liebte und mit

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Liebe dachte, war abgerissen und einzeln. Sein ganzes Daseinwar in seiner Fantasie eine Masse von Bruchstücken ohneZusammenhang; jedes für sich Eins und Alles, und das andrewas in der Wirklichkeit daneben stand und damit verbundenwar, für ihn gleichgültig und so gut wie gar nicht vorhanden.Noch war er nicht ganz verdorben als im Schoß der einsamenWünsche ein heiliges Bild der Unschuld in seine Seele blitzte.Ein Strahl von Verlangen und Erinnerung traf und entzündetesie und dieser gefährliche Traum war entscheidend für seinganzes Leben.Er gedachte an ein edles Mädchen, mit dem er in ruhigen glück-lichen Zeiten der frischen Jugend aus reiner kindlicher Zunei-gung freundlich und fröhlich getändelt hatte. Da er der erste war,welcher sie durch sein Interesse an ihr reizte, so wandte auch dasliebliche Kind ihre junge Seele nach ihm hin, wie sich die Blumezum Licht der Sonne neigt. Daß sie kaum reif und noch an derGrenze der Kindheit war, reizte sein Verlangen nur um so unwi-derstehlicher. Sie zu besitzen, schien ihm das höchste Gut; erwar entschlossen alles zu wagen und glaubte nicht ohne dasleben zu können. Dabei verabscheute er die entfernteste Erinne-rung an bürgerliche Verhältnisse, wie jede Art von Zwang.Er eilte zurück in ihre Nähe und fand sie ausgebildeter, abernoch eben so edel und eigen, so sinnig und stolz wie ehedem.Was ihn noch mehr reizte als ihre Liebenswürdigkeit, waren dieSpuren von tiefem Gefühl. Sie schien nur fröhlich und leicht-fertig durchs Leben zu schwärmen wie über eine blumenreicheEbne, und verriet doch seinem aufmerksamen Auge die ent-schiedenste Anlage zu einer grenzenlosen Leidenschaftlichkeit.Ihre Neigung, ihre Unschuld und ihr verschwiegenes und ver-schlossenes Wesen boten ihm leicht Mittel dar, sie allein zusehen, und die Gefahr, die damit verbunden war, erhöhte denReiz des Unternehmens. Aber mit Verdruß mußte er sich’sgestehen, daß er seinem Ziele nicht näher kam und schalt sichzu ungeschickt, ein Kind zu verführen. Willig überließ sie sich

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einigen Liebkosungen und erwiderte sie mit schüchternerLüsternheit. Sobald er aber diese Grenzen zu überschreiten ver-suchte, widersetzte sie sich, ohne beleidigt zu scheinen, mitunerbittlichem Eigensinn; vielleicht mehr aus Glauben an einfremdes Gebot als aus eignem Gefühl von dem, was allenfallserlaubt sei und von dem, was durchaus nicht.Indessen wurde er nicht müde zu hoffen und zu beobachten.Einst überraschte er sie, als sie es am wenigsten erwartete. Siewar schon lange allein gewesen und mochte sich ihrer Fantasieund einer unbestimmten Sehnsucht mehr als gewöhnlich über-lassen haben. Da er dies gewahr ward, wollte er den Augen-blick, der vielleicht nie wieder käme, nicht verscherzen undgeriet durch die plötzliche Hoffnung selbst in einen Taumel vonBegeisterung. Ein Strom von Bitten, von Schmeicheleien undvon Sophismen floß von seinen Lippen. Er bedeckte sie mitLiebkosungen und er geriet außer sich vor Entzücken, da dasliebenswürdige Köpfchen endlich an seine Brust sank, wie sichdie zu volle Blume an ihrem Stengel senket. Ohne Zurückhal-tung schmiegte sich die schlanke Gestalt um ihn, die seidnenLocken der goldnen Haare flossen über seine Hand, mit zärtli-cher Sehnsucht öffnete sich die Knospe des schönen Mundes,und aus den frommen dunkelblauen Augen strahlte undschmachtete ein ungewohntes Feuer. Sie setzte den kühnstenLiebkosungen nur noch schwachen Widerstand entgegen. Baldhörte auch dieser auf, sie ließ plötzlich ihre Arme sinken, undalles war ihm hingegeben, der zarte jungfräuliche Leib und dieFrüchte des jungen Busens. Aber in demselben Augenblickbrach ein Strom von Tränen aus ihren Augen, und die bittersteVerzweiflung entstellte ihr Gesicht. Julius erschrak heftig; nichtsowohl über die Tränen, aber er kam nun mit einem Male zurvollen Besinnung. Er dachte an alles was vorhergegangen war,und was nun folgen würde; an das Opfer vor ihm und an dasarme Schicksal der Menschen. Da überlief ihn ein kalter Schau-der, ein leiser Seufzer stahl sich aus tiefer Brust über seine Lip-

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pen. Er verschmähte sich selbst von der Höhe seines eignenGefühls, und vergaß die Gegenwart und seine Absicht inGedanken von allgemeiner Sympathie.Der Augenblick war versäumt. Er suchte nur das gute Kind zutrösten und zu besänftigen, und eilte mit Abscheu von dem Ortehinweg, wo er den Blütenkranz der Unschuld mutwillig hattezerreißen wollen. Er wußte wohl, daß mancher seiner Freunde,der noch weniger an weibliche Tugend glaubte wie er, seinBenehmen ungeschickt und lächerlich finden würde. Er war bei-nah selbst dieser Meinung, da er wieder mit Kälte zu überlegenanfing. Indessen hielt er seine Dummheit doch für ausgezeich-net und interessant. Er glaubte, es sei notwendig, daß edle Natu-ren in gemeinen Verhältnissen und in den Augen der Menge ein-fältig oder rasend erscheinen müßten. Da bei dem nächsten Wie-dersehn, wie er schlau bemerkte oder sich einbildete, dasMädchen eher unzufrieden schien, daß es nicht ganz verführtsei, bestätigte er sich in seinem Mißtrauen und geriet in einegroße Erbitterung. Es wandelte ihn beinah eine Art von Verach-tung an, zu der er doch so wenig berechtigt war. Er floh, zogsich wieder in die alte Einsamkeit zurück und verzehrte sich inseiner eignen Sehnsucht.So lebte er von neuem eine Zeit auf die alte Weise in einemWechsel von Schwermut und Ausgelassenheit. Der einzigeFreund, der Kraft und Ernst genug hatte, ihn trösten und be-schäftigen zu können und auf dem Wege zum Verderben ein-zuhalten, war weit entfernt, und seine Sehnsucht also auchvon dieser Seite unbefriedigt. Heftig streckte er einst die Armenach ihm aus, als müsse er nun endlich da sein, und trostlos ließer sie wieder sinken, nachdem er lange vergeblich gewartet. Ervergoß keine Träne, aber sein Geist fiel in eine Agonie von hoff-nungsloser Wehmut, aus der er sich nur zu neuen Torheitenermannte.Er freute sich laut, da er im Glanz der prachtvollen Morgen-sonne auf die Stadt zurücksah, die er schon als Kind geliebt undwo er nur noch eben so ganz lebte, und die er nun auf immer zu

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verlassen hoffte. Er atmete schon das frische Leben der neuenHeimat, die ihn in der Fremde erwarten sollte, und deren Bilderer schon mit Heftigkeit liebte.Er fand bald einen andern reizenden Wohnort, wo ihn zwarnichts fesselte, aber doch vieles anzog. Alle seine Kräfte undNeigungen wurden rege durch die neuen Gegenstände; ohneZweck und Maß in seinem Innern, nahm er teil an allem Äußern,was nur irgend merkwürdig war, und ließ sich überall ein.Da er auch in diesem Geräusch bald Leerheit und Überdrußempfand, so kehrte er oft zurück zu seinen einsamen Träumenund wiederholte das alte Gewebe seiner unbefriedigten Wün-sche. Eine Träne entfiel ihm über sich selbst, da er einst im Spie-gel sah, wie trübe und stechend das Feuer der unterdrücktenLiebe aus seinem dunkeln Auge brannte und wie sich unter derwilden schwarzen Locke leise Furchen in die kämpfende Stirngruben, und wie die Wange so bleich war. Er seufzte über seineungenutzte Jugend; sein Geist empörte sich und wählte unterden schönen Frauen seiner Bekanntschaft die, welche am frei-sten lebte und am meisten in der guten Gesellschaft glänzte. Ernahm sich vor, nach ihrer Liebe zu streben und er erlaubte sei-nem Herzen, sich ganz zu überfüllen mit diesem Gegenstande.Was so wild und willkürlich begonnen wurde, konnte nichtgesund endigen, und die Dame, welche eben so eitel als schönwar, mußte es sonderbar und mehr als sonderbar finden, wieJulius sie mit der ernsthaftesten Aufmerksamkeit förmlich zuumgeben und zu belagern anfing und dabei bald so dreist undzuversichtlich war wie ein alter Besitzer, bald so schüchtern undfremd wie ein völlig Unbekannter. Da er sich so seltsam zeigte,hätte er bei weitem reicher sein müssen, als er war, um solcheAnsprüche haben zu dürfen. Sie hatte ein leichtes, munteresWesen und ihm schien sie artig zu reden. Aber was er an derGeliebten für göttlichen Leichtsinn nahm, war nichts als eingedankenloses Schwärmen ohne eigentliche Freude und Fröh-lichkeit, und auch ohne Geist, ausgenommen so viel Verstandund Schlauigkeit, als es braucht, um alles absichtlich und

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zwecklos zu verwirren, die Männer zu locken und zu lenken undsich selbst in Schmeicheleien zu berauschen. Zu seinemUnglücke erhielt er einige Zeichen von Gunst; von der Art, wel-che die Geberin nicht binden, weil sie sich nie dazu bekennendarf und welche den gefangenen Neuling durch den Zauber derHeimlichkeit noch unauflöslicher fesseln. Ihn konnte schon einverstohlner Blick und Händedruck ganz bezaubern, oder einWort, was vor allen gesagt in seiner eigentlichen Beziehung undAnspielung nur ihm verständlich war, wenn die einfache undwohlfeile Gabe nur durch den Schein einer eignen sonderbarenBedeutsamkeit gewürzt wurde. Sie gab ihm, wie er glaubte, einnoch deutlicheres Zeichen und es beleidigte ihn tief, daß sie ihnso wenig verstehe, daß sie ihm so sehr zuvorkomme. Er warnicht wenig stolz darauf, daß ihn das beleidigte und doch reiztees ihn unwiderstehlich, wenn er dachte, er dürfe nur schnell seinund die günstige Gelegenheit ergreifen, um ohne Hindernis ansZiel zu gelangen. Er machte sich schon bittre Vorwürfe überseine Langsamkeit, als er plötzlich Verdacht schöpfte, ihr Zu-vorkommen sei nur Täuschung, sie meine es auch mit ihm nichtehrlich; und da ein Freund ihn vollends aufklärte, konnte ihmkein Zweifel bleiben. Er sah, daß man ihn lächerlich finde undmußte sich gestehn, daß es ganz in der Ordnung sei. Darübergeriet er etwas in Wut und hätte leicht Unheil begonnen, wenner diese leeren Menschen, ihre kleinen Verhältnisse und Mißver-ständnisse und das ganze Spiel geheimer Absichten und Rück-sichten nicht genau beobachtet und also gründlich verachtethätte. Auch wurde er wieder ungewiß und da sein Argwohn nunkeine Grenzen mehr kannte, so war er gegen sein eignesMißtrauen mißtrauisch. Bald sah er den Grund des Übels nur inseinem Eigensinne und übertriebnem Zartgefühl und faßte dannneue Hoffnung und neues Zutrauen; bald sah er in allemUnglück, was ihn in der Tat absichtlich zu verfolgen schien, nurdas künstliche Werk ihrer Rache. Alles schwankte, nur das wardihm immer klarer und fester, daß vollendete Narrheit undDummheit im Großen das eigentliche Vorrecht der Männer sei,

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mutwillige Bosheit hingegen mit naiver Kälte und lachenderGefühllosigkeit eine angeborne Kunst der Frauen. Das waralles, was er lernte durch sein angestrengtes Bestreben nachMenschenkenntnis. Im einzelnen verfehlte er immer auf einescharfsinnige Art das Rechte, weil er überall künstliche Absich-ten voraussetzte und tiefen Zusammenhang, und gar keinenSinn hatte für das Unbedeutende. Dabei wuchs seine Leiden-schaft zum Spiel, dessen zufällige Verwickelungen, Sonderbar-keiten und Glücksfälle ihn auf eben die Art interessierten, wiewenn er in höhern Verhältnissen mit seinen Leidenschaften undihren Gegenständen aus reiner Willkür ein hohes Spiel wagteoder zu wagen glaubte.So verwirrte er sich immer tiefer in die Intrigen einer schlech-ten Gesellschaft und was ihm noch übrig blieb von Zeit undKraft in dem Wirbel der Zerstreuungen, wandte er auf einMädchen, die er so sehr als möglich allein zu besitzen strebte,obgleich er sie unter denen gefunden hatte, die beinah öffentlichsind. Was sie ihm so interessant machte, war nicht allein dasweshalb sie allgemein gesucht und gleichsam berühmt war, ihreseltne Gewandtheit und unerschöpfliche Mannichfaltigkeit inallen verführerischen Künsten der Sinnlichkeit. Ihr naiver Witzüberraschte ihn mehr und reizte ihn am meisten, wie die hellenFunken von rohem tüchtigem Verstand, vorzüglich aber ihreentschiedne Manier und ihr konsequentes Betragen. Mitten imStande der äußersten Verderbtheit zeigte sie eine Art von Cha-rakter; sie war voll von Eigenheiten und ihr Egoismus nicht imgemeinen Stil. Nächst der Unabhängigkeit liebte sie nichts sounmäßig wie das Geld, aber sie wußte es zu brauchen. Dabeiwar sie billig gegen jeden, der nicht sehr reich war und selbstgegen die andern treuherzig in ihrer Habsucht und ohne Ränke.Sie schien ganz sorgenlos nur in der Gegenwart zu leben undwar doch immer auf die Zukunft bedacht. Sie sparte im Kleinenum nach ihrer Art im Großen zu verschwenden und im Über-flüssigen das Beste zu haben. Ihr Boudoir war einfach und ohnealle gewöhnlichen Meublen, nur von allen Seiten große, kostba-

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re Spiegel und wo noch Raum übrig blieb, einige gute Kopienvon den wollüstigen Gemälden des Correggio57 und Tizian58,desgleichen einige schöne Originale von frischen, vollen Blu-men- und Fruchtstücken; statt der Lambris59 die lebendigstenund fröhlichsten Darstellungen in Basrelief aus Gips nach derAntike; statt der Stühle echte orientalische Teppiche und einigeGruppen aus Marmor in halber Lebensgröße: ein gieriger Faun,der eine Nymphe, die im Fliehen schon gefallen ist, eben völligüberwinden wird; eine Venus, die mit aufgehobenem Gewandelächelnd über den wollüstigen Rücken auf die Hüften schautund andre ähnliche Darstellungen. Hier saß sie oft auf türkischeSitte Tage lang allein und die Hände müßig im Schoß, denn sieverabscheute alle weiblichen Arbeiten. Sie erfrischte sich nurvon Zeit zu Zeit mit Wohlgerüchen und ließ sich dabei vonihrem Jockey, einem bildschönen Knaben, den sie sich in sei-nem vierzehnten Jahre eigens verführt hatte, Geschichten, Rei-sebeschreibungen und Märchen vorlesen. Sie gab wenig daraufacht, außer wenn etwas Lächerliches vorkam, oder eine allge-meine Bemerkung, die sie auch wahr fand. Denn sie achtetenichts und hatte Sinn für nichts als für Realität und fand allePoesie lächerlich. Sie war einmal Schauspielerin gewesen, abernur kurze Zeit und sie machte sich gern lustig über ihr Unge-schick dazu und über die Langeweile, die sie dabei ausgestan-den. Es war eine von ihren vielen Eigenheiten, daß sie bei sol-chen Gelegenheiten in der dritten Person von sich sprach. Auchwenn sie erzählte, nannte sie sich nur Lisette, und sagte oft,wenn sie schreiben könnte, wollte sie ihre eigne Geschichteschreiben, aber so als ob es ein andrer wäre. Für Musik hatte siegar kein Gefühl, für die bildenden Künste aber so viel daß Juli-us oft mit ihr über seine Arbeiten und Ideen sprach, und dieSkizzen für die besten hielt, die er unter ihren Augen und beiihrem Gespräch entworfen hatte. Doch schätzte sie an Statuenund an Zeichnungen nur die lebendige Kraft, und an Gemäldennur den Zauber der Farben, die Wahrheit des Fleisches undallenfalls die Täuschung des Lichtes. Sprach ihr jemand von

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Regeln, vom Ideal und von der sogenannten Zeichnung, so lach-te sie oder hörte nicht zu. Selbst etwas zu versuchen, so vielebereitwillige Lehrer sich auch anboten, war sie viel zu träge undverwöhnt und befand sich zu wohl bei ihrer Lebensart. Auchtraute sie allen Schmeicheleien nicht und blieb fest überzeugt,sie würde es mit aller Not und Arbeit in der Kunst zu nichtsOrdentlichem bringen. Lobte man ihren Geschmack und ihrZimmer, in welches sie nur selten auserwählte Lieblinge führte,so rühmte sie dagegen auf eine komische Weise zuerst das gutealte Schicksal, die schlaue Lisette und dann die Engländer undHolländer als die besten Nationen unter allen, die sie kenne;weil die volle Kasse einiger Neulinge von dieser Sorte zuersteinen guten Grund zu ihrer reichlichen Einrichtung gelegt hatte.Überhaupt freute sie sich sehr damit, wenn sie jemanden, derdumm war, übervorteilt hatte: aber sie tat es auf eine drollige,fast kindische Art, mit Witz und mehr aus Übermut als aus Roh-heit. Ihre ganze Klugheit wandte sie darauf, sich der Zudring-lichkeit und Unart der Männer zu erwehren, und es gelang ihr sosehr, daß die rohen, wüsten Menschen mit einer innigen Ach-tung von ihr sprachen, die dem, welcher sie nicht kannte und nurvon ihrem Gewerbe wußte, sehr komisch dünkte. Das war esauch, was den neugierigen Julius zuerst reizte, eine so sonder-bare Bekanntschaft zu suchen und er fand bald noch mehrUrsach zu erstaunen. Bei den gewöhnlichen Männern litt und tatsie, was sie schuldig zu sein glaubte; genau, mit Geschicklich-keit und mit Kunstsinn, aber ganz kalt. Gefiel ihr ein Mann,führte sie ihn gar in ihr heiliges Cabinet; so schien sie eine ganzneue Person zu werden. Sie geriet dann in eine schöne bacchan-tische Wut;60 wild, ausschweifend und unersättlich vergaß siebeinah der Kunst und verfiel in eine hinreißende Anbetung derMännlichkeit. Darum liebte sie Julius, und auch weil sie ihm soganz ergeben schien, ungeachtet sie davon nicht viele Wortemachte. Sie merkte bald, ob jemand Verstand habe, und wo sieden zu finden glaubte, ward sie offen und herzlich, und ließ sichdann gern von ihrem Freunde erzählen, was er von der Welt

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wußte. Mancher hatte sie belehrt, keiner aber hatte ihr innerstesWesen so verstanden, so fein geschont und ihren eigentlichenWert so geachtet wie Julius. Darum hing sie auch mehr an ihmals sich sagen läßt. Sie erinnerte sich vielleicht zum erstenmalmit Rührung an ihre erste Jugend und Unschuld und gefiel sichnicht in der Umgebung, mit der sie sonst ganz zufrieden war.Julius fühlte das und freute sich damit, aber er konnte nie überdie Geringschätzung Herr werden, die ihm ihr Stand und ihrVerderben einflößte, und sein unauslöschliches Mißtrauen schien ihm hier gerecht zu sein. Wie entrüstet war er daher, alssie ihm einst unerwarteter Weise die Ehre der Vaterschaftankündigte. Und er wußte es doch, daß sie trotz ihres Verspre-chens noch vor Kurzem Besuche von einem andern angenom-men hatte. Das Versprechen konnte sie ihm nicht abschlagen.Sie selbst hätte es wahrscheinlich gern gehalten, aber siebrauchte mehr als er geben konnte; sie wußte nur eine Art, Geldzu erwerben, und aus einer Delikatesse, die sie einzig für ihnhatte, nahm sie nur das wenigste von dem, was er geben wollte.Alles das bedachte der aufgebrachte Jüngling nicht, er hielt sichfür betrogen, er sagte es ihr mit harten Worten und verließ sie indem leidenschaftlichsten Zustande, wie er glaubte, auf immer.Nicht lange nachher suchte ihn der Knabe mit Tränen und Kla-gen und ließ nicht ab, bis er mit ihm ging. Er fand sie fast ent-kleidet in dem schon dunkeln Cabinet, er sank in die geliebtenArme, mit denen sie ihn so heftig an sich riß wie sonst, aber siesanken sogleich an ihm nieder. Er hörte einen tiefen stöhnendenSeufzer, es war der letzte; und da er sich ansah, war er mit Blutbedeckt. Voll Entsetzen sprang er auf und wollte fliehen. Er ver-weilte nur, um eine große Locke zu ergreifen, die neben demgefärbten Messer auf dem Boden lag. Sie hatte dieselbe ineinem Anfalle von begeisterter Verzweiflung kurz zuvor, ehe siesich die vielen Wunden gab, von denen die meisten tödlichwaren, abgeschnitten. Wahrscheinlich mit dem Gedanken, sichdadurch dem Tode und dem Verderben als Opfer zu weihen.Denn nach der Aussage des Knaben sprach sie dabei mit lauter

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Stimme die Worte: „Lisette soll zu Grunde gehen, zu Grundejetzt gleich: so will es das Schicksal, das eiserne.“Der Eindruck, den diese überraschende Tragödie auf den reiz-baren Jüngling machte, war unauslöschlich, und brannte durchseine eigne Kraft immer tiefer. Die erste Folge von LisettensRuin war, daß er ihr Andenken mit schwärmerischer Achtungvergötterte. Er verglich ihre hohe Energie mit den nichtswür-digen Intrigen der Dame, die ihn verstrickt hatte, und sein Ge-fühl mußte laut entscheiden, daß jene sittlicher und weiblichersei: denn diese Kokette gab nie eine kleine oder große Gunstohne Nebenabsicht; und doch ward sie von aller Welt geachtetund bewundert, wie so viele andre, die ihr gleichen. Darüberwidersetzte sich sein Verstand mit Heftigkeit allen falschen undallen wahren Meinungen, die man über die weibliche Tugendhat. Es ward Grundsatz bei ihm, die gesellschaftlichen Vorurtei-le, welche er bisher nur vernachlässigte, nun ausdrücklich zuverachten. Er gedachte an die zarte Louise, die beinah ein Raubseiner Verführung geworden wäre und er erschrak. Denn auchLisette war von guter Familie, früh gefallen, entführt und in derFremde verlassen, zu stolz gewesen umzukehren, und durch dieerste Erfahrung so belehrt wie andre nicht durch die letzte. Mitschmerzlichem Vergnügen sammelte er manchen interessantenZug von ihrer frühen Jugend. Sie war damals mehr schwermütigals leichtsinnig, aber in der Tiefe ganz Flamme und schon alskleines Mädchen traf man sie bei Gemälden von nacktenGestalten oder bei andern Gelegenheiten in sonderbaren Äuße-rungen der heftigsten Sinnlichkeit.Diese Ausnahme von dem, was Julius für gewöhnlich hielt beimweiblichen Geschlecht, war zu einzig und die Umgebung, in derer sie fand, zu unrein, als daß er dadurch zu einer wahrenAnsicht hätte gelangen können. Vielmehr trieb ihn sein Gefühl,sich fast ganz von den Frauen und von den Gesellschaften, wosie den Ton angeben, zurück zu ziehen. Er fürchtete seine Lei-denschaftlichkeit und warf seinen ganzen Sinn auf die Freund-schaft mit Jünglingen, die wie er der Begeisterung fähig waren.

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Diesen ergab er sein Herz, nur sie waren für ihn wahrhaft wirk-lich, die übrige Menge gemeiner Schattenwesen freute er sichzu verachten. Mit Leidenschaft und mit Spitzfindigkeit stritt erinnerlich und grübelte über seine Freunde, über ihre verschiede-nen Vorzüge und Verhältnisse zu ihm. Er erhitzte sich in seineneigenen Gedanken und Gesprächen und war berauscht von Stolzund von Männlichkeit. Auch glühten sie alle von edler Liebe,unentwickelt schlummerte hier manche große Kraft, und siesagten nicht selten in rohen aber treffenden Worten erhabeneDinge über die Wunder der Kunst, über den Wert des Lebensund über das Wesen der Tugend und Selbstständigkeit. Vorzüg-lich aber über die Göttlichkeit der männlichen Freundschaft, dieJulius zum eigentlichen Geschäft seines Lebens zu machengesonnen war. Er hatte viele Verbindungen, und war unersättlichimmer neue zu knüpfen. Jeden Mann, der ihm interessanterschien, suchte er, und ruhte nicht, bis er ihn gewonnen und dieZurückhaltung des andern durch seine jugendliche Zudringlich-keit und Zuversicht besiegt hatte. Es läßt sich denken, daß er,der sich eigentlich alles erlaubt hielt und sich selbst über dasLächerliche wegsetzen konnte, eine andre Schicklichkeit imSinne und vor Augen hatte als die, welche allgemein gilt.In dem Gefühl und Umgang des einen Freundes fand er mehr alsweibliche Schonung und Zartheit bei erhabenem Verstande undfest gebildetem Charakter. Ein zweiter brannte mit ihm in edlemUnwillen über das schlechte Zeitalter und wollte etwas Großeswirken. Der liebenswürdige Geist des dritten war noch einChaos von Andeutungen: aber er hatte zarten Sinn für alles undahndete die Welt. Den einen verehrte er als seinen Meister in derKunst würdig zu leben. Den andern dachte er als seinen Jüngerund wollte sich nur vor der Hand zur Teilnahme an seinen Aus-schweifungen herablassen, um ihn ganz zu kennen und zugewinnen, und dann seine große Anlage zu retten, die so nah amAbgrunde wandelte wie seine eigne.Es waren große Gegenstände, nach denen sie mit Ernst streb-ten. Indessen blieb es bei hohen Worten und vortrefflichen

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Wünschen. Julius kam nicht weiter und ward nicht klarer, erhandelte nicht und er bildete nichts. Ja er vernachlässigte seineKunst fast nie mehr, als da er sich und seine Freunde mit Pro-jekten überströmte von allen Werken, die er vollbringen wollte,und die ihm im Augenblick der ersten Begeisterung schon fertigschienen. Die wenigen Anwandlungen von Nüchternheit, dieihm noch übrig blieben, erstickte er in Musik, die für ihn eingefährlicher, bodenloser Abgrund von Sehnsucht und Wehmutwar, in den er sich gern und willig versinken sah.Diese innere Gärung hätte heilsam sein können, und aus der Ver-zweiflung wäre endlich Ruhe und Festigkeit hervorgegangen,und er wäre klar geworden über sich selbst. Aber die Wut derUnbefriedigung zerstückte seine Erinnerung, er hatte nie weni-ger eine Ansicht vom Ganzen seines Ich. Er lebte nur in derGegenwart, an der er mit durstigen Lippen hing, und vertieftesich ohne Ende in jeden unendlich kleinen und doch unergründ-lichen Teil der ungeheuren Zeit, als müsse es nun in diesem end-lich zu finden sein, was er schon so lange suche. Diese Wut derUnbefriedigung mußte ihn bald mit seinen Freunden selbst ver-stimmen und entzweien, von denen die meisten bei den herr-lichsten Anlagen ebenso untätig und mit sich uneins waren wieer. Dieser schien ihn nicht zu verstehn, jener bewunderte nur sei-nen Geist, äußerte aber Mißtrauen gegen sein Herz und tat ihmwirklich unrecht. Da hielt er seine innerste Ehre gekränkt undfühlte sich von geheimem Haß zerrissen. Er überließ sich die-sem Gefühl ohne Scheu, denn er glaubte, nur wen man achtenmüsse, dürfe man hassen, und nur Freunde könnten einer demandern das zarteste Gefühl so tief verletzen. Der eine Jünglingwar durch eigne Schuld zu Grunde gegangen; der andre fing garan selbst gewöhnlich zu werden. Mit einem dritten war sein Ver-hältnis verstimmt und fast gemein geworden. Es war ganz gei-stig gewesen, und so hätte es auch bleiben sollen. Aber ebenweil es so zart war, mußte mit der feinsten Blüte alles verlorengehn, als die Gelegenheit es gab, daß einer dem andern Diensteleistete. Da gerieten sie in Wettstreite von Großmut und Dank-

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barkeit und fingen endlich an, in der geheimsten Tiefe der Seeleirdische Foderungen an sich zu machen und zu vergleichen.Bald hatte der Zufall ohne Schonung aufgelöst, was nur durchWillkür leidenschaftlich verbunden war. Immer mehr und mehrgeriet Julius in einen Zustand, der von der Verrückung nurdadurch verschieden war, daß es einigermaßen auf ihn ankam,wann und wie weit er sich seiner Gewalt hingeben wollte. Auchwar sein äußeres Betragen jeder bürgerlichen und gesellschaft-lichen Ordnung gemäß, und grade jetzt fingen die Menschen an,ihn vernünftig zu nennen, da eine Verwirrung aller Schmerzensein Innres wild zerriß, und die Krankheit des Geistes immertiefer und geheimer an dem Herzen nagte. Es war mehr eineRaserei des Gefühls als des Verstandes, und das Übel war nurum so gefährlicher, weil er äußerlich froh und lustig schien. Sowar seine gewöhnliche Stimmung, und man fand ihn sogarangenehm. Nur wenn er mehr Wein genossen hatte als gewöhn-lich, ward er überaus traurig und zu Tränen und Klagen geneigt.Aber selbst dann sprudelte er, wenn andre zugegen waren, vonbitterm Witz und allgemeinem Spott, oder er trieb sein Spiel mitsonderbaren und dummen Menschen, deren Umgang er nunüber alles liebte, und die er in die beste Laune zu setzen wußte,so daß sie sich von Herzen mitteilten und ganz zeigten, wie siewaren. Das Gemeine reizte und unterhielt ihn; nicht aus lie-benswürdiger Herablassung, sondern weil es nach seinerAnsicht närrisch und toll war.An sich selbst dachte er nicht, nur dann und wann überfiel ihnein klares Gefühl, er werde plötzlich zu Grunde gehn. Die Reueunterdrückte er durch Stolz, und die Gedanken und Bilder des Selbstmordes waren ihm schon in seiner frühsten jugendli-chen Schwermut so geläufig gewesen, daß sie den Reiz der Neu-heit für ihn verloren hatten. Einen solchen Entschluß auszu-führen, wäre er sehr fähig gewesen, wenn er nur überhaupt zueinem Entschluß hätte kommen können. Es schien ihm kaumder Mühe wert, weil er doch nicht hoffen wollte, der Langewei-

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le des Daseins und dem Eckel über das Schicksal auf diesemWege zu entfliehn. Er verachtete die Welt und alles, und warstolz darauf.Auch diese Krankheit wie alle vorigen heilte und vernichtete dererste Anblick einer Frau die einzig war, und die seinen Geistzum erstenmal ganz und in der Mitte traf. Seine bisherigen Lei-denschaften spielten nur auf der Oberfläche, oder es waren vorü-bergehende Zustände ohne Zusammenhang. Jetzt ergriff ihn einneues unbekanntes Gefühl, daß dieser Gegenstand allein derrechte, und dieser Eindruck ewig sei. Der erste Blick schon ent-schied, beim zweiten wußte er’s, und sagte sich’s, daß es nungekommen, und wirklich da sei, was er so lange dunkel erwar-tet hatte. Er erstaunte, und erschrack, denn wie er dachte, daß essein höchstes Gut sein würde, von ihr geliebt zu werden und sieewig zu besitzen, so fühlte er zugleich daß dieser höchste undeinzige Wunsch ewig unerreichbar sei. Sie hatte gewählt undhatte sich gegeben; ihr Freund war auch der seinige, und lebteihrer Liebe würdig. Julius war der Vertraute, er wußte daheralles genau, was ihn unglücklich machte, und urteilte mit Stren-ge über seinen eignen Unwert. Gegen diesen wandte sich dieganze Kraft seiner Leidenschaft. Er entsagte der Hoffnung unddem Glück, aber er beschloß, es zu verdienen, und Herr übersich selbst zu werden. Nichts verabscheute er so sehr, als denGedanken, das Geringste von dem was ihn erfüllte, auch nurdurch ein undeutliches Wort, durch einen verstohlnen Seufzer zuverraten. Gewiß wäre auch jede Äußerung widersinnig gewesen,und da er so heftig, sie so fein, und das Verhältnis so zart war,hätte ein einziger Wink, von denen, die unwillkürlich scheinen,und doch bemerkt sein wollen, immer weiter führen, und allesverwirren müssen. Darum drängte er alle Liebe in sein Innersteszurück, und ließ da die Leidenschaft wüten, brennen und zehren;aber sein Äußeres war durchaus verwandelt, und so gut gelangihm der Schein der kindlichsten Unbefangenheit und Unerfah-renheit und einer gewissen brüderlichen Härte, die er annahm,

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damit er nicht aus dem Schmeichelhaften ins Zärtliche fallenmöchte, daß sie nie den leisesten Argwohn schöpfte. Sie warheiter und leicht in ihrem Glück, sie ahndete nichts, scheute alsonichts, sondern ließ ihrem Witz und ihrer Laune freies Spiel,wenn sie ihn unliebenswürdig fand. Überhaupt lag in ihremWesen jede Hoheit und jede Zierlichkeit, die der weiblichenNatur eigen sein kann, jede Gottähnlichkeit, und jede Unart,aber alles war fein, gebildet, und weiblich. Frei und kräftig ent-wickelte und äußerte sich jede einzelne Eigenheit, als sei sie nurfür sich allein da, und dennoch war die reiche, kühne Mischungso ungleicher Dinge im Ganzen nicht verworren, denn ein Geistbeseelte es, ein lebendiger Hauch von Harmonie und Liebe. Siekonnte in derselben Stunde irgend eine komische Albernheit mitdem Mutwillen und der Feinheit einer gebildeten Schauspielerinnachahmen, und ein erhabenes Gedicht vorlesen mit der hin-reißenden Würde eines kunstlosen Gesanges. Bald wollte sie inGesellschaft glänzen und tändeln, bald war sie ganz Begeiste-rung, und bald half sie mit Rat und Tat, ernst, bescheiden undfreundlich wie eine zärtliche Mutter. Eine geringe Begebenheitward durch ihre Art sie zu erzählen so reizend wie ein schönesMärchen. Alles umgab sie mit Gefühl und mit Witz, sie hatteSinn für alles, und alles kam veredelt aus ihrer bildenden Handund von ihren süß redenden Lippen. Nichts Gutes und Großeswar zu heilig oder zu allgemein für ihre leidenschaftlichste Teil-nahme. Sie vernahm jede Andeutung, und sie erwiderte auch dieFrage, welche nicht gesagt war. Es war nicht möglich, Redenmit ihr zu halten; es wurden von selbst Gespräche und währenddem steigenden Interesse spielte auf ihrem feinen Gesichte eineimmer neue Musik von geistvollen Blicken und lieblichen Mie-nen. Dieselben glaubte man zu sehen, wie sie sich bei dieseroder bei jener Stelle veränderten, wenn man ihre Briefe las, sodurchsichtig und seelenvoll schrieb sie, was sie als Gesprächgedacht hatte. Wer sie nur von dieser Seite kannte, hätte denkenkönnen, sie sei nur liebenswürdig, sie würde als Schauspielerinbezaubern müssen, und ihren geflügelten Worten fehle nur Maß

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und Reim, um zarte Poesie zu werden. Und doch zeigte ebendiese Frau bei jeder großen Gelegenheit Mut und Kraft zumErstaunen, und das war auch der hohe Gesichtspunkt, aus demsie den Wert der Menschen beurteilte.Diese Größe der Seele war die Seite, von der Julius im Anfangeseiner Leidenschaft ihr Wesen am meisten ergriff, weil diese zudem Ernst derselben am besten stimmte. Sein ganzes Wesen wargleichsam von der Oberfläche zurückgetreten nach dem Innern;er versank in eine allgemeine Verschlossenheit und floh denUmgang der Menschen. Rauhe Felsen waren seine liebsteGesellschaft, am Gestade des einsamen Meeres hing er seinenGedanken nach, und ging zu Rate mit sich selbst, und wenn dasSausen des Windes in den hohen Tannen rauschte, so wähnte er,die mächtigen Wogen tief unter ihm wollten sich aus Teilnahmeund Mitleiden ihm nähern, und schwermütig blickte er den fer-nen Schiffen nach und der sinkenden Sonne. Dieser Ort war seinLiebling, er ward ihm durch die Erinnerung zu einer heiligenHeimat aller Schmerzen und Entschlüsse.Die Vergötterung seiner erhabenen Freundin wurde für seinenGeist ein fester Mittelpunkt und Boden einer neuen Welt. Hierschwanden alle Zweifel, in diesem wirklichen Gute fühlte er denWert des Lebens und ahndete die Allmacht des Willens. Er standin Wahrheit auf frischem Grün einer kräftigen mütterlichenErde, und ein neuer Himmel wölbte sich unermeßlich über ihmim blauen Äther. Er erkannte in sich den hohen Beruf zur göttli-chen Kunst, er schalt seine Trägheit, daß er noch so weit zurücksei in der Bildung und zu weichlich gewesen war zu jeder gewal-tigen Anstrengung. Er ließ sich nicht in müßige Verzweiflungsinken, sondern er folgte der weckenden Stimme jener heiligenPflicht. Alle Mittel, die ihm die Verschwendung noch gelassenhatte, spannte er nun an. Er zerriß alle Bande von ehedem, undmachte sich mit einem Streich ganz unabhängig. Seine Kraft undseine Jugend weihte er der erhabenen künstlerischen Arbeit undBegeisterung. Er vergaß sein Zeitalter und bildete sich nach denHelden der Vorwelt, deren Ruinen er mit Anbetung liebte. Auch

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für ihn selbst gab es keine Gegenwart, denn er lebte nur in derZukunft und in der Hoffnung, dereinst ein ewiges Werk zu voll-enden zum Denkmal seiner Tugend und seiner Würde.So litt und lebte er viele Jahre, und wer ihn sah, hielt ihn fürälter als er war. Was er bildete, war groß gedacht und in altemStil, aber der Ernst war abschreckend, die Formen fielen insUngeheure, das Antike ward ihm zu einer harten Manier, undseine Gemälde blieben bei aller Gründlichkeit und Einsicht steifund steinern. Es war vieles zu loben, nur die Anmut fehlte; unddarin glich er seinen Werken. Sein Charakter war rein gebranntim Leiden göttlicher Liebe und glänzte in heller Kraft, aber erwar spröde und starr wie echter Stahl. Er war aus Kälte ruhig,und nur dann geriet er in Aufruhr, wenn ihn eine hohe Wildnisder einsamen Natur mehr als gewöhnlich reizte, wenn er seinerentfernten Freundin treuen Bericht gab von dem Kampf seinerBildung und dem Ziel aller Arbeit, oder wenn ihn die Begeiste-rung für die Kunst in Gegenwart andrer überraschte, daß nachlangem Schweigen einige geflügelte Worte aus seinem innerstenGemüt brachen. Doch das geschah nur selten, denn er nahm sowenig Anteil an den Menschen als an sich selbst. Über ihr Glückund ihr Beginnen konnte er nur freundlich lächeln und er glaub-te es ihnen aufs Wort, wenn er bemerkte, wie sie ihn unliebendund unliebenswürdig fanden.Doch schien ihn eine edle Frau etwas zu bemerken und vorzu-ziehn. Ihr feiner Geist und ihr zartes Gefühl zog ihn lebhaft an,da sie noch durch den Reiz einer liebenswürdigen und dabeisonderbaren Gestalt und durch ein Auge voll stiller Schwermuterhöht wurden. Aber so oft er herzlicher werden wollte, ergriffihn das alte Mißtrauen und die gewohnte Kälte. Er sah sie häu-fig und konnte sich nie äußern, bis auch dieser Strom vonGefühl zurückfloß in das innere Meer allgemeiner Begeiste-rung. Selbst die Gebieterin des Herzens trat in ein heiliges Dun-kel zurück, und würde ihm fern geblieben sein, wenn er sie wie-dergesehn hätte.

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Das einzige was ihn milder und wärmer stimmte, war der Um-gang mit einer anderen Frau, die er als Schwester ehrte und lieb-te, und die er auch ganz so betrachtete. Er stand schon länger inbürgerlichen Verhältnissen mit ihr, sie war kränklich und etwasälter wie er; dabei aber von hellem reifem Verstand, von grademgesundem Sinn, und selbst im Auge der Fremden bis zur Lie-benswürdigkeit rechtlich. Alles was sie unternahm, atmete denGeist freundlicher Ordnung, und wie von selbst entwickelte sichdie gegenwärtige Tätigkeit allmählich aus der vorigen undbezog sich still auf die künftige. In dieser Anschauung begriff esJulius klar, daß es keine andre Tugend gebe als Konsequenz.Aber es war nicht die kalte steife Übereinstimmung berechneterGrundsätze oder Vorurteile, sondern die beharrliche Treue einesmütterlichen Herzens, das den Kreis seiner Wirksamkeit undseiner Liebe mit bescheidner Kraft erweitert und in sich selbstvollendet, und die rohen Dinge der umgebenden Welt zu einemfreundlichen Eigentum und Werkzeug des geselligen Lebensbildet. Dabei war ihr jede Beschränktheit häuslicher Frauenfremd, und mit tiefer Schonung und gefühlter Milde sprach sieüber die herrschenden Meinungen der Menschen, und über dieAusnahmen und Ausschweifungen derer, die gegen den Stromleben: denn ihr Verstand war so unbestechlich als ihr Gefühlrein und unverfälscht. Sie sprach überhaupt gern, vorzüglichüber sittliche Gegenstände, wo sie den Streit oft ins Allgemeinespielte und auch wohl an Spitzfindigkeiten Gefallen hatte, wennsie etwas zu enthalten schienen und sinnreich klangen. Sie warnicht sparsam mit Worten und ihr Gespräch ward durch keineängstliche Ordnung gelenkt. Es war eine reizende Verwirrungvon einzelnen Einfällen und allgemeiner Teilnahme, von fort-gesetzter Aufmerksamkeit und plötzlicher Zerstreuung.Die Natur belohnte endlich die mütterliche Tugend der vor-trefflichen Frau und es keimte, da sie es kaum hoffte, ein neuesLeben unter ihrem treuen Herzen. Das erfüllte den Jüngling, derso sehr an ihr hing und an ihrem häuslichen Glücke den wärm-

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sten Anteil nahm, mit lebhafter Freude: aber es regte vieles inihm an, was lange geschwiegen hatte.Da nun einige seiner künstlerischen Versuche auch in seinerBrust ein neues Zutrauen weckten, und ihn der erste Beifallgroßer Meister aufmunterte; da ihn die Kunst an neue sehens-würdige Orte und unter fremde fröhliche Menschen führte: soerweichte sich sein Gefühl und floß mächtig, wie ein großerStrom, wenn das Eis schmilzt und bricht, und die Wogen mitneuer Kraft sich durch die alte Bahn reißen.Er war verwundert sich wieder ausgelassen und fröhlich in derGesellschaft der Menschen zu fühlen. Seine Denkart war männ-lich und rauh, aber sein Herz in der Einsamkeit wieder kindlichund schüchtern geworden. Er sehnte sich nach einer Heimat unddachte an eine schöne Ehe, die mit den Foderungen der Kunstnicht streiten sollte. War er dann unter der Blüte jungerMädchen, so fand er leicht eine oder mehrere von ihnen lie-benswürdig. Heiraten, meinte er, wolle er sie gleich, wenn er sieschon nicht lieben könne. Denn der Begriff und selbst der Nameder Liebe war ihm überheilig und blieb ganz in der Ferne. Beisolchen Gelegenheiten lächelte er dann über die scheinbareBeschränktheit seiner augenblicklichen Wünsche und fühltewohl, wie unermeßlich viel ihm noch fehlen möchte, wenn siedurch einen Zauberschlag sogleich erfüllt würden. Ein anderes-mal lachte er lauter über seine alte Heftigkeit nach so langemEnthalten, da ihm eine schnelle Gelegenheit einen frischenGenuß anbot, und sein Gemüt durch einen Roman, der in weni-gen Minuten angefangen, vollendet und beschlossen war,wenigstens von einigem Brennstoff befreite und erleichterte.Einem sehr gebildeten Mädchen gefiel er, weil er ihr seelen-volles Gespräch und ihren schönen Geist mit sichtbarer Innig-keit bewunderte, und ihr, ohne eine Schmeichelei auszuspre-chen, bloß durch die Art seines Umgangs huldigte, so gut, daßsie ihm nach und nach alles erlaubte, außer das letzte. Undselbst diese Grenze setzte sie ihm nicht aus Kälte, noch aus Vor-sicht und Grundsatz: denn sie war reizbar genug, sie hatte eine

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starke Anlage zum Leichtsinn und lebte in den freisten Verhält-nissen. Es war weiblicher Stolz und Scheu vor dem, was sie fürtierisch und roh hielt. So wenig nun ein solches Beginnen ohneVollendung nach Julius Sinne war, und obgleich er über die klei-ne Einbildung des Mädchens lächeln mußte, wenn er bei diesemverkehrten und verkünstelten Wesen an das Schaffen und Wir-ken der allmächtigen Natur, an ihre ewigen Gesetze, an dieHoheit und Größe der Mutterwürde, und an die Schönheit desMannes dachte, den in der Fülle der Gesundheit und Liebe dieBegeisterung des Lebens ergreift, oder des Weibes, das sich ihrhingibt: so freute er sich doch bei dieser Gelegenheit zu sehn,daß er den Sinn für zarten und feinen Genuß noch nicht verlo-ren habe.Bald aber vergaß er diese und andre ähnliche Kleinigkeiten, daer eine junge Künstlerin traf, welche das Schöne gleich ihm lei-denschaftlich verehrte, die Einsamkeit und Natur ebenso zu lie-ben schien. In ihren Landschaften sah und fühlte man den leben-digen Hauch wahrer Luft, es war immer ein ganzer Blick. DieUmrisse waren zu unbestimmt, und zwar auf eine solche Weise,daß sie den Mangel einer gründlichen Schule verrieten. Aberalle die Massen stimmten zusammen zu einer Einheit für dasGefühl, die so klar und deutlich war, als sei es unmöglich, etwasanderes dabei zu fühlen. Sie trieb die Malerei nicht wie einGewerbe oder eine Kunst, sondern bloß aus Lust und Liebe, undwarf jede Ansicht, so wie auf ihren Wanderungen ihr eine gefieloder merkwürdig schien, nach Zeit und Laune mit der Federoder in Wasserfarben aufs Papier. Zum Öl hatte es ihr an Geduldund an Fleiß gefehlt, und selten malte sie ein Portrait, nur wannsie ein Gesicht sehr ausgezeichnet und wert hielt. Dann arbeite-te sie mit der gewissenhaftesten Treue und Sorgfalt und wußtedie Pastellfarben mit einer bezaubernden Weichheit zu behan-deln. So bedingt und gering der Wert dieser Versuche für dieKunst sein mochte, so freute sich Julius doch nicht wenig überdie schöne Wildheit in ihren Landschaften und über den Geist,mit dem sie die unergründliche Mannichfaltigkeit und wunder-

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bare Übereinstimmung der menschlichen Gesichtszüge auffaß-te. Und so einfach die der Künstlerin selbst waren, so waren siedoch nicht unbedeutend, und Julius fand in ihnen einen großenAusdruck, der ihm immer neu blieb.Lucinde hatte einen entschiednen Hang zum Romantischen, erfühlte sich betroffen über die neue Ähnlichkeit und er entdeck-te immer mehrere. Auch sie war von denen, die nicht in dergemeinen Welt leben, sondern in einer eignen selbstgedachtenund selbstgebildeten. Nur was sie von Herzen liebte und ehrte,war in der Tat wirklich für sie, alles andre nichts; und sie wußtewas Wert hat. Auch sie hatte mit kühner Entschlossenheit alleRücksichten und alle Bande zerrissen und lebte völlig frei undunabhängig.Die wunderbare Gleichheit zog den Jüngling bald in ihre Nähe,er bemerkte, daß auch sie diese Gleichheit fühle, und beide nah-men es gewahr, daß sie sich nicht gleichgültig wären. Es warnoch nicht lange daß sie sich sahen und Julius wagte nur ein-zelne abgerißne Worte, die bedeutend aber nicht deutlich waren.Er sehnte sich mehr von ihren Schicksalen und ihrem ehemali-gen Leben zu wissen, worüber sie gegen andre sehr geheimnis-voll war. Ihm gestand sie nicht ohne gewaltsame Erschütterung,sie sei schon Mutter gewesen von einem schönen starken Kna-ben, den ihr der Tod bald wieder entrissen. Auch er erinnertesich an die Vergangenheit und sein Leben ward ihm, indem er esihr erzählte, zum erstenmal zu einer gebildeten Geschichte. Wiefreute sich Julius, da er mit ihr über Musik sprach, und seineinnersten und eigensten Gedanken über den heiligen Zauberdieser romantischen Kunst aus ihrem Munde hörte! Da er ihrenGesang vernahm, der sich rein und stark gebildet aus tiefer wei-cher Seele hob, da er ihn mit dem seinigen begleitete, und ihreStimmen bald in Eins flossen, bald Fragen und Antworten derzartesten Empfindung wechselten, für die es keine Sprache gibt!Er konnte nicht widerstehn, er drückte einen schüchternen Kußauf die frischen Lippen und die feurigen Augen. Mit ewigemEntzücken fühlte er das göttliche Haupt der hohen Gestalt auf

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seine Schulter sinken, die schwarzen Locken flossen über denSchnee des vollen Busens und des schönen Rückens, leise sagteer herrliche Frau! als die fatale Gesellschaft unerwartet herein-trat.Nun hatte sie ihm nach seinen Begriffen eigentlich schon allesgewährt; es war ihm nicht möglich zu künsteln an einem Ver-hältnis, das er sich so rein und groß dachte, und doch war ihmjede Zögerung unerträglich. Von einer Gottheit, dachte er, be-gehrt man nicht erst das, was man nur als Übergang und Mitteldenkt, sondern man bekennt sogleich mit Offenheit und Zuver-sicht das Ziel aller Wünsche. So bat auch er sie mit der unschul-digsten Unbefangenheit um alles, was man eine Geliebte bittenkann, und stellte ihr in einem Strome von Beredsamkeit dar, wieseine Leidenschaftlichkeit ihn zerstören würde, wenn sie zuweiblich sein wollte. Sie war nicht wenig überrascht, aber sieahndete wohl, daß er nach der Hingebung liebender und treuersein würde wie vorher. Sie konnte keinen Entschluß fassen, undüberließ es nur den Umständen, die es so fügten, wie es gut war.Sie waren nur wenige Tage allein, als sie sich ihm auf ewigergab und ihm die Tiefe ihrer großen Seele öffnete, und alleKraft, Natur und Heiligkeit, die in ihr war. Auch sie lebte langein gewaltsamer Verschlossenheit, und nun brachen zwischen denUmarmungen in Strömen der Rede das zurückgedrängte Zutrau-en und die Mitteilung mit einemmale hervor aus dem innerstenGemüt. In einer Nacht wechselten sie mehr als einmal heftig zuweinen und laut zu lachen. Sie waren ganz hingegeben und einsund doch war jeder ganz er selbst, mehr als sie es noch je gewe-sen waren, und jede Äußerung war voll vom tiefsten Gefühl undeigensten Wesen. Bald ergriff sie eine unendliche Begeisterung,bald tändelten und scherzten sie mutwillig und Amor war hierwirklich, was er so selten ist, ein fröhliches Kind.Durch das, was seine Freundin ihm offenbart hatte, ward es demJünglinge klar, daß nur ein Weib recht unglücklich sein kannund recht glücklich, und daß die Frauen allein, die mitten imSchoß der menschlichen Gesellschaft Naturmenschen geblieben

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sind, den kindlichen Sinn haben, mit dem man die Gunst undGabe der Götter annehmen muß. Er lernte das schöne Glückehren, was er gefunden hatte, und wenn er es mit dem häßlichenunechten Glück verglich, was er ehedem vom Eigensinn desZufalls künstlich erzwingen wollte, so erschien es ihm wie einenatürliche Rose am lebendigen Stamm gegen eine nachgemach-te. Aber weder im Taumel der Nächte noch in der Freude derTage wollte er es Liebe nennen. So sehr hatte er sich beredet,daß diese gar nicht für ihn sei und er nicht für sie! Es fand sichleicht ein Unterschied, um diese Selbsttäuschung zu bestätigen.Er hege, so war sein Urteil, eine heftige Leidenschaft für sie undwerde ewig ihr Freund sein. Was sie ihm gab und für ihn fühlte,nannte er Zärtlichkeit, Erinnerung, Hingabe und Hoffnung.Indessen floß die Zeit und die Freude wuchs. Julius fand inLucindens Armen seine Jugend wieder. Die üppige Ausbildungihres schönen Wuchses war für die Wut seiner Liebe und seinerSinne reizender, wie der frische Reiz der Brüste und der Spiegeleines jungfräuliches Leibes. Die hinreißende Kraft und Wärmeihrer Umschließung war mehr als mädchenhaft; sie hatte einenAnhauch von Begeisterung und Tiefe, den nur eine Mutterhaben kann. Wenn er sie im Zauberschein einer milden Däm-merung hingegossen sah, konnte er nicht aufhören, die schwel-lenden Umrisse schmeichelnd zu berühren, und durch die zarteHülle der ebnen Haut die warmen Ströme des feinsten Lebenszu fühlen. Sein Auge indessen berauschte sich an der Farbe diesich durch die Wirkung der Schatten vielfach zu verändern schien und doch immer eine und dieselbe blieb. Eine reineMischung, wo nirgends Weiß oder Braun oder Rot alleinabstach oder sich roh zeigte. Das alles war verschleiert und ver-schmolzen zu einem einzigen harmonischen Glanz von sanftemLeben. – Auch Julius war männlich schön, aber die Männlich-keit seiner Gestalt offenbarte sich nicht in der hervorgedrängtenKraft der Muskeln. Vielmehr waren die Umrisse sanft, die Glie-der voll und rund, doch war nirgends ein Überfluß. In hellemLicht bildete die Oberfläche überall breite Massen und der glat-

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te Körper schien dicht und fest wie Marmor, und in den Kämp-fen der Liebe entwickelte sich mit einemmale der ganze Reich-tum seiner kräftigen Bildung.Sie erfreuten sich des jugendlichen Lebens, Monate vergingenwie Tage und mehr als zwei Jahre waren vorüber. Nun wardJulius erst allmählich inne, wie groß seine Ungeschicklichkeitsei und sein Mangel an Verstand. Er hatte die Liebe und dasGlück überall gesucht, wo sie nicht zu finden waren, und nun daer das Höchste besaß, hatte er nicht einmal gewußt oder gewagt,ihm den rechten Namen zu geben. Er erkannte nun wohl, daßdie Liebe, die für die weibliche Seele ein unteilbares durchauseinfaches Gefühl ist, für den Mann nur ein Wechsel und eineMischung von Leidenschaft, von Freundschaft und von Sinn-lichkeit sein kann; und er sah mit frohem Erstaunen, daß er ebenso unendlich geliebt werde wie er liebe.Überhaupt schien es vorherbestimmt, daß jede Begebenheit sei-nes Lebens ihn durch ein sonderbares Ende überraschen solle.Nichts zog ihn anfangs so sehr an, und hatte ihn so mächtiggetroffen, als die Wahrnehmung, daß Lucinde von ähnlichem jagleichem Sinn und Geist mit ihm selbst war, und nun mußte ervon Tage zu Tage neue Verschiedenheiten entdecken. Zwargründeten sich selbst diese nur auf eine tiefere Gleichheit, undje reicher ihr Wesen sich entwickelte, je vielseitiger und innigerward ihre Verbindung. Er hatte es nicht geahndet, daß ihre Ori-ginalität so unerschöpflich war wie ihre Liebe. Ihr Aussehnsogar schien jugendlicher und blühender in seiner Gegenwart;und so blühte auch ihr Geist durch die Berührung des seinigenauf und bildete sich in neue Gestalten und in neue Welten. Erglaubte alles in ihr vereinigt zu besitzen, was er sonst einzelngeliebt hatte: die schöne Neuheit des Sinnes, die hinreißendeLeidenschaftlichkeit, die bescheidne Tätigkeit und Bildsamkeitund den großen Charakter. Jedes neue Verhältnis, jede neueAnsicht war für sie ein neues Organ der Mitteilung und Harmo-nie. Wie der Sinn für einander, wuchs auch der Glauben an ein-ander, und mit dem Glauben stieg der Mut und die Kraft.

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Sie teilten ihre Neigung zur Kunst und Julius vollendete einiges.Seine Gemälde belebten sich, ein Strom von beseelendem Lichtschien sich darüber zu ergießen und in frischer Farbe blühte daswahre Fleisch. Badende Mädchen, ein Jüngling der mit gehei-mer Lust sein Ebenbild im Wasser anschaut, oder eine holdseliglächelnde Mutter mit dem geliebten Kinde im Arm waren bei-nah die höchsten Gegenstände seines Pinsels. Die Formen selbstentsprachen vielleicht nicht immer den angenommenen Geset-zen einer künstlichen Schönheit. Was sie dem Auge empfahl,war eine gewisse stille Anmut, ein tiefer Ausdruck von ruhigemheitern Dasein und von Genuß dieses Daseins. Es schienenbeseelte Pflanzen in der gottähnlichen Gestalt des Menschen.Eben diesen liebenswürdigen Charakter hatten auch seineUmarmungen, in deren Verschiedenheit er unerschöpflich war.Die malte er am liebsten, weil der Reiz seines Pinsels sich hieram schönsten zeigen konnte. In ihnen schien wirklich der flüch-tige und geheimnisvolle Augenblick des höchsten Lebens durcheinen stillen Zauber überrascht und für die Ewigkeit angehalten.Je entfernter von bacchantischer Wut, je bescheidner und liebli-cher die Behandlung war, je verführerischer war der Anblick,bei dem Jünglinge und Frauen ein süßes Feuer durchströmte.Wie seine Kunst sich vollendete und ihm von selbst in ihr ge-lang, was er zuvor durch kein Streben und Arbeiten erringenkonnte: so ward ihm auch sein Leben zum Kunstwerk, ohne daßer eigentlich wahrnahm, wie es geschah. Es ward Licht in sei-nem Innern, er sah und übersah alle Massen seines Lebens undden Gliederbau des Ganzen klar und richtig, weil er in der Mittestand. Er fühlte, daß er diese Einheit nie verlieren könne, dasRätsel seines Daseins war gelöst, er hatte das Wort gefunden,und alles schien ihm dazu vorherbestimmt und von den frühstenZeiten darauf angelegt, daß er es in der Liebe finden sollte, zuder er sich aus jugendlichem Unverstand ganz ungeschicktgeglaubt hatte.Leicht und melodisch flossen ihnen die Jahre vorüber, wie einschöner Gesang, sie lebten ein gebildetes Leben, auch ihre

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Umgebung ward harmonisch und ihr einfaches Glück schienmehr ein seltnes Talent als eine sonderbare Gabe des Zufalls.Julius hatte auch sein äußeres Betragen verändert; er war gesel-liger, und obgleich er viele ganz verwarf, um sich mit wenigendesto inniger zu verbinden, so unterschied er doch nicht mehr sohart, wurde vielseitiger und lernte das Gewöhnliche veredeln.Er zog allmählich manche vorzügliche Menschen an sich,Lucinde verband und erhielt das Ganze und so entstand einefreie Gesellschaft, oder vielmehr eine große Familie, die sichdurch ihre Bildung immer neu blieb. Auch vorzügliche Auslän-der erhielten den Zutritt. Julius sprach seltner mit ihnen, aberLucinde wußte sie gut zu unterhalten; und zwar so, daß ihre gro-teske Allgemeinheit und ausgebildete Gemeinheit zugleich dieandern ergötzte, und weder ein Stillstand noch ein Mißlaut inder geistigen Musik erregt ward, deren Schönheit eben in derharmonischen Mannichfaltigkeit und Abwechselung bestand.Neben dem großen, ernsten Styl in der Kunst der Geselligkeitsollte auch jede nur reizende Manier und flüchtige Laune ihreStelle darin finden.Eine allgemeine Zärtlichkeit schien Julius zu beseelen, nicht einnützendes oder mitleidendes Wohlwollen an der Menge, son-dern eine anschauende Freude über die Schönheit des Men-schen, der ewig bleibt, während die einzelnen schwinden; undein reger und offner Sinn für das Innerste in sich und in andern.Er war fast immer gleich gestimmt zum kindlichsten Scherz undzum heiligsten Ernst. Er liebte nicht mehr nur die Freundschaftin seinen Freunden, sondern sie selbst. Jede schöne Ahndungund Andeutung die in der Seele liegt, strebte er im Gespräch mitähnlich Gesinnten ans Licht zu bringen und zu entwickeln. Daward sein Geist in vielfachen Richtungen und Verhältnissenergänzt und bereichert. Aber die volle Harmonie fand er auchvon dieser Seite allein in Lucindens Seele, wo die Keime allesHerrlichen und alles Heiligen nur auf den Strahl seines Geisteswarteten, um sich zur schönsten Religion zu entfalten.

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Ich versetze mich gern in den Frühling unsrer Liebe; ich sehealle die Veränderungen und Verwandlungen, ich lebe sie nocheinmal, und ich möchte wenigstens einige von den leisen Um-rissen des entfliehenden Lebens ergreifen und zu einem blei-benden Bilde gestalten, jetzt da es noch voller warmer Sommerin mir ist, ehe auch das vorüber und es auch dazu zu spät wird.Wir Sterblichen sind, so wie wir hier sind, nur die edelstenGewächse dieser schönen Erde. Die Menschen vergessen das soleicht, höchlich mißbilligen sie die ewigen Gesetze der Welt undwollen die geliebte Oberfläche durchaus im Mittelpunkte wie-der finden. Nicht also du und ich. Wir sind dankbar und zufrie-den mit dem was die Götter wollen und was sie in der heiligenSchrift der schönen Natur so klar angedeutet haben. Dasbescheidne Gemüt erkennt es, daß es auch seine wie aller Dingenatürliche Bestimmung sei, zu blühen, zu reifen und zu welken.Aber es weiß, daß eines doch in ihm unvergänglich sei. Diesesist die ewige Sehnsucht nach der ewigen Jugend, die immer daist und immer entflieht. Noch klaget die zärtliche Venus61 umden Tod des holden Adonis62 in jeder schönen Seele. Mit süßemVerlangen erwartet und sucht sie den Jüngling, mit zarter Weh-mut erinnert sie sich an die himmlischen Augen des Geliebten,an die sanften Züge und an die kindlichen Gespräche und Scher-ze, und lächelt dann eine Träne, hold errötend, auch sich nununter den Blumen der bunten Erde zu erblicken.Andeuten will ich dir wenigstens in göttlichen Sinnbildern, wasich nicht zu erzählen vermag. Denn wie ich auch die Ver-gangenheit überdenke, und in mein Ich zu dringen strebe, umdie Erinnerung in klarer Gegenwart anzuschauen und dich an-schauen zu lassen: es bleibt immer etwas zurück, was sich nichtäußerlich darstellen läßt, weil es ganz innerlich ist. Der Geistdes Menschen ist sein eigner Proteus,63 verwandelt sich und willnicht Rede stehn vor sich selbst, wenn er sich greifen möchte. Injener tiefsten Mitte des Lebens treibt die schaffende Willkür ihrZauberspiel. Da sind die Anfänge und Enden, wohin alle Fädenim Gewebe der geistigen Bildung sich verlieren. Nur was all-

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mählig fortrückt in der Zeit und sich ausbreitet im Raume, nurwas geschieht ist Gegenstand der Geschichte. Das Geheimniseiner augenblicklichen Entstehung oder Verwandlung kann mannur erraten und durch Allegorie64 erraten lassen.Es war nicht ohne Grund, daß der fantastische Knabe, der miram meisten gefiel unter den vier unsterblichen Romanen, die ichim Traum sah, mit der Maske spielt. Auch in dem was reine Dar-stellung und Tatsache scheint, hat sich Allegorie eingeschlichen,und unter die schöne Wahrheit bedeutende Lügen gemischt.Aber nur als geistiger Hauch schwebt sie beseelend über dieganze Masse, wie der Witz, der unsichtbar mit seinem Werkespielt und nur leise lächelt.Es gibt Dichtungen in der alten Religion, die selbst in ihr einzigschön, heilig und zart erscheinen. Die Poesie hat sie so fein undreich gebildet und umgebildet, daß ihre schöne Bedeutsamkeitunbestimmt geblieben ist, und immer neue Deutungen und Bil-dungen erlaubt. Unter diesen habe ich, um dir einiges von demanzudeuten, was ich über die Metamorphosen des liebendenGemüts ahnde, die gewählt, von denen ich glaubte, der Gott derHarmonie könnte sie, nachdem ihn die Liebe vom Himmel aufdie Erde geführt und ihn zum Hirten gemacht, den Musenerzählt oder doch von ihnen angehört haben. Damals an denUfern des Amphrysos65 hat er auch, wie ich glaube, die Idylleund die Elegie ersonnen.

Friedrich Schlegel: Lucinde – Lehrjahre der Männlichkeit, in:KFSA1, S. 35-59.

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10. Friedrich Schleiermacher:Notiz zur ‚Lucinde‘

Lucinde. Ein Roman von Friedrich Schlegel. Erster Theil.Frölich. Berlin 1799.

Wenn ehedem eine Unglückselige der schwarzen Kunst halberangeklagt wurde, war es höchst gefährlich, ihre Unschuld ehervindiciren zu wollen, als bis sie glücklich abgethan war. VonBüchern wird dies wohl immer gelten, und deßhalb ist, ausschuldiger Achtung gegen die öffentliche Meinung, von derLucinde in diesen Blättern noch nicht die Rede gewesen. In derThat hat das Verfahren gegen dieses Buch – in der äußerenErscheinung wenigstens – eine schneidende Aehnlichkeit mitjenen Prozessen, wo es doch die Bosheit war, welche die An-klage bildete, und die fromme Einfalt, die das Urtheil vollzog;Kräfte, die in der litterarischen Welt gar nicht existiren sollten.Hat man etwa, nachdem sich die fürchterlichen Anklagen voneinzelnen, aller Sittlichkeit und aller Ordnung Hohn sprechen-den Stellen, und von einem verderblichen Geiste des Ganzenerhoben hatten, das Buch gelesen? Eben so wenig, als man sichum die eigentlichen Facta bei jenen Prozessen zu bekümmernpflegte. Aber Einer spricht und deutet dem Andern nach; undnachdem das Publikum auf diese Art bearbeitet ist, bleibt denRichtern nichts übrig, als – statt der Kritik – ihre gute Ermah-nung noch zu verlieren. Jetzt, nachdem das Buch vor einigenWochen, wie man laas, förmlich, unter allen, bei solchen Gele-genheiten üblichen, gottseligen Ceremonien, verbrannt ist, kannman eher versuchen, eine natürliche, nicht vom Aberglaubeneingegebene Ansicht geltend zu machen, und durch Aufmunte-rung zum eigenen Lesen die Ergötzlichkeit vorzubereiten, diedie Vergleichung des Buches mit der gemeinen Meinung davoneinem Jeden gewähren muß. In der That, wenn ein Arzt seinemKranken eine unschuldige Dosis Salpeter verschreibt, und die-ser, anstatt das Mittel zu nehmen, es zerlegt, und ihn dann als

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einen Giftmischer anklagt, der Scheidewasser verordnet, sokann das kaum lustiger seyn. Es ist freilich etwas bekanntes, daßdie Liebe unter diejenigen Erscheinungen des Gemüths gehört,welche von den Wenigsten, ihrem innern Wesen nach, begriffenwerden, und auf welche schon der Hauch der Meisten eine zer-setzende Kraft äußert; aber doch, wenn nun nach dieser schönenOperation die doppelte Klage entsteht, der Verfasser habe einverführerisches Buch schreiben wollen, es aber zum Glückselbst unschädlich gemacht durch die metaphysische Schwär-merei, von der er nun einmal nicht lassen könne; oder, er habediesmal seinen wohlbekannten Unsinn über die Liebe ergießenwollen, sich aber dabei der Libertinage nicht entäußern können,von der sein verderbtes Herz voll sey: so enthalte sich einer desLachens über diese Weisheit, die weder in so schönen und kla-ren Widersprüchen ihren eigenen Unverstand wittert, nochdurch den Anblick derselben zu einer Ahndung von der höhe-ren Absicht des Werks geleitet wird.Erwartet hatten wir eine andere Klage, zu der aber wahrschein-lich, jener Mißverständnisse wegen, noch Niemand Raumgefunden hat, daß nämlich die Lucinde eher alles andere sey, alsein Roman, da sie in Stoff und Form von allem abweicht, wasfür wesentlich dazu gehalten wird. Wie sie dennoch durch Stoffund Form, die einander ganz vorzüglich angemessen sind, die-ser Gattung angehöre, kann hier nur leise angedeutet werden.Schon die so gewöhnliche Vergleichung des Romantischen mitdem Dramatischen führt darauf, daß Jenes eine so viel möglichvollendete Anschauung des innern Menschen geben soll. Auchdiese kann freilich nicht anders, als durch Darstellung des Han-delns hervorgebracht werden; aber nur wer von dem Glaubenausgeht, daß dem Menschen sein Inneres lediglich von außenangebildet werde, kann das äußere Handeln dazu für hinrei-chend halten; jeder Andere wird fordern, daß Gesinnungen undAnsichten unmittelbarer ausgesprochen werden, und Aeußerun-gen verkommen sollen, bei denen die Beziehung auf einenGegenstand gegen die Beziehung auf Ideen zurücktritt und ver-

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schwindet. Alsdann scheint die erzählende Form nur an denEnden des Romans zu liegen, da nämlich, wo der Mensch seineFreiheit und Eigenthümlichkeit noch nicht gefunden hat, undalso noch durch den Zusammenhang des äußern Lebens äußer-lich gebildet wird; oder da, wo er schon durch Freiheit seinäußeres Leben und seine Welt sich selbst bildet. Nach diesenGrundsätzen scheint die Lucinde construirt zu seyn, ob siegleich am Ende dieses Theils noch nicht den letzteren Punkterreicht hat, sondern in der Mitte, im Reflectiren über sich selbstund die Welt, und im organischen Ausbilden des eigenenWesens stehen geblieben ist. Daher ist hier alles dem Heldenselbst in die Feder gelegt, und nur die Zeit seines Suchens derLiebe in erzählender Form, und – um die Gränzen derselbendesto besser halten zu können – in der dritten Person ausge-sprochen, alles Uebrige aber unmittelbar an die Geliebte gerich-tet als Brief, als Selbstgespräch, als Phantasie. Was vor jenemhistorischen Theile hergeht, enthält – außer dem, was es für sichselbst ist – in mancherlei Gestalten eine Exposition des Stoffsund der Form, des Punktes von dem das Ganze ausgeht, desGeistes der darin weht, und der Welt von Lesern und Freunden,welche die Dichtung sich bilden möchte. Zu diesem Endzweckeist alles nothwendig, was da ist, die Aufstellung der Liebe, derFreude und des Scherzes in der dithyrambischen Phantasieunddem Dialogen Treue und Scherz, die Forderung einer unbeding-ten Freiheit der Mittheilung, und die Constitution, nicht sowohlder Episode, als der lyrischen Form des Ganzen, die Classifica-tion der Romane, und die Würdigung desjenigen der dergewöhnlichste ist, die Persiflage der leeren Geschäftigkeit unddes psychologischen Unwesens. In den Lehrjahren der Männ-lichkeit werden wir nun in eine frühere Zeit zurückgeführt, woJulius, durch das innere Bedürfniß getrieben, aber nichts ihmentsprechendes findend, was er sich zueignen könnte, sich infalschen Tendenzen und in innerer Verwirrung verzehret. DieErscheinung Lucindens, durch welche wir wieder auf den ei-gentlichen Anfangspunkt des Ganzen hingeführt werden, be-

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schließt dies historische Stück. Hier ruht die Dichtung gleich-sam noch einmal aus, und sieht von dem Individuellen in dasAllgemeine zurück, indem Julius, als ein neuer Pausias, seinerGeliebten aus zarten und ganz eigen gedeuteten Mythen einenKranz flicht, der sinnbildlich eine Geschichte des Strebens nachLiebe darstellt. Jetzt endlich nimmt das Ganze eine fortschrei-tende Richtung. Zwei Briefe schildern, der eine die reine Freu-de an der Liebe, die sich auch abwesend genießen läßt, und ihresüßesten Hofnungen in einer begeisterten Ahndung der Vater-würde, und des durch sie begründeten und nur durch sie rechtverständlichen häuslichen Lebens, der andere den tiefstenSchmerz bei der Lebensgefahr der Geliebten. Mit großer Weis-heit sind hier Julius und Lucinde entfernt gehalten, damit dieDarstellung des Inneren reiner sey, und der Eindruck davonnicht durch den des Aeußeren erdrückt werde. Zwei andereBriefe enthalten von der männlichen Freundschaft, die vor Ent-deckung der Liebe für Julius das höchste gewesen war, eineAnsicht aus seinem jetzigen Standpunkte. Indeß möchte es hierund an ein Paar andern Stellen zu tadeln seyn, daß äußere Ver-hältnisse, auf welche doch Bezug genommen wird, fast garnicht angedeutet sind. Ueberhaupt fehlt den letzteren Abschnit-ten selbst jenes lose Band, das die Stücke vor den Lehrjahrenzusammenhält, zwischen welchen ein Brief von Julius an Lucin-de hindurchläuft, in dem Alles eingeschaltet ist. Diese hierstehn, ohne eine solche äußere Einheit, nur neben einander.Freilich sind sie durch die innere Bedeutung genau verbunden;aber wenn auch der, welcher im Stande ist, das Ganze von sei-nem Prinzipien aus völlig zu verstehen, ein äußeres Bindungs-mittel nicht vermisset, so wie doch durch den Mangel desselbenjeder niedere Grad des Verstehens und das Fortschreiten darinvon einem andern Punkte aus gar sehr erschwert. Nach diesemEinzelnen sind Sehnsucht und Ruheund die Tändeleien derPhantasiewieder Darstellungen des Ganzen, des höchsten stil-len Genusses der Liebe und der durch sie vermittelten frohestenund freiesten Ansicht des Lebens. Wer von hier aus nicht alles

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übrige versteht, und mit dem Dichter eins wird, für den ist derGeist des Werks gewiß verlohren.Eben so eigen und neu, als die Oekonomie des Ganzen, ist auchdie Auswahl und Behandlung des Einzelnen. So wird zum Bei-spiel das Verhältniß der Personen zur Kunst fast bei allen, vondenen irgend die Rede ist, als ein Mittel der Charakterzeichnunggebraucht, und wirft auf die Figuren ein Licht, welches, wennnicht andere Gesetze dieses Werks verletzt werden sollten, nir-gend anders herkommen konnte. Dies ist eine der schwierigstenEigenheiten: denn wer nicht selbst einen gewissen Grad vonKunstsinn und Kenntniß hat, wird den Eindruck, welchergemacht werden soll, immer nur unbestimmt ahnden. Nächst-dem stellt auch die Kunst des Buches selbst sich bisweilen alsProlog und Epilog hin, um über die Composition mit dem Leserfreundlich zu reden, nicht nur vorne bei der etwas zu förmlichenConstitution der Form des Ganzen, sondern auch hie und da inBeziehung auf einzelne Theile, z. B. vor den Metamorphosenund nach der Reflexion. Wir wünschten, der Verfasser hätte beieiner solchen Gelegenheit auch Rechenschaft davon gegeben,warum die Vision und die Allegorie so sehr über alle andereFormen hervorragen, und unverhältnißmäßig oft wiederkehren;dagegen die dialogische, die dem Romane wesentlicher zu seynscheint, nur zweimal vorkommt. Aber freilich, wie sind auchdiese zwei Gespräche! Treue und Scherz so höchst charakteri-stisch, daß es in dieser Rücksicht nicht leicht übertroffen wer-den kann, und Sehnsucht und Ruhe so poetisch, so erhaben undheilig, daß man nichts darüber mit Worten sagen darf. Ueber-haupt kann man die Klage über den Mangel an Poesie nichternstlich nehmen: nur den zweiten Brief an Lucinde brauchtman zu lesen, um vom Gegentheile überzeugt zu seyn; und nungar alles übrige! Wie könnte es auch an Poesie fehlen, wo so vielLiebe ist!Durch die Liebe eben wird das Werk nicht nur poetisch, son-dern auch religiös und moralisch. Religiös, indem sie überallauf dem Standpunkte gezeigt wird, von dem sie über das Leben

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hinaus ins Unendliche sieht; moralisch, indem sie von derGeliebten aus sich über die ganze Welt verbreitet, und für Alle,wie für sich selbst, Freiheit von allen ungebührlichen Schrankenund Vorurtheilen fordert. Wie gestehen, das Verhältniß der Poe-sie zur Moral nicht leicht anderswo so rein gefunden zu haben,als hier, wo keine von beiden der andern dient, aber jede in derandern lebt und sie verherrlicht.

Friedrich Schleiermacher: Notiz zur Lucinde [Rez. Lucinde. EinRoman von Friedrich Schlegel. Erster Theil. Frölich. Berlin1799], in: Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks,Juli 1800, 2. Bd., S. 37-43.

11. Friedrich Schleiermacher:Zueignung an die Unverständigen

Lieben Freunde und Mitbürger in der Welt und in der Litteratur!Was von unser einem irgendwo gedruckt, oder auch nur fürmehr als Einen gesagt und geschrieben wird, es sei Großes oderKleines, das bringen wir immer sehr gern Euch zur Ansicht undPrüfung dar. Nicht etwa wegen Eurer reinen Verehrung fürWorte, Buchstaben ja alle einzelne Züge und Töne an sich; son-dern eigentlich aus ungeheuchelter Achtung für die Eucheigenthümliche Vortreflichkeit, und zu Folge der ehrfurchtsvol-len Gesinnungen, welche Euer hoher Beruf in der Welt uns ein-flößen muß. Bemerkt nur dabei die Unparteilichkeit und Offen-heit, die uns eigen ist, und achtet sie ein wenig, wenn Ihr könnt.Denn, daß ich es offenherzig bekenne, wenn ich mir denZustand und Fortgang der Menschheit betrachte, so erscheintIhr mir darin als das nothwendige Gegengewicht gegen dieunruhige Reizbarkeit, den fortschreitenden Geist und die thäti-ge Weisheit derjenigen, denen Euer auszeichnender Name nichtzukommt, und zugleich gegen die leichte Verführbarkeit des

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Neuerungssüchtigen Volkes, gleichsam als der hohe und nichtgenug zu verehrende Senat der Erhalter. Von Anbeginn der Welthabt Ihr diese Funktion zur Zufriedenheit des menschlichenGeschlechtes versehen: denn Euch allein verdanken wir es, daßes in dieser ewigen Fortschreitung etwas stillstehendes und blei-bendes giebt. Euch ist es gegeben, das bewegliche Leben ertöd-tend zu fesseln, und was sich ohne Euch immer weiter veredeltund fortgebildet hätte, die rohesten Anfänge der kindischen Ver-nunft und die ungeschickten Werke des Zufalls, in festen Zügendarzustellen. Sobald etwas dieser Art unter uns dem BesserenPlatz gemacht hat, bereitet Ihr es für Euch zu einer ewig dau-ernden Mumie, und bewahrt es als ein heiliges Palladium. Nichtvergeblich seid Ihr zu diesem Endzweck ausgerüstet mit jenergroßen Naturkraft, die keiner andern an Allgegenwart undUnbegreiflichkeit weicht, sich aber ganz besonders in Euch ver-herrlicht, durch Euren standhaften Widerwillen gegen Alles,was lebt und athmet. Zuerst wie billig vernichtet Ihr in Euchjede freie Bewegung, um durch Euer ganzes Leben und Seinden heiligen Dienst der ehernen Formeln, zu dem Ihr berufenseid, auszudrücken, und dann stellt Ihr Euch zum gerechten Ver-folgungskriege gegen Alles außer Euch, was dawider angeht,gleich unpartheiisch es sei Scherz oder Ernst, Witz oder Enthu-siasmus, Vernunft oder Leidenschaft, und sprecht über AllesEuer verdammendes Urtheil. Vorzüglich aber habt Ihr inAbsicht der Liebe eine Constitution zu vertheidigen, an derJahrhunderte gearbeitet haben, die die reifste Frucht ist von demschönen Bunde der Barbarei und der Verkünstelung, und derschon so viel Leben und Gedeihen geopfert ist, daß es wolthöricht wäre, nicht auch das wenige übrige noch hinzugeben,um sie aufrecht zu erhalten. Auch seid Ihr durch den reichlichenBesitz aller ökonomischen Herrlichkeiten, die sie Euch sichert,ihre zuverläßigsten und unbestechlichsten Verfechter. Und sowidme ich Euch im Vertrauen auf Euren heiligen Eifer dieseBlätter, um Euch das frevelhafteste Buch zu bezeichnen und diegefährlichsten Anschläge zu enthüllen. Die Liebe soll auferste-

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hen, ihre zerstückten Glieder soll ein neues Leben vereinigenund beseelen, daß sie froh und frei herrsche im Gemüth derMenschen und in ihren Werken, und die leeren Schatten ver-meinter Tugenden verdränge. Ja wol die gefährlichsten Anschlä-ge! denn wenn es offenbar wird, daß dasjenige, was ihr für denAngel der Tugend ausgebt, weit außerhalb alles Sittlichen liegt,wenn dieser Zauber gelöst wird, wer will dann dem neuenLeben wehren, welches sich von hier aus verbreiten kann? Sokönnte es leicht dahin kommen, und dies sei das schmerzhafte-ste, woran ich Euch erinnern will, daß Eure Nachkommen, imGeist nemlich – denn fehlen wird es doch an ihnen niemals – inAllem, was sittlich ist, und wenn auch Euer Sinn zehnfach aufihnen ruhen sollte, ganz andern Formeln zu huldigen genöthigtseyn werden, als diejenigen sind, welche Ihr gern für alle Ewig-keiten geltend machen möchtet. Diese Zeit wollen wir her-beiführen, thut Ihr indessen dagegen, was Euch recht dünkt, underlaubt, daß wir uns nichts darum kümmern.

Es thut mir leid um Dich, daß diese Zueignung etwas lang undbreit gerathen ist, indessen hoffe ich wirst Du auch das nichtunschicklich und das Ganze besser finden, als irgend eine Dis-putation. Was hilft auch das Argumentiren? Eine Gesinnungvertheidigt sich nur, indem sie als in sich bestehend und an allesGroße und Schöne sich anschließend bewährt wird. Diesen Ver-such laß uns überall im Leben und in der Kunst vor Aller Augenanstellen, und sie zu Zuschauern einladen. Und so gehabe Dichwol und thue, wie Du willst.

Friedrich Schleiermacher: Zueignung an die Unverständigen,in: Friedrich Schleiermacher, Vertraute Briefe über FriedrichSchlegels Lucinde. Lübeck, Leipzig 1800, S. 7-11.

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Abb. 4: William Shakespeare (1564-1616)

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Literarisches LebenDramatische Lektüre

Dramatische Lektüre – Shakespeare

Shakespeare wurde in Deutschland mit dem Aufkommen dermoralischen Wochenschriften in der Mitte des 18. Jahrhundertsentdeckt. 1741 erschien die erste deutsche Übersetzung einesShakespeare-Dramas ‚Versuch einer gebundenen Uebersetzungdes Trauerspiels von dem Tode des Julius Caesar‘. Erste Auf-sätze über den englischen Dramatiker entstanden ab 1760.Glühende Verehrer Shakespeares wurden die Dichter des Sturmund Drangs. Sie bewunderten insbesondere die behandeltenThemen, die das gesamte Spektrum des menschlichen Lebensabdeckten. So wurde Shakespeare zum Inbegriff der Poesie. Erverkörperte vorbildhaft das Originalgenie. Seit 1762 veröffent-lichte Christoph Martin Wieland seine Prosaübersetzungen derWerke Shakespeares. Ein Begeisterungssturm war die Folge.Auch die Frühromantiker – allen voran Ludwig Tieck, AugustWilhelm und Friedrich Schlegel – beschäftigten sich früh mitShakespeare. Sie brachten vor allem eine kritische Methodik indie Auseinandersetzung mit dem Dramatiker. So legte Tieck mitseinem Aufsatz ‚Über Shakespeare’s Behandlung des Wunder-baren‘ die erste dramaturgisch-technische Analyse vor. Wesent-lichen Einfluss für jede weitere Beschäftigung mit Shakespearewar jedoch die Übersetzung der Dramen durch August WilhelmSchlegel und Tieck. 1796 veröffentlichte August Wilhelm Schle-gel den Aufsatz ‚Etwas über William Shakespeare bey Gelegen-heit Wilhelm Meisters‘ in den ‚Horen‘. Dort forderte er einepoetische Übersetzung der Werke: „Ich wage zu behaupten,dass eine solche Uebersetzung in gewissem Sinne noch treuerals die treueste prosaische seyn könnte.“ (Text 15) Damit konn-ten neben der Bewunderung für das Thematische, für die Figu-renkonstellation auch die Sprache, ihre Metaphorik und ihreMusikalität erfasst werden. August Wilhelm veröffentlichte die

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Literarisches Leben Dramatische Lektüre

ersten Bände der Übersetzung 1797. 1801 überwarf er sich mitdem Berliner Verleger Johann Friedrich Unger. Ludwig Tieckbedauerte den Stillstand des Projektes zutiefst, da er sich derÜbersetzung verbunden fühlte. Offiziell übernahm er ab 1824die Fortführung des Projektes, inzwischen in Zusammenarbeitmit dem Verlag von Georg Reimer. Dazu gesellten sich zwei wei-tere Helfer, Ludwig Tiecks Tochter Dorothea und Wolf GrafBaudissin. Der Name ‚Schlegel-Tieck-Ausgabe‘ gibt zwar dentatsächlichen Sachverhalt nicht wieder, benennt aber die geisti-gen Väter des Unternehmens.

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Dramatische Lektüre Literarisches Leben

Abb. 5: Handschrift aus der Hamlet-Übersetzung von August WilhelmSchlegel

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12. William Shakespeare:Der Sturm. Übersetzt von Ludwig Tieck

Zweite Szene

(Ein Theil einer Insel; auf der Seite eine kleine Hütte, im Hin-tergrunde das Meer: – Prospero und Miranda treten auf; Pros-pero in einem langen, magischen Gewande, mit Charakterenbezeichnet, er trägt einen Stab in der Hand. Der Sturm dauertnoch etwas im Anfange der Scene fort.)

M i r a n d a. O, lieber Vater, wenn es durch deine Kunst ge-schah, daß die wilde Fluth in diesen Aufruhr kam, so besänftigesie auch wieder. – Ein brennender Schwefelregen wollte sichvom Himmel herabgießen, nur die See schäumte bis hoch in dieWolken hinein, und schlug das Feuer wieder aus. – Ach, wiesehr hab’ich mit den Leidenden gelitten! – Ein schönes Schiff,das auch gewiß einige edle Menschen trug, in tausend Stückenzertrümmert! – Ach, wie schnitt ihr Geschrei mitten durch meinHerz! – Die armen Seelen, – sie sanken unter. – O, hätte ich dieMacht eines Gottes gehabt, ich hätte lieber die ganze See tief indie Erde hineingesenkt, ehe sie so das gute Schiff hätte ver-schlingen sollen, und alle die jammernden Seelen mit ihm.

Pr o s p e r o. Sey ruhig. Sage deinem mitleidigen Herzen: es istkein Unglück geschehen.

M i r. O, schrecklicher Tag! Kein Unglück?

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13. William Shakespeare: Der Sturm. Übersetzt von August Wilhelm Schlegel

Zweyte Szene.

Die bezauberte Insel, vor Prospero’s Zelle.

Prospero und Miranda treten auf.

M i r a n d a. Wenn eure Kunst, mein liebster Vater, soDie wilden Wasser toben hieß, so stillt sie.Der Himmel, scheint es, würde Schwefel regnen,Wenn nicht die See, zur Stirn der Veste steigend,Das Feuer löschte. O ich litt mit ihnen,Die ich so leiden sah: ein wackres Schiff,Das sicher herrliche Geschöpfe trug,In Stücke ganz zerschmettert! O der SchreyGing mir ans Herz! Die Armen! sie versanken.Wär’ ich ein Gott der Macht gewesen, lieberHätt’ ich die See versenket in den Grund,Eh sie das gute Schiff verschlingen dürfen,Samt allen Seelen drinnen.

Pr o s p e r o. Fasse dich!Nichts mehr von Schreck! Sag’deinem weichen Herzen:Kein Leid geschah.

M i r a n d a. O Tag des Wehs!

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P r o s p. Alles, was ich that, that ich nur aus Liebe für dich,meine geliebte, meine einzige Tochter, die du nicht weißt, werdu bist, und wer dein unglücklicher Vater ist; daß er etwas mehrist, als Prospero, der Eigenthümer dieser armseligen Hütte.

M i r. Es ist mir nie eingefallen, mehr zu erfahren.

Pr o s p. Ich muß dir mehr entdecken. – Hilf mir dies magischeGewand ablegen. – (Er legt mit Miranda’s Hülfe seinen Mantelab.) Nun trockne deine Augen und beruhige dich. – Dies fürch-terliche Schauspiel des Schiffbruchs, welches dein innerstesHerz so tief bewegt hat, hab’ich durch meine Kunst so vorsich-tig angeordnet, daß kein Geschöpf, ja kein Haar der Geschöpfe,die du schreyen hörtest, die du sinken sahest, verletzt ist. – Setz’dich nieder, denn du mußt jezt mehr erfahren.

M i r. Du fingst schon oft an, mir zu erzählen, wer ich sey, aberimmer sagtest du: halt, noch nicht! – brachst ab, und überließestmich einem fruchtlosen Nachsinnen.

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Pr o s p e r o. Kein Leid.Ich that nichts als aus Sorge nur für dich,Für dich, mein Theuerstes, dich, meine TochterDie unbekannt ist mit sich selbst, nicht wissendWoher ich bin, und daß ich viel was HöhersAls Prospero, Herr einer armen Zelle,Und dein nicht größ’rer Vater.

M i r a n d a.Mehr zu wissen,Gerieth mir niemals in den Sinn.

Pr o s p e r o.‘S ist Zeit,Dir mehr zu offenbaren. Leih die Hand,Und nimm den Zaubermantel von mir.

Er legt den Mantel nieder.So!Da lieg nun, meine Kunst! Du, trockne dirDie Augen, sey getrost. Das grause SchauspielDes Schiffbruchs, so des Mitleids ganze KraftIn dir erregt, hab’ich mit solcher VorsichtDurch meine Kunst so sicher angeordnet,Daß keine Seele – nein, kein Haar gekrümmtIst irgend einer Kreatur im Schiff,Die schreyn du hörtest, die du sinken sahst.Setz dich! Du mußt nun mehr erfahren.

M i r a n d a.ÖfterBegannt ihr mir zu sagen, wer ich bin.Doch bracht’ihr ab, ließt mich vergebnem Forschen,Und schlosset: Wart! noch nicht!

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P r o s p. Aber jezt ist die Stunde gekommen, ja dieser Augen-blick befiehlt dir, dein Ohr zu öffnen. Gehorch’und merke auf.– Kannst du dich einer Zeit erinnern, ehe wir in dieser Hütte leb-ten? – Ich glaube nicht, denn du warst damals kaum drey Jahralt.

M i r. Und doch, Vater.

P r o s p. Wobey? Bey einem andern Hause oder Menschen? –Sage mir, welch Bild dein Gedächtniß so lange aufbewahrt hat.

M i r. Ach, es liegt weit weg, es ist mehr wie ein Traum, als wieeine deutliche Erinnerung, – Hatt’ich nicht einmal vier oderfünf Frauen, die mir aufwarteten?

P r o s p. Du hattest sie, Miranda, und mehr. Aber wie ist diesnoch in deiner Seele so lebendig? Was siehst du sonst noch indem dunkeln, tiefen Hintergrund der Vergangenheit? Wenn dudich einer Zeit erinnern kannst, ehe du hier warst, so weißt du auch vielleicht, auf welche Art du hieher kamst.

M i r . Nein, das weiß ich doch nicht.

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Pr o s p e r o.Die Stund’ist da,Ja die Minute fodert dein Gehör.Gehorch’und merke! Kannst du dich einer ZeitErinnern, eh zu dieser Zell wir kamen?Kaum glaub’ich, daß du’s kannst: denn damals warst duNoch nicht drey Jahr’ alt.

M i r a n d a.Allerdings, ich kann’s.

P r o s p e r o.Woran? An andern Häusern, andern Menschen?Sag’mir das Bild von irgend einem Ding’,Das dir im Sinn geblieben.

M i r a n d a.‘S ist weit weg,Und eher wie ein Traum als wie Gewißheit,Die mein Gedächtniß aussagt. Hatt’ich nichtVier bis fünf Frauen einst zu meiner Wartung?

Pr o s p e r o.Die hatt’st du – mehr, Miranda: doch wie kömmts,Daß dieß im Geist dir lebt? Was siehst du sonstIm dunkeln Hintergrund und Schooß der Zeit?Besinnst du dich auf etwas, eh du herkamst,So kannst du, wie du kamst.

M i r a n d a.Das thu’ich aber nicht.

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Pr o s p. Zwölf Jahre sind nun verflossen, Miranda, zwölf Jahre,als dein Vater Herzog von Mayland und ein angesehener Fürstwar.

M i r. Bist du denn nicht mein Vater?

P r o s p. Ich bin es, und du warst Fürstinn, und die einzigeErbinn meines Herzogthums.

M i r. O, Himmel! welch Unglück vertrieb uns denn von dort? –Oder war es vielleicht unser Glück?

[...][In der Fassung von Ludwig Tieck schließt nicht Pros-peros Epilog das Drama, A. d. V.]

Pr o s p. Mein König, ich lade dich und dein Gefolge in meinearme Hütte ein, ihr sollt nur diese einzige Nacht dort ruhen. Ichwill dir meine Geschichte erzählen, und dich morgen zu deinemSchiffe, und dann nach Neapel führen, wo wir die Hochzeit uns-rer geliebten Kinder feyern wollen. – Ich verspreche euch eineruhige See, glückliche Winde, und so schnelle Seegel, daß wirdeine Flotte bald einhohlen wollen. – Mein Ariel, dies ist deineletzte Arbeit, dann kehre frey zu den Elementen zurück, undlebe wohl. – Tretet herein!

(Alle gehen in Prospero’s Wohnung.)

Pr o s p. Beydes, beydes, mein Kind. Ein Unglück trieb uns dortweg, und ein Glück führte uns hieher.

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Pr o s p e r o.Zwölf Jahr’, Miranda, sind es her, zwölf JahreDa war dein Vater Mailands Herzog, undEin mächt’ger Fürst.

M i r a n d a.Seyd ihr denn nicht mein Vater?

Pr o s p e r o.Ein Tugendbild war deine Mutter, undSie gab dich mir als Tochter, und dein VaterWar Mailands Herzog; seine einz’ge ErbinPrinzessin, nichts geringers.

M i r a n d a.Lieber Himmel!Welch böser Streich, daß wir von dannen mußten.Wie? oder war’s zum Glücke?

Pr o s p e r o.Beydes, Liebe.Ein böser Streich verdrängt’uns, wie du sagst,Doch unser gutes Glück half uns hieher.

[...]

E p i l o gvon Prospero gesprochen.

Hin sind meine Zaubereyn,Was von Kraft mir bleibt, ist mein,Und das ist wenig: nun ists wahr,Ich muß hier bleiben immerdar,Wenn ihr mich nicht nach Napel schickt.Da ich mein Herzogthum entrückt

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A r i e l.(der zurück geblieben ist.)

O goldene Zeit!Nun bin ich befreyt!

C h o r der G e i s t e r.(die sich von allen Seiten auf der Bühne versammeln.)

O seelige Zeit!Von der DienstbarkeitSind wir alle befreyt!

A r i e l und M e l i d a.Wir flattern hier,Wir flattern da, Bald sind wir uns nah,Bald fliegst du nach mir.Ha! für und fürGebiete hier Die Lieb’ und wir!

C h o r (mit Tänzen.)Ha! Wonne! Wonne!Die Seegel schwellen, Wenn kaum die Sonne Der Fluth entsteigt;Wir sausen im WindeUnd führen gelindeDas Schiff über Wellen,Die Pfade, die unser Gebieter uns zeigt!Dann sind wir, o goldne, goldne Zeit,Auf immer, auf immer vom Dienste befreyt!

E n d e.

Der Sturm. Ein Schauspiel von Shakspear, für das Theater bear-beitet von Ludwig Tieck. Berlin, Leipzig 1796, S. 7-9, 102-104.

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Aus des Betrügers Hand, dem ichVerziehen, so verdammet michNicht durch einen harten SpruchZu dieses öden Eilands Fluch.Macht mich aus des Bannes SchooßDurch eure will’gen Hände los.Füllt milder Hauch aus euerm MundMein Segel nicht, so geht zu GrundMein Plan; er ging auf eure Gunst.Zum Zaubern fehlt mir jetzt die Kunst:Kein Geist, der mein Gebot erkennt;Verzweiflung ist mein Lebensend,Wenn nicht Gebet mir Hülfe bringt,Welches so zum Himmel dringt,Daß es Gewalt der Gnade thut,Und macht jedweden Fehltritt gut.

Wo ihr begnadigt wünscht zu seyn,Laßt eure Nachsicht mich befreyn.

William Shakespeare: Der Sturm. Übersetzt von August WilhelmSchlegel, in: Shakspeare’s dramatische Werke, übersetzt vonAugust Wilhelm Schlegel. Dritter Theil: Der Sturm. Berlin 1798,S. 12-15, 133-134.

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14. Ludwig Tieck:Briefe über W. Shakespeare

[...] Drum habe ich alle meine Bücher und Geschäfte zurück-gelassen, nur Shakspeare hat mich begleitet, und so sehr ich ihnauswendig weiß, entdecke ich, so oft ich ihn wieder lese, neueFülle und frisches Leben in seinen herrlichen Gedichten. [...]Daß dir Schlegels neue Uebersetzung des Shakspeare nicht ganzzusagen will, ist mir unerwartet, denn ich hatte gedacht, sie soll-te mich grossentheils alles ferneren Gesprächs und alles Streitsüber diese grossen Dichtungen überheben, denn für die Deut-schen liegt in ihr der Kommentar des Dichters. Ich behalte mirvor, dir noch an andern Stellen über diese vortreflich gelungeneNachbildung etwas zu sagen, die für uns wohl die erste wahreUebersetzung aus einer andern Sprache ist. Wir haben uns bis-her behelfen müssen, und seltsam ist es, wie man uns immerShakspears Vortrefflichkeiten anpries, und in den Uebersetzun-gen doch immer um Verzeihung bat, daß er so gar abgeschmacktsei, man ließ aus, versetzte, entschuldigte und moderirte undformte von allen Seiten auf ihn ein, bis er ohngefähr so aussah,wie man sich einen Dichter dachte, der das menschliche Herzkannte, wie man immer von ihm gerühmt hat, übrigens aber sichin den Schranken einer billigen Prosa hielt. Eben deswegenkann ich es mir auch wohl vorstellen, wie diese neue eigentlicheUebersetzung manche Gemüther nicht ansprechen will, nur soll-test du nicht zu diesen gehören, der du Sinn für manches Guteund Grosse hast, da du nicht die Foderung machst, daß alles sichin einem Geleise bewegen soll und immer auf den alten Wegenwiederkehren. Es war für mich eine ganz neue Erscheinung, diemich eben so überraschte als erfreute, als der erste Band desSchlegelschen Shakspeare erschien; denn es gehört viel Geistund Witz dazu, um nur alle Stellen in ihrem rechten Zusam-menhange zu bemerken, wo Shakspeare geistreich und witzigist, und ich weiß nicht, ob ich mehr die Geschicklichkeit oderdas Glück des Uebersetzers bewundern soll, da ihm die Nach-

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ahmung fast allenthalben so ungemein gelungen ist. Baldbesteht die Eigenthümlichkeit in dem Gange und Klange einesVerses, welches beibehalten werden muste, bald in einer Wie-derholung, oder einem Wortspiele, oft war der Reim wichtigerals der Inhalt des Verses, oft zeigte sich in einem unbemerktenNebenworte das Charakteristische einer Person; daß alle dieseRücksichten nie verletzt oder übergangen sind, zeigt eine feineEmpfindung, wie eine grosse Kenntniß des Dichters, denn einsolcher Uebersetzer muß in jeder Stelle den ganzen Dichter ahn-den, weil beim Shakspeare nicht bloß die gewöhnlichen Ueber-setzertugenden in Anschlag kommen, von denen man immerschon viel Rühmens macht, sondern wer dieses Werk unter-nimmt, muß den Dichter gleichsam neu erschaffen, er kann inkeinem Augenblicke treu genug oder zu frei sein, ihn verläßthier alles, wenn ihn nicht der ächtpoetische Sinn und das feinsteGefühl der Schicklichkeit überall begleitet.Ich erspare mir für eine andere Gelegenheit die Charakteristikdieser wie der andern Uebersetzungen, so wie die Darstellungeiner ganzen Gallerie von Englischen Kommentatoren, vondenen man vielleicht lieber schweigen sollte, denn wenn ich denShakspeare lese und werfe von ohngefähr zuweilen einen Blickin die Noten, so ist mir gerade so zu Muthe, als wenn man ineiner schönen romantischen Gegend reist und einem Wirthshau-se vorüberfährt, in welchem sich besoffene Bauern zanken undschlagen. [...]Du räumst gern ein, daß Shakspeare ein Genie war, aber du hastihm damit noch wenig gegeben, wenn du nicht glaubst, daß esihm möglich war, in seinen Kunstprodukten die Umgebung zuvergessen, in der er sich befand. Es ist gewiß, daß es keinenMenschen geben kann, sei er noch so einzig, der völlig seinemZeitalter widersprechen wird, oder der sich ganz von ihm los-reissen kann, denn sein Bestes und Innigstes ist aus der Zeiterzeugt, und er würde sich nur selber vernichten, wenn er seineMutter, die ihn geboren und gesäugt hat, ganz verläugnen woll-te. Meinst du es aber so, daß Mangel in der Form, Kunstlosig-

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keit, Gemeinheit und was ihr dem noch hinzufügen wollt, dassei, was Shakspeare von seiner rohen Zeit geerbt habe, so bistdu gänzlich im Irrthum; denn die Idee der Einheit und Bildungeines Kunstwerks kann nicht mit den Zeiten wachsen, sondernsie muß ursprünglich in der Seele des Künstlers liegen, oder erist kein Künstler, diese Vollendung ist seine Seele, alles übrigeist nur Hülle und Gewand. Darum war es dem großen Dantemöglich, der zu sein, der er ist, und darum stehn Shakspeare undCervantes66 so groß da, weil es die Eigenschaft der Kunst ist, dasHöchste in der Kindlichkeit zu sein, so daß das alte Sprichwort,wenn man es nur recht versteht, sehr wahr ist, daß die Poetengeboren werden. Darum tritt uns alles so freundlich und bekanntentgegen, was nur den Namen Poesie verdient, durch keine Zei-ten oder Räume können wir von ihm getrennt sein, wenn unserSinn nur unbefangen und kindlich genug ist, um ihm entgegen-zukommen: die ältesten Wunder sind heut und gestern gesche-hen, die alte Weisheit spricht noch immer weise, längstgestor-bene Schönheiten entzücken uns noch immer, und so geschiehtes mir, daß alles, auch die Geschichte, die ich als Poesie derNatur betrachte und welche das Schicksal zu einer großen Ein-heit verbindet, mir so bekannt, wenn auch wunderbar, seltsam,aber doch verständlich, vor mein Gemüth tritt.

Ludwig Tieck: Briefe über W. Shakspeare, in: Ludwig Tieck(Hg.): Poetisches Journal, 1. Jg, 1. und 2. Stück. Jena 1800, S. 18-80, dort S. 21, 34-36, 40-42.

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Abb. 6: Vorlesung bei Ludwig Tieck

15. August Wilhelm Schlegel:Anmerkungen zum Übersetzen von Shakespeare

Etwas über William Shakespeare bey Gelegenheit WilhelmMeisters.

Unter tausend verstrickenden Anlockungen für den Geist, dasHerz und die Neugierde, unter manchem hingeworfnen Räthsel,und mancher mit schalkhaftem Ernst vorgetragnen Sittenlehre,bieten Wilhelm Meisters Lehrjahre jedem Freunde des Theaters,der dramatischen Dichtkunst und des Schönen überhaupt, einein ihrer Art einzige Gabe dar. Die Einführung Shakespeare’s, diePrüfung und Vorstellung seines Hamlet ist ein eben so lebendi-ges Gemählde für die Phantasie, als sie den Verstand lehrreichbeschäftigt, und ihm Gegenstände des tiefen Nachdenkens mit

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den flüchtigsten Wendungen zuspielt. Sie kann keineswegs alsEpisode in diesem Roman angesehen werden. Nichts wird vondem Erzähler in seinem eignen Nahmen abgehandelt: dieGespräche, die er seine Personen darüber halten läßt, werdenauf das natürlichste durch ihre Lagen und Character herbeyge-führt; alles greift in die Handlung ein, und endlich wird durchdie geheimnißvolle Erscheinung eines bekannten Unbekannten,eines, wie man denken sollte, nichts weniger als entkörpertenGeistes in eben der Rolle, welche der wackre Meister WilliamShakespeare selbst zu spielen pflegte, ein neuer Knotegeschürzt. Mit Einem Wort, das Lob und die Auslegung desgrößten dramatischen Dichters ist auf die gefälligste Weise dra-matisirt. Es wird keine Standrede an seinem Grabe gehalten,noch weniger ergeht ein ägyptisches Todtengericht über ihn. Esist auferstanden und wandelt unter den Lebenden, nicht durchirgend eine peinliche Beschwörung gezwungen, sondern willigund froh stellt er sich auf das Wort eines Freundes und Vertrau-ten in verjüngter Kraft und Schönheit dar. [...]Wie viel anders Shakespeare!* Die Darstellung in seinen pro-saischen Szenen ist meisterhaft: die kecksten Züge einer ko-mischen Alltagswelt scheint er mir eben so unbekümmertemMuthwillen hinzuzeichnen, als er sie aufgefaßt haben mochte.Aber dennoch erreicht er erst vermittelst der dichterischen Be-handlung den Gipfel seiner dramatischen Vortrefflichkeit. Hierist sein Styl einfältig kräftig, groß und edel. Wer wird sich nichtgern zu einigen Härten bequemen, wo ihn so viel einschmei-chelnde Zartheit dafür entschädigt? Shakespeare hat alles Hoheund Tiefe in seinem Daseyn verknüpft; seine fremdartigstenEigenschaften bestehen friedlich neben einander: in seinerkühnsten Erhabenheit ist er noch schlicht und bescheiden, inseiner Seltsamkeit natürlich. So zieht sich selbst die höchste tra-

[Bezugnehmend auf den vorherigen Abschnitt im Orginaltext,der hier nicht wiedergegeben wird. Dort über Goethes Wil -helm Meister. (Anm. d. Hg.)]

*

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gische Würde niemahls wie eine Glorie um seine Menschen her;nein, es wird uns immer eine gleich vertraute Nähe gestattet. Inden vergleichungsweise wenigen Stellen, wo seine Poesie ausdem wahren Dialog heraustritt, machten ihm eine zu gewaltigeEinbildungskraft, ein zu üppiger Witz die völlige dramatischeEntäusserung seiner selbst unmöglich. Er giebt alsdann mehr alser sollte, aber oft ist es von der Art, daß man es sich nicht ohneBedauern würde nehmen lassen.Die Vorzüge seines Versbaues zu fühlen und zu würdigen, stehtfremden Lesern weniger zu, als den Landsleuten des Dichters.Auch haben ihm Englische Beurtheiler in diesem Stück volleGerechtigkeit widerfahren lassen. Seine reimlosen Jamben sindüberaus mannichfaltig, bald mehr bald weniger regelmäßig, hierund da sogar regellos; (wovon doch manches auf die veränder-te Aussprache, manches auch darauf zu schieben ist, daß Sha-kespeare gar nicht für genaue Abschriften seiner Stücke sorgte)immer aber ausdrucksvoll und gedrängt, oft von grosser Schön-heit und Lieblichkeit. Es ist darin das älteste, aber in seiner Gat-tung (denn Miltons Versbau mit seinen athemlosen Periodenwürde für das Schauspiel höchst unpassend seyn) immer nochunübertroffene Vorbild der Engländer. Von seinen gereimtenVersen läßt sich nicht dasselbe sagen. Sey es nun, daß die Eng-lische Dichtkunst sich von dieser Seite später ausgebildet, oderdaß gewisse Reize der Sprache, wie manche Arten der Mahle-rey, den Verwüstungen der Zeit mehr ausgesetzt sind als andre:genug, Shakespeare’s Reime sind mehr veraltet, dunkel undfremd geworden, als seine reimlosen Verse. In diesen hat nachihm nur Milton eigentlich Epoche gemacht; die Kunst harmo-nisch zu reimen hingegen, worin die Dichter im Zeitalter derKönigin Elisabeth nicht ganz unglücklich gewesen waren, gingim nächstfolgenden völlig verloren, wurde dann in der letztenHälfte des siebzehnten Jahrhunderts wieder erworben, vielfachbearbeitet, von Dryden67 und endlich von Pope zur höchstenmöglichen Vollendung gebracht, aber auch für immer an einewohlklingende Einförmigkeit gefesselt. Man muß also, um bil-

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lig zu seyn, in diesem Theil der Verskunst nicht von Shakes-peare fodern, was die Englische Sprache erst hundert Jahrenachher liefern konnte, sondern ihn etwa mit seinem Zeitgenos-sen Spencer vergleichen, was gewiß sehr zu seinem Vortheileausschlägt. Denn Spencer ist oft gedehnt, Shakespeare, wennschon gezwungen, doch immer kurz und bündig. Der Reim hatihn weit häufiger dazu gebracht, etwas nöthiges auszulassen, alsetwas unbedeutendes einzuschalten. Doch sind viele seinergereimten Zeilen noch jetzt untadelich; sinnreich mit anmuthi-ger Leichtigkeit und blühend ohne falschen Schimmer. Die ein-gestreuten Lieder (des Dichters eigne nähmlich) sind meistenssüsse kleine Spiele und ganz Gesang; man hört in Gedankeneine Melodie dazu, während man sie blos lieset.Eine poetische Uebersetzung, welche keinen von den charak-teristischen Unterschieden der Form auslöschte, und seineSchönheiten, so viel möglich, bewahrte, ohne die Anmaßungihm jemahls andre zu leihen; welche auch die misfallendenEigenheiten seines Styls, was oft nicht weniger Mühe machendürfte, mit übertrüge, würde zwar gewiß ein Unternehmen vongroßen, aber in unsrer Sprache nicht unübersteiglichen Schwie-rigkeiten seyn. Haben doch die Engländer schon eine gelungnepoetische Nachbildung von einem dramatischen Meisterwerke:sollte dieß um die Verdienste der Ausländer sonst so unbeküm-merte Volk wärmere Freunde unsrer großen Dichter aufzuwei-sen haben, als wir der seinigen? Denn herzliche Liebe zur Sacheist freylich ein so wesentliches Erfoderniß bey einer solchenArbeit, daß ohne sie alle übrigen Geschicklichkeiten nichts hel-fen können. Auch möchten die sechs und dreyßig Stücke Shakespeare’s eine zu lange Bahn für einen Einzigen seyn, umsie auf diese Art zu durchlaufen; vor der Hand wäre es genug,wenn mit einzelnen Stücken der Versuch gemacht würde.Ich wage zu behaupten, daß eine solche Uebersetzung in ge-wissem Sinne noch treuer als die treueste prosaische seyn könn-te. Denn nicht gerechnet, daß diese eine entschiedne Unähn-lichkeit mit dem Original hat, welche sich über das Ganze ver-

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breitet, so stellt sich dabey sehr oft die Verlegenheit ein, ent-weder den Ausdruck schwächen, oder sich in Prosa erlauben zumüssen, was nur der Poesie, und auch ihr kaum ansteht. Fernerwürde es erlaubt seyn, sich dem Dichter in seiner Gedrungen-heit, seinen Auslassungen, seinen kühnen und nachdrücklichenWendungen und Stellungen weit näher anzuschmiegen. Hartmöchte die Treue des Uebersetzers zuweilen seyn, und er müßtesich den freyesten Gebrauch unsrer Sprache in ihrem ganzenUmfange (eine alte Gerechtsame der Dichter, was auch Gram-matiker einwenden mögen) nicht vorwerfen lassen; aber niedürfte sie schwerfällig werden. Er überhüpfe lieber eine wider-spenstige Kleinigkeit, als daß er in Umschreibungen verfallensollte. In der Kürze wetteifre er mit seinem Meister, obgleich

Abb. 7: J. F. R. Reichardt, Das Lied der Elfen (zu Shakespeare, Ein Sommer-nachtstraum, übersetzt von August Wilhelm Schlegel, 1797)

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die Englische Sprache wegen ihrer Einsylbigkeit, welche sonstder Schönheit des Versbaues nicht sehr günstig ist, hierin vielesvoraus hat, und ruhe nicht eher, als bis er sich überzeugt, er habedarin alles im deutschen Thunliche geleistet. Nicht immer wirder Vers um Vers geben können, aber doch meistentheils, und denRaum, den er an Einer Stelle einbüßt, muß er an einer andernwieder zu gewinnen suchen. Dieß ist sehr wichtig, denn geht erin Einem Verse über das Maaß hinaus, so muß er es auch in denfolgenden, bis er sich wieder in gleichen Schritt gesetzt hat.Dadurch werden dann Sätze, welche im Englischen Eine Zeilemit schöner Rundung umschließt, in zwey aus einander geris-sen, und die bedeutenden Schlüsse der Verse, worauf bey ihremharmonischen Falle so viel beruht, verändert. Es beweißt diegroße Uebereinstimmung der beyden Sprachen, daß mancheZeilen Shakespeare's, wenn man sie wörtlich und mit beybe-haltner Ordnung überträgt, sich wie von selbst in dasselbe Maaßfügen; hingegen stehe ich dem Uebersetzer nicht dafür, daß beymanchen andern auch die vielfältigste [sic!] Versuche nur einhalbes Gelingen zu Wege bringen möchten. Er hüte sich voreiner zu steifen Regelmäßigkeit in seinen reimlosen Jamben:aber zu schön können sie schwerlich seyn. Es ist in unsrer Spra-che nicht so leicht, als man sich gewöhnlich einbildet, diesemSylbenmaße alle Vollkommenheit, deren es empfänglich ist, zugeben, wie schon daraus erhellet, daß wir so wenig Vortreffli -ches darin besitzen. In den gereimten Versen wird man sich miteiner weniger wörtlichen Treue begnügen müssen: ihreigenthümliches Kolorit ist die Hauptsache, und dieses kann nurdurch Beybehaltung des Reimes übertragen werden. Vielleichtwird es hier oft unvermeidlich seyn, wenn man nicht zu vielweglassen oder gar Ein Paar Verse in zwey ausdehnen will, stattdes fünffüßigen den sechsfüßigen Jamben zu gebrauchen,wodurch Sentenzen und Schilderungen weniger verlieren, alsdie eigentlich dialogischen Stellen.Uebrigens wäre alles sorgfältig zu entfernen, was daran erinnernkönnte, daß man eine Kopie vor sich hat. Die Wortspiele, wel-

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che sich nicht übertragen, oder durch ähnliche ersetzen lassen,müßten zwar wegbleiben, aber so, daß keine Lücke sichtbarwürde. Eben so hätte es der Uebersetzer mit durchaus fremdenund ohne Kommentar unverständlichen Anspielungen zu halten.Von bloß zufälligen Dunkelheiten dürfte er den Text befreyen;aber wo der Ausdruck seinem Wesen nach verworren ist, dakönnte auch dem Deutschen Leser die Mühe des Nachsinnensnicht erspart werden. Schon Wieland hat treffend dargethan,warum man Shakespeare nirgends und in keinem Stücke mußverschönern wollen.68 Ein ganz leichter Anstrich des Alten inWörtern und Redensarten würde keinen Schaden thun. Nichtalles Alte ist veraltet, und Luthers Kernsprache ist noch jetztdeutscher als manche neumodige Zierlichkeit. ObgleichShakespeare’s Sprache in dem Zeitalter, worin er schrieb, neuund gebrauchlich war, so trägt sie doch das Gepräge der damah-ligen noch einfältigeren Sitten, und in der Sprache unsrer bie-dern Vorältern, drücken sich dergleichen ebenfalls aus. SolcheWörter und Redensarten, welche unsre heutige Verfeinerungbloß zu ihrem Behufe ersonnen, wären wenigstens sorgfältig zuvermeiden. Die dramatische Wahrheit müßte überall das ersteAugenmerk seyn: im Nothfall wäre es besser, ihr etwas von dempoetischen Werth aufzuopfern als umgekehrt.Diese Foderungen ließen sich leicht noch mit vielen andern ver-mehren; allein ich möchte einem Verehrer Shakespeare’s, der,wie ich weiß, es mit einigen Stücken versucht hat, keinen sehrwillkommenen Dienst thun, indem ich durch den aufgestelltenBegriff einer Vollendung, die vielleicht gar nicht erreicht wer-den kann, seine Arbeit schon im Voraus unter ihren wahrenWerth herabsetze. Er liebt indessen den göttlichen Dichter sosehr, daß er sich freuen wird, wenn mein Eifer ihm Nebenbuhlerbey dieser Unternehmung erweckt, die durch ein glücklicheresGelingen seine Bemühungen verdunkeln.

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August Wilhelm Schlegel: Anmerkungen zum Übersetzen vonShakespeare. Etwas über William Shakespeare bey GelegenheitWilhelm Meisters, in: Die Horen 6 (1796), Viertes Stück, S. 57-112, dort S. 57-58, 106-112.

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Literarisches LebenSchöne Perlen

„Schöne Perlen...“69 – Das Athenaeum

Nicht immer waren es „Schöne Perlen“, die die Brüder Schle-gel im ‚Athenaeum‘ über die literarisch-philosophische Weltaneinander reihten. Aber man hatte sich als noch nicht eta-blierte Schriftsteller mit dem ‚Athenaeum‘ 1798 ein Publikati-onsforum für das gesamte Spektrum an romantischen Ideen,Entwürfen, Fragmenten und Gedanken geschaffen. Die Brüderwaren durch ihre Tätigkeit als Kritiker aufgefallen: August Wil -helm hatte 1797 bereits rund 300 Kritiken verfasst und Frie-drich hatte durch bösartige Rezensionen seine literarischenKontakte zu anderen Zeitungen weitgehend verdorben. Geradeaus der gemeinsamen Idee der Symphilosophie heraus schien es naheliegend, ein länger angedachtes gemeinsamesProjekt umzusetzen: ein eigenes Publikationsorgan. Dieses bisdahin in der Zeitschriftengeschichte wohl einmalige Vorhabensollte nach und nach mit den erschienenen Beiträgen alle Berei-che des Lebens durchdringen. Man entdeckte, zusammen mitden Beiträgern aus dem romantischen Freundeskreis, dieStaatsphilosophie, Moralphilosophie, vor allem auch die Reli-gion und Geschichtsphilosophie, äußerte sich zur Pädagogikund blieb natürlich der Literaturkritik treu. Dass darüber hinaus das ‚Athenaeum‘ auch Plattform für romantische Poesiesein würde, belegen nicht zuletzt die Veröffentlichungen vonNovalis: „Zu suchen haben wir nichts mehr – / Das Herz ist satt– die Welt ist leer.“ (Text 18) Drei Jahre nachdem das erste Hefterschienen war, musste das ‚Athenaeum‘ sein Erscheinen ein-stellen.

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Abb. 8: Titelblatt des ersten Heftes des Athenaeum

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16. Eine Vorbemerkung, ein Sonett und einige ‚Notizen‘

Vorerinnerung.

Die ersten Stücke dieser Zeitschrift können den Leser hinläng-lich über ihren Zweck und Geist verständigen. In Ansehung derGegenstände streben wir nach möglichster Allgemeinheit indem, was unmittelbar auf Bildung abzielt; im Vortrage nach derfreyesten Mittheilung. Um uns jener näher zu bringen, hieltenwir eine Verbrüderung der Kenntnisse und Fertigkeiten, umwelche sich ein jeder von uns an seinem Theile bewirbt, nichtfür unnütz. Bey dieser leitet uns der gemeinschaftliche Grund-satz, was uns für Wahrheit gilt, niemals aus Rücksichten nurhalb zu sagen. In der Einkleidung werden Abhandlungen mit Briefen,Gesprächen, rhapsodischen Betrachtungen und aphoristischenBruchstücken wechseln, wie in dem Inhalte besondre Urtheilemit allgemeinen Untersuchungen, Theorie mit geschichtlicherDarstellung, Ansichten der vielseitigen Strebungen unsers Volksund Zeitalters mit Blicken auf das Ausland und die Vergangen-heit, vorzüglich auf das klassische Alterthum. Was in keinerBeziehung auf Kunst und Philosophie, beyde in ihrem ganzenUmfange genommen, steht, bleibt ausgeschlossen, so wie auchAufsätze, die Theile von größeren Werken sind. Der Prüfung derKenner widmen wir unsre angestrengtesten Bemühungen; fürdie Unterhaltung aller Leser wünschen wir so viel anziehendesund belebendes in unsre Vorträge zu legen, als ernstere Zweckeerlauben.Wir theilen viele Meynungen mit einander; aber wir gehn nichtdarauf aus, jeder die Meynungen des andern zu den seinigen zumachen. Jeder steht daher für seine eignen Behauptungen. Nochweniger soll das geringste von der Unabhängigkeit des Geistes,wodurch allein das Geschäft des denkenden Schriftstellersgedeihen kann, einer flachen Einstimmigkeit aufgeopfert

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werden; und es können folglich sehr oft abweichende Urtheilein dem Fortgange dieser Zeitschrift vorkommen. Wir sind nichtbloß Herausgeber, sondern Verfasser derselben, und unterneh-men sie ohne alle Mitarbeiter. Fremde Beyträge werden wir nurdann aufnehmen, wenn wir sie, wie unsre eignen, vertreten zukönnen glauben, und Sorge tragen, sie besonders zu unterschei-den. Die Arbeiten eines jeden von uns sind mit dem Anfangs-buchstaben seines Vornamens, die gemeinschaftlichen mit bey-den bezeichnet.

W. und F.

August Wilhelm Schlegel, Friedrich Schlegel: Vorerinnerung,in: Athenaeum 1798, Ersten Bandes Erstes Stück [ohne Pagi-nierung].

Das Athenaeum.

Der Bildung Strahlen all’in Eins zu fassen,Vom Kranken ganz zu scheiden das Gesunde,Bestreben wir uns treu in freyem Bunde,Und wollten uns auf uns allein verlassen:

Nach alter Weise konnt’ich nie es lassen,So sicher ich auch war der rechten Kunde,Mir neu zu reizen stets des Zweifels Wunde,Und was an mir beschränkt mir schien, zu hassen.

Nun schreyt und schreibt in Ohnmacht sehr geschäftig,Als wärs im tiefsten Herzen tief beleidigt,Der Platten Volk von Hamburg bis nach Schwaben.

Ob unsern guten Zweck erreicht wir haben,Zweifl’ ich nicht mehr; es hats die That beeidigt,Daß unsre Ansicht allgemein und kräftig.

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Friedrich Schlegel: Das Athenaeum, in: Athenaeum 1800, Dritten Bandes Zweites Stück, S. 236.

Notizen.

Vortreffliche Werke pflegen sich selbst zu charakterisiren und indieser Rücksicht ist es überflüßig, wenn ein andrer dasselbeGeschäft noch einmal verrichtet, was der Autor ohne Zweifelschon gethan haben wird. Ist eine solche Charakteristik indes-sen, wie sie es immer seyn sollte, ein Kunstwerk, so ist ihrDaseyn zwar nichts weniger als überflüßig, aber sie steht ganzfür sich, und ist so unabhängig von der charakterisirten Schrift,wie diese selbst von der in ihr behandelten und gebildeten Mate-rie. Sie dürfte dann geschickter seyn, denen, die schon einge-weiht sind, einen noch tieferen Blick in den unerschöpflichenGeist eines originellen Gedichts oder einer reellen Philosophiezu geben, als völligen Layen die erste Bekanntschaft mit sol-chen Mysterien zu verschaffen. Daher wird auch diese höhereKritik mehr das anerkannt Classische, sey es noch so alt, zumAnlaß und Gegenstand ihrer Thätigkeit wählen, als jede merk-würdige Neuigkeit, die am literarischen Horizonte erscheint,aufmerksam beobachten, und das Bemerkte in der Kürze auf-zeichnen. Dieses letztere ist es eigentlich, was eine litterarischeZeitung vorzüglich leisten sollte, damit der Leser, welcher mitAuswahl zu seiner eigenen Bildung lesen will, von allem wasihm interessant seyn muß, früh genug Nachricht erhielte. Nichtbloß eine Nachricht, daß so etwas da sey, sondern eine Ausein-andersetzung, was es eigentlich sey; alles mit steter Rücksichtauf ihn, auf seine Bildung und auf die Mißverständnisse, derenMöglichkeit man bey ihm voraussetzen darf, in einer allgemeinverständlichen Sprache klar und kurz. Aber freylich ist dieKürze relativ: denn wenn ein Werk etwa aus einem Standpunkt,der noch nicht populär ist, betrachtet seyn will, so muß dieserStandpunkt erst aufgestellt und an den populären angeknüpft

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werden; oder wenn das Werk, wie es bey Philosophen der Fallseyn kann, seine eigene Sprache redet, also seinen Charakterselbst auch nur in dieser Sprache giebt, so ist es nöthig, da in dasMittel zu treten und den Zweck des Ganzen in die allgemeineSprache zu übersetzen und neu darzustellen. Doch solcherWerke giebt es immer nur sehr wenige, und die Menge derjeni-gen, von denen der gute Leser eigentlich gar keine Notiz neh-men, und der gute Kritiker gar keine Notiz geben sollte, ist sounermeßlich groß, daß es wohl eher an vielen andern Dingenals an Raum und Zeit gebrechen würde, um das Ideal einer lit-terarischen Zeitung zu realisiren.Für jetzt scheint es am zweckmäßigsten, daß die Einzelnen fürsich zur Befriedigung des allgemeinen Bedürfnisses beytragenwas sie mögen und vermögen. Und wenn dieß in einem Journalgeschieht, wo die Herausgeber zugleich die hauptsächlichstenMitarbeiter sind, so hat der Leser dabey den Vortheil, daß er dieUrtheilenden aus ihren eignen Arbeiten schon kennt, und alsoleicht wissen kann, in wiefern er mit ihnen übereinstimmt.Wir haben uns daher entschlossen, unsern Lesern von Zeit zuZeit Notizen über die merkwürdigsten Produkte der einheimi-schen Litteratur zu geben. Es ist dabey nicht die Absicht, denCharakter wichtiger Werke zu erschöpfen oder immer förmlicheExempel kritischer Virtuosität aufzustellen; sondern nur ihrenCharakter, ehe die öffentliche Meinung ihnen schon einen viel-leicht unrichtigen gegeben hat, im Allgemeinen vorläufig, injeder freyesten Form die nur zum Zweck führt, zu bestimmen,damit weder das Vortreffliche, weil es keinen berühmten Namenan der Stirn trägt, unbekannt bleibe, noch was schlecht oder mit-telmäßig ist, der Autorität wegen für gut gelte.Wir werden auch wohl auf einzelne Aufsätze in Journalen Rück-sicht nehmen, und uns dann und wann eine kleine Episode in dieausländische Litteratur erlauben; wenn der Begriff der Episodeda statt finden kann, wo noch gar keine Ansprüche auf Vollstän-digkeit gemacht werden. Selbst Nachrichten über Kunst undTheater bey uns und bey den Fremden würden wir gern geben,

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wenn wir nur hoffen dürften mehrere zu erhalten, die unsermSinne nicht widersprächen.Wir werden unsre Ansichten so klar als möglich darzustellenversuchen, und die Motive nie verschweigen. Aber freylichgiebt es Fälle, wo es am besten ist, kategorisch zu urtheilen, unddas, wodurch das Urtheil motivirt ist, in dieses selbst hineinzu-legen, ohne alle Förmlichkeit; auch giebt es in jeder Kritik, siemag noch so förmlich seyn, irgend einen Punkt, wo das Motivi-ren ein Ende hat, und wo es nur darauf ankommt, ob der Lesermit dem Beurtheiler übereinstimmen kann und will. Wir erken-nen dieß ausdrücklich an und gestehen sonach, daß diese Noti-zen zwar, insofern sie sich bemühen werden, den litterarischenFortschritten der Zeit auf dem Fuß zu folgen – zum Archiv derZeit, aber nur zu einem Archiv der Zeit und unsers Geschmacksgehören werden. Um jedoch auch der Zeit und ihremGeschmacke sein Recht wiederfahren zu lassen, werden wirauch den neuesten litterarischen Unarten immer einige flüchtigeWorte schenken, und wir glauben das ernste Geschäft keines-weges zu entweihen, sondern vielmehr zu erheitern, wenn wirdem Cachinnus70, dem höchsten besten Gotte, der einen sogroßen Theil der vaterländischen Litteratur zu seiner und zurallgemeinen Belustigung muthwilligerweise erschaffen zuhaben scheint, ländlich bescheidne Geschenke von seiner eige-nen Gabe darbringen. [...]

Die bisher in Deutschland gangbare Uebersetzung des DonQuixote71 war ganz spaßhaft zu lesen, nur fehlte – die Poesie,sowohl die in Versen als die der Prosa; und somit der Zusam-menhang des Werks, in dem eben nicht viel mehr aber auchnicht weniger Zusammenhang ist wie in einer Composition derMusik oder der Mahlerey. Don Quixote’s schöner Jähzorn undhochtrabende Gelassenheit verlor oft die feinsten Züge undSancho nähert sich dem niedersächsischen Bauer.Ein Dichter und vertrauter Freund der alten romantischen Poe-sie wie Tieck muß es seyn, der diesen Mangel ersetzen und den

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Eindruck und Geist des Ganzen im Deutschen wiedergeben undnachbilden will. Er hat den Versuch angefangen und der ersteTheil seiner Uebersetzung72 zeigt zur Genüge, wie sehr es ihmgelingt, den Ton und die Farbe des Originals nachzuahmen, undso weit es möglich ist, zu erreichen. Auch viele Stellen vondenen die fast unübersetzlich scheinen können, sind überra-schend glücklich ausgedrückt. Doch ist die Uebersetzung kei-neswegs in Einzelnen ängstlich treu, obgleich sie es in Rück-sicht auf das Colorit des Ganzen auf das gewissenhafteste zuseyn strebt. Daher ist in den Gedichten der Nachbildung desSylbenmaßes, welches beym Cervantes immer so bedeutsam ist,lieber etwas von der Genauigkeit des Sinns aufgeopfert. Wasman hierin von dem Uebersetzer hoffen dürfe, sieht man ausdem meisterhaft übersetzten Gedichte S. 417.73 Auch in demGedicht des Chrysostomus ist der Ton des Ganzen sehr gutgetroffen. Die Prosa scheint, je weiter das Werk fortrückt,immer ausgebildeter und spanischer zu werden; auch die ein-zelnen Härten werden seltner.Es fragt sich also nur, ob der Leser wird in den Gesichtspunktdes Uebersetzers eingehn wollen, ob er sich mit einem Worteentschließen kann, den Don Quixote auch noch in andern Stun-den als denen der Verdauung zu lesen, welcher bekanntlichalles, was nicht zu lachen macht, vorzüglich ernsthafte oder gartragische Poesie so leicht nachtheilig wird. Wir wollen ihn alsomit eben so viel Nachdruck als Ergebenheit gebeten haben, denCervantes für einen Dichter zu halten, der zwar im ersten Thei-le des Don Quixote die ganze Blumenfülle seiner frischen Poe-sie aus des Witzes buntem Füllhorn in einem Augenblicke fröh-licher Verschwendung mit einemmale ausgeschüttet zu habenscheint; der aber doch auch noch andre ganz ehr- und achtbareWerke erfunden und gebildet hat, die dereinst wohl ihre Stelleim Allerheiligsten der romantischen Kunst finden werden. Ichmeyne die liebliche und sinnreiche Gälatea,74 wo das Spiel desmenschlichen Lebens sich mit bescheidner Kunst und leiserSymmetrie zu einem künstlich schönen Gewebe ewiger Musik

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und zarter Sehnsucht ordnet, indem es flieht. Es ist der Blüthe-kranz der Unschuld und der frühsten noch schüchternen Jugend.Der dunkelfarbige Persiles75 dagegen zieht sich langsam undfast schwer durch den Reichthum seiner sonderbaren Verschlin-gungen aus der Ferne des dunkelsten Norden nach dem warmenSüden herab, und endigt freundlich in Rom, dem herrlichenMittelpunkt der gebildeten Welt. Es ist die späteste, fast zu reife,aber doch noch frisch und gewürzhaft duftende Frucht diesesliebenswürdigen Geistes, der noch im letzten Hauch Poesie undewige Jugend athmete. Die Novelas76 dürfen gewiß keinem sei-ner Werke nachstehn. Wer nicht einmal sie göttlich finden kann,muß den Don Quixote durchaus falsch verstehn. Daher solltensie auch zunächst nach diesem übersetzt werden. Denn überset-zen und lesen muß man alles oder nichts von diesem unsterbli-chen Autor.

[Anonym:] Notizen, in: Athenaeum 1799, Zweiten Bandes Zwei-tes Stück, S. 285-288, 324-326.

17. Athenaeums-Fragmente

[4] Zum großen Nachtheil der Theorie von den Dichtarten ver-nachläßigt man oft die Unterabtheilungen der Gattungen. Sotheilt sich zum Beyspiel die Naturpoesie in die natürliche und indie künstliche, und die Volkspoesie in die Volkspoesie für dasVolk und in die Volkspoesie für Standespersonen und Gelehrte.

[9] Zum Glück wartet die Poesie eben so wenig auf die Theorie,als die Tugend auf die Moral, sonst hätten wir fürs erste keineHoffnung zu einem Gedicht.

[22] Ein Projekt ist der subjektive Keim eines werdendenObjekts. Ein vollkommnes Projekt müßte zugleich ganz subjek-

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tiv, und ganz objektiv, ein untheilbares und lebendiges Indivi-duum seyn. Seinem Ursprunge nach, ganz subjektiv, original,nur grade in diesem Geiste möglich; seinem Charakter nachganz objektiv, physisch und moralisch nothwendig. Der Sinn fürProjekte, die man Fragmente aus der Zukunft nennen könnte, istvon dem Sinn für Fragmente aus der Vergangenheit nur durchdie Richtung verschieden, die bei ihm progressiv, bei jenemaber regressiv ist. Das Wesentliche ist die Fähigkeit, Gegen-stände unmittelbar zugleich zu idealisiren, und zu realisiren, zuergänzen, und theilweise in sich auszuführen. Da nun transcen-dental eben das ist, was auf die Verbindung oder Trennung desIdealen und des Realen Bezug hat; so könnte man wohl sagen,der Sinn für Fragmente und Projekte sey der transcendentaleBestandtheil des historischen Geistes.

[34] Fast alle Ehen sind nur Konkubinate, Ehen an der linkenHand, oder vielmehr provisorische Versuche, und entfernteAnnäherungen zu einer wirklichen Ehe, deren eigentlichesWesen, nicht nach den Paradoxen dieses oder jenes Systems,sondern nach allen geistlichen und weltlichen Rechten darinbesteht, daß mehre Personen nun Eine werden sollen. Ein arti-ger Gedanke, dessen Realisirung jedoch viele und großeSchwierigkeiten zu haben scheint. Schon darum sollte die Will -kühr, die wohl ein Wort mitreden darf, wenn es daraufankommt, ob einer ein Individuum für sich, oder nur der inte-grante Theil einer gemeinschaftlichen Personalität seyn will,hier so wenig als möglich beschränkt werden; und es läßt sichnicht absehen, was man gegen eine Ehe à quatre gründlicheseinwenden könnte. Wenn aber der Staat gar die misglücktenEheversuche mit Gewalt zusammenhalten will, so hindert erdadurch die Möglichkeit der Ehe selbst, die durch neue, viel-leicht glücklichere Versuche befördert werden könnte.

[42] Gute Dramen müssen drastisch seyn.

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[51] Naiv ist, was bis zur Ironie, oder bis zum steten Wechselvon Selbstschöpfung und Selbstvernichtung natürlich, individu-ell oder klassisch ist, oder scheint. Ist es bloß Instinkt, so istskindlich, kindisch, oder albern; ists bloß Absicht, so entstehtAffektazion. Das schöne, poetische, idealische Naive mußzugleich Absicht, und Instinkt seyn. Das Wesen der Absicht indiesem Sinne ist die Freyheit. Bewußtseyn ist noch bey weitemnicht Absicht. Es giebt ein gewisses verliebtes Anschauen eig-ner Natürlichkeit oder Albernheit, das selbst unsäglich albernist. Absicht erfordert nicht gerade einen tiefen Calcul oder Plan.Auch das Homerische Naive ist nicht bloß Instinkt: es ist wenig-stens so viel Absicht darin, wie in der Anmuth lieblicher Kinder,oder unschuldiger Mädchen. Wenn Er auch keine Absichtenhatte, so hat doch seine Poesie und die eigentliche Verfasserinderselben, die Natur, Absicht.

[77] Ein Dialog ist eine Kette, oder ein Kranz von Fragmenten.Ein Briefwechsel ist ein Dialog in vergrößertem Maßstabe, undMemorabilien sind ein System von Fragmenten. Es giebt nochkeins was in Stoff und Form fragmentarisch, zugleich ganz sub-jektiv und individuell, und ganz objektiv und wie ein nothwen-diger Theil im System aller Wissenschaften wäre.

[105] Schellings Philosophie, die man kritisirten Mystizismusnennen könnte, endigt, wie der Prometheus des Aeschylus77 mitErdbeben und Untergang.

[112] Die Philosophen welche nicht gegen einander sind, ver-bindet gewöhnlich nur Sympathie, nicht Symphilosophie.

[116] Die romantische Poesie ist eine progressive Universal-poesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte Gattun-gen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Phi-losophie, und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, undsoll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie,

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und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesielebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poe-tisch machen, den Witz poetisiren, und die Formen der Kunstmit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen,und durch die Schwingungen des Humors beseelen. Sie umfaßtalles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehre Systemein sich enthaltenden Systeme der Kunst, bis zu dem Seufzer,dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosenGesang. Sie kann sich so in das Dargestellte verlieren, daß manglauben möchte, poetische Individuen jeder Art zu charakterisi-ren, sey ihr Eins und Alles; und doch giebt es noch keine Form,die so dazu gemacht wäre, den Geist des Autors vollständig aus-zudrücken: so daß manche Künstler, die nur auch einen Romanschreiben wollten, von ungefähr sich selbst dargestellt haben.Nur sie kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umge-benden Welt, ein Bild des Zeitalters werden. Und doch kannauch sie am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Dar-stellenden, frey von allem realen und idealen Interesse auf denFlügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, dieseReflexion immer wieder potenziren und wie in einer endlosenReihe von Spiegeln vervielfachen. Sie ist der höchsten und derallseitigsten Bildung fähig; nicht bloß von innen heraus, son-dern auch von außen hinein; indem sie jedem, was ein Ganzesin ihren Produkten seyn soll, alle Theile ähnlich organisirt,wodurch ihr die Aussicht auf eine gränzenlos wachsende Klas-sizität eröffnet wird. Die romantische Poesie ist unter den Kün-sten was der Witz der Philosophie, und die Gesellschaft,Umgang, Freundschaft und Liebe im Leben ist. Andre Dichtar-ten sind fertig, und können nun vollständig zergliedert werden.Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihreigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet seynkann. Sie kann durch keine Theorie erschöpft werden, und nureine divinatorische Kritik dürfte es wagen, ihr Ideal charakteri-siren zu wollen. Sie allein ist unendlich, wie sie allein frey ist,und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkühr des

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Dichters kein Gesetz über sich leide. Die romantische Dichtartist die einzige, die mehr als Art, und gleichsam die Dichtkunstselbst ist: denn in einem gewissen Sinn ist oder soll alle Poesieromantisch seyn.

[125] Vielleicht würde eine ganz neue Epoche der Wissenschaf-ten und Künste beginnen, wenn die Symphilosophie und Sym-poesie so allgemein und so innig würde, daß es nichts seltnesmehr wäre, wenn mehre sich gegenseitig ergänzende Naturengemeinschaftliche Werke bildeten. Oft kann man sich desGedankens nicht erwehren, zwey Geister möchten eigentlichzusammengehören, wie getrennte Hälften, und nur verbundenalles seyn, was sie könnten. Gäbe es eine Kunst, Individuen zuverschmelzen, oder könnte die wünschende Kritik etwas mehrals wünschen, wozu sie überall so viel Veranlassung findet, somöchte ich Jean Paul und Peter Leberecht78 kombinirt sehen.Grade alles, was jenem fehlt, hat dieser. Jean Pauls groteskesTalent und Peter Leberechts fantastische Bildung vereinigt, wür-den einen vortrefflichen romantischen Dichter hervorbringen.

[132] Dichter sind doch immer Narzisse.

[198] Ehedem wurde unter uns die Natur, jetzt wird das Idealausschließend gepredigt. Man vergißt zu oft, daß diese Dingeinnig vereinbar sind, daß in der schönen Darstellung die Naturidealisch und das Ideal natürlich seyn soll.

[233] Die Religion ist meistens nur ein Supplement oder gar einSurrogat der Bildung, und nichts ist religiös in strengem Sinne,was nicht ein Produkt der Freyheit ist. Man kann also sagen: Jefreyer, je religiöser; und je mehr Bildung, je weniger Religion.

[255] Je mehr die Poesie Wissenschaft wird, je mehr wird sieauch Kunst. Soll die Poesie Kunst werden, soll der Künstler vonseinen Mitteln und seinen Zwecken, ihren Hindernissen und

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ihren Gegenständen gründliche Einsicht und Wissenschafthaben, so muß der Dichter über seine Kunst philosophiren. Soller nicht bloß Erfinder und Arbeiter sondern auch Kenner in sei-nem Fache seyn, und seine Mitbürger im Reiche der Kunst ver-stehn können, so muß er auch Philolog werden.

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Abb. 9: Johann Heinrich Füssli, Der Nachtmahr, 1790/91 (wohl nach einerSzene in Romeo und Julia, 1.4)

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[334] Dafür ist das Zeitalter noch nicht reif, sagen sie immer.Soll es deswegen unterbleiben? – Was nocht nicht seyn kann,muß wenigstens immer im Werden bleiben.

[450] Universalität ist Wechselsättigung aller Formen und allerStoffe. Zur Harmonie gelangt sie nur durch Verbindung der Poe-sie und der Philosophie: auch den universellsten vollendetstenWerken der isolirten Poesie und Philosophie scheint die letzteSynthese zu fehlen; dicht am Ziel der Harmonie bleiben sieunvollendet stehn. Das Leben des universellen Geistes ist eineununterbrochne Kette innerer Revoluzionen; alle Individuen,die ursprünglichen, ewigen nämlich leben in ihm. Er ist ächterPolytheist und trägt den ganzen Olymp in sich.

[Anonym:] Fragmente, in: Athenaeum 1798, Ersten BandesZweytes Stück, S. 179-322, dort S. 179-180, 184, 187, 189-191,196, 202-206, 209-211, 228, 239, 247, 270, 322.

18. Friedrich von Hardenberg gen. Novalis:Hymnen an die Nacht

4.Nun weiß ich, wenn der letzte Morgen seyn wird – wenn dasLicht nicht mehr die Nacht und die Liebe scheucht – wenn derSchlummer ewig und nur Ein unerschöpflicher Traum seynwird. Himmlische Müdigkeit fühl ich in mir. – Weit und ermü-dend ward mir die Wallfahrt zum heiligen Grabe, drückend dasKreutz. Die krystallene Woge, die gemeinen Sinnen unver-nehmlich, in des Hügels dunkeln Schooß quillt, an dessen Fußdie irdische Flut bricht, wer sie gekostet, wer oben stand aufdem Grenzgebürge der Welt, und hinübersah in das neue Land,in der Nacht Wohnsitz – warlich der kehrt nicht in das Treiben

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der Welt zurück, in das Land, wo das Licht in ewiger Unruhhauset.Oben baut er sich Hütten, Hütten des Friedens, sehnt sich undliebt, schaut hinüber, bis die willkommenste aller Stunden hin-unter ihn in den Brunnen der Quelle zieht – das Irdischeschwimmt oben auf, wird von Stürmen zurückgeführt, aber washeilig durch der Liebe Berührung ward, rinnt aufgelöst in ver-borgenen Gängen auf das jenseitige Gebiet, wo es, wie Düfte,sich mit entschlummerten Lieben mischt.Noch weckst du, muntres Licht den Müden zur Arbeit – flößestfröhliches Leben mir ein – aber du lockst mich von der Erinne-rung moosigem Denkmal nicht. Gern will ich die fleißigenHände rühren, überall umschaun, wo du mich brauchst – rüh-men deines Glanzes volle Pracht – unverdroßen verfolgen dei-nes künstlichen Werks schönen Zusammenhang – gern betrach-ten deiner gewaltigen, leuchtenden Uhr sinnvollen Gang –ergründen der Kräfte Ebenmaß und die Regeln des Wunder-spiels unzähliger Räume und ihrer Zeiten. Aber getreu derNacht bleibt mein geheimes Herz, und der schaffenden Liebe,ihrer Tochter. Kannst du mir zeigen ein ewig treues Herz? hatdeine Sonne freundliche Augen, die mich erkennen? fassendeine Sterne meine verlangende Hand? Geben mir wieder denzärtlichen Druck und das kosende Wort? Hast du mit Farbenund leichtem Umriß Sie geziert – oder war Sie es, die deinemSchmuck höhere, liebere Bedeutung gab? Welche Wollust, wel-chen Genuß bietet dein Leben, die aufwögen des Todes Ent-zückungen? Trägt nicht alles, was uns begeistert, die Farbe derNacht? Sie trägt dich mütterlich und ihr verdankst du all deineHerrlichkeit. Du verflögst in dir selbst – in endlosen Raum zer-gingst du, wenn sie dich nicht hielte, dich nicht bände, daß duwarm würdest und flammend die Welt zeugtest. Warlich ichwar, eh du warst – die Mutter schickte mit meinen Geschwisternmich, zu bewohnen deine Welt, sie zu heiligen mit Liebe, daßsie ein ewig angeschautes Denkmal werde – zu bepflanzen siemit unverwelklichen Blumen. Noch reiften sie nicht diese gött-

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lichen Gedanken – Noch sind der Spuren unserer Offenbarungwenig – Einst zeigt deine Uhr das Ende der Zeit, wenn du wirstwie unser einer, und voll Sehnsucht und Inbrunst auslöschestund stirbst. In mir fühl ich deiner Geschäftigkeit Ende – himm-lische Freyheit, selige Rückkehr. In wilden Schmerzen erkennich deine Entfernung von unsrer Heymath, deinen Widerstandgegen den alten, herrlichen Himmel. Deine Wuth und deinToben ist vergebens. Unverbrennlich steht das Kreutz – eineSiegesfahne unsers Geschlechts.

Hinüber wall ich,Und jede PeinWird einst ein StachelDer Wollust seyn.Noch wenig Zeiten,So bin ich los,Und liege trunkenDer Lieb’ im Schooß.Unendliches LebenWogt mächtig in mirIch schaue von obenHerunter nach dir.An jenem HügelVerlischt dein Glanz –

6.Sensucht nach dem Tode.

Hinunter in der Erde Schooß,Weg aus des Lichtes Reichen,Der Schmerzen Wuth und wilder StoßIst froher Abfahrt Zeichen.Wir kommen in dem engen KahnGeschwind am Himmelsufer an,

Ein Schatten bringetDen kühlenden Kranz.O! sauge, Geliebter,Gewaltig mich an,Daß ich entschlummernUnd lieben kann.Ich fühle des TodesVerjüngende Flut,Zu Balsam und AetherVerwandelt mein Blut –Ich lebe bey TageVoll Glauben und MuthUnd sterbe die NächteIn heiliger Glut.

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Gelobt sey uns die ewge Nacht,Gelobt der ewge Schlummer.Wohl hat der Tag uns warm gemacht,Und welk der lange Kummer.Die Lust der Fremde ging uns aus,Zum Vater wollen wir nach Haus.

Was sollen wir auf dieser WeltMit unsrer Lieb’und Treue.Das Alte wird hintangestellt,Was soll uns dann das Neue.O! einsam steht und tiefbetrübt,Wer heiß und fromm die Vorzeit liebt.

Die Vorzeit wo die Sinne lichtIn hohen Flammen brannten,Des Vaters Hand und AngesichtDie Menschen noch erkannten.Und hohen Sinns, einfältiglichNoch mancher seinem Urbild glich.

Die Vorzeit, wo noch blüthenreichUralte Stämme prangten,Und Kinder für das HimmelreichNach Quaal und Tod verlangten.Und wenn auch Lust und Leben sprachDoch manches Herz für Liebe brach.

Die Vorzeit, wo in JugendglutGott selbst sich kundgegebenUnd frühem Tod in LiebesmuthGeweiht sein süßes Leben.Und Angst und Schmerz nicht von sich trieb,Damit er uns nur theuer blieb.

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Mit banger Sehnsucht sehn wir sieIn dunkle Nacht gehüllet,In dieser Zeitlichkeit wird nieDer heiße Durst gestillet.Wir müssen nach der Heymath gehn,Um diese heilge Zeit zu sehn.

Was hält noch unsre Rückkehr auf,Die Liebsten ruhn schon lange.Ihr Grab schließt unsern Lebenslauf,Nun wird uns weh und bange.Zu suchen haben wir nichts mehr –Das Herz ist satt – die Welt ist leer.

Unendlich und geheimnißvollDurchströmt uns süßer Schauer –Mir däucht, aus tiefen Fernen schollEin Echo unsrer Trauer.Die Lieben sehnen sich wohl auchUnd sandten uns der Sehnsucht Hauch.

Hinunter zu der süßen Braut,Zu Jesus, dem Geliebten –Getrost, die Abenddämmrung grautDen Liebenden, Betrübten.Ein Traum bricht unsre Banden losUnd senkt uns in des Vaters Schooß.

Friedrich von Hardenberg gen. Novalis: Hymnen an die Nacht.Vierte und sechste Hymne, in: Athenaeum 1800, Dritten BandesZweites Stück, S. 188-204, dort S. 192-195, 202-204.

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Literarisches LebenNaturphilosophie

Naturphilosophie

Friedrich Schleiermacher (1768-1834) stand mit seinen Gedan-ken zur Religion und Philosophie im engen Austausch mitFriedrich Schlegel und dem Kreis der Romantiker. Seine Thesenzum Verhältnis von Mensch und Natur und die Einbindung desMenschen in einen göttlichen Naturzusammenhang schriebendem Individuum einen Grad an individueller Freiheit zu, die fürein zielgerichtetes sittliches Handeln und für die Entwicklungeiner persönlichen Individualität notwendig waren. Hiermit trafer bei den Freunden des Romantikerkreises auf offene Ohren.Neben der Religion sind die Gedanken und Überlegungen zurNaturphilosophie der Jenaer Romantiker vor allem mit der Phi-losophie von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775-1854)verknüpft. Während seiner Jenaer Zeit veröffentlichte Schelling1797 eines der wichtigsten Werke zur Naturphilosophie, die‚Ideen zu einer Philosophie der Natur‘ (Text 21). Der Blick aufdie Welt sollte mit den Überlegungen Schellings ein andererwerden. Natur sollte nicht mehr auf die mechanischen Aspekteihrer selbst reduziert werden. Natur und Geist sollten sichgegenseitig durchdringen: „Die Natur soll der sichtbare Geist,der Geist die unsichtbare Natur sein.“79 Diesen philosophischenÜberlegungen stand auch der Physiker Johann Wilhelm Ritternahe. Ritter sollte den theoretischen Ausführungen vor allemdurch praktische Versuche in der Physik und Chemie eine ver-stärkte Ausdruckskraft verleihen. Mit Experimenten und Vor-führungen konnte er ein naturwissenschaftlich interessiertesPublikum in seinen Bann ziehen und stand damit an der Schnitt-stelle zwischen Schellings Philosophie und romantischer Natur-wissenschaft. Seine Experimente waren der praktische Teil zuden philosophischen Erörterungen Schellings, der seine Bezie-hungen zur Experimentalphysik deutlich in seine philosophi-

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schen Überlegungen mit einbezog: „Mein Zweck ist vielmehr:die Naturwissenschaft selbst erst philosophisch ‚entstehen‘ zulassen, und meine Philosophie ist selbst nichts anders als Natur-wissenschaft.“ (Text 22)

19. Friedrich Schleiermacher:Ueber das Gesellige in derReligion oder

über Kir che und Priestertum

Diejenigen unter Euch, welche gewohnt sind die Religion nurals eine Krankheit des Gemüths anzusehen, pflegen auch wohldie Idee zu unterhalten, daß sie ein leichter zu duldendes, javielleicht zu bezähmendes Übel sei, so lange nur hie und da Ein-zelne abgesondert damit behaftet wären, daß aber die gemeineGefahr aufs höchste gestiegen und Alles verloren sei, sobaldunter mehreren Unglüklichen dieser Art eine allzunahe Gemein-schaft bestände. In jenem Falle könne man durch eine zwek-mäßige Behandlung, gleichsam durch eine der Entzündungwiderstehende Diät und durch gesunde Luft die Paroxismen80

schwächen, und den eigenthümlichen Krankheitsstoff, wo nichtvöllig besiegen, doch bis zur Unschädlichkeit verdünnen; in die-sem Falle aber müße man jede Hofnung zur Rettung aufgeben;weit verheerender werde das Übel und von den gefährlichstenSymptomen begleitet, wenn die zu große Nähe der Andern esbei jedem Einzelnen hegt und schärft; durch Wenige werde dannbald die ganze Atmosphäre vergiftet, auch die gesundesten Kör-per werden angestekt, alle Kanäle, in denen der Prozeß desLebens vor sich gehen soll, zerstört, alle Säfte aufgelöset, undvon dem gleichen fieberhaften Wahnsinn ergriffen, sei es umganze Generazionen und Völker unwiderbringlich gethan.Daher ist Euer Widerwille gegen die Kirche, gegen jede Veran-staltung, bei der es auf Mittheilung der Religion angesehen ist,

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immer noch größer als der gegen die Religion selbst, daher sindEuch die Priester, als die Stüzen und die eigentlich thätigen Mit-glieder solcher Anstalten die Verhaßtesten unter den Menschen.Aber auch diejenigen unter Euch, welche von der Religion eineetwas gelindere Meinung haben, und sie mehr für eine Sonder-barkeit als eine Zerrüttung des Gemüths, mehr für eine unbe-deutende als gefährliche Erscheinung halten, haben von allengeselligen Einrichtungen für dieselbe vollkommen eben sonachtheilige Begriffe. Knechtische Aufopferung des Eigen-thümlichen und Freien, geistloser Mechanismus und leereGebräuche, dies meinen sie seien die unzertrennlichen Folgendavon, und das kunstreiche Werk derer, die sich mit unglaubli-chem Erfolg große Verdienste machen aus Dingen, die entwederNichts sind, oder die Jeder andre gleich gut auszurichten imStande wäre. Ich würde über den Gegenstand, der mir so wich-tig ist, mein Herz nur sehr unvollkommen gegen Euch ausge-schüttet haben, wenn ich mir nicht Mühe gäbe Euch auch hierü-ber auf den richtigen Gesichtspunkt zu stellen. Wieviel von denverkehrten Bestrebungen und den traurigen Schiksalen derMenschheit Ihr den Religionsvereinigungen Schuld gebt, habeich nicht nöthig zu wiederholen, es liegt in tausend Äußerungender Vielgeltendsten unter Euch zu Tage; noch will ich michdamit aufhalten diese Beschuldigungen einzeln zu widerlegen,und das Übel auf andere Ursachen zurükzuwälzen: laßt uns viel-mehr den ganzen Begrif einer neuen Betrachtung unterwerfenund ihn vom Mittelpunkt der Sache aus aufs neue erschaffen,unbekümmert um das, was bis jezt wirklich ist, und was dieErfahrung uns an die Hand giebt.Ist die Religion einmal, so muß sie nothwendig auch geselligsein: es liegt in der Natur des Menschen nicht nur, sondern auchganz vorzüglich in der ihrigen. Ihr müßt gestehen, daß es etwashöchst widernatürliches ist, wenn der Mensch dasjenige, was erin sich erzeugt und ausgearbeitet hat, auch in sich verschließenwill. In der beständigen, nicht nur praktischen, sondern auchintellektuellen Wechselwirkung, worin er mit den Übrigen sei-

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ner Gattung steht, soll er alles äußern und mittheilen, was in ihmist, und je heftiger ihn etwas bewegt, je inniger es sein Wesendurchdringt, desto stärker wirkt auch der Trieb, die Kraft deßel-ben auch außer sich an Andern anzuschauen, um sich vor sichselbst zu legitimiren, daß ihm nichts als menschliches begegnetsei. Ihr seht daß hier gar nicht von jenem Bestreben die Rede ist,Andere uns ähnlich zu machen, noch von dem Glauben an dieUnentbehrlichkeit dessen, was in uns ist für Alle; sondern nurdavon, des Verhältnißes unserer besondern Ereigniße zurgemeinschaftlichen Natur inne zu werden. Der eigentlichsteGegenstand aber für dieses Verlangen ist unstreitig dasjenige,wobei der Mensch sich ursprünglich als leidend fühlt, Anschau-ungen und Gefühle; da drängt es ihn zu wißen, ob es keine frem-de und unwürdige Gewalt sei, der er weichen muß. Darumsehen wir auch von Kindheit an den Menschen damit beschäf-tigt, vornemlich diese mitzutheilen: eher läßt er seine Begriffe,über deren Ursprung ihm ohnedies kein Bedenken entstehenkann, in sich ruhen; aber was zu seinen Sinnen eingeht, wasseine Gefühle aufregt, darüber will er Zeugen, daran will erTheilnehmer haben. Wie sollte er grade die Einwirkungen desUniversums für sich behalten, die ihm als das größte und unwi-derstehlichste erscheinen? Wie sollte er grade das in sich fest-halten wollen, was ihn am stärksten aus sich heraustreibt, undihm nichts so sehr einprägt als dieses, daß er sich selbst aus sichallein nicht erkennen kann? Sein erstes Bestreben ist es viel-mehr, wenn eine religiöse Ansicht ihm klar geworden ist, oderein frommes Gefühl seine Seele durchdringt, auf den Gegen-stand auch Andre hinzuweisen und die Schwingungen seinesGemüths wo möglich auf sie fortzupflanzen. Wenn also von sei-ner Natur gedrungen der Religiöse nothwendig spricht, so ist eseben diese Natur die ihm auch Hörer verschafft. Bei keiner Artzu denken und zu empfinden hat der Mensch ein so lebhaftesGefühl von seiner gänzlichen Unfähigkeit ihren Gegenstandjemals zu erschöpfen, als bei der Religion. Sein Sinn für sie istnicht sobald aufgegangen, als er auch ihre Unendlichkeit und

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seine Schranken fühlt; er ist sich bewußt nur einen kleinen Theilvon ihr zu umspannen, und was er nicht unmittelbar erreichenkann, will er wenigstens durch ein fremdes Medium wahrneh-men. Darum intereßirt ihn jede Äußerung derselben, und seineErgänzung suchend, lauscht er auf jeden Ton den er für den ihri-gen erkennt. So organisirt sich gegenseitige Mittheilung, so istReden und Hören Jedem gleich unentbehrlich. Aber religiöseMittheilung ist nicht in Büchern zu suchen, wie etwa andereBegriffe und Erkenntniße. Zuviel geht verloren von demursprünglichen Eindruk in diesem Medium, worin alles ver-schlukt wird, was nicht in die einförmigen Zeichen paßt, indenen es wieder hervorgehen soll, wo Alles einer doppelten unddreifachen Darstellung bedürfte, indem das ursprünglich Dar-stellende wieder müßte dargestellt werden, und dennoch dieWirkung auf den ganzen Menschen in ihrer großen Einheit nurschlecht nachgezeichnet werden könnte durch vervielfältigteReflexion; nur wenn sie verjagt ist aus der Gesellschaft derLebendigen, muß sie ihr vielfaches Leben verbergen im todtenBuchstaben. Auch kann dieses Verkehr mit dem Innersten desMenschen nicht getrieben werden im gemeinen Gespräch.Viele, die voll guten Willens sind für die Religion, haben Euchdas zum Vorwurf gemacht, warum doch von allen wichtigenGegenständen unter Euch die Rede sei so im freundschaftlichenUmgange nur nicht von Gott und göttlichen Dingen. Ich möch-te Euch darüber vertheidigen, daß daraus wenigstens weder Ver-achtung noch Gleichgültigkeit spreche, sondern ein glüklicherund sehr richtiger Instinkt. Wo Freude und Lachen auch woh-nen, und der Ernst selbst sich nachgiebig paaren soll mit Scherzund Wiz, da kann kein Raum sein für dasjenige, was von heili-ger Scheu und Ehrfurcht immerdar umgeben sein muß. Religiö-se Ansichten, fromme Gefühle und ernste Reflexionen darüberkann man sich auch nicht so in kleinen Brosamen einanderzuwerfen, wie die Materialien eines leichten Gesprächs: wo vonso heiligen Gegenständen die Rede wäre, würde es mehr Frevelsein als Geschik, auf jede Frage sogleich eine Antwort bereit zu

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haben, und auf jede Ansprache eine Gegenrede. In dieser Mani-er eines leichten und schnellen Wechsels treffender Einfälle las-sen sich göttliche Dinge nicht behandeln: in einem größern Stylmuß die Mittheilung der Religion geschehen, und eine andereArt von Gesellschaft, die ihr eigen gewidmet ist, muß darausentstehen. Es gebührt sich auf das höchste was die Spracheerreichen kann auch die ganze Fülle und Pracht der menschli-chen Rede zu verwenden, nicht als ob es irgend einen Schmukgäbe, deßen die Religion nicht entbehren könnte, sondern weiles unheilig und leichtsinnig wäre nicht zu zeigen, daß Alleszusammengenommen wird, um sie in angemeßener Kraft undWürde darzustellen. Darum ist es unmöglich Religion andersauszusprechen und mitzutheilen als rednerisch, in aller Anstren-gung und Kunst der Sprache, und willig dazu nehmend denDienst aller Künste, welche der flüchtigen und beweglichenRede beistehen können. Darum öfnet sich auch nicht anders derMund desjenigen, deßen Herz ihrer voll ist, als vor einer Ver-sammlung wo mannigfaltig wirken kann, was so stattlich aus-gerüstet hervortritt. Ich wollte ich könnte Euch ein Bild machenvon dem reichen schwelgerischen Leben in dieser Stadt Gottes,wenn ihre Bürger zusammenkommen, jeder voll eigner Kraft,welche ausströmen will ins Freie, und voll heiliger Begierdealles aufzufaßen und sich anzueignen, was die Andern ihm dar-bieten mögen. Wenn einer hervortritt vor den Übrigen, ist esnicht ein Amt oder eine Verabredung die ihn berechtigt, nichtStolz oder Dünkel, der ihm Anmaßung einflößt: es ist freieRegung des Geistes, Gefühl der herzlichsten Einigkeit Jedes mitAllem und der vollkommensten Gleichheit, gemeinschaftlicheVernichtung jedes Zuerst und Zulezt und aller irdischen Ord-nung. Er tritt hervor um seine eigne Anschauung hinzustellen,als Objekt für die Übrigen, sie hinzuführen in die Gegend derReligion wo er einheimisch ist, und seine heiligen Gefühleihnen einzuimpfen: er spricht das Universum aus, und im heili-gen Schweigen folgt die Gemeine81 seiner begeisterten Rede. Essei nun daß er ein verborgenes Wunder enthülle, oder in weißa-

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gender Zuversicht die Zukunft an die Gegenwart knüpfe, es seidaß er durch neue Beispiele alte Wahrnehmungen befestige oderdaß seine feurige Fantasie in erhabenen Visionen ihn in andereTheile der Welt und eine andre Ordnung der Dinge entzüke: dergeübte Sinn der Gemeine begleitet überall den seinigen, undwenn er zurükkehrt von seinen Wanderungen durchs Universumin sich selbst, so ist sein Herz und das eines Jeden nur dergemeinschaftliche Schauplatz deßelben Gefühls. Dann entgeg-net ihm das laute Bekenntniß von der Übereinstimmung seinerAnsicht mit dem was in ihnen ist, und heilige Mysterien, nichtnur bedeutungsvolle Embleme, sondern recht angesehen natür-liche Andeutungen eines bestimmten Bewußtseins undbestimmter Empfindungen – werden so erfunden und so gefei-ert; gleichsam ein höheres Chor, das in einer eignen erhabenenSprache der auffordernden Stimme antwortet. Aber nicht nurgleichsam: so wie eine solche Rede Musik ist auch ohne Gesangund Ton, so ist auch eine Musik unter den Heiligen, die zur Redewird ohne Worte, zum bestimmtesten verständlichsten Aus-druck des Innersten. Die Muse der Harmonie, deren vertrautesVerhältniß zur Religion noch zu den Mysterien gehört, hat vonjeher die prächtigsten und vollendetsten Werke ihrer geweihte-sten Schüler dieser auf ihren Altären dargebracht. In heiligenHymnen und Chören, denen die Worte der Dichter nur lose undluftig anhängen, wird ausgehaucht was die bestimmte Redenicht mehr faßen kann, und so unterstüzen sich und wechselndie Töne des Gedankens und der Empfindung bis Alles gesättigtist und voll des Heiligen und Unendlichen. Das ist die Einwir-kung religiöser Menschen auf einander, das ihre natürliche undewige Verbindung. Verarget es ihnen nicht, daß dies himmlischeBand, das vollendetste Resultat der menschlichen Geselligkeit,zu welchem sie nur gelangen kann, wenn sie vom höchstenStandpunkt aus in ihrem innersten Wesen erkannt wird, ihnenmehr werth ist, als Euer irdisches politisches Band, welchesdoch nur ein erzwungenes, vergängliches, interimistisches Werkist. [...]

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Friedrich Schleiermacher Ueber das Gesellige in der Religion,in: Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an dieGebildeten unter ihren Verächtern. Berlin 1799, S. 174-184.

20. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling:Epikurisch Glaubensbekentniß Heinz Wiederporsts

Kann es fürwahr nicht länger ertragenMuß wieder einmal um mich schlagenWieder mich rühren mit allen SinnenSo mir dachten zu zerrinnenVon den hohen überirdschen LehrenDazu sie mich wollten mit Gewalt bekehrenWieder werden wie unser einerDer hat Mark, Blut Fleisch, und Gebeiner Mag über solchem Zeug nicht brüten Will drum unter sie hinein wüthen Weiß nicht wie sies können treiben Von Religion reden und schreiben Will nicht von den hohen Geistern mir lassen Verstand und Sinn verkleistern, Sondern behaupten zu jeder Frist Daß nur das wahrhaftig und wirklich ist Was man kann mit den Händen betasten Was zu begreifen nicht noth thut fasten Noch sonst ander’ Casteyung Oder gewaltsame Sinnenbefreyung.

Zwar als sie sprachen davon so trutzig Ward’ ich eine Weile stutzig Wolt mich wirklich drein ergeben Lassen von gottlos Werk und Leben Las, ob ich etwas verstehen könt’

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Darum so Reden als FragmentUnd war schon über Kopf und Hals In der Beschauung des Weltenalls Als mich thät der Verstand gemahnen Daß ich wär auf der falschen BahnenSollte rückkehren ins alte GleisUnd mir nichts machen lassen weis. Welches zu thun ich war nicht faul War doch nicht gleich wieder der alte Saul. Mußte um mir zu vertreiben die GrillenDavon mir thät der Kopf noch trillen Den Leib auf alle Weis’ berathen Mir holen lassen so Wein als BratenSolches thät mir trefflich frommen War wieder in meine Natur gekommen Konnt wieder mit Frauen mich ergehn Aus beiden Augen helle sehn Darob ich mich gar sehr ergötztAlsbald zum Schreiben niedersetzt.

Sprach so in meinen innern GedankenThu nicht von deinem Glauben wankenDer dir geholfen durch die WeltUnd Leib und Seel’zusammen hältKönnen dirs doch nicht demonstrirenNoch auf Begriffe reduzirenWie sie sprechen vom innern LichtReden viel und beweisen nichtIst weder gesotten noch gegoren Füllen mit großen Worten die OhrenSieht aus wie Phantasie und DichtungIst aller Poesie Vernichtung. Könnens nicht von sich geben noch sagenAls wie sies in sich fühlen und tragenBilden sich ein was besonders zu seyn

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Und schaun dazu recht vornehm dreinDarum so will auch ich bekennen Wie ich in mir es fühle brennenWie mirs in allen Adern schwilltMein Wort so viel wie andres giltWill deshalb offen schreiben und sagenDaß ich in bös’und guten TagenIn allen trüb’und hellen Stundenhabe mich gar trefflich befundenSeit ich bin gekommen ins KlareDie Materie sey das Einzig wahre,Unser aller Schutz und Rather,Aller Dinge einziger VaterAlles Denkens ElementAlles Wissens Anfang und End.Halte nichts von dem UnsichtbarenHalt mich allein am Offenbaren Was ich kann riechen schmecken und fühlen Mit allen Sinnen drinne wühlen. Mein einzig’Religion ist dieDaß ich liebe ein schönes KnieVolle Brust und schlanke HüftenDazu Blumen mit süßen DüftenAller Sinne volle NährungAller Lüste süße GewährungDrum solt es eine Religion noch geben(Ob ich gleich kann ohne solche leben)Könnt mir wohl von den andren allenNur die Katholische gefallenWie sie war in den alten ZeitenDa es nicht gab noch Zank noch StreitenWaren alle Ein Mus und Kuchen Thätens nicht in der Ferne suchenThäten nicht nach dem Himmel gaffenHatten von Gott ’n lebendigen Affen

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Hielten die Erd fürs Centrum der WeltZum Centrum der Erd’Rom bestellt Darin der Stadthalter residir’ tUnd aller Welten Zepter führtUnd lebten mit Heilgen und mit PfaffenZusammen wie im Land der Schlaraffen.Dazu sie im hohen HimmelshausSelber lebten in Saus und BrausWar ein täglich HochzeithaltenZwischen der Jungfrau und dem AltenDazu ein Weib im Haus regieretUnd wie auf Erden die Herrschaft führet.Hätte über das alles gelachtUnd mir es wohl zu Nutz gemachtUnd gethan wie die andern thatenMich mit Lust und Lieb’berathenDoch hat sich jetzt das Blatt gewandtIst eine Schmach, ist eine Schand’Wie man jetzt aller OrtenIst so gar vernünftig wordenDaß man nicht mehr wie sonst darf lebenAllen Lüsten sich ergebenMuß mit Sittlichkeit stolzierenMit schönen Reden paradirenUnd aller Wege selbst die JugendWird geschoren mit der TugendUnd auch ein christkatolscher ChristEben so wie ein andrer ist.Drum hab ich aller Religion entsagtDie katholsche selbst mir nicht mehr behagtGeh weder zu Kirch’noch PredigtBin alles Glaubens rein erledigtAußer an die, die mich regiertMich zu Sinn und Dichtung führtDas Herz mir täglich rührt

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Mit ewiger HandlungBeständ’ger VerwandlungOhne Ruh noch SäumnißEin offen GeheimnißEin unsterblich GedichtDas zu allen Sinnen sprichtSo daß ich kann nichts mehr glauben noch denkenWas sie mir nicht in die Brust thut senkenNoch als sicher und gewiß bewahrenWas sie mir nicht thut offenbaren,In deren tief gegrabnen ZügenMuß was wahr ist verborgen liegenDas Falsche nimmer in sie mag kommenNoch ist es auch von ihr genommenDurch Form und Gestalt sie zu uns sprichtUnd verbirgt selbst das Innre nichtDaß wir aus den bleibenden ChiffernMögen auch das Geheim’entziffernUnd hinwiederum nichts können begreifenWas sie uns nicht giebt mit Händen zu greifenDaß wär eine Religion die rechteMüßt’ sie im Stein und MoosgeschlechteBlumen Blättern und allen DingenSo zu Luft und Licht sich dringenIn allen Höhn und TiefenSich offenbar’n in Hiroglyphen.Wollte gern vor dem Kreuz mich neigenWenn ihr mir einen Berg könnt’zeigenDarin den Christen zum ExempelWär von Natur erbaut ein TempelDaß oben hohe Thürme prangtenGroße Glocken an Magneten hangtenUnd an den Altären in innern HallenCrucifixe von schönen CrystallenIn Meßgewänden mit goldnen Franzen

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Silbernen Kelchen und MonstranzenUnd was sonst ziert die KirchendienerStänden versteinerte KapuzinerEndlich aus Drusen von schönem BlinkenThät die heilge Dreyfaltigkeit winken.Weilen aber bis zu dieser FristEin solcher Berg nicht gewesen istAuch wird nicht seyn in künftgen ZeitenWill ich den Menschen nur bedeutendaß ich mich nicht will lassen narrenSondern in Gottlosigkeit verharrenBis einer werd’zu mir gesandtGeb mir den Glauben in die HandWelches er wohl wird lassen bleibenDaher ich es will so fort treibenWenn ich auch lebt’bis an jüngsten Tag(Den auch wohl keiner erleben mag)Mein’ die Welt ist von jeher gewesenWird auch nimmer in sich selbst verwesenMöcht wissen wenn sie solt verbrennenMit allem Holz und Gesträuche darinnenWomit sie die Hölle wolten heizenDie Sünder zu kochen und zu beizen?Weshalb ich mich kann fürchten nichtVor Hölle oder jüngst Gericht.Möcht auch wissen wozu Furcht solt frommenNachdem man ist so weit gekommenDaß man nichts mehr hält von GottNoch selbst dem Leben nach dem TodWoll'n beydes gern lassen fahrenNur der Religion gewahren.Das erste ist mir eben rechtDas zweite aber dünkt mir schlecht.Hoffe sie werden sich bedenkenUnd mir das zweite auch noch schenken.

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So bin ich aller Furcht entbundenKann an Leib und Seel’gesundenStatt mich zu gebährden und zu zierenIns Universum zu verlierenIn der Geliebten hellen AugenIn tiefes Blau mich untertauchen.Weiß auch nicht wie mir vor der Welt könnt grausenDa ich sie kenne von innen und außenIst gar ein träg’und zahmes ThierDas weder dräut dir noch mirMuß sich unter Gesetze schmiegenRuhig zu meinen Füßen liegenSteckt zwar ein Riesengeist darinnenIst aber versteinert mit allen SinnenKann nicht aus dem engen Panzer herausNoch sprengen das eisern KerkerhausOb gleich er oft die Flügel regtSich gewaltig dehnt und bewegtIn todten und lebendgen DingenThut nach Bewußtseyn mächtig ringen;Daher der Dinge QuallitätWeil er drin quallen und treiben thätDie Kraft, wodurch Metalle sprossenBäume im Frühling aufgeschossenSucht wohl an allen Ecken und EndenSich ans Licht herauszuwendenLäßt sich die Mühe nicht verdrießenThut jetzt in die Höhe schießenSein’Glieder und Organ verlängernJetzt wieder verkürzen und verengernUnd sucht durch Drehen und durch WindenDie rechte Form und Gestalt zu findenUnd kämpfend so mit Fuß und Händ’Gegen wiedrig ElementLernt er im Kleinen Raum gewinnen

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Darinn er zuerst kommt zum BesinnenIn einen Zwergen eingeschlossenVon schöner Gestalt und graden Sprossen(Heißt in der Sprache Menschenkind)Der Riesengeist sich selber findt.Vom eisernen Schlaf, vom langen TraumErwacht, sich selber er kennt noch kaumÜber sich selbst sehr verwundert istMit großen Augen sich prüft und mißtMöcht alsbald wieder mit allen SinnenIn die große Natur zerrinnenIst aber einmal losgerissenKann nicht wieder zurück fließenUnd steht zeitlebens eng und kleinIn der eignen großen Welt allein.Fürchtet wohl in bangen TräumenDer Riese könnt sich ermannen und bäumenUnd wie der alte Gott SatornSeine Kinder verschlingen im ZornWeiß nicht daß er es selber istSeiner Abkunft gar vergißtThut sich mit Gespenstern plagenKönnt also zu sich selber sagen:Ich bin der Gott der sie im Busen hegtDer Geist der sich in allem bewegtVom ersten Regen dunkler KräfteBis zum Erguß der ersten LebenssäfteWo Kraft in Kraft und Stoff in Stoff verquilltDie erste Blüth’die erste Knospe schwilltZum ersten Stral von neu gebohrnen LichtDas durch die Nacht wie zweite Schöpfung brichtUnd aus den Tausend Augen der WeltDen Himmel so Tag wie Nacht erhelltHinauf zu des Gedankens JugendkraftWodurch Natur verjüngt sich wieder schafft

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Ist Eine Kraft, Ein Wechselspiel und WebenEin Drang und Trieb nach immer höhern Leben.

Drum ist mir nichts so sehr zur LastAls so ein fremder vornehmer GastDer auf der Erd herum stolzirtUnd schlechte Red’im Munde führtVon der Natur und ihrem WesenDie ihn besonders auserlesenDie Welt für eine Mühle hältDarum ihr einen Müller bestelltIst eine eigne MenschenraceVon besondern Sinn und fürnehmer NaseHalten all’andre für verlohrenHaben ewgen Haß geschworenDer Materie und ihren Werken,Thun sich dagegen mit Bildern stärkenReden von Religion als einer FrauenDie man nur könnt durch Schleyer schauenUm nicht zu empfinden heimlich BrunstMachen darum viel WörterdunstSprechen von sich hoch übermächtig Fühlen sich in allen Gliedern trächtigVon dem neuen Messias noch ungebor’nIn ihrem Rathschluß auserkohr’nDie armen Völker groß und kleinZu führen in Einen Schafstall hineinWo sie aufhören sich zu neckenHübsch christlich in Eins zusammen bleckenUnd was sie sonst noch verkünden prophetisch.Sind zwar von Natur unmagnetischDoch wenn sie’n großen Geist berührenVon seiner Kraft was in sich spürenGlauben sie seyn magnetisch worden

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Können wohl auch zeigen nach NordenWissen sich selbst schlecht zu rathenReden desto mehr von andrer ThatenUnd rühren aus fremden AllerleyZusammen ihren GedankenbreyVerstehen alles wohl zu rüttelnGedanken unter einander zu schüttelnMeinen viel Geist daraus zu entwickelnThut aber nur in der Nasen prickelnPolemisch affizieren den MagenUnd allen Appetit verschlagenRath darum jedem der es hat gelesenVon der Verderbniß zu genesenAuf ’m Sopha mit einem schönen KindeAlsbald zu lesen die LucindeWird wieder Kraft und Muth gewinnenFrischen und stärken alle SinnenJenen aber und ihres GleichenWill ich sagen und nicht verschweigenDaß ich ihre Fromm’und HeiligkeitIhre Übersinn- und ÜberirdigkeitWill ärgern mit Gottlos Werk und LebenSo lange mir noch ist gegebenDie Anbetung der Materie und des Lichts Dazu die Grundkraft teutschen GedichtsSo lang ich an süßen Augen werd’hangen So lang ich mich werd’fühlen umfangenVon der Einz’gen liebreichen ArmenAn ihren Lippen mich erwarmenVon ihrer Melodie durchklungenVon ihrem Leben so durchdrungenDaß ich nur nach dem Wahren kann trachtenLernen Dunst und Schein verachtenDaß mir nicht können die Gedanken

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Wie Geister da und dorthin wankenHaben Nerven Fleisch Blut und MarkUnd werden gebohren frey frisch und stark.

Den andern aber entbiet ich GrußUnd sage noch zu guten SchlußHol der Teufel und SaliterAlle Rußen und Jesuiter!Solches hab’in der Frau Venus ForstGeschrieben ich Heinz Wiederporst.

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Epikurisch Glaubensbe-kenntniß Heinz Wiederporsts, in: KSAV.3, S. 245-247.

21. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling:Vorr ede zu ‚Ideen zu einerPhilosophie derNatur‘

Was als reines Resultat der philosophischen Untersuchungenunsers Zeitalters übrig bleibt, ist kürzlich folgendes: „Die bis-herige theoretische Philosophie, (unter dem Namen Metaphy-sik,) war eine Vermischung ganz heterogener Principien. EinTheil derselben enthielt Gesetze, welche zur Möglichkeit derErfahrung gehören, (allgemeine Naturgesetze,) ein andererGrundsätze, die über alle Erfahrung hinausreichen, (eigentlichmetaphysische Principien).“„Nun ist aber ausgemacht, daß von den letzteren in der theore-tischen Philosophie nur ein regulativer Gebrauch gemacht wer-den kann. Was uns allein über die Erscheinungswelt erhebt, istunsere moralische Natur, und Gesetze, die im Reich der Ideenvon konstitutivem Gebrauch sind, werden eben damit praktischeGesetze. Was also bisher in der theoretischen Philosophie meta-physisches war, bleibt künftig einzig und allein der praktischenüberlassen. Was für die theoretische Philosophie übrig bleibt,

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sind allein die allgemeinen Principien einer möglichen Erfah-rung, und anstatt eine Wissenschaft zu seyn, die auf Physik folgt(Metaphysik) wird sie künftig eine Wissenschaft seyn, die derPhysik vorangeht.“Nun zerfällt aber theoretische und praktische Philosophie, (dieman zum Behuf der Schule etwa trennen kann, die aber immenschlichen Geiste ursprünglich und nothwendig vereinigtsind,) in die reine und angewandte.Die reine theoretische Philosophie beschäftigt sich bloß mit derUntersuchung über die Realität unsers Wissens überhaupt; derangewandten aber, unter dem Namen einer Philosophie derNatur, kommt es zu, ein bestimmtes System unsers Wissens,(d.h. das System der gesammten Erfahrung) aus Principienabzuleiten.Was für die theoretische Philosophie die Physik ist, ist für diepraktische die Geschichte, und so entwickeln sich aus diesenbeyden Haupttheilen der Philosophie die beyden Hauptzweigeunsers empirischen Wissens.Mit einer Bearbeitung der Philosophie der Natur, und der Philo-sophie des Menschen hoffe ich daher die gesammte angewandtePhilosophie zu umfassen. Durch jene soll die Naturlehre, durchdiese die Geschichte eine wissenschaftliche Grundlage erhalten.Die vorliegende Schrift soll nur der Anfang einer Ausführungdieses Plans seyn. Ueber die Idee einer Philosophie der Natur, diedieser Schrift zu Grunde liegt, werde ich mich in der Einleitungerklären. Ich muß also erwarten, daß die Prüfung der philosophi-schen Principien dieser Schrift von dieser Einleitung ausgehe.Was aber die Ausführung betrift, so sagt der Titel schon, daßdiese Schrift kein wissenschaftliches System, sondern nur Ideenzu einer Philosophie der Natur enthält. Man kann sie als eineReihe einzelner Abhandlungen über diesen Gegenstand betrach-ten.Der gegenwärtige erste Theil dieser Schrift zerfällt in zweyTheile: den empirischen und den philosophischen. Den erstenvoranzuschicken hielt ich für nothwendig, weil in der Folge der

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Schrift sehr oft auf die neuern Entdeckungen und Untersuchun-gen der Physik und Chemie Rücksicht genommen wird.Dadurch entstand aber die Unbequemlichkeit, daß mancheszweifelhaft bleiben mußte, was ich erst späterhin aus philoso-phischen Principien entscheiden zu können glaubte. Ich mußalso wegen mancher Aeußerungen des ersten Buchs auf daszweyte (vorzüglich das achte Kap.) verweisen. In Ansehung derjetzt zum Theil noch streitigen Fragen über die Natur derWärme und die Phänomene des Verbrennens, befolgte ich denGrundsatz: in den Körpern schlechterdings keine verborgneGrundstoffe zuzulassen, deren Realität durch Erfahrung garnicht dargethan werden kann. In alle diese Untersuchungen überWärme, Licht, Elektricität u.s.w. hat man neuerdings mehr oderweniger philosophische Principien eingemengt, die der experi-mentirenden Naturlehre an und für sich schon fremd, undgewöhnlich noch so unbestimmt sind, daß daraus unausbleibli-che Verwirrung entsteht. So wird mit dem Begriff von Kraftjetzt häufiger als je in der Physik gespielt, besonders seitdemman an der Materialität des Lichts u.s.w. zu zweifeln anfieng;82

hat man doch schon einigemale gefragt: Ob nicht die Elektri-cität vielleicht Lebenskraft seyn möchte? Alle diese vage, in diePhysik widerrechtlich eingeführten Begriffe, mußte ich, da sienur philosophisch zu berichtigen sind, im ersten Theil dieserSchrift in ihrer Unbestimmtheit lassen. Sonst habe ich mich indiesem Theil immer in den Gränzen der Physik und Chemie zuhalten – also auch ihre Bildersprache zu sprechen gesucht. – ImAbschnitt vom Licht (S. 26. ff.) wollte ich vorzüglich zu Unter-suchungen über den Einfluß des Lichts auf unsere AtmosphäreVeranlassung geben. Daß dieser Einfluß nicht bloß mechani-scher Art seye, ließe sich schon aus der Verwandschaft desLichts mit der Lebensluft schließen. Auch ein merkwürdigerVersuch des Herrn Prof. Göttling scheint diese Vermuthung zubestätigen.83 Weitere Untersuchungen über diesen Gegenstandkönnten vielleicht selbst über die Natur des Lichts und seinerFortpflanzung in unserer Atmosphäre nähere Aufschlüsse

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Literarisches LebenNaturphilosophie

geben. Die Sache ist doppelt wichtig, da wir jetzt zwar dieMischung der atmosphärischen Luft kennen, aber nicht wissen,wie die Natur dieses Verhältniß heterogener Luftarten, der zahl-losen Veränderungen in der Atmosphäre ungeachtet, beständigzu erhalten weiß. Was ich darüber im Abschnitt von den Luftar-ten gesagt habe, reicht bey weitem nicht hin – die von mir vor-getragene und mit Beweisen unterstützte Hypothese, über denUrsprung der elektrischen Erscheinungen, wünschte ich um somehr geprüft zu sehen, da sie, wenn sie wahr ist, ihren Einflußnoch weiter, (z.B. auf Physiologie,) erstrecken muß.84

Der philosophische Theil dieser Schrift betrifft die Dynamik, alsGrundwissenschaft der Naturlehre, und die Chemie, als Folgederselben. Der nächstfolgende Theil wird die allgemeine Bewe-gungslehre, Statik und Mechanik, die Principien der Naturlehre,der Theologie und der Physiologie umfassen.Aus der Einleitung wird man sehen, daß mein Zweck nicht ist,Philosophie auf Naturlehre anzuwenden. Ich kann mir keinbetrübteres Tagelöhnergeschäft denken, als eine solche Anwen-dung abstrakter Principien auf eine bereits vorhandene empiri-sche Wissenschaft. Mein Zweck ist vielmehr: die Naturwissen-schaft selbst erst philosophisch entstehen zu lassen, und meinePhilosophie ist selbst nichts anders als Naturwissenschaft. Es istwahr, daß uns Chemie die Elemente, Physik die Sylben, Mathe-matik die Natur lesen lehrt; aber man darf nicht vergessen, daßes der Philosophie zusteht, das Gelesene auszulegen.

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Vorrede zu ‚Ideen zu einerPhilosophie der Natur‘, in: Ders.: Ideen zu einer Philosophieder Natur. Erstes, Zweytes Buch. Leipzig 1797, S. IV-IX.

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Literarisches LebenRomantische Naturwissenschaft

Romantische Naturwissenschaft

Die Thesen zur Naturphilosophie, die Schelling in seinen theo-retischen Schriften formulierte (vgl. die Einleitung zum vorheri-gen Abschnitt), waren der Hintergrund, vor dem Johann Wil -helm Ritter seine physikalischen Versuche durchführte unddabei seinen Notizen zur Physik verfasste: „Vom Leben mußmein künftiges Buch handeln; es faßt alles in sich.“ (Frag. 633)Gerade auch die enge Freundschaft, die ihn mit Novalis ver-band, beeinflusste seine und die Arbeit von Novalis maßgeblich.So entstanden verschiedene Fragmente und literarische Texte,die an vielen Stellen auf die Nähe von romantischem Geist undNaturwissenschaft verweisen. Dass Novalis neben der gesell-schaftlichen und mäzenatischen Beziehung auch dem PhysikerRitter nahe stand, kann man schon aus seinem beruflichen Hin-tergrund ableiten, war doch seine Tätigkeit in den Salinen auchwesentlich vom Verständnis naturwissenschaftlicher Vorgängebeeinflusst. In dieser Geistesverwandtschaft liegen auch dieQuellen für Novalis ‚Fragmente‘, die in Zusammenarbeit mitFriedrich Schlegel und Johann Wilhelm Ritter entstanden. AufEinspruch Goethes erschienen sie 1799 nicht im ‚Athenaeum‘,sondern wurden erst 1826 veröffentlicht. Sie zwingen den Leser,selbstständig nach dem transzendentalen Einheitsprinzip derSammlung zu suchen und weisen durch Selbstreflexion über sichhinaus ins Unendliche. Diese Transzendenz, das Irrationale, die‚Nachtseite‘ der Existenz, die psychologische Ausdeutung desIr rationalen wird über Ritter und Schelling hinaus von GotthilfSchubert thematisiert. Er studierte zwischen 1801 und 1803 inJena Medizin und war stark von Ritter und Schelling beein-flusst. In seinen Schriften ‚Ansichten von der Nachtseite derNaturwissenschaft‘ (1808) und ‚Symbolik des Traums‘(1813/14) formulierte er zentrale psychologische Thesen zur

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Literarisches Leben Romantische Naturwissenschaft

Natur der menschlichen Seele. Mit seinen psychologischen Aus-deutungen der Seelenzustände des Menschen knüpfte er die Ver-bindung zwischen romantischer Literatur und romantischerNaturwissenschaft. Bei dem Naturwissenschaftler und Philoso-phen August Johann Georg Carl Batsch (1761-1802) findet manweniger die psychologische als die pädagogische Komponenteder Naturwissenschaft in den Vordergrund gerückt. Mit seiner‚Botanik für Frauenzimmer und Pflanzenliebhaber‘ knüpfte erdie Verbindung zum Bildungsaspekt von Geselligkeit und Wis-senschaft. Der Übergang zum Bildungsbürgertum wurde lang-sam eingeläutet, unterhaltende und belehrende Lektüre, dienicht langweilt und Stoff für die geselligen Kreise bot, wurdezum ausgehenden 18. Jahrhundert attraktiv. (Text 24)

22. Johann Wilhelm Ritter:Fragmente eines Physikers

171. Die Physik sollte nur in einer treuen Geschichte derselbenvorgetragen und gelehrt werden. Sie fing in der That da an, wosie für eine Bibel enden könnte, aber es ist ihr nicht durchge-gangen, und sie hat sich in ein Detail verloren, was nahe zu sei-nem Maximum gekommen ist. Aber wie auch die Pflanze sicherst in die Blätter verliert, ehe sie sich zur Blüthe sammelt, sowird auch die Physik aus ihrem Detail den Rückweg finden, undgöttlich enden.Die Physik hat die Ansicht des Schönen in der Natur, nachdemsie anfing verloren zu gehen, wiedererobern wollen. Die Expe-rimente suchen sie, und finden’s nicht. So wird die Physik nega-tiver Weise wieder darauf zurückführen.

172. Ein Zickzack, wie der Blitz, ist jeder Körper in seinemInnern. Wie in den Gebirgen, ruhen auch hier gar viele Regio-nen, Lager, über einander, und von verschiedener Mächtigkeit.

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Literarisches LebenRomantische Naturwissenschaft

Daß es gleichsam die stecken gebliebene Mannichfaltigkeit, dienicht zur Evolution kam, sey, weiß ich recht gut, – (Das Evol-virteste hat die mindesten Regionen –), aber welcher Herkulesgehört dazu, als dem Evolvirten das Evoluble zu dechiffriren,und wie muß man das Evolvirte selbst dazu kennen! –

566. Einheit im Mannichfaltigen soll die Schönheit, die Harmo-nie, geben. Völliges Nachkommen nach dem Moralgesetz giebtmir so hohe Harmonie mit mir selbst; woher diese Harmonie? –Wie kann ich über etwas Gleichförmiges so viel Vergnügenhaben? – Wird durch diese Uebereinstimmung meines Sinnesmit dem Sittengesetz eine Kette, (auf Art der Galvanischen) her-gestellt, ein Glied in eine Kette von mir unbekannten Gliederngebracht? – Stelle ich dadurch eine Verbindung her, die nur Har-monie erweckt, die ich nur als Glied, so wie die übrigen, abernicht allein für mich, ohne jene Glieder fühle? – Ist diesGemeinschaft mit Gott? – Hier muß ich nothwendig an einhöheres Wesen geknüpft seyn. Hier ist der Beweis geistigerAnschauung; es muß eben so eine geistige Welt, eine geistigeAnschauung, geben, als eine empirische. Und so gut, als esmöglich ist, daß ich die Gesetze dieser auffinde, die einzig mög-lich wahre Theorie derselben finden kann, eben so muß ich auchdie einzig möglich wahre Theorie jener finden können! – Wel-che Aussicht! – O hätte ich dies erreicht, wie ewig glücklichwäre ich! – Aber dazu muß ich mich gewiß erst auf demGesichtspunkt befinden, auf den mich blos Harmonie mit mirselbst durch das Sittengesetz und dessen Befolgung bringe! –

567. Möchte wohl die Idee von einem Ding außer uns, einemDing an sich, und die Meinung, man kenne es, blos dahergekommen seyn, daß man zuerst das Object eines sinnlichenBegriffs nur in Einer Beziehung, die man an ihm wahrnahm,und zwar mit Einem Wort, was Subject und Prädicat zugleich insich begriff, ausdrückt, nachher aber genöthigt war, mehrerePrädicate zu unterscheiden, wobey man aber vergaß, daß das

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Literarisches Leben Romantische Naturwissenschaft

Subject überhaupt nur aus diesen Prädicaten bestände? – Diejene Begriffe zuerst trennen mußten, hatten wohl kein Ding ansich dabey im Kopfe, wohl aber die folgenden, denen, miteinem besonderen Wort, was alle Prädicate in sich begriff, nochetwas außer diesen Prädicaten gegeben zu seyn schien.

572. Mit dem Bewußtseyn ist schlechthin Licht verbunden. Ichweiß mich im Licht; mein Wissen ist Licht; so weit Licht ist, soweit weiß ich; wo es aufhört, wo Undurchsichtigkeit angeht, daweiß ich nicht mehr. So sagt man also ganz der Natur getreu: esgeht mir ein Licht auf, – ich werfe einen hellen Blick wohin –u.s.w. Wo mein Wissen begrenzt ist, da ist Undurchsichtigkeit;ich durchbreche diese Beschränkung, und es wird Licht, oderauch die Natur durchbricht sie. Bey fremder Erleuchtung fließtdas Wissen eines Andern mit dem meinigen zusammen, unddies Wissen ist eines. Hier Grund des Gefühls größerer Schaamim Licht, als im Finstern, was sich von der frühesten Kindheitan äußert. Und so muß auch mein geistiges Wissen, im Licht,das Zusammenfließen meines Lichtes mit anderem seyn. AllesWissen begränzt sich durch einander, so auch das Licht, und soentspringt moralische Schaam, jedem von der Natur einge-pflanzt. Alles Wissen aber ist identisch, somit auch alles Licht,somit auch die Begrenzung eines jeden von einander. Hier Ein-heit des Sittengesetzes. Harmonie mit sich selbst, damit nichtszu thun, dessen man sich schämen darf. Aber nur der Dishar-monie schämt man sich. –

574. Licht = Wissen homogener Qualität, Wärme = Gefühl derEinung heterogener Qualität. Und so muß jedem Wechsel derMaterie Licht (Bewußtseyn der Identität) und Wärme (Bewußt-seyn der Heterogeneität) correspondiren. – Durchsichtigkeit =Identität, Undurchsichtigkeit = Heterogeneität. Am undurch-sichtigen Körper wird Licht zu Wärme. Wo man beym Denkengroßen Widerstand zu überwinden, das innere Licht mit Hetero-

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genem zu kämpfen hat, sagt man daher höchst richtig; es wirdmir warm im Kopfe, es hat Hitze gesetzt, den Kopf heiß ge-macht u.s.w. –

584. Eine Theorie, welche unser Sonnensystem so eben erklärt,für die äußere unendliche Welt aber nichts übrig hat, wird niedie Theorie der ganzen Welt seyn. Eine geschlossene Theoriedes Sonnensystems zu erwarten, ist lächerlich. Das Sicherste,die Formel zu entdecken, nach der es in die Welten hinaus geht,ist immer noch, sich, resignirend, ganz einer tüchtigen Physikzu ergeben. Der Mensch ist die Idee des Universums, und eskommt ihm als Sklaverey vor, sich zwischen Sonne und Erdebändigen zu lassen. In den schönsten Stunden bleibt die Sonneniederes Object. Sie regiert die Erde aber der Mensch erkenntdie Gewalt, die endlich wieder beyde auch regiert. Die Millio-nen Sterne... liegen vor ihm, unter ihm; er läßt sich herab zuihrer Würdigung. Im endlichen giebt es nur physikalischeDeduction85, oder, alle physikalische Deduction ist endlich. Undersetzbar durch Reduction. Die Reduction ist nicht weitschwei-figer, als die Deduction. Der wahre Physiker aber kennt nur dasMittel beyder, die Exposition, das Product der Gesammtan-schauung. Die höchste Deduction a priori ist ein Misverstand,und der Mensch ist nicht ihr Herr. Sie ist, aber Einmal nur; sieist die Welt selbst. Der Künstler ist ihr Organ, sie selbst im Ein-zelnen. Die Kunst ist der einzige Ort, in dem sie erscheint, –nicht als Wieder- sondern als Selbsterscheinung. Zum Bewußt-seyn kann sie nie kommen. Sie ist wie die Gesundheit, manweiß nichts von ihr, und – ist gesund. –

633. Scientia vitae, theoria vitae,86 – würde eine künftige voll-endete Physik heißen müssen. Erstere würde durch letzteregegeben seyn. Vom Leben muß mein künftiges Buch handeln;es faßt alles in sich. –

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635. Wärme, Licht, Mensch u.s.w., sind Synonime. Die Wärmeist das Leben der Erde, im Menschen bricht sie ganz zu Tage.Pflanzen sind lau, Thiere heiß, und der Mensch glüht. –

Johann Wilhelm Ritter: Fragmente aus dem Nachlasse einesjungen Physikers. Ein Taschenbuch für Freunde der Natur. Hei-delberg 1810, S. 110-111, 111, 162-163, 163-164, 165-167, 167,172-173, 206, 206.

23. Gotthilf Heinrich Schubert:Von der Liebe der Geschlechterund von der Zeugung

§. 21. Die Geschichte der Zeugung: des Entstehens eines neuenLebens, aus dem untergehenden alten, wird aus der Betrachtungder blos leiblichen Elemente und Vorgänge nicht begriffen; esbedarf zu ihrer Beleuchtung einiger Strahlen aus der Geschich-te der Seele. Denn nur das Beseelte träget mitten in seinemWesen den fruchtbaren Samen eines neuen Daseyns; nur dasBeseelte vermag zu zeugen.Die Liebe der Geschlechter und der fruchtbringende Wechsel-verkehr derselben beruhet auf einem Vorgange der Verzückungund Entrückung der lebenden Seele, aus dem eignen Leibe indas Wesen, in die Natur eines fremden. In des Lebens Frühling,wenn der Weinstock erblühet und der Würzgarten seinen Duftgibt; wenn der Granatbaum am Rebenhügel erröthet: da reget,tief im Grunde der Seele, ein Verlangen seine Schwingen, vongleicher Natur mit jenem, welches den kaum dem Reste ent-wachsenen Vogel emporhebt, wenn der Herbst kommt und dieZeit des Auswanderns in ein fernes Land. Die Eiche spannetihre grünen Zweige so hoch über das Thal; höher als der EicheGipfel gehet der Weg der Wolken, und über beide, hoch undhehr, breitet der tiefe, blaue Himmel sein Zelt aus. Der Drangaber, der die liebende Brust bewegt, ist kräftiger als der Wuchs

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Literarisches LebenRomantische Naturwissenschaft

der Eiche, schneller als der Flug der Wolken: sein Sehnen span-net höher und weiter als der blaue Himmel. Denn was wir Liebenennen, das ist ein Vorschmack jener Schmerzen, ein Vor-schmack jener Lust, welche die heimkehrende Seele empfindet,wenn die beengenden Bande der Leiblichkeit und ihres Wahnesgelöst sind; wenn das Entzücken, das sich im jetzigen Leben nurwie im Traume geregt, zur klaren, wachen Seligkeit geworden.Wenn der Abendstern sinket und der Duft der Lilie im Thalemporsteigt, da wird, während der warmen Frühlingsnacht, mit-ten in der Schaar der Bienen ein Ton gehört: lockend und vollbewegender Kraft, wie der Hauch, der durch den lebenden Leibgehet. Es ist die Stimme der Königin, welche des Auszuges indie neue, geliebte Heimath, der Trennung von der alten, been-genden begehrt. Ein Bewegen, mächtig und unwiderstehlich,gehet durch die Tausende der Schaar. Kommt dann der Morgen,da drängen sich alle, die jugendlichen Drohnen wie das Gewölkder Arbeiter, dem führenden Weisel nach, welcher, des Wegeskundig, den er nie gesehen, durch die grünenden Auen undblühenden Gewände vorangeht, und während des Zuges überdie ganze Schaar ein Feuer ausgießet, dessen Zorn verzehrt, wasfeindlich dem Drange widersteht und welches der Gefahr nichtachtet. So wird auch, wenn die Stimme der waltenden Liebe inder Seele ertönet, nicht nur eine Kraft, es werden alle Kräfte desLeibes und der Seele wach und von einem Bewegen ergriffen,welches auflösend auf die enge beschränkende Selbstheit wir-ket, und welches einem Fortziehen aus dieser hinaus, in dieForm eines neuen Seyns gleichet. Bei den meisten Lebendigenführet daher der Augenblick der Zeugung unmittelbar den Todund die Auflösung des Leibes herbei. Denn es war nur einneues, künftiges Leben, welches sie, unbewußt, im Tod desalten gesucht, und wenn in diesem Drange des Suchens dasThier der sichern Todesgefahr entgegengeht, der Schmerzen,welche das verwundende und zerschneidende Messer oder dasFeuer machen, nicht achtet, da erscheint es öfters, als werde derTod des Leibes eben so dringend als die Lust des Geschlechts

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begehrt. Das was die Liebe begehrt, und was die Lust derGeschlechter nur im dürftigen, leiblichen Abbild empfängt, isthöher als das eigne Leben, besser als des Lebens Lust. Darumheißt es in jenem alten Buche: Liebe ist stark wie der Tod, undEifer ist fest wie die Hölle. Ihre Gluth ist feurig und eine Flam-me des Herrn. Daß auch viel Wasser nicht mögen die Liebe aus-löschen, noch die Ströme sie ertränken; sie ist köstlicher, dennalles Gut des Hauses.Es ist eine alte Dichtung, von der Liebe der Nachtigall und derRose. In der Frühe des Morgens, wenn der Thau in den Blätternzittert, singe die Nachtigall und verstumme am Mittage. Denn essey nicht der Duft, nicht das von lieblichem Roth gefärbte Blattder Blüthe, denen der Gesang gegolten, sondern das Bild deraufgehenden Sonne, welches neben dem eigenen Bilde der Sän-gerin im Thautropfen sich wiederspiegle: das Bild, so vergäng-lich, so vorübereilend, und die Töne des Gesanges darum so tief,so klagend. Von diesem eigenen Bilde, verklärt in dem Lichteeiner unvergänglichen Sonne, singe die Turteltaube, am Gewäs-ser des Bachs und am glänzenden Thautropfen der Mannaesche;es singe von ihm die einsame Drossel am See des Gebirges.In einem leicht vergänglichen Thautropfen spiegelt sich dasLicht, welches den Gesang und die Liebe wecket, im Lichte sel-ber aber spiegelt sich ein Höheres ab, das zum Gesang denOdem, zur Liebe das Leben gibt. Denn wie der Gedanke, wel-cher des Geliebten gedenkt, das Bild dieses Geliebten in sichfasset, so trägt jener Zug des Sehnens, der von den Wesen auf-wärts nach dem Quell alles Seyns geht, ein Bild dieses Quellesin sich, und dieses Bild ist das Licht. [...]

Gotthilf Heinrich Schubert: Von der Liebe der Geschlechter undvon der Zeugung, in: Gotthilf Heinrich Schubert: Die Geschich-te der Seele. 3 Bde. Stuttgart, Tübingen 1830, Bd. 1, S. 237-240.

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Abb. 10: August Johann Georg Carl Batsch, Botanik für Frauenzimmer undPflanzenliebhaber, Ausschnitt aus Tafel 2 (SUBGöttingen)

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24. August Johann Georg Carl Batsch:Botanik für Frauenzimmer und Pflanzenliebhaber

1. Ausbreitung der Gewächse über die ganze Erde.

Wo wir nur in der freyen Natur hinsehen, wo die Luft und ihreFeuchtigkeit nur einige Zeit wirken konnte, überall sehen wirPflanzen verbreitet. Der nakte Felsen, und seine Zertrümme-rung, das mit den Strömen fortgeführte Gerölle, der trockneSand, der verhärtende Thon halten sich nicht lange; sie werdenfrüher oder später mit Pflanzen besetzt; ja selbst das glühendeGlas, welches die feuerspeyenden Berge ausgiessen, wird nachund nach ein fruchtbarer Boden. In dem heissen Erdstrich stre-ben gewaltige Palmen mit Tausenden geringerer Begleiter, sowie Menschen und Thiere, im gedrängten Wachsthum empor,die schrecklichsten Verwüstungen sind im wenig Tagen ersetzt;aber auch im kurzen Schatten eines Sommers, der vor dem kal-ten Spitzbergen vorüber eilt, freut sich die blühende Natur mitden wenigen ihr übrig gelassnen Kindern. Gewächse setzen sichauf andern an, ja, sie wachsen zum Theil, wie angebohren, ausdem Innern andrer hervor; sie leben auf Wasser und Land, aufkranken, sterbenden, und verwesenden Geschöpfen. Die stolzenWerke der Kunst werden von ihnen erobert; klein, unzählig, undunbezwingbar, nehmen sie von ihnen Besitz, und bringen ihreWinkel und Flächen wieder zur sanft verlohrnen Schattirung derNatur. Sie steigen endlich nieder in das plutonische Reich, in diefinstern Schatzkammern der Erde; aber das offne Weltmeer setztihrer Ausbreitung Grenzen, es nimmt blos Vertriebne in gerin-gen Entfernungen auf.

2. Vielfältigkeit der Pflanzen in aller Rücksicht.

Was man auch wählen mag, wie man fragen mag, das Pflanzen-reich ist ein unerschöpfliches Orakel. Jeder Ton, den man

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angiebt, wird in vollstimmigen Harmonien beantwortet. Jedeeinzelne Eigenschaft, die man erblickt, ist tausendfach verviel-fältigt im unabsehbaren Heere der Gewächse. Farbe, Figur,Oberfläche, Verästung, Beugung, Befestigung, Entwicklung,Dauer, innere Verbindung, Fortpflanzung, – welches reiche Felderöffnet sich jeder einzelnen Untersuchung! – Völker haben ihreJahrbücher, ihre Gesetze, ihre Länderkunde, wir staunen vor derMenge der Sachen und ihrer Ordnung, – aber es ist nichts gegendie Geschichte der Natur. Mag es auch jemand wagen, aus derFerne mit telescopischen Blicke diese Schönheit und Grösse zufassen, den blendenden Glanz der Schöpfung in einem Licht-punkte darzustellen?

3. Dauer und Bestimmtheit jener vielfältigen Rücksichten.

Die manchfaltige, tausendfach verschiedne Natur der Pflanzenist aber nicht etwa das Spiel einer treibenden Kraft, die in üppi-ger Fülle sich an ihrem ewig wechselnden Werke, wie derMensch an seiner Verzierung, und in seiner Wohnung, zu ver-gnügen beliebt. Nichts weniger, als das. Wie wären wir vermö-gend, noch jetzt dieselbe Rose und Lilie zu erkennen, die schonseit Jahrtausenden die Menschen erfreute; wie könnten wir mitGewissheit den giftigen Schierling vermeiden, und die heilsameKamille aufsuchen, wenn eines sich in das andre zu verwandeln,oder von seiner Bestimmung, allmälig, in die Bestimmung and-rer Pflanzen über zu gehen vermöchte? wie könnten Forscherder Natur die zärtesten Moose nach allen ihren Theilen bestim-men, und andre Beobachter, oft in entlegenen Weltgegenden, oftohne von den erstern etwas zu wissen, sie wieder mit allenMerkmalen versehen auffinden? – Könnten wir mit der bekann-ten Sicherheit Pflanzen für den Handel, für den Ackerbau, fürdie Heilkunde bestimmen, wenn die Menge derselben einemZufall in ihrer Bildung unterworfen, wenn eine ewige Vermi-schung möglich wäre?

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4. Pflanzenarten.

Jede Art von Pflanzen wird durch viele Merkmale bezeichnet,die in dieser Verbindung bey keiner andern wieder vorkommen.Das Thierreich erläutert dieses vortrefflich. Der Elephant hatzwar den Schädel und die Hauzähne vom Wallross, die Backen-zähne vom Pferde, die Vielfachheit der Hufen vom Nilpferd,und den Rüssel vom Antathier, aber jedes dieser Thiere hat aus-ser jenen einzelnen Merkmalen, wodurch es mit dem Elephan-ten übereinstimmt, noch andre zu gleicher Zeit, wodurch es vonder ganzen Reihe der Elephantenkennzeichen abweicht. Dazukommt noch die Verschiedenheit des innern Baues. Gerade soverhält es sich auch mit den Pflanzen. Die Rose und die Lilie,jede lässt sich durch eine lange Beschreibung bestimmen. Wennauch die Lilie in manchen Stücken mit der Tulpe, die Rose mitder Malve übereinkommt, in allen Theilen, und in dem Zusam-menhange derselben gewiss nicht.

5. Wozu diese bestimmten Arten, und ihre Menge?

Auf jene Weise erkennbar hat man bis jetzt auf zwanzig bisdreissig Tausende von Pflanzenarten bemerkt. Hier ist nichtallein ungeheure Menge, sondern auch unwandelbares Gesetz.Je länger, je mehr, wird in beyden Rücksichten entdeckt. Spiel-werk ist es also nicht. Darf wohl der Mensch, wenn er immerund immer, je weiter er vordringt, Ordnung findet, glauben, dassdas Ende des Weges, welches er nicht erreicht, ohne Zweck,ohne Ordnung sey? – Aber welches ist dieser Zweck dergesammten Pflanzennatur? – In Wahrheit eine eben so billige,als vorwitzige Frage. Sterbliche können hier nur ahnden, undwir wollen dieses, wo möglich, mit Würde thun. Jedes Thier hatseine Geschichte, und jede Pflanze; diese einzelne ausführlicheBestimmtheit muss nothwendig seyn, wenn das Ganze keinSpielwerk ist. Aber warum alle einzelne Arten da seyn müssen,

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so viele, die wir blos nach ihrer Bildung kennen, warum nichteine verlohren geht? warum, wie es bey manchen Gattungenbald zu bestimmen ist, nicht mehrere vorhanden sind? – wervermag dieses Räthsel zu lösen? –

6. Menschlicher Gebrauch der Pflanzen.

Unbekümmert um jene Fragen, die, zwar voreilig, den Auf-schluss aller Geheimnisse der Natur verlangen, aber mit demdenkendsten Wesen der Erde unzertrennlich verbunden seynsollten, haben die Menschen, von den ersten Zeiten an, ihreBedürfnisse aus dem Pflanzenreiche befriedigt. Im rohstenZustande, wie zum Theil jezt Neuseeländer, und die Bewohnervon Neuholland, gingen sie wohl der thierischen Nahrung nach,und fingen, was ihnen vorkam. Die wilden, damit verbundnenSitten, und die Ungewissheit der Nahrung, die sie mit denRaubthieren gemein hatten, nöthigte sie eine friedlichere, mehrzuverlässige Lebensart zu ergreifen. Sie wurden Hirten undAkerleute. Sie bekamen eine gegenseitige, nicht auf Mord undGewalt, sondern auf Vernunft, gegründete Verfassung, und dieGesellschaft befestigte sich durch Güte. Der Erwerb verbandsich mit Beobachtung der Natur, und hing von Ueberlegung ab.Die stillern, edlern Gegenstände, aus denen er entsprang, theil-ten dem Geiste ihr Gepräge mit, und die Menschen wurden bes-ser, durch Beschäftigung mit Gewächsen.Der Handel, die grossen Reiche, der Luxus, und die in einerneuen gigantischen Gestalt erscheinenden Kriege, vervielfältig-ten alle Bedürfnisse, so wie sie die Thorheit der Menschen ent-wickelten; so kam durch sie, als unumgängliche Mittel, dermenschliche Geist auf die Bahn einer immer steigenden Grösse.Was die frühern Völker einfach zu ihrer Wohnung undBedeckung, zu Speise, Trank, Arzney, und Erwärmung aus demPflanzenreiche erhielten, das wurde jetzt bereichert und ver-schönert, selten und kostbar aus allen Weltgegenden zusammen

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geführt. Indess die Eitelkeit und die Uebermuth, unrühmlich ansich, die Schätze der Pflanzennatur von der ganzen Erdober-fläche sammeln, erhalten Millionen dadurch ihre nothwendigenBedürfnisse, und ein vernünftiges Daseyn, der stille Weisebenutzt den unvernünftig angewendeten Raub, zur Erfindungdes Wahren, als Freund der Menschheit. So sind jetzt ungeheu-re Verzeichnisse von Pflanzen entstanden, deren sich die Men-schen in aller Welt bedienen, um sich zu erhalten, oder, wenn esihnen gelänge, die Erde in ein Paradies, ihr Daseyn in ein Lebender Götter zu verwandeln.Mit dem tausendfach veränderten Leben, halten die Krankheitengleichen Schritt. Die unglückliche Büchse ist geöfnet,87 und jelänger sie geöffnet bleibt, je ergiebiger wird sie. Die Krankhei-ten haben sich vervielfältigt, und die Mittel gegen sie, vorzüg-lich aus dem Pflanzenreiche genommen, nicht minder.Endlich ist noch ein süsses Vergnügen des Menschen zurück,die reinste Sinnenfreude, die jemals war. Die Schönheit derPflanzenwelt lockt den Menschen, ihr Genuss ist reuelos, undverjüngt sich mit neuen Reitzen. Eine einzige Blume kann ihnerfreuen; aber der gewaltige Mensch hat die Bewohner der ent-ferntesten Weltgegenden versammelt, und zum Vergnügen derAnschauung einen Reichthum aufgestellt, den selbst die Natur,sich allein überlassen, nicht würde gezeigt haben.

August Johann Georg Carl Batsch: Botanik für Frauenzimmerund Pflanzenliebhaber welche keine Gelehrten sind. Weimar1795, S. 1-9.

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Abb. 11: August Johann Georg Carl Batsch, Botanik für Frauenzimmer undPflanzenliebhaber, Tafel 4 (SUB Göttingen)

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Caroline de la Motte Fouqué gehörte nicht zum Kreis derRomantiker. Sie wurde 1775 geboren und machte sich ab 1806einen Namen als Schriftstellerin. Dies war längst nach derHochphase der Frühromantik in Jena. Dennoch sind ihreGedanken – auch post festum – wesentlich für ein Verständnisder Zeit, was nicht zuletzt durch die engen Beziehungen zuTieck, den Brüdern Schlegel, Achim von Arnim und ClemensBrentano befördert wurde. August Wilhelm Schlegel sollte 1803sogar Taufpate ihrer Tochter Marie Louise werden. Auf einestreitbare und kritische Art setzte sich Caroline de la Motte Fou-qué mit einzelnen Aspekten von Geselligkeit auseinander. IhreSchrift ‚Ueber deutsche Geselligkeit‘ kann als Kommentar zuden geselligen Runden um 1800 gelesen werden. In der Ausein-andersetzung mit den Schriften der Baronin de Staël88, insbe-sondere mit dem 1810 erschienen Buch ‚De l’Allemagne‘(‚Über Deutschland‘), rekapitulierte sie die Schwierigkeiten derBeschreibung deutscher Geselligkeit in den ersten Jahren nachder Zeitenwende um 1800. Sie nutzte die Gelegenheit, etwasüber den ‚Geist und die Natur deutscher Conversation über-haupt‘ (Text 25) zu schreiben, streift Shakespeare, deutsche Artund europäische Bildung und kommt an einer Stelle auf denPunkt, der ihre Motivation deutlich macht: man will sich nichtdie eigenen kulturellen Leistungen kritisieren lassen, die manunter den Mühen der Befreiungskriege 1812/13 scheinbarerobert hatte: „Politische Unabhängigkeit bedingt die geselli-ge. Wir haben die Eine mit geliebtem Blute erkauft, wir wollender Andern nicht muthwillig ihr Grab graben.“ (Text 25) DieKritik gegen Germaine de Staël zielte vor allem wider die Ver-allgemeinerungen der gesellschaftlichen Zustände, denn, wieFouqué richtig formuliert, die ‚Gesellschaft ist der Spiegel herr-

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schender Gesinnung‘ und man hatte bei den de la Motte Fou-qués ein edleres Bild von deutscher Kultur als das von de Staëlgezeichnete. Diese favorisierte kritiklos die herrschende Irra-tionalität der deutschen Philosophie und Kultur vor dem auf-klärerischen Frankreich. Trotzdem schätzte de la Motte Fouquéde Staël und kam über die Auseinandersetzung mit deren Buchzu einer Charakteristik geselligen Lebens in den Jahren nachder Zeitenwende um 1800, an der die Romantiker maßgeblichbeteiligt waren. Der Abgesang auf die geselligen Runden derJahrhundertwende liest sich wie folgt: „Es wird daher dielebendige Gewalt einer Schrift allein dadurch bewährt, daß siezu neuen Untersuchungen und Urtheilen stachelt, und dasGefühl wie den Verstand anfassend, beide nicht eher wieder los-läßt, bis sich Eines durch das Andere klar geworden, in einemSelbsterzeugten vollkommen versteht.“ (Text 25)

25. Caroline de la Motte Fouqué:Ueber deutsche Geselligkeit

Das allein sind Geisteswerke zu nennen, die mit dem Geist denGeist berühren, und ihn zwingen fortzuarbeiten ohne Rast undohne Ruhe, bis er erkennt, was ihn bewegt. Es wird daher dielebendige Gewalt einer Schrift allein dadurch bewährt, daß siezu neuen Untersuchungen und Urtheilen stachelt, und dasGefühl wie den Verstand anfassend, beide nicht eher wieder los-läßt, bis sich Eines durch das Andere klar geworden, in einemSelbsterzeugten vollkommen versteht.Meine Achtung für das Werk der Frau von Stael geht demnachganz von selbst daraus hervor, daß ich es wage, auf’s neueöffentlich darüber zu reden. Was ein strebendes Gemüth Jahrelang wahrhaft beschäftigte, was in ihm ward, in ihm sich nährteund gestaltete, das wird niemals mit einem paar lobenden odertadelnden Worten abgefertigt. Ganz von selbst macht es sich

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Bahn unter den Menschen, ruft sie an, und wirkt und bildet inmannigfachen Geburten fort, die oftmals ihren Ursprung nichtsogleich erkennen lassen, obschon sie in einer nothwendigenFolgereihe bedingt sind. Frau von Stael hat vieles in Anregung,vieles zur Sprache gebracht, das seiner Natur nach Niemand kaltläßt, und der Richtung, wie dem Maaße jedesmaliger Bildungzufolge die Gemüther höchst widersprechend bewegt. An sichschon interessant, und ein Spiegel des unruhig arbeitenden Zeit-geistes möchte es seyn, den Wiederschein jener abschätzendenUrtheile unserer deutschen Individualität in deutschenGemüthern zu beleuchten. Die Resultate hiervon würdenbestimmt, mehr als alles, eine Charakteristik gegenwärtigerNationalbildung liefern. Und so ist Jedes, was über dieses Buchgesagt wird, insofern es aus einer innern Wahrheit hervorgeht,zu rechter Zeit gesagt, und als eine lebendige Fortbewegung desersten, vielleicht etwas gewagten Stoßes zu betrachten.Schon einmal, in einem Stück der Musen89, ließ ich denGesammteindruck des allgemein gelesenen und schon deshalbhöchst wichtigen Werkes über Deutschland in einzelnen Ergüs-sen ausströmen. Die Mißgriffe eines großen, höchst lebendigenVerstandes, im Gegensatz mit der reinsten und tiefsten Fühlbar-keit, die scharfen in ein fertiges System eingeschnittenen Urtheile bei so großartiger Ahnung, erschütterten um so gewalt-samer, je williger und freudiger ich mich von dem fremdenReichthum durchdringen und bewegen ließ. Ich konnte langenicht begreifen, wie so absolutes Verkennen bei mannigfacheminnern Verstehn möglich sey. Es schien mir dies Begleiten küh-ner Geistesentwicklung ganz unvereinbar mit dem schmähli-chen Herabwürdigen unseres eigentlichen selbstständigenDaseyns. Solch ein Zwiespalt im Erkennen und Fühlen mußte inseiner Rückwirkung zerreißend seyn und das Urtheil verwirren,indem gerade dasjenige verletzt ward, was als das Wesen natio-neller Persönlichkeit angesehen werden muß.Wie denn aber Jedwedes, das ein Gefühl, sey es Unwille oderBewunderung, recht ausschließend in Anspruch nimmt, nicht

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eher wieder abläßt, bis es sich in eine Art von Gleichgewicht mituns setzt, indem es uns durch Kampf und Streit auf seineneigentlichen Standpunkt hinzwingt: so ängstete mich der gleich-sam zur Schau gestellte Schattenriß meiner Nation so lange, bismich eine genauere Bekanntschaft durch alle Linien und dasganze Trieb- und Räderwerk desselben zerrend plötzlich denSühn- und Wendepunkt des ganzen Streites entdecken ließ, undich den lästigen Traum von mir schiebend, rief: das sind wirnicht! das sind ja gar keine Deutsche!Ich wollte frei athmen, aber die Zauberworte rissen mich auf’sneue zurück, verwandte Züge sahen mich fast höhnend an, ichkonnte mir die Aehnlichkeit nicht verbergen und schwiegbeschämt und blöde vor der fremdem Erscheinung. Sie abererhob ihre Stimme und redete mich laut in dem Geiste meinerSprache an, ohne daß ich sie verstand. Da riß das Traumnetzvollends, der Klang des lebendigen Daseyns war ein andrer, diePhysiognomie jener bleichenden Umrisse blieb unbeweglich,die Seele flüchtete zu der allgemeinen Weltseele, denn siegehörte der Menschheit überhaupt, ohne ihr besondres Rechtauf die deutsche Nation behaupten zu können.Dies rein menschliche Einverständniß, das innig empfundenund warm vom Herzen zum Herzen redete, war es, was mich,was viele Andre noch heut zur Stunde über die individuelleAehnlichkeit täuschte, diese aber ist und bleibt nur der spielen-de Wiederschein geheimer innerer Verwandschaft, die den will-kührlichen Formen eine Art von Daseyn lieh.Das Wort also hatte hier das Wort gesagt. Die Sprache war diegewaltige Scheiderin, die das Besondere von dem Allgemeinentrennte, und jedem seine Stelle anwies. Ich war zu Haus, undfühlte, daß es Frau von Stael nicht war, nicht seyn konnte, als sieüber Deutsche redete, denn ihr fehlte das erste Element deut-schen Lebens, deutsche Luft. Ihr Athem, ihr Organ ward durcheinen andern Hauch bewegt, die Töne stießen und brachen sichin dem fremden, ohne in einander zu fließen, es lagen Bergedazwischen.

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Es ging Frau von Stael mit dem Urtheil über Deutsche, wie esunsern Ansichten und Vorstellungen vom Griechischen undRömischen Nationalsinn, vom Leben und Seyn des Alterthumsüberhaupt täglich zu ergehen pflegt: es sind Abstracta, die deseigenthümlich beweglichen Lebensschwunges entbehren. Wirstudiren Kunst und Literaturgeschichte alter Völker, der Ver-stand bahnt sich behend und sicher einen Weg durch alle Win-dungen politischer und geselliger Institutionen, die ewige Ver-mittlerin, Phantasie, wogt mit beseelendem Flügelschlag überder ernsten Geisterwelt, Blitze des Lebens gehen auf, großeAhnungen werden laut: doch wollen sie sich Leib und Daseynschaffen unter dem lebenden Geschlecht, so schauert dieseszurück und erkennt nicht mehr das Fleisch von seinem Fleischund Bein von seinem Bein. Es sind und bleiben doch nur Schat-ten, die, je körperlich wahrer sie auftreten, das Leben immerbeklemmender zurückstoßen. Das behende, flüchtige, ver-schwimmende Wesen des Menschensinnes stellt keine Zaubereiwieder her, geselliger Conflikt entfaltet, Sprache offenbart es,das Leben giebt Leben, und Nationalität wird nur durch gemein-samen Verkehr, durch Liebe und Leid, durch Muth und Kraftund Vollbringen, durch die Echo-Klänge der eigenen Seele inder Bruderseele ermessen und verstanden. Frau von Stael selbst sagt sehr wahr: „Une langue étrangère esttoujours, sous beaucoup de rapports, une langue morte. ll fautavoir respiré l’air d’un pays, pensé, joui, souffert dans sa lan-gue, pour peindre en poésie ce qu’on eprouve.“ („Eine fremdeSprache ist in mancherlei Beziehungen immer eine todte Spra-che. Um poetisch zu malen was man empfindet, muß man dieLuft eines Landes geathmet, in seiner Sprache gedacht, genos-sen und gelitten haben.“) Wie denn wagte sie, das größteGedicht was es giebt, die Gemüths- und Bildungsgeschichte, dieIndividualität und Charakteristik eines Volkes in fremder Seelenachzuerfinden?Unter Tausenden ward vielleicht Schakspear allein so großerOffenbarungen gewürdigt, daß er Römernaturen erschaffen

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durfte. Die Poesie duldete dies Wagniß. Anders aber ist es mitder Kritik, und Niemand denke ich, wird heut zu Tage noch Cha-rakteristiken und Kritiken der Griechen und Römer schreiben.Man wird mir einwenden, Frau von Stael stehe gar nicht ineinem so getrennten Verhältniß zu Deutschland, sie habe es vonWest nach Ost durchreis’t, darin gelebt, Natur und Menschenbeobachtet, die zartesten Bande der Poesie und Freundschafthalten sie mit dessen lebendigen Daseyn verbunden, sie kennedie Sprache und lese gern und viel in derselben. Ich aber erwie-dere hierauf: Frau von Stael blieb auch der äußern Erscheinungnach in ihrem Frankreich, und schob dieses nur, sich fortbewe-gend über Deutschlands Boden hin. Ihre Stellung zur Welt, dieGewalt ihres Geistes, die Herrschaft ihrer Sprache zog vonselbst einen Kreis um sie her, dessen Mittelpunkt sie in Wienwie in Paris bleiben wird. Die Einheimischen treten in diesemals Fremde auf, sie sieht nur unbequemen Festtagsstaat, oder zurNatur gewordene Maske. Conventionelle Formen sind einanderüberall ziemlich gleich. Die französische Sprache hat gramma-tikalische Figuren, Werkzeuge und Hebel, durch deren Hülfeman sich leidlich an dem äußern Gerüst geselliger Unterredunganklammert. Originalität, wie nationelle Eigenthümlichkeit,kommt hier nicht in Betracht; es ist nur von mehr oder minderFreiheit in dem allgemeinen Gefängniß die Rede. Wer vonJugend auf darin aufwuchs, bewegt sich am bequemsten. Mei-sterin der Sprache wie der lebendig geistigen Unterhaltung indieser, den Strom der Rede nach Gefallen lenkend, im kühnenFluge die Pfeile behenden Witzes versendend, mußte Frau vonStael, berechtigt, den Maaßstab anzulegen, den wir ihr selbst indie Hand gaben, fast überall auf unbeholfene Langsamkeit undblödes Schweigen, oder auf gelehrte floskelreiche Pedanterie,und, was noch schlimmer ist, auf frivole Nachäffung stoßen.Die Sicherheit der Meisterschaft ward durch das unbeholfeneStreben geängstet, wenn andrerseits unschickliches Verwerfenan fremdem Eigenthum das Gefühl verletzte.

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Das ist es, was Frau von Stael zu tadeln gezwungen ist. Hierkann und darf sie Richterin seyn. Doch bescheiden erinnere siesich, daß nur diejenigen der Strenge ihres Urtheils verfallen, diesich, selbstvergessend, fremder Eigenthümlichkeit gleichstellenwollen. Wenn aber eingebohrne gute Sitten, gastlich deutschesEntgegenkommen, gefälliges Eingehen in ausländische Art undWeise, solche, die nicht immer französisch denken, bedächtigund langsam, ja langweilig erscheinen ließ, so darf sie von die-sen, gleichsam aus dem Gang des freien Lebens herausge-schnittenen Momenten, nicht auf den Geist und die Natur deut-scher Conversation überhaupt schließen wollen. Weder die oftvorgeworfene Steifheit, noch jene mühselige Grübelei schwer-fälliger Forschgier, noch auch die halt- und bodenlosen Flügeim Gebiet der Spekulation machen das Wesen des Deutschenaus. Sein Thun ist heiter, und gesellig. Behagliches Mittheilen,gutmüthige Geschwätzigkeit, freudiges Erkennen dessen, waser in sich denkend und ersinnend erschuf im Geiste des Lebensund Menschenverkehrs, Hören und Gehörtwerden, das sind dietreuherzigen Elemente unseres Nationalsinnes. Ich weiß nicht,warum man den deutschen Ernst immer so pomphaft heraus-hebt, da doch unsrer Nation ein Spaß eigentlich über alles geht.Als im vergangenen Jahre die Franzosen einen Ausfall bei derRoslauer Brücke wagten, und in der Nacht der Landsturm an derHavel und Elbe aufgeboten war,90 die Leute sich versammeltenund den Befehl zum Aufbruch erwarteten, malten die altenMänner den Jünglingen in der Dunkelheit Bärte, die Weiber tra-ten drauf mit Laternen hinzu und unter schallendem Gelächterwurden die geschwärzten schief und krumm verzeichnetenGesichter beleuchtet. Ich habe da nichts von den spekulirendenErnst oder von jener kränklichen Einbildungskraft bemerkt, vonwelcher Frau von Stael sagt, qu’elle inspiroit la crainte du péril.(„daß sie die Furcht vor der Gefahr einhaucht.“)Es ist ganz unleugbar, die Verfasserin ist auf dem fremdenGebiete den umgekehrten Weg gegangen, wodurch sie zu schie-

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fen Rückblicken und erzwungenen Folgerungen verlockt wird.Statt die organische Entwickelung ganz natürlich von derursprünglichen Wurzel aus zu begleiten und sich einheimischund sicher unter dem Blüthendach der Poesie und Kunst zufühlen, griff sie bei verspätetem Hinzutreten in der Ueberra-schung fast gewaltsam nach den Blüthen selbst, und, diese inihre Fasern und Knoten systematisch zerlegend, verwirrte siesich in dem Netz- und Flechtgewebe des fremden Organismus.Ganz offenbar hat Frau von Stael die Spitze der Pyramide alsBasis aufgestellt. In der Breite und Tiefe aber, in dem Volkssinngähren die Elemente, aus welcher sich die Form, dem Strahlegleich, immer enger und enger zuspitzt. Frau von Stael kanntedas Volk nicht, von dem sie schrieb, konnte es nicht kennen. Sieinteressirte auch nur die literärische Verschiedenheit mit Frank-reich. Der Stempel, das Patent, was die Zeit gleichsam deut-scher Gelehrsamkeit aufgedrückt hatte, frappirte sie. Einenlebendigen Geist wird das Große nicht lange kalt lassen, Frauvon Stael ist wahrhaft ergriffen von dem Umfang der Gewalt,Kühnheit und Magie deutscher Literatur, ob sie gleich wohlglaubt, Noth und Mangel haben diesen Reichthum erzeugt, wieHunger und Durst und beschnittene Flügel den Raben sprechenlehren, denn ganz ausdrücklich sagt die Verfasserin in demWerk über Deutschland:„il n’est point de pays qui ait plus besoin que l’Allemagne, des’occuper de literature, car la societé y offrant peu de charmeet les individus n’ayant pas pour la pluspart cette grace et cettevivacité que donne la nature dans les pays chauds“ etc. etc.“ –(„Kein Land hat mehr Beruf, sich mit der Literatur zu beschäf-tigen, als Deutschland; denn da der Umgang wenig Reiz hat unddie Individuen größten Theils jener Anmuth und Lebendigkeitermangeln, welche die Natur in den warmen Ländern giebt“ – u.s. w.)oder auch:„la nature de leurs gouvernements ne leurs ayant offert desoccasions grandes et belles de mériter la gloire et de servir la

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patrie, il s’attachent en tout genre à la contemplation, et cher-chent dans le ciel l’espace que leur étroite destinée leur refusesur la terre.“(„Da die Beschaffenheit ihrer Regierungen ihnen nicht großeund schöne Gelegenheiten darbietet, Ruhm zu verdienen unddem Vaterlande nützlich zu werden: so geben sie sich in allenDingen der Betrachtung hin und suchen in dem Himmel denRaum, den ihr beengtes Geschick ihnen auf Erden versagt.“)und weiterhin:„On ne doit donc pas s’etonner des jugements, qu’on a portés,des plaisanteries, qu’on a faites sur l’ennui de l’Allemagne; iln’y-a que les villes literaires qui puissent vraiment intéresserdans un pays où la societé n’est rien, et la nature très peu dechose.“(„Man muß sich weder über die Urtheile noch über die Spötte-reien wundern, deren Gegenstand die Langeweile in Deutsch-land gewesen ist; in einem Lande, wo der Umgang nichts unddie Natur sehr wenig bedeutet, können nur die Literaturstädtewahrhaft interessiren.“)Ganz irre aber und überrascht wird man, wenn man unaufhör-lich von la vie solitaire (dem einsamen Leben) der Deutschenund der darin bedingten abstrusen Meditation ließt, wenn esheißt: celui, qui ne s’occupe pas de l’univers en Allemagne, n’avraiment rien a faire. („Wer sich in Deutschland nicht mit demUniversum beschäftigt, hat im Grunde nichts zu thun.“) Wie vorden mißrathenen Spiegeln, welche die Figuren breit, zwergartigund vergelbt wiedergeben, fährt man vor diesem Deutschlandzurück. Darf man denn das gastlichste aller Länder, das zu jederZeit flüchtende Fremdlinge willig und herzlich aufnahm, derUngeselligkeit, kann man seine kraftvolle kernige Thätigkeit,den Quell jeder tauglichen Erfindung, das Schwung- und Trieb-rad weiterer Fortbildung, müßiger Träumerei beschuldigen.Wer, ich bitte meine Mitbürger, wer erkennt den sinnvollen zier-lich erhabenen Künstlersinn, die bildende deutsche Kraft injenen abschattenden Worten:

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Les Allemands, à quelques exceptions près, sont peu capablesde reussir dans tout ce qui exige de l’addresse et de l’habilité.Tout les inquiète, tout les embarasse, et ils ont autant besoin deméthode dans les actions, que d’independance dans les idées:lls voudroient, que tout leur fut tracé d’avance en fait de con-duite. En aucun genre il sont capables même d’une addresseinnocente; leur esprit est pénétrant en ligne droite, les chosesbelles d’une manière absolue sont de leur domaine, mais lesbeautés relatives, celles qui tiennent à la connoissance des rap-ports et à la rapidité des moyens ne sont pas de leur ressort.(Mit sehr wenigen Ausnahmen sind die Deutschen beinaheunfähig, in allem, was Gewandtheit und Geschick erfordert,Fortschritte zu machen. Alles beunruhigt sie; alles setzt sie inVerlegenheit; sie bedürfen in ihren Handlungen eben so sehr derMethode, als in ihren Ideen der Unabhängigkeit. In Dingen desBetragens möchten sie, daß ihnen Alles vorgezeichnet würde. Inkeiner Beziehung sind sie einer selbst unschuldigen Gewandt-heit fähig; ihr Geist ist durchdringend, wiewohl nur in geraderLinie; das absolute Schöne gehört für ihren Wirkungskreis;nicht so das relative Schöne, das mit der Kenntniß der Bezie-hungen und mit dem raschen Ergreifen der richtigen Mittel inVerbindung steht.)Man hat Mühe zu begreifen, wie sich der gradlinigte in mathe-mathischen Dimensionen verknöcherte Verstand gleichwohlandrerseits in Dunst und Wolkenspielen auflösen, wie seine,nach einer Bussole91 gerichteten Füllhörner mechanisch auf dieabsolute mit Händen zu greifende Schönheit fallen, und den-noch in den geheimnißvollen Gängen verborgenen Lebens nachleisen verschwimmenden Beziehungen und dem Ursprung derDinge forschen könne. Es scheint, die Verfasserin habe dieselbeSchwierigkeit empfunden, und wunderbar genug, sich selbstunbewußt lößt sie den Knoten, indem sie sagt:On eut dit que penser et agir ne devrient avoir aucun rapportensemble, et que la verité ressemblait chez les Allemands à la

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statue de Mercure, nommé Hermes, qui n’a ni mains pour saisirni pieds pour avancer.(Man möchte sagen: Denken und Handeln stehe für die Deut-schen in keinem Verhältniß zu einander, und die Wahrheit glei-che bei ihnen den Hermessäulen, die weder Hände zum Erfas-sen, noch Füße zum Vorschreiten hatten.)Nun dann, beim ewigen Himmel! der ernste, unverstandeneGott hat seine gewaltigen Glieder geregt, und ich denke, Kindund Kindeskind werden nicht aufhören, von seinen Thaten zusprechen. Wie die Natur, deren tiefsinniger Hieroglyphe wir hierverglichen werden, in sich zurückgezogen, still und sicher ihrengesetzlichen Gang fortgeht, so verharrte Deutschland, Schmachund Tadel nicht achtend, die rächende Hand verborgen, denungeduldigen Fuß in Treue und Gehorsam gebunden, bis dieOrdnung des Lebens den Tag der Vergeltung heraufrief. Diestumme Kraft hat geredet, und voreiliges Urtheil muß beschämtbereuen.Dies im Gesetz bedingte Streben des Deutschen ist es dennauch, was Frau von Stael niemals gehörig würdigte, und das ihrgleichwohl, niemal erkannt, den Schlüssel zu allen Wider-sprüchen von selbst gegeben hätte. In Philosophie wie Politikhat sie den heiligen nie gestillten Drang, im Geist die Wahrheitzu schauen, im Gewissen die Wahrheit zu seyn, übersehen.Gesetzliches Erkennen im gesetzlichen Thun finden ihrenBrennpunkt in der Untheilbarkeit gesunder Natur, die keinerKraft über die andre die Herrschaft leiht und den Irrthum alsLüge verwirft.Hätte uns Frau von Stael ein einzigesmal ganz verstanden, siehätte niemals eine ehrenwerthe Nation so in der Wurzel ihresDaseyns verletzen können, indem sie sagt:On est plus irrité contre les Allemands quand on les voit man-quer d’énergie, que contre les Italiens. Les Italiens conserventtoute leur vie par leur grace et leur imagination des droits pro-longés à l`enfance, mais les physiognomies et les manières

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rudes des germains semblent annoncer une âme ferme et on estdesagréablement surpris quand on ne la trouve point. Les Alle-mands sont flatteurs avec énergie, et vigoureusement soumis. Ilsaccentuent durement les paroles pour cacher la souplesse dessentiments, et se servent de raisonnements philosophiques pourexpliquer ce qu’il y-a de moins philosophique du monde: Le respect pour la force et l’attendrissement de la peur qui changele respect en admiration.C’est à de tels contrastes qu’il faut attribuer la disgrace alle-mande que l’on se plait à contrefaire dans les comédies de tousles pays. Il est permis d’être lourd et roide lorsqu’on reste sévè-re et ferme, mais si l’on revêt son naturel du faux sourire de laservilité, c’est alors que l’on s’expose au ridicule merité. Ohs’impatrente d`autant plus contre eux, qu’ils perdent les hon-neurs de la vie sans arriver aux profit de l’habilité.(Man wird ungehaltener gegen die Deutschen, wenn es ihnen anThatkraft fehlt, als gegen die Italiener. Diese behaupten ihrganzes Leben hindurch, vermöge ihrer Anmuth und ihrer Ein-bildungskraft, die verlängerten Vorrechte der Kindheit; aber dierohen Gesichtsbildungen und Manieren der Germanen scheineneine feste Seele anzukündigen, und man wird unangenehmüberrascht, wenn man diese nicht antrift. Die Deutschen sindenergische Schmeichler und rüstige Unterthanen. Hart accentui-ren sie ihre Worte, um die Schmiegsamkeit ihrer Denkungsartzu verbergen; philosophischer Raisonnements bedienen sie sich,um das zu erklären, was in der Welt am wenigsten philosophischist: Die Achtung für die Gewalt und die zärtliche Furcht, welchediese Achtung in Bewunderung verwandelt.Contrasten dieser Art muß die deutsche Unanmuth zugeschrie-ben werden, die man in den Lustspielen aller Länder so behag-lich nachmacht. Es ist vergönnt, plump und rauh zu seyn, wennman ernst und fest bleibt; allein wenn man das Naturel mit demJudaslächeln der Knechtlichkeit bekleidet: so setzt man sicheiner verdienten Verlachung aus. Man wird um so unwilliger

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gegen sie, weil sie die Ehren des Lebens einbüßen, ohne zu denVortheilen der Gewandtheit zu gelangen.)Wahrlich, die ewige Gerechtigkeit konnte zur Widerlegung allerdieser Schmähungen nicht lebendiger wirken, als daß sie sieeben jetzt erst laut werden ließ.Wo ist das deutsche Land, die deutsche Stadt, die ihre Besiegertriumphirend eingeholt, die doppelte Epiloge für die oder jenesiegreiche Parthei bereit gehalten hätte? Wenn die stille Treue,das Wort heilig achtend, mit wunder Brust sich selbst zum Opferbrachte, so stiegen Seufzer und nicht Jubellieder zum Himmel.Stumm wich der Deutsche dem Fremdling aus, den er niemalsseine Sinnesart begreiflich machen konnte, und kalt und ernstverharrte er in sich selbst, bis Gott ihn durch des Gesetzes Stim-me rief. Dann, denke ich, ist er gekommen, und die Welt hat ihnerkannt.Fragen wir uns aber, wie ein inniges, edles Gemüth, das Wahr-heit sucht und will, zu Mißgriffen jener Art kommen könne, somüssen wir uns gestehen, wir selbst veranlassen sie durch dieMangelhaftigkeit und verschobene Natur unsrer geselligen Bil-dung. Wäre diese mit uns erwachsen und gereift, ein Spiegelerweiterter Individualität, sie würde sich in ihrer Selbstständig-keit vor jedem dreisten Angriffe zu behaupten wissen. So aberschwebt sie offenbar zwischen zwei Sphären und stört durchloses Schwanken die objective Wahrnehmung, die, bei halbemErkennen, den Verstand an einseitigen Urtheilen abmühet.Es ist natürlich, daß die mannigfachen Elemente eines reichenDaseyns in gemischter Lebensregung zu ihrer Wurzel zurück-fließen, und da in einer Art von Streit und Widerspruch gegeneinander aufstehn, bis sie das stille Bett gemeinsamenUrsprungs versöhnt und beruhigt empfängt. Deutschland als derHeerd und Brennpunkt Europäischer Bildung kann daher keineChinesische Abgeschlossenheit behaupten wollen. Wir werdenimmer in Mitten eines gewaltsamen Conflicts von dem Ver-schiedenartigsten berührt und bewegt werden. Gleichwohl sol-

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len sich diese Reibungen nicht in Nebenschöpfungen zersplit-tern, sondern die Gluth erweitern und ein helleres Licht nachallen Richtungen verbreiten. Nicht dies und jenes wollen wir inden stillen Schooß unseres Vaterlandes zurückziehen, sondernder wiederkehrende Lebensstrom, vom Gesetz alter natürlicherGränze umschlossen, soll seine eigenthümliche Gestalt anneh-men. Das Fremde soll sich in deutscher Würde und Festigkeitdarstellen. Dazu gehört vor allem ehrendes Anerkennen unsererselbst, das ganz natürlich aus sittlicher wie bürgerlicher Freiheithervorgeht. Politische Unabhängigkeit bedingt die gesellige.Wir haben die Eine mit geliebtem Blute erkauft, wir wollen derAndern nicht muthwillig ihr Grab graben.Des Gesetzes Gränze, sagte ich zuvor, bewahre die eigenthüm-liche Gestaltung unseres deutschen Wesens. Es ist gewiß, wirsollen nur was wir können, und wir können uns nicht anders alsin edler Stille und würdiger Freiheit behaupten. Maaß und Tacktsind uns eigen, selbst die kühnen Flüge der Phantasie, dieraschen Schläge des Witzes sind nur Modulationen des einge-bornen Grundtones. Wir verlangen Gesetz und Form. Deshalbgehört uns die ausgesprochene Bestimmtheit unserer Sprache,sie paßt sich recht eigentlich für das sittig gehaltene Gespräch.Wenn sie hier oft unbeholfen erscheint, so liegt der Grund inihrer mangelhaften geselligen Durchbildung, wie in dem pro-gressiven Umschwunge des Nationalgeistes überhaupt. Die ver-schiedenen Perioden unserer Literatur machen sehr scharfeAbschnitte in dem Charakter der Conversation. Form, Con-struction, wie Betonung der Worte, alles ist heut anders wiegestern. Diese Differenzen berühren sich im Gemisch desLebensverkehrs oft sehr disharmonisch, und hemmen den frei-en Strom der Rede durch manierirte Floskeln. Die Sprache desLebens ist von der Büchersprache verschieden, und doch nichtvon ihr geschieden. Eine greift in die andre, ohne sie zu durch-dringen. Daher die Sonntagsreden, die ängstigende Unsicherheitder Worte, der fremde und unbequeme Klang breit und hohl

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gesprochener Dyphtonge, das ganze gemachte Wesen, wenn dievertraute Mittheilung einmal öffentlich werden will.Wir spühren dann einen Zwang der Unterhaltung der eben nuraus der Form und Gesetzlosigkeit der Gesellschaftssprache her-vorgeht. Erweitern sich nun Herz und Gemüth nach dem Maaße,wie beide im Laufe des Gesprächs berührt werden, macht sichdie Natur zwischen dem ängstlichen Kampf einmal Bahn, sofährt wohl plötzlich so ein Werkeltagswort heraus, das miteinemmal allen Putz der Bildung wegwischt. Kurz es ist keinefrei herausgebildete Einheit in der Lebenssprache. Wir schwan-ken zwischen Feierlichkeit und Trivialität, zwischen Verkünste-lung und unerzogener Natur.Da es indessen für den Deutschen kein andres Centrum äußererAusbildung giebt, als die Befreiung und Selbstständigkeit desInnern, da der Genius der Sprache mit kühnem und frischemFlügelschlag aus der Verpuppung und dem Gewebe des Gedan-ken hervorgeht, und Wissenschaft und Kunst die Formen desAusdrucks weisen: so sollten Dichter und Schriftsteller imgeselligen Lustspiel und Roman die Sprache nach dem Maaßeeigenthümlicher Fähigkeit gesellig bilden, und Einheit wiegediegene Vollendung aus ihr entwickeln. Denn hier ganzbesonders wird es wahr, daß die Strafe der Sünden von Kind aufKindeskind forterben und zu neuen Sünden reizen werde. Dieunnatürliche Verkennung unsrer selbst hat uns zu fremdenGefangenen gemacht. Wir haben den Gebrauch eigner Gliederverlernt, und bewegen uns leichter mit erborgten Stützen. Selbstveranlaßte Unbeholfenheit jagt uns immer aufs neue wieder zurfranzösischen Sprache.Wir stellen uns freiwillig in die zweite Reihe, indem wir miteiner Art von Deferenz Solche betrachten, die sich ihrer Naturgemäß in dem Elemente, was uns angezwungen wird, behaglichund leicht fühlen. Der Vorsprung, den die Franzosen, eben durchdie allgemeine Anerkennung ihrer Sprache, haben, erfüllt unsentweder mit toller Nacheiferung ihnen gleich zu stehen, oder

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verschließt uns zu bescheiden in uns selbst. Wir haben aber einWort mitzureden, und dürfen es mit Stolz und Sicherheit lautwerden lassen. Wir sollen nicht länger zwischen eigenthümli-cher und fremder Bildung schwanken, es steht uns wohl anDeutsch zu seyn. Ist die französische Sprache dem gesellig ver-kehrenden Europa unentbehrlich geworden, so gelte sie wie eineScheide- und Ausgleichungsmünze, so lange sie in Cours blei-ben kann, Jedweder lerne sie als solche kennen, sie bleibe ihmMittel, nichts weiter. Was hülfe es auch, sie zum Zweck machenzu wollen? Ihre klassischen Sprichwörter und Phrasen liegendoch nur wie veralteter bestäubter Modeprunk auf der lebendi-gen Nationalbildung, der deutsche Geist ist aus dem alten Klei-de herausgewachsen, beide passen nicht zu einander.Ich darf das um so eher sagen, da ich, die Sprache an sich lie-bend, aus eigner Erfahrung weiß, daß man sich niemals absolutin ihr verliert, ohne immer auf einige Zeit einen Theil seinerEigenthümlichkeit einzubüßen. Man kann nur dann völliggerecht in einer Sache seyn, wenn man diese in ihr eigenthüm-liches Gebiet zurück führt, und sie gleichsam auf heimischemBoden wahrhaft betrachtet. Gehen wir bis in die Galanterie,zarte Liebe, feine Sitte und gefällige Eleganz des französischenRitterthums hinein, so sehen wir, daß sich schon von da diegesellige Bildung beider Nationen scharf trennt, indem alle jeneim Ritterthum bedingte Elemente über Rhein und Vogesen hin-aus eine andre Farbe und Physiognomie annehmen. Ich kannden Zauberring hier, ohne Furcht mißverstanden zu werden, alsBeleg und wahrhaft klassischen Spiegel jener Nationalverschie-denheit anführen. Ritter Folko und Herr Ott von Trautwangenbehaupten auf eigne anziehende Weise ein jeder die Vorrechteseines Volksstammes;92 beide sind, was sie seyn sollen und kön-nen, und keiner vermißt an dem Andern was er selbst besitzt.Ziehen wir nun von dem ersten Scheidepunkt an die Gränzliniebeider Individualitäten fort, und fort bis zu dem Standpunkthistorischer Gegenwart: so laufen beide in immer wachsenderBreite auseinander, und keine Vermischung ist denkbar. Das

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wird uns vorzüglich frappant durch die scharfsinnige Musterungdes französischen Nationalcharakters in dem Werke überDeutschland, in Beziehung auf gesellige Verhältnisse. Wir emp-finden es mit Gewißheit, daß der Geist jener Conversation trotzdes Ausgleichungsmittels allgemeiner Weltsprache dem deut-schen Gemüth durchaus fremd bleiben müsse. Einmal kennenwir solche Fechtkunst der Rede nicht, die, auf theatralischenEffekt berechnet, mit sanktionirten Wendungen und Worten,gleich abgestumpften Waffen vor den Augen der Zuschauergeübt wird; deutsche Redseligkeit bleibt immer mehr oderweniger Drang der Mittheilung, Bedürfniß des Aussersichhin-stellens, und, ist auch jene Selbstbespiegelung im Wort wie imWiederschein des Glases, menschlicher Natur im Allgemeineneigen, so dürften wir es doch schwerlich zu jener Virtuositätbringen, von welcher Frau von Stael das Maximum in folgendenWorten aufstellt.„pour réussir en parlant, il faut observer avec prespicacité l’im-pression qu’on produit à chaque instant sur les hommes, cellequ’ils veulent nous cacher, celle qu’ils cherchent à nous exagé-rer, la satisfaction contenue des uns, le sourire forcé des autres;on voit passer sur le front de ceux qui nous ecoutent, des blâmesà demi formés, qu’on peut eviter en se hâtant de les dissiperavant que l’amour propre y soit engagé. L’on y voit naitre aussil’approbation, qu’il faut fortifier, sans cependant exiger d’elleplus, qu’elles ne veut donner. Il n’est point d’aréne où la vanitése montre sous des formes plus variées que dans la societé.“(„Um mit Erfolg zu reden, muß man mit Scharfblick den Ein-druck beobachten, den man in jedem Moment auf die Zuhörermacht, den, welchen sie uns verbergen möchten, den, welchensie uns zu übertreiben bemüht sind, die beherrschte Zufrieden-heit der Einen, das erzwungene Lächeln der Andern. An derStirne der Zuhörer sieht man gewisse Halbtadel aufsteigen, dieman vermeiden kann, wenn man sie zu zerstreuen eilt, ehe dieEigenliebe ins Spiel gezogen ist. Auch den Beifall sieht mandaselbst aufkeimen; und diesen muß man festhalten, ohne

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gleichwohl mehr zu verlangen, als was er uns geben möchte. Esgiebt keinen Kampfplatz, auf welchem sich die Eitelkeit inmannigfaltigern Gestalten zeigte, als in der Gesellschaft.“)Welche Pein des Daseyns, welche krampfhafte Reibungen desGeistes! Wo bleibt hier die freie Rückwirkung des beseelendenKlanges der Menschenstimme? Die elektrischen Funken heitrerMittheilung werden eine immer treffende Gluth, die alle gesun-den Triebe geselliger Produktion vergiftet. Wie tausendmalhemmender muß diese Sklaverei der Art und Weise seyn, alsalle anciennes formules de politesse! Darf die Verfasserinbehaupten, diese Richtung des Geistes sey keine gegebene?Dies seyen nicht des lignes tracées d’avance,(vorher gezogeneLinien) zwischen denen Gewohnheit und Sitte den Verstand hinund herleite?Wir Deutschen fühlen es so, und sollen es noch weit lebendigerfühlen, jemehr wir uns selbst kennen und ehren. Und da derklügste Deutsche es doch einmal nicht dahin bringt, wo derdümmste Franzose schon von Natur steht, der, wie Frau vonStael sagt,sait encore parler, lors même qu’il n’a point d’idées, qui amusetoujours, quand même il manque d’esprit. Il vous raconte toutce qu’il a fait, tout ce qu’il a vu, le bien qu’il pense de lui, leséloges qu’il a recues, les grands seigneurs qu’il connoit, lessuccès qu’il espère.(zu sprechen versteht, selbst wenn er keine Ideen hat, der auchdann noch belustigt, wenn es ihm an Geist fehlt. Er erzählt alles,was er gethan, alles, was er gesehen hat, wie gut er von sichselbst denkt, wie er gelobt worden ist, welche große Herrn erkennt, was er von der Zukunft Glückliches erwartet.)Da wir uns schämen so etwas zu sagen oder zu hören, so sollenwir uns auch genug würdigen, um gesunde Gedanken mit Rein-heit und Anmuth in unserer reichen vielseitigen Sprache einan-der gesellig mitzutheilen. Gedanken und Sprache sind verwach-sen wie Seele und Leib. Wie sich die Eine erweitert, wächst derAndre von selbst. Wir haben mit dem Schwerdte die Marken

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unsres äußern Daseyns gezogen; ein jeder trägt jetzt in derNationalehre die Waffen bei sich, durch die er sich im Innernund Aeußern vor der Welt behauptet. Die Gesellschaft ist derSpiegel herrschender Gesinnung, ist die bildende Künstlerin,welche dem Erkannten und Empfundenen in lebendigen Men-schenverhältnissen wahrhafte Gestaltung leiht. Sie giebt Zeug-niß für oder wider uns.

Caroline de la Motte Fouqué: Ueber deutsche Geselligkeit, in:Dies.: Ueber deutsche Geselligkeit in Antwort auf das Urtheilder Frau von Stael. Berlin 1814.

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Literarisches LebenAnmerkungen

Anmerkungen

Mehrmals auftretende Begriffe, Personen oder Sachverhaltewerden nur bei erstmaliger Nennung im Text in den Anmer-kungen erläutert.

01 NS 2, S. 548.02 Pedro Calderón de la Barca (1600-1681), spanischer Schriftsteller.03 Auf den Abdruck der Fußnoten wurde hier verzichtet.03a Ort und und Zeit ] Ort und Zeit.04 Gestalt der griechischen Mythologie.05 Griech., gemeint ist ein Musikstück der Griechen, auf einer Kithara oder Flöte vor-

getragen.06 Gestalt der griechischen Mythologie. Aktaion war ein Jäger, der Artemis beim

Baden belauscht hatte, daraufhin in einen Hirsch verwandelt und anschließend vonseinen eigenen Hunden zerrissenen wurde.

07 Publius Ovidius Naso (43 v. Chr. – 18 n. Chr.), römischer Schriftsteller und Philo-soph.

08 ‚Lycisca‘ war nach antiken Quellen der Name, unter dem sich Messalina, die Gat-tin des Kaisers Claudius in einem Bordell vergnügte.

09 Engl., „Ein Geist, Vergangenes widerspiegelnd“. Auch William Hazlitt greift inseinem Shakespeare-Essay (Shakespear’s Genius, 1818) auf diese Formulierungzurück.

10 Ben Jonson (1573-1637), engl. Dramatiker, Zeitgenosse Shakespeares.11 John Milton (1608-1674), engl. Dichter. 12 Zitat aus John Miltons (1608-1674) Dichtung ‚L’Allegro‘ (1632). Wahrscheinlich

lag die Übersetzung von Otto Heinrich Freiherr von Gemmingen-Hornberg (1755-1836) von 1782 vor.

13 Alexander Pope (1688-1744), engl. Dichter.14 Voltaire (1694-1778), frz. Schriftsteller und Philosoph.15 Ludwig XIV. (1638-1715), König von Frankreich von 1643 bis 1715.16 Elisabeth I. (1533-1603), Königin von England 1558 bis 1603.17 Jakob I., König von England und Schottland von 1603 bis 1625.18 Roman von Miguel de Cervantes Saavedra (1547-1616), span. Dichter. Erschienen

unter dem Titel ‚Ingenioso Hidalgo Don Quijote de la Mancha‘ (1605-1615).19 Francis Bacon (1561-1626), engl. Politiker, Philosoph und Schriftsteller.20 Perikles (um 495-429 v. Chr.), athenischer Politiker.21 Augustus (63 v. Chr.-14 n. Chr.), römischer Kaiser.22 Aristophanes (445-385 v. Chr.), griechischer Komödien- dichter.23 Quintus Horatius Flaccus (65-8 v. Chr.), römischer Dichter.24 das Hauswesens ] des Hauswesens.25 Außerorndentliches ] Außerordentliches.26 Gebieteterin ] Gebieterin27 Einsamkeint ] Einsamkeit.28 Mit Conjecturensind hier die mutmaßlichen Lesarten gemeint.

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Literarisches Leben Anmerkungen

29 Edmund Malone (1741-1812), Pädagoge und Editor, Herausgeber von WilliamShakespeares Works, erschienen 1790 in 11 Bänden.

30 Pseudonym von Ludwig Tieck.31 Figur aus einem Schauspiel von Ludwig Tieck. Ludwig Tieck: Der gestiefelte

Kater. Ein Kindermährchen in drey Akten, mit Zwischenspielen, einem Prologeund Epiloge von Peter Leberecht. Berlin 1797.

32 Emanuel Schikaneder (1751-1812), Opern- und Lustspiel-dichter. Zu seinenbekanntesten Werken gehört die durch die Musik Mozarts bekannt gewordeneZauberflöte.

33 Gemeint ist Ludwig Tiecks Denkwürdige Geschichtschronik der Schildbürger(1797).

34 Ludwig Tieck: Die Geschichte von den Haimonskindern in zwanzig altfränkischenBildern. (1796), in: Volksmaehrchen. Hrsg. von Peter Leberecht. 3 Bde. Berlin1797, Bd. 1, S. 243-366.

35 Ariosto Ludovico (1474-1533), ital. Schriftsteller.36 Argos war in der griechischen Mythologie ein Sohn des Agenor oder ein Erdge-

borner von ungeheurer Stärke. Er machte sich durch mehrere Heldentaten berühmt,u.a. durch die Erlegung eines Stiers, eines räuberischen Satyrs und der Echidna. Erwurde auch Panoptes, der Allsehende, genannt, wegen seiner vielen Augen, vondenen ein Teil immer wachte. Nach Homer (8. Jh. v. Chr.), griech. Epiker.

37 Epos von Ludovico Ariosto (1474-1533). Darin wird die Geschichte des RittersRoland auf der ‚Jagd‘ nach der schönen Angelica geschildert.

38 Johann Wolfgang Goethe (1749-1832), deutscher Dichter.39 Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Berlin

1795-1796.40 Ludwig Tiecks Schöne Mageloneerschien später in sei-ner Märchensammlung

Phantasus(Berlin 1812-1816).41 Hans Sachs (1494-1576), Nürnberger Schuhmacher, verfaßte zwischen 1513 und

1567 nicht weniger als 4285 Meisterlieder (Meistersang).42 William Lolelv ] William Lovell.

Gemeint ist hier: Ludwig Tieck: William Lovell. Berlin, Leipzig 1795-1796.43 Ludwig Tiecks Drama Karl von Berneck(1793-1795) wurde ebenfalls in den

Volksmaehrchenveröffentlicht. 44 Overdone ... Come tardy off – Die Begriffe beziehen sich auf eine Stelle in Sha-

kespeares Hamlet, 3. Aufzug, 2. Szene, Hamlet tritt mit drei Schauspielern auf:„[...] Denn alles, was so übertrieben wird, ist dem Vorhaben des Schauspieles ent-gegen, dessen Zweck sowohl anfangs als jetzt war und ist, der Natur gleichsam denSpiegel vorzuhalten: der Tugend ihre eignen Züge, der Schmach ihr eignes Bildund dem Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen.Wird dies nun übertrieben oder zu schwach vorgestellt, so kann es zwar denUnwissenden zum Lachen bringen, aber den Einsichtsvollen muß es verdrießen;und der Tadel von einem solchen muß in Eurer Schätzung ein ganzes Schauspiel-haus voll von andern überwiegen. [...]“ (William Shakespeare: Sämtliche Dramen.Bd. 3: Tragödien. München 1988, S. 641 [Nach der 3. Schlegel-Tieck-Gesamtaus-gabe von 1843/44]).

45 Byng war Arzt und gehörte in den neunziger Jahren dem Berliner Freundeskreisvon Ludwig Tieck an.

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Literarisches LebenAnmerkungen

46 Karl Bernhard Wessely (1768-1826), Komponist, Dirigent und seit 1788 Musikdi-rektor des Berliner Staatstheaters. Wessely war ein Jugendfreund Tiecks.

47 Karl Friedrich Zelter (1758-1832), dt. Komponist und enger Freund Goethes.48 Gemeint ist August Wilhelm Schlegel.49 Ludwig Tieck: Leben und Tod der heiligen Genoveva. Ein Trauerspiel. Berlin

1820.50 Ludwig Tieck: Prinz Zerbino oder die Reise nach dem guten Geschmack gewis-

sermassen eine Fortsetzung des gestiefelten Katers. Ein Spiel in sechs Aufzügen.Leipzig, Jena 1799; [Ders:] Der gestiefelte Kater. Ein Kindermährchen in dreyAkten, mit Zwischenspielen, einem Prologe und Epiloge von Peter Leberecht. Ber-lin 1797; Ludwig Tieck: Die verkehrte Welt (1798 entstanden, 1799 erstmals ver-öffentlicht), aufgenommen in die Sammlung Phantasus (1812-1816).

51 Novalis an Friedrich Schlegel, 5. April 1800, in; NS 4, S. 329-331, dort S. 330.52 Sockel, massiver Unterbau eines Denkmals.53 Garnvorrat beim Spinnen von Wolle. Aus dem Wocken wird dem gesponnenen

Faden die Wolle zugeführt.54 Als Symbole bzw. Attribute des Todes wurden die Sense und die Sichel in der Bil-

denden Kunst verwendet. Dabei bezeichnet Hippe eigentlich ein Winzer- oderGärtnermesser, dass später als Bezeichnung für Sense fungierte. Das Attribut Stun-denglas kam später in den Darstellungen des Todes hinzu.

55 zu lachen. wie er sah ] zu lachen, wie er sah.56 Textergänzungen wurden aus der historisch-kritischen Novalis-Ausgabe übernom-

men.57 Antonio Allegri da Correggio (1494-1534), ital. Maler.58 Tizian, eigentlich Tiziano Vecellio (1477-1576), ital. Maler, Hauptmeister der

venezianischen Malerschule.59 ‚Lambris‘, deutsch auch ‚Lamberi‘, der aus dem Französischen übernommene

Ausdruck für eine so genannte ‚untere Wandverkleidung‘ von Innenräumen. Siedient als Dekor und in Holzausführung auch als Schutz gegen Beschädigungensowie zur Isolierung gegen die Kälte feuchter Mauern.

60 Nach dem Gott Dionysos, lat. Bacchus, in der Mythologie Gott der Triebkraft, desSaftigen und des Weines, der Fruchtbarkeit und Zeugung. Bacchantische Wutmeint hier wohl vom Wein enthemmte Wut, Zügellosigkeit.

61 Römische Göttin des Frühlings und der Vegetation. In der griech. Mythologie alsAphrodite bekannt.

62 Adonis, im griech. Mythos ein Jüngling von sprichwörtlich gewordener Schönheit.Aphrodite warb um Adonis. Dieser liebte die Jagd und wurde umsonst von derGöttin gewarnt: Ein Eber, von Artemis gesandt, verwundete ihn tödlich und Aphro-dite konnte den Geliebten zwar nicht vor dem Tod retten, erwirkte aber bei Zeus,daß er jährlich nur sechs Monate im Schattenreich bei Persephone und die andreHälfte des Jahres bei ihr auf der Erdoberfläche verbringen konnte.

63 Figur aus der griech. Mythologie. Dort war Proteus ein weissagender Meergreis.Hier im Sinne von prophetisch verstanden.

64 Allegorie, griech., ist die sinnbildliche Darstellung eines Allgemeinen, Unsinnli-chen, Abstrakten.

65 Amphrysos ist sowohl die Bezeichnung für einen Flußgott als auch für einen Flußin Thessalien im nördlichen Griechenland. Nach Ovids Metamorphosensammelte

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Literarisches Leben Anmerkungen

sich Amphrysos mit anderen Flüssen um zu erfahren, ob der Flussgott Peneiosglücklich oder betrübt über das Schicksal seiner Tochter Daphne sei (Ovid, Meta-morphosen, 1,579).

66 Miguel de Cervantes Saavedra (1547-1616), span. Dichter.67 John Dryden (1631-1700), engl. Kritiker und Dichter.68 Christoph Martin Wieland: [Übersetzung von] William Shakespeare. Theatralische

Werke. Aus dem Englischen. 8 Bde. mit Titelkupfern. Zürich 1762-1766.69 Fürchtegott Christian Fulda: Antixenien. Trogalien zur Verdauung der Xenien. Hg.

v. Ludwig Grimm. Berlin 1903 (Deutsche Literaturdenkmale des 18. und 19. Jahr-hunderts), S. 11.

70 Lat., schallendes Gelächter.71 Gemeint ist die Übersetzung von Friedrich Justin Bertuch: Miguel de Cervantes de

Saavedra: Leben und Thaten des weisen Junkers Don Quixote, von Mancha. NeueAusgabe aus der Urschrift, nebst der Fortsetzung des [Alonso Fernandez de] Avel-laneda. [Übersetzt] von Friedr[ich] Just[in] Bertuch. Erster bis sechster Theil. 6 Bde. Weimar, Leipzig 1775-1777.

72 Ludwig Tieck: [Übersetzung von] Miguel de Cervantes Saavedra. Leben und Tha-ten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote vn la Mancha. 4 Bde. Berlin 1799-1801.

73 Bezieht sich auf die Cervantes-Übersetzung,74 Galatea, in der griech. Mythologie eine Meernymphe, Personifikation des stillen,

glänzenden Meers. Stand in einem Liebesverhältnis zu dem ungeschlachtenKyklopen Polyphem, der Galatea mit rasender Liebe verfolgte.

75 Roman bzw. Romanfigur eines Romans von Miguel de Cervantes Saavedra Lostrabajos de Pesiles y Segismunda, historia septentrional (1617).

77 Aischylos (525/24 v. Chr.-456/55 v. Chr.), griech. Tragiker. Sein Prometheusisteines der sieben von ihm vollständig erhaltenen Schauspiele.

78 Jean Paul, eigentlich Johann Paul Friedrich Richter (1763-1825); Peter Leberechtist ein Pseudonym von Ludwig Tieck.

79 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur alsEinleitung in das Studium dieser Wissenschaft. 2 Bde. Leipzig 1797, S. 77.

80 Griech., Fieber- oder Krankheitsanfälle, Schauer.81 Gemeinde.82 Im 18. Jahrhundert gab es zwei verschiedene Theorien über das Licht. Isaac

Newton (1642-1727) vertrat die Ansicht, dass das Licht sich wie ein Teilchen ver-hält. Sein theoretischer Widersacher, der Niederländer Christian Huygens (1629-1695) vertrat die Wellentheorie. Als 1801 der Physiker Thomas Young(1773-1829) seine Ergebnisse des Doppelspaltversuchsveröffentlichte, schlug diewissenschaftliche Meinung, die bis dahin den newtonschen Thesen gefolgt war,um. Bei dem Versuch am Doppelspalt zeigt das Licht ein Interferenzverhalten, beidem sich zwei Lichtquellen überlagern und sich dabei gegenseitig verstärken oderneutralisieren können. Eine theoretische Erklärung war zu diesem Zeitpunkt nurmit der Wellentheorie möglich.

83 Johann Friedrich August Göttling (1753-1809), Physiker, Chemiker und Arzt, Pro-fessor in Jena.

84 Auf den Abdruck der Fußnoten wurde hier verzichtet.85 Herleitung, Aus- oder Beweisführung.86 Lat., die Kenntnis vom Leben, die Theorie vom Leben.

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Literarisches LebenAnmerkungen

87 Anspielung auf die Büchse der Pandora. Pandora, Figur aus der griech. Mytholo-gie, die alles Unheil der Welt in einem Gefäß mit sich trägt, um es auf Befehl desGöttervaters Zeus unter die Menschen zu bringen.

88 Anne Louise Germaine de Staël (1766-1817), franz. Schriftstellerin.89 Caroline de la Motte Fouqué: [Rez.] Einige Worte über das neueste Werk der Frau

von Staël de l’Allemagne London, bei Murray und Berlin, bei Hitzig 1814, in: DieMusen 1814, Zweites Stück, S. 234-239.

90 Gemeint ist ein mehrtägiges Gefecht aus den napoleonischen Kriegen 1812/13:Am 25. September 1813 hatten schwedische Vortruppen Dessau und mehrere Ortein der Umgegend besetzt. Aber durch die Übermacht der Franzosen waren dieSchweden gezwungen, Dessau zu verlassen und sich am 27. September auf denBrückenkopf bei Roslau zurückzuziehen. Die Franzosen besetzten anschließendDessau. Russische und schwedische Truppen schlugen die französischen Vortrup-pen zurück, wichen aber der nachfolgenden französischen Hauptstreitmacht, dieDessau besetzte, deren Vorgehen auf den russisch-schwedischen Brückenkopf aberanschließend gestoppt wurde. Die Franzosen machten einen Ausfall und vertriebendie Schweden vom Brückenkopf, die am 29. September ein mehrstündiges Gefechtbegannen und sich anschließend auf den Brückenkopf von Roslau zurückzogen.Nachdem sich die Preußen bei Wartenburg über die Elbe zurückzogen, wurde diefranzösiche Belagerung aufgehoben und die Franzosen zogen sich zurück.

91 Eine Art Winkelmesskompass.92 Die Ausführungen beziehen sich auf zwei Figuren aus dem Roman von Friedrich

de la Motte Fouqué Der Zauberring, ein Ritterroman (Nürnberg 1812).

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Literarisches LebenKurzbiographien

Kur zbiographien

August Johann Georg Carl Batsch

Geboren am 28. Oktober 1761 in Jena; gestorben am 29. Sep-tember 1802 in Jena.Batsch interessierte sich früh für Naturwissenschaften und ins-besondere für die Botanik. 1772 immatrikulierte er sich als Stu-

dent der Medizin in Jenaund erreichte 1781 seinenAbschluss als Magister.Nach der Promotion zumDoktor der Medizin (1786)wurde er 1789 außerordent-licher, 1792 ordentlicherProfessor.1790 richtete er in Jena denbotanischen Garten ein undstiftete 1793 die naturfor-schende Gesellschaft inJena. Er starb 1802.

Caroline de la Motte Fouqué geb. Briest

Geboren am 7. Oktober 1775 auf Gut Nennhausen bei Rathe-now; gestorben am 20. Juli 1831 auf Gut Nennhausen.Caroline wuchs als einziges Kind auf und wurde frühzeitig mitliterarischen, philosophischen und religiösen Fragestellungenvertraut. Eine erste Ehe mit Friedrich von Rochow (1789-1799)scheiterte; noch vor der Scheidung erschoss er sich wegenSpielschulden. 1803 heiratete sie Baron Friedrich de la Motte

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Literarisches Leben Kurzbiographien

Fouqué. Neben Reise- undStadtbeschreibungen publi-zierte sie seit 1806 regel-mäßig Romane und Erzäh-lungen. Sie griff dabei aufThemen und den Erzählstilvon Unterhaltungsliteraturzurück. Teilweise entwerfenihre Romane, wie Die Fraudes Falkensteins(1810) undFeodora (1814) Strategienzur weiblichen Emanzipa-tion und Lebensbewälti-gung, die durchaus moderneZüge tragen. Von der gesell-

schaftlichen und politischen Entwicklung nach den Befreiungs-kriegen zeigte sich Caroline enttäuscht. Das Scheitern der natio-nalen Wiedergeburt, die Verflachung des literarischen Diskursesund die allgemeine Lethargie beklagte sie in Beiträgen für Jour-nale und in zeitkritischen Schriften. Im Unterschied zu ihrenEssays fanden der überschwänglich-empfindsame Stil und diewenig natürlichen Charaktere ihrer belletristischen Werke seitMitte der 1820er Jahre kaum mehr Anklang. Sie starb 1831nahezu vergessen.

Friedrich von Hardenberg gen. Novalis

Geboren am 2. Mai 1772 in Oberwiederstedt, Mansfeld; gestor-ben am 25. März 1801 in Weißenfels.Der Sohn des Salinendirektors Heinrich Ulrich Erasmus vonHardenberg und dessen Ehefrau Auguste Bernhardine, geb. vonBölzig, studierte in Jena und Leipzig und schloss sein Rechts-studium in Wittenberg 1794 ab. Im Jahr darauf trat er in denStaatsdienst. 1796 wurde er an der Saline in Weißenfels, an der

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Literarisches LebenKurzbiographien

sein Vater Direktor war,angestellt. Ende 1797 gingNovalis an die FreibergerBergakademie, wo er beiAbraham Gottlob WernerBergwerkskunde, Chemieund Mathematik studierte.1799 kehrte er zur Salinen-direktion zurück und wurdezum Salinenassessor undMitglied des Salinendirekto-riums ernannt. Höhepunktseiner beruflichen Laufbahnwar 1800 die Ernennungzum außerordentlichenAmtshauptmann für den Thüringischen Kreis. Kurz darauferkrankte er an Lungen-Schwindsucht und starb 1801.Novalis interessierte sich schon früh für Literatur und Philoso-phie. Während seines Studiums in Jena 1790 lernte er FriedrichSchiller kennen, 1792 in Leipzig Friedrich Schlegel. Seit 1795entwickelte sich zwischen Schlegel und Novalis die Praxis derSymphilosophie: Sie förderten gegenseitig ihre intellektuelleProduktivität durch den Austausch der privaten Arbeitshefte.1797 luden August Wilhelm und Friedrich Schlegel Novalis zurMitarbeit an der Zeitschrift Athenaeumein. Durch mehrereBesuche in Jena bei den Schlegel-Brüdern wurde der Austauschzwischen dem einem Brotberuf nachgehenden Novalis und demRest der Kreises gepflegt. Seine Hauptwerke sind Heinrich vonOfterdingen, Die Lehrlinge zu Sais, die Hymnen an die Nachtund die Fragmente.

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Literarisches Leben Kurzbiographien

Johann Wilhelm Ritter

Geboren am 16. Dezember 1776 in Samitz/Sachsen; gestorbenam 23. Januar 1810 in München.Der Pfarrerssohn erwarb sich während seiner Lehre als Apothe-ker gute Kenntnisse in Chemie und Physik, bevor er 1796 inJena zu studieren begann. Dort beschäftigte er sich intensiv mitnaturwissenschaftlichen Studien. Besondere Faszination übteder Galvanismus auf ihn aus. 1798 wurde er in Jena mit demVortrag Über den Galvanismus; die Entdeckung eines in derganzen lebenden und toten Natur sehr tätigen Prinzipsbekannt.

Hier beschrieb er seine ersteTheorie der Elektrizität.1801 entdeckte er die ultra-violetten Strahlen, die Elek-trolyse und die elektrokapil-laren Erscheinungen desQuecksilbers. 1804 folgte ereinem Ruf an die MünchnerAkademie. 1810 starb erdort an Tuberkulose. Ritter gehörte zum näherenFreundeskreis der JenaerFrühromantiker. Novalischarakterisierte ihn treffend:„Ritter ist Ritter, und wirsind nur Knappen.“ Er stand

in Verbindung mit Goethe und später mit Herder. Ritter lebte inWeimar und Jena größtenteils völlig mittellos. Seine Hauptwer-ke sind Beweis, dass ein beständiger Galvanismus den Leben-sprozess in dem Tierreich begleite(1798), Die Physik als Kunst(1806) und die Fragmente aus dem Nachlass eines jungen Phy-sikers (1810).

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Friedrich Wilhelm Joseph Schelling

Geboren am 27. Januar 1775in Leonberg/Württemberg;gestorben am 20. August1854 in Bad Ragaz in derSchweiz.Als Sohn eines Pfarrersdurchlief er die klassischewürttembergische Ausbil-dung zum Pfarrer: NachAbschluss der Lateinschulein Nürtingen besuchte er abseinem zwölften Lebensjahram Kloster Bebenhausen diefür ein Studium am Tübin-ger Stift vorbereitende

Schule. Mit einer Sondererlaubnis, die ihm den Eintritt in denStift drei Monate früher als erlaubt ermöglichte, nahm er seinStudium der Theologie 1790 auf. Am Stift traf er mit FriedrichHölderlin und Georg Friedrich Wilhelm Hegel zusammen, mitdenen ihn eine in ihrer geistesgeschichtlichen Bedeutung oftgewürdigte Freundschaft verband und die seine frühen philoso-phischen Standpunkte prägten.Nach Abschluss seines Studium 1795 entschloss er sich gegeneine theologische Laufbahn und wurde zunächst Hauslehrer.1798 wurde er unter Einwirkung Johann Wolfgang Goethes alsaußerordentlicher Professor an die Universität Jena berufen.Dort blieb er bis 1803, ging zunächst an die Universität Würz-burg und dann als Generalsekretär der Akademie der Künstenach München. 1827 wurde er in München Professor für Philo-sophie, 1840 bekam er einen Ruf nach Berlin.Die fünf Jenaer Jahre waren die fruchtbarsten seiner Schaffens-zeit. Er stand in regem Austausch mit dem Schlegelkreis undnahm an dessen Zusammenkünften teil. In dieser Zeit lernte er

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Caroline Schlegel kennen, die er 1803 heiratete. Hegel war aufsein Betreiben ebenfalls nach Jena gekommen und habilitiertesich dort. Gemeinsam gaben sie das Kritische Journal der Phi-losophieheraus. Seine Hauptwerke sind Ideen zu einer Philoso-phie der Natur(1797), System des transzendentalen Idealismus(1800) und Über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809).Sein Spätwerk blieb größtenteils nahezu unbeachtet.

August Wilhelm Schlegel

Geboren am 5. September 1767 in Hannover; gestorben am 12. Mai 1845 in Bonn.Als Sohn des dichtenden Theologen Johannes Adolf und Neffedes Dramatikers und Theoretikers Johann Elias Schlegel wurdeAugust Wilhelm in einen intellektuell-schöpferischen Wir-kungskreis hineingeboren. Nach einem Theologie- und Philolo-giestudium in Göttingen kam er auf eine Einladung FriedrichSchillers an den Horen mitzuwirken 1796 nach Jena. Ab 1801war er in Berlin Privatgelehrter und hielt dort Vorlesungen. Ab

1804 begleitete er Germainede Staël auf ihren Reisenoder hielt sich auf ihremLandsitz in Coppet auf.1818 erhielt er einen Lehr-stuhl für Kunst- und Litera-turgeschichte in Bonn. Seit 1796 lebte August Wil -helm mit seiner Frau Caroli-ne und ihrer Tochter Augu-ste Böhmer in Jena am Löb-dergraben. Ihr Haus bildetedas Zentrum der JenaerFrühromantik. Dort traf sichder Kreis bestehend aus

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jungen Schriftstellern, Philosophen, Naturforschern, Medizi-nern und Künstlern, philosophierte und las aus den jeweils neu-esten Werken vor, aß und trank zusammen. Später zogen auchFriedrich und seine Frau Dorothea dort ein. 1798 bis 1800 gaben August Wilhelm und Friedrich das Athe-naeum,die Zeitschrift der Frühromantik heraus. Sie hatte einenähnlichen programmatischen Stellenwert für die Frühromantikwie die Horen für die Weimarer Klassik. Nahezu alle Frühro-mantiker wirkten daran mit. Ein weiteres wichtiges Projektwaren die Übersetzungen der Dramen Shakespeares. AugustWilhelm übersetzte selbst insgesamt 17 Dramen, darunterRomeo und Julia, Hamletund einen Großteil der sogenanntenKönigsdramen. Schlegels Bedeutung darüber hinaus begründetsich insbesondere in seinen theoretischen Schriften zur Litera-turgeschichte, seinen Übersetzungen aus dem Spanischen, Por-tugiesischen und Italienischen und seiner Rolle bei der Begrün-dung des Faches Romanistik mit dem Werk Observations sur lalangue et la littérature provençales (1818).

Caroline Michaelis-Böhmer-Schlegel-Schelling

Geboren am 2. September 1763 in Göttingen; gestorben am 7. September 1809 in Maulbronn.Caroline verlebte als Tochter des Orientalisten Johann DavidMichaelis in Göttingen eine gleichermaßen behütete wie intel-lektuell anregende Kindheit und Jugend. Ihre Heirat mit demArzt Johann Franz Wilhelm Böhmer brachte sie 1784 nachClausthal im Harz, wo sie sich unendlich langweilte. Aus derEhe entstammte ihre Tochter Auguste. Nach dem Tod Böhmersging Caroline zunächst zurück nach Göttingen und zog nachmehreren Aufenthalten in Marburg und Göttingen nach Mainz,wo sie bei Georg Forster und seiner damaligen Frau ThereseHuber lebte. Die vorübergehende jakobinische Regierung unter-stützte sie gemeinsam mit Forster begeistert. Aufgrund dessen

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wurde sie 1793 von dendeutsche Truppen in Mainzgefangen genommen undfür einige Monate unterArrest gestellt. 1796 heirate-te sie schließlich den mit ihrzunächst nur freundschaft-lich verkehrenden AugustWilhelm Schlegel. Gemein-sam mit ihm, seinem BruderFriedrich und dessen FrauDorothea bildete sie denNukleus der Frühromanti-ker. Ihr von 1798 bis 1800gemeinsam bewohntes Haus

in Jena im Löbdergraben war Treffpunkt des Kreises und Caro-line war aufgrund ihrer Schönheit und Klugheit interessanterAnziehungspunkt. Dort lernte sie auch den jungen Philosphen Schelling kennen.Nach der Scheidung von Schlegel heiratete sie ihn. Dies wareiner der Gründe für das Auseinanderbrechen des Kreises. Siezog mit Schelling nach Würzburg und München. Dort hoffte sieauf ein Aufleben einer dem Jenaer Kreis ähnlichen geselligenRunde, da sich kurze Zeit auch Ludwig Tieck, dessen Bruder,Sophie Bernhardi und Clemens und Bettina Brentano dort auf-hielten. Doch diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Bei einemBesuch der Eltern Schellings zog sich Caroline die Ruhr zu undstarb 1809 in Maulbronn.

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Literarisches LebenKurzbiographien

Dorothea Mendelssohn-Veit-Schlegel

Geboren am 24. Oktober in Berlin; gestorben am 3. August 1839 in Frankfurt am Main.Dorothea erhielt eine traditionelle jüdische Erziehung. 1783 hei-ratete sie den Geschäftsmann und Bankier Simon Veit, mit demsie zwei Söhne Jonas (später Johannes) und Philipp hatte. Doro-thea nahm am gesellschaftlichen Leben Berlins rege teil undbesuchte unter anderem dieSalons von Rahel Levin undHenriette Herz. Dort traf sie1797 den acht Jahre jünge-ren Friedrich Schlegel. Sieverließ Veit, zog in eineeigene Wohnung und wurde1799 geschieden. Von 1799 bis 1801 lebte siein Jena mit Friedrich, Au-gust Wilhelm und CarolineSchlegel. Friedrichs Lucin-devon 1799 wurde vielfachals Schlüsselroman ihrerBeziehung zu ihm aufge-fasst. Um häuslichen Spannungen und finanziellen Sorgenabzuhelfen, widmete sich Dorothea ebenfalls dem Schreiben.1801 erschien anonym, herausgegeben von Friedrich, ihrRoman Florentin. Außerdem verfasste sie Rezensionen für dasAthenaeumund machte Übersetzungsarbeiten. 1802 zogen Dorothea und Friedrich gemeinsam nach Paris. Dortarbeitete sie an Rezensionen für Friedrichs Zeitschrift Europaund Übersetzungen. In Paris ließ sie sich evangelisch taufen undheiratete Friedrich. Beide zogen 1804 nach Köln. Dort konver-tierten sie zum Katholizismus. 1808 folgte sie ihrem Mann nachWien, 1816 nach Frankfurt am Main. Sie gab die Schriftstelle-rei auf, beschränkte sich aufs Briefeschreiben und widmete sich

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verstärkt der Kirche. Von 1818 bis 1820 besuchte sie ihre demKünstlerbund der Nazarener zugehörigen Söhne in Rom undkehrte dann nach Wien zurück. Nach dem Tod Friedrichs 1829zog sie zu ihrem Sohn Philipp, nach Frankfurt am Main, wo siezehn Jahre später starb.

Friedrich Schlegel

Geboren am 10. März 1772 in Hannover; gestorben am 12. Januar 1829 in Dresden.Nach einer Kaufmannslehre begann Friedrich Schlegel 1791 einStudium der Rechtswissenschaften in Göttingen, das er 1793 inLeipzig abbrach, um sich den Fächern Philosophie, Kunsttheo-

rie und Geschichte zu wid-men. Aus finanziellen Grün-den musste er dieses eben-falls vor einem Abschlussaufgeben. Er übersiedeltenach Dresden und ging dortprivaten Studien der antikenKlassiker nach. 1797 lernteer in Berlin, wo er beiSchleiermacher lebte, seinespätere Frau Dorothea Veitkennen. Sie heirateten 1804.Von 1799 bis 1801 lebten siegemeinsam in Jena. 1801habilitierte er sich und zog

1802 nach Paris, wo er ein Sanskritstudium aufnahm undgleichzeitig an der Universität Vorlesungen in Literaturge-schichte und Philosophie hielt. Von 1804 bis 1808 lebte er mitseiner Frau in Köln. Dort konvertierten sie beide zum Katholi-zismus. 1808 zogen sie nach Wien, wo Friedrich Hofsekretär

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wurde und wiederum Vorlesungen hielt. Schlegel nahm amWiener Kongress teil. 1815 erhielt er vom Papst den Christus-orden und wurde geadelt. Friedrich ist eine der schillerndsten und vielseitigsten Gestaltender Frühromantiker. Er brachte in seinem Roman LucindedasLebensgefühl der Zeit auf den Punkt und verursachte damiteinen Skandal. Er beschäftigte sich mit Philosophie, mit orien-talischen und indischen Sprachen und war Herausgeber mehrerZeitschriften, neben dem Athenaeumwaren dies Concordia undEuropa. Nach seinem jugendlichen Aufbegehren gegen herr-schende Konventionen in Gesellschaft und Literatur entwickel-te er sich nach 1800 von einem ironisch-liberalen Menschenzunehmend zu einem fast reaktionär konservativ Denkenden.Seine Hauptwerke sind Über das Studium der griechischen Phi-losophie (1797), Die Griechen und die Römer(1797),Geschichte der Poesie der Griechen und Römer (1798), Lucin-de (1799), Über die Sprache und Weisheit der Inder(1808),Philosophie des Lebens(1828) und Philosophie der Geschichte(1829).

Friedrich Schleiermacher

Geboren am 21. November 1768 in Breslau; gestorben am 12. Februar 1834 in Berlin.Der Sohn eines Feldpredigers wurde im Geiste des Pietismuserzogen. Er besuchte das theologische Seminar der Brüderge-meinde in Barby. Wegen einer Glaubenskrise brach er seine Stu-dien dort ab und nahm ein Studium der Theologie, Philosophieund Philologie in Halle auf. Nach seinem ersten Examen wurdeer zunächst Hauslehrer in Berlin, nach dem zweiten Examennahm er eine Stelle als Prediger an. Von 1796 bis 1802 arbeite-te er als Prediger an der Charité in Berlin. In dieser Zeit lebte eretliche Monate mit Friedrich Schlegel zusammen. In der Folge

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arbeitete er am Athenaeummit und verteidigte FriedrichsLucinde mit seiner Abhand-lung Vertraute Briefe überFriedrich Schlegels Lucinde. Wissenschaftspolitisch war eran der Neugründung der Ber-liner Universität beteiligt undwurde durch Wilhelm vonHumboldt an das Unterrichts-ministerium berufen, wo erfür die Reform des preußi-schen Schulwesens tätig war.Auch bei der Neuorganisati-on der Berliner Akademie der Wissenschaften wirkte er mit.1809 heiratete er Henriette von Willich, mit der er drei Töchterund einen Sohn hatte. 1810 übernahm er eine theologische Pro-fessur in Berlin und wurde Dekan der Fakultät, las aber ebensoüber philosophische und pädagogische Themen. Schleiermacher verband zu den Frühromantikern insbesondereeine innige Freundschaft mit Friedrich und Dorothea Schlegel.Der Briefwechsel besonders mit ihr gibt Aufschluss über dasalltägliche Leben des Kreises. In Jena war er jedoch selbst nie.Schleiermacher gilt heute als der bedeutendste evangelischeTheologe der Zeit, der die wissenschaftliche Hermeneuetikbegründete. Zu seinen wichtigsten Werken gehören Über dieReligion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern(1799), Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evan-gelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821-22) undHermeneutik und Kritik(1838).

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Literarisches Leben Kurzbiographien

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Gotthilf Heinrich Schubert

Geboren am 26. April 1780 in Hohenstein; gestorben am 1. Juli1860 in Laufzorn.Der Sohn eines pietistischen Pfarrers erlebte seine Jugend instreng pietistischer Erziehung. Dem Wunsch des Vaters entspre-chend begann er 1799 ein Studium der Theologie in Leipzig.Dieses gab er, nach schweren inneren Kämpfen und geplagt voneinem schlechten Gewissen seinen Eltern gegenüber, zugunsteneines Medizinstudiums auf. 1801 wechselte er an die Univer-sität in Jena, wo er auch die Vorlesungen Schellings besuchte.1803 promovierte er dort und ließ sich als praktischer Arzt inAltenburg nieder. 1806 ging er nach Dresden, wo er sich freienwissenschaftlichen Studienwidmete und Vorlesungenhielt. 1809 wurde er Rektordes neugegründeten Realin-stituts in Nürnberg. 1816übernahm er für drei Jahreeine Hauslehrerstelle inLudwigslust. 1819 erhielt ereinen Lehrstuhl für Naturge-schichte in Erlangen. 1827folgte er, gemeinsam mitSchelling, einem Ruf desbayrischen Königs LudwigsI. an die Universität nachMünchen. Er wurde dort zueiner der zentralen Figurender Münchner Romantik. Schubert gehörte nicht zum unmittelbaren Kreis der Frühro-mantiker. Er kam erst nach deren fruchtbarer Zeit nach Jena –allerdings angezogen von Ritters Forschungen auf dem Gebietdes Galvanismus und Schellings Naturphilosophie.

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Seine wichtigsten Werke sind Ansichten von der Nachtseite derNaturwissenschaft (1808), Symbolik des Traumes(1814) undGeschichte der Seele (1830).

Heinrich Steffens

Geboren am 2. Mai 1773 inStavanger, Norwegen; ge-storben am 13. Februar 1845in Berlin.Steffens wurde als Sohneines deutschen Arztesgeboren. Von 1790 bis 1791studierte er, entgegen desWunsches der Eltern, die ihnals Theologe sehen wollten,zunächst in Kopenhagen,dann in Kiel Naturwissen-schaften. Daneben unter-nahm er Reisen in Norwe-gen und Deutschland. Von1796 bis 1798 war er Privatdozent an der Universität in Kiel.1802 kehrte Steffens nach Kopenhagen zurück und hielt dortphilosophische Vorlesungen, die großen Einfluss ausübten.1804 wurde Steffens Professor der Naturwissenschaft an derUniversität Halle. 1811 wurde er nach Breslau berufen. Dortblieb er bis 1832. In dieser Zeit verfasste er neben seinen philo-sophisch-naturwissenschaftlichen Schriften auch Romane, dieheute nahezu vergessen sind. 1832 wurde er nach Berlin beru-fen, wo er 1845 starb. Im Sommer 1798 reiste er mit finanzieller Unterstützung derdänischen Regierung nach Jena. Er blieb bis 1799 und knüpfteenge Beziehungen zum Romantikerkreis. Insbesondere mitSchelling verband ihn eine lebenslange Freundschaft. In seinen

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Lebenserinnerungen, erschienen unter dem Titel Was ich erleb-te (1840-1844) setzte er dieser Zeit ein plastisches und liebe-volles Denkmal.Seine wichtigsten Werke sind Grundzüge der philosophischenNaturwissenschaft (1806), Handbuch der Oryktognosie (1811-1824), Anthropologie(1824) und seine Autobiographie Was icherlebte (1840-1845).

Ludwig Tieck

Geboren am 31. Mai 1773 in Berlin; gestorben am 28. April1853 in Berlin.Ludwig Tieck entdeckte schon in seiner frühen Jugend seineBegeisterung für Literatur und Theater. Er las viel, ging oft insTheater, um die Dramen Shakespeares, Goethes und Schillerszu sehen. Außerdem schrieb er selbst schon als Schüler Roma-ne. Im Friedrichswerder Gymnasium lernte er Wilhelm HeinrichWackenroder kennen. Auf Wunsch seiner Eltern studierte er in

Halle, Göttingen und ErlangenTheologie. 1794 entschied er sichfür ein Leben als freier Schrift-steller. Bei Aufenthalten in Jenaschloss er Freundschaft mit Nova-lis und den Brüdern Schlegel undverkehrte mit Henrik Steffens,Johann Gottlieb Fichte und Cle-mens Brentano. Unter den in Jenaversammelten Philosophen undKritikern galt er bald als dereigentliche Dichter der neuenGruppe.1802 zog Tieck nach Ziebingen.

Es folgten lange Jahre einer Schaffenskrise, zu der das Ausein-anderfallen der romantischen Schule und die heikle private

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Literarisches Leben Kurzbiographien

Konstellation zwischen seiner Gattin Amalie und der GeliebtenHenriette von Finckenstein beigetragen haben mögen. Tieck rei-ste viel, machte unzählige Bekanntschaften und studierte mittel-alterliche und englische Literatur. 1819 zog Tieck nach Dresden, wo er zum Mittelpunkt einesgeselligen Kreises wurde. Der Ruhm der Leseabende Tiecksdrang weit über Dresden hinaus. Binnen zweier fruchtbarerJahrzehnte entstanden zahlreiche Novellen. 1842 berief ihnFriedrich Wilhelm IV. als Geheimen Rat nach Berlin. Danachbegann eine Zeit wachsender Isolation. Seine poetische Krafterlosch. Er starb nach langen Jahren von Krankheit.Zu seinen wichtigsten Werken gehören die Romane Geschichteder Herrn William Lovell (1795) und Franz Sternbalds Wande-rungen (1798), die Märchenspiele Ritter Blaubart (1797), Dergestiefelte Kater(1797) und die Übersetzung des Don Quijote(1799-1801).

Wilhelm Heinrich Wackenroder

Geboren am 13. Juli 1773 in Berlin; gestorben am 13. Februar 1798 in Berlin. Dem väterlichen Willen folgend studierte er Jura, obwohl seinganzes Interesse der Kunst galt. Er beschäftigte sich seit früher

Jugend (und gemeinsam mitLudwig Tieck) mit Musik,bildender Kunst (angeleitetdurch Karl Philipp Moritz)und altdeutscher Literatur.Die intensive Freundschaftmit Tieck und das gemeinsa-me Interesse setzte sichauch während Wackenro-ders Studium in Erlangenund Göttingen fort. Zeiten

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der Trennung wurden durch intensive Briefwechsel überbrückt.Von Erlangen aus machte Wackenroder viele Ausflüge nachNürnberg, Bayreuth, Bamberg und Ansbach. Besonders Nürn-berg, die Stadt Albrecht Dürers und Hans Sachs, hatte es ihmangetan.1794 kehrte Wackenroder nach Berlin zurück und begann einejuristische Laufbahn als Kammergerichtsassessor. In dieser Zeitschrieb er mehrer Aufsätze über die Kunst. Diese erschienen1797 unter dem Titel Herzensergießungen eines kunstliebendenKlosterbruders.Daraufhin keimte in ihm wohl noch einmal dieHoffnung auf eine Laufbahn als Künstler auf. 1798 starb er inBerlin an Nervenfieber.1799 veröffentlichte Ludwig Tieck seine nachgelassenen Auf-sätze in Phantasien über die Kunst für die Freunde der Kunst.In all seinen Schriften kommt der innere Zwiespalt Wackenro-ders zwischen höchster Empfindsamkeit und äußerem Lebenzum Ausdruck. Der innere Konflikt, sein Leben nicht ganz derKunst widmen zu können, verursachte wohl auch letztlich sei-nen Tod.

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Literarisches LebenLiterarische Werke

Chronologisches Verzeichnis literarischer Werke

Die nachfolgende Chronik versucht die wichtigsten Daten vonden für den behandelten Zeitraum literarischen Werken zu ver-zeichnen, die einerseits repräsentativ für den behandelten Zeit-raum, andererseits relevant für Geselligkeitund die den ausge-wählten Personenkreis der Romantiker sind.

1793 Ludwig Tieck, Shakespeares Behandlung desWunderbaren

1795 Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehungdes Menschen, in einer Reihe von BriefenAugust Wilhelm Schlegel, Übersetzung von Dan-tes Hölle

1795-1796 Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm MeistersLehrjahreFriedrich Schiller, Über naive und sentimentali-sche DichtungLudwig Tieck, Die Geschichte des Herrn WilliamLovell

1796 Friedrich Schiller, Johann Wolfgang Goethe,XenienWilhelm Heinrich Wackenroder, Herzenser-gießungen eines kunstliebenden KlosterbrudersAugust Wilhelm Schlegel, Etwas über WilliamShakespeare bei Gelegenheit des Wilhelm Mei-sters

1796-1797 Friedrich Schlegel, Rezensionen von SchillersMusenalmanach und der Zeitschrift Die Horen

1797 Ludwig Tieck, Volksmärchen herausgegeben vonPeter LeberechtAugust Wilhelm Schlegel, Über ShakespearesRomeo und Julia

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Literarisches Leben Literarische Werke

1797-1799 Hölderlin, Hyperion1797-1801, 1810 August Wilhelm Schlegel, Shakespeare-

Übersetzungen1798 Friedrich von Hardenberg gen. Novalis,

BlüthenstaubFriedrich Schlegel, AthenäumsfragmenteLudwig Tieck, Frank Sternbalds Wanderun-genAugust Wilhelm Schlegel, Dorothea Men-delssohn-Veit-Schlegel, Die Gemälde

1799 Friedrich von Hardenberg gen. Novalis, DieChristenheit oder EuropaFriedrich Schlegel, LucindeFriedrich Schleiermacher, Über die Religi-on. Reden an die Gebildeten unter ihren Ver-ächternLudwig Tieck, Übersetzung von CervantesDon Quixote

1800 Friedrich von Hardenberg gen. Novalis,Hymnen an die NachtLudwig Tieck, Leben und Tod der heiligenGenoveva

1801 Friedrich Schleiermacher, Vertraute Briefeüber Schlegels LucindeDorothea Schlegel, Florentin. Ein RomanJean Paul, Titan

1801-1804 August Wilhelm Schlegel, Vorlesungen überschöne Literatur und Kunst

1802 Friedrich von Hardenberg gen. Novalis,Heinrich von OfterdingenAugust von Kotzebue, Die deutschen Klein-städter

1803 Heinrich von Kleist, Familie Schroffenstein1804 Karoline von Günderode, Gedichte und

Phantasien

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Literarisches LebenLiterarische Werke

1805-1808 Achim von Arnim, Clemens Brentano, Des Kna-ben Wunderhorn

1808 Johann Wolfgang Goethe, Faust. Der Tragödieerster Teil

1808 Alexander von Humboldt, Ansichten der NaturAugust Wilhelm Schlegel, Vorlesungen über dra-matische Kunst und LiteraturGotthilf Heinrich Schubert, Ansichten von derNachtseite der Naturwissenschaft

1809 Johann Wolfgang Goethe, Die Wahlverwandt-schaften

1810 Johann Wolfgang Goethe, Zur Farbenlehre1812-1815 Jacob und Wilhelm Grimm, Kinder- und Haus-

märchen1812-1816 Ludwig Tieck, Phantasus1817 Achim von Arnim, Die Kronenwächter1821 Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters

Wanderjahre oder Die Entsagenden

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Literarisches LebenLiteraturverzeichnis

Literaturver zeichnis

In den Literaturverweisen und Quellenangaben verwendeteKurzbezeichnungen und Siglen:

KFSA Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. vonErnst Behler. Paderborn u.a..1958 ff.

KGA V.1-5 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. KritischeGesamtausgabe. Fünfte Abteilung: Briefwechselund biographische Dokumente. Bd. 1-5. Hg. v.Andreas Arndt u. Wolfgang Virmond. Berlin u. a.1985-1999.

NS 2 Novalis: Schriften. Zweiter Band: Das philoso-phische Werk. Hg. von Richard Samuel inZusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl u. Ger-hard Schulz. Stuttgart 31981.

NS 4 Novalis: Schriften. Vierter Band: Tagebücher,Briefwechsel, Zeitgenössische Zeugnisse. Hg.von Richard Samuel in Zusammenarbeit mitHans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Stutt-gart 21975.

Allgemeine weiterführende Literatur

Behler, Ernst: Frühromantik. Berlin u.a. 1992.Berg, Christa (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. München 1987-1996

(Bd. 1: 15.-17. Jahrhundert: Von der Renaissance und der Reformation bis zumEnde der Glaubenskämpfe. Hg. v. Notker Hammerstein. Unter Mitw. von AugustBuck. 1996; Bd. 2: 18. Jahrhundert. 1996; Bd. 3: 1800-1870: Von der NeuordnungDeutschlands bis zur Gründung des Deutschen Reiches. Hg. v. Karl-Ernst Jeis-mann. 1987; Bd. 4: 1870-1918, von der Reichsgründung bis zum Ende des ErstenWeltkriegs. Hg. v. Christa Berg. 1991).

Busch-Salmen, Gabriele, Walter Salmen, Christoph Michel: Der Weimarer Musenhof.Dichtung, Musik und Tanz, Gartenkunst, Geselligkeit, Malerei. Stuttgart, Weimar1998.

Fauser, Markus: Das Gespräch im 18. Jahrhundert. Rhetorik und Geselligkeit inDeutschland. Stuttgart 1991.

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Literarisches Leben Literaturverzeichnis

Gaus, Detlef: Geselligkeit und Gesellige. Bildung, Bürgertum und bildungsbürgerlicheKultur um 1800. Stuttgart, Weimar 1998.

Kremer, Detlef: Romantik. Stuttgart, Weimar 22003.Patze, Hans (Hg.): Geschichte Thüringens. 6 Bde. Köln 1967-1984 (MitteldeutscheForschungen 48).

Pikulik, Lothar: Frühromantik. Epoche – Werke – Wirkung. München 22000.Schanze, Helmut (Hg.): Romantik-Handbuch. Stuttgart 22003.Weckel, Ulrike u.a. (Hg.): Ordnung, Politik und Geselligkeit der Geschlechter im 18.

Jahrhundert. Göttingen 1998.

„Romantische“ Literatur?

Höltenschmidt, Edith: Die Mittelalter-Rezeption der Brüder Schlegel. Paderborn, Mün-chen, Wien, Zürich 2000.

Körner, Josef: Romantiker und Klassiker. Die Brüder Schlegel in ihren Beziehungen zuSchiller und Goethe. Berlin 1924.

„Angenehme Lectüre“ – Der blonde Eckbert

Günzel, Klaus: König der Romantik. Das Leben des Dichters Ludwig Tieck in Briefen,Selbstzeugnissen und Berichten. Tübingen 1981.

Haupt, Sabine: „Es kehret alles wieder“. Zur Poetik literarischer Wiederholungen in derdeutschen Romantik und Restaurationszeit: Tieck, Hoffmann, Eichendorff. Würz-burg 2002.

Klett, Dwight A.: Tieck-Rezeption. Das Bild Ludwig Tiecks in den deutschen Literatur-geschichten des 19. Jahrhunderts. Heidelberg 1989.

„Blaue Blume“?

Hecker, Jutta: Das Symbol der Blauen Blume im Zusammenhang mit der Blumensym-bolik der Romantik. Jena 1931.

Jochimsen, Maren: Die Poetisierung der Ökonomie. Novalis’Thesen im Heinrich vonOfterdingen als Anregungen zu einer ökologieorientierten Ökonomie. Stuttgart1994.

Pinnau, Ruth: Novalis' Die „Blaue Blume“. Das poetische Symbol magischer Ver-klärung. Hamburg 2001.

Steiger, Johann Anselm: Die Sehnsucht nach der Nacht. Frühromantik und ChristlicherGlaube bei Novalis (1772-1801). Heidelberg 2003.

Uerlings, Herbert (Hg): Novalis und die Wissenschaften. Tübingen 1997.Uerlings, Herbert (Hg.): „Blüthenstaub“. Rezeption und Wirkung des Werkes von Nova-

lis. Tübingen 2000.

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Literarisches LebenLiteraturverzeichnis

Lebensentwürfe

Becker-Cantarino, Barbara: Schriftstellerinnen der Romantik. Epoche – Werke – Wir-kung. München 2000.

Dischner, Gisela: Caroline und der Jenaer Kreis. Ein Leben zwischen bürgerlicher Ver-einzelung und romantischer Geselligkeit. Berlin 1979.

Friedrich Schlegel und die Romantik. Berlin 1970. (Zeitschrift für deutsche Philologie88; Sonderheft).

Grosse-Brockhoff, Annelen: Das Konzept des Klassischen bei Friedrich und AugustWilhelm Schlegel. Köln 1981.

Dramatische Lektüre – Shakespeare

Bernays, Michael: Zur Entstehungsgeschichte des Schlegelschen Shakespeare. Leipzig1872.

Gebhardt, Peter: W. Schlegels Shakespeare-Übersetzung. Untersuchungen zu seinemÜbersetzungsverfahren am Beispiel des Hamlet. Göttingen 1970.

Greiner, Norbert: Shakespeare und seine Übersetzer, in: Die Wende von der Aufklärungzur Romantik 1760-1820. Epoche im Überblick. Amsterdam u.a. 2001, S. 613-632.

Koyro, Hans Georg: August Wilhelm Schlegel als Shakespeare-Übersetzer. Der sprach-lich-stilistische Charakter seiner Übertragung, unter besonderer Berücksichtigungvon „Julius Caesar“. Marburg/Lahn: Diss 1967.

Pange, Pauline Comtesse de: August Wilhelm Schlegel und Frau von Staël. Eine schick-salhafte Begegnung. Nach unveröffentlichen Briefen erzählt.. Dt. Ausg. von WillyGrabert. Hamburg 1940.

Schabert, Ina: Shakespeare Handbuch. Die Zeit – Der Mensch – Das Werk – Die Nach-welt. Stuttgart 42000.

Zybura, Marek: Ludwig Tieck als Übersetzer und Herausgeber. Zur frühromantischenIdee einer „deutschen Weltliteratur“. Heidelberg 1994.

„Schöne Perlen...“ – Das Athenaeum

Behler, Ernst: Athenaeum. Die Geschichte einer Zeitschrift, in: Athenaeum. Eine Zeit-schrift. Herausgegeben von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. 3Bde. Berlin 1798-1800. [Reprint:] 3 Bde. Berlin 1969, Bd. 3, S. 1-64.

Wistoff, Andreas: Die deutsche Romantik in der öffentlichen Literaturkritik. Die Rezen-sionen zur Romantik in der „Allgemeinen Literatur-Zeitung“ und der „JenaischenAllgemeinen Literatur-Zeitung“ 1795-1812. Bonn, Berlin 1992.

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Literarisches Leben Literaturverzeichnis

Naturphilosophie

Bach, Thomas: Biologie und Philosophie bei C. F. Kielmeyer und F. W. J. Schelling.Stuttgart-Bad Cannstatt 2001.

Hummel, Adrian (Hrsg.): „Da ist andere Zeit geworden ...“. Eine Anthologie poetologi-scher Entwürfe der deutschen Romantik. München 1994.

Nowak, Kurt: Schleiermacher und die Frühromantik. Eine literaturgeschichtliche Studiezum romantischen Religionsverständnis und Menschenbild am Ende des 18. Jahr-hunderts in Deutschland. Weimar 1986.

Romantische Naturwissenschaft

Gerabek, Werner E.: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und die Medizin der Roman-tik. Studien zu Schellings Würzburger Periode. Frankfurt am Main, Berlin 1995.

Klemm, Friedrich u.a. (Hg.): Briefe eines romantischen Physikers. Johann Wilhelm Rit-ter an Gotthilf Heinrich Schubert und an Karl von Hardenberg. München 1966.

Köchy, Kristian: Ganzheit und Wissenschaft. Das historische Fallbeispiel der romanti-schen Naturforschung, Würzburg 1997.

Köchy, Kristian: Perspektiven der Welt, Vielfalt und Einheit im Weltbild der DeutschenRomantik, in: Philosophia naturalis 33 (1996), 2, S. 317-342.

Lohff, Brigitte: Die Suche nach der Wissenschaftlichkeit der Physiologie in der Zeit derRomantik. Ein Beitrag zur Erkenntnisphilosophie der Medizin. Stuttgart, New York1990.

Meyer-Abich, Adolf (1968): Alexander von Humboldts Philosophie der Natur, geistes-geschichtlich interpretiert und in ihrer Bedeutung für die heutige Naturwissenschaftdargestellt, in: Herbert Kessler, Walter Thoms (Hg.): Die Brüder Humboldt heute.Mannheim 1968, S. 165-218.

Richter, Klaus: Das Leben des Physikers Johann Wilhelm Ritter. Ein Schicksal in derZeit der Romantik. Weimar 2003.

Rössler, Alice (Hg.): Gotthilf Heinrich Schubert. Gedenkschrift zum 200. Geburtstagdes romantischen Naturforschers. Erlangen 1980.

Schrader, Wolfgang H. (Hg.): Fichte und die Romantik – Hölderlin, Schelling, Hegelund die späte Wissenschaftslehre: „200 Jahre Wissenschaftslehre – die PhilosophieJohann Gottlieb Fichtes“. Tagung der Internationalen J.-G.-Fichte-Gesellschaft (26. September – 1. Oktober 1994) in Jena. Amsterdam 1997.

Wetzels, Walter D.: Johann Wilhelm Ritter. Physik im Wirkungsfeld der deutschenRomantik. Berlin 1973.

Kritische Geselligkeit

Müller-Adams, Elisa: „daß die Frau zur Frau redete“ Das Werk der Caroline de la MotteFouqué als Beispiel für weibliche Literaturproduktion der frühen Restaurationszeit.St. Ingbert 2003.

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Literarisches LebenLiteraturverzeichnis

Schöning, Udo, Frank Seemann (Hg.): Madame de Staël und die Internationalität dereuropäischen Romantik. Fallstudien zur interkulturellen Vernetzung. Göttingen2003.

Wehinger, Brunhilde: Conversation um 1800. Salonkultur und literarische Autorschaftbei Germaine de Staël. Berlin 2002.

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AbbildungsverzeichnisLiterarisches Leben

Verzeichnis derAbbildungen

Abb. 1: Shakespeares Dramatische Werke (1797)Abb. 2: Jena und Umgebung um 1800Abb. 3: Titelblatt von Ludwig Tiecks Volksmährchen (1797)Abb. 4: William Shakespeare (1564-1616)Abb. 5: Handschrift aus der Hamlet-Übersetzung von August Wilhelm SchlegelAbb. 6: Vorlesung bei Ludwig TieckAbb. 7: J. F. Reichardt, Das Lied der Elfen (zu Shakespeares, Ein Sommernachts-

traum, übersetzt von August Wilhelm Schlegel, 1797)Abb. 8: Titelblatt des ersten Heftes des AthenaeumAbb. 9: Johann Heinrich Füssli, Der Nachtmahr, 1790/91 (wohl nach einer Szene in

Romeo und Julia, I.4)Abb. 10: August Johann Georg Carl Batsch, Botanik für Frauenzimmer und Pflanzen-

liebhaber, Ausschnitt aus Tafel 2 (SUB Göttingen)Abb. 11: August Johann Georg Carl Batsch, Botanik für Frauenzimmer und Pflanzen-

liebhaber, Tafel 4 (SUB Göttingen)

Ohne Titelunterschriften in der Reihenfolge des Abdrucks im Abschnitt Kurzbiogra-phien:

· August Johann Georg Carl Batsch· Caroline de la Motte Fouqué· Friedrich von Hardenberg gen. Novalis· Johann Wilhelm Ritter· Friedrich Wilhelm Joseph Schelling· August Wilhelm Schlegel· Caroline Schlegel· Dorothea Schlegel· Friedrich Schlegel· Friedrich Schleiermacher· Gotthilf Heinrich Schubert· Heinrich Steffens· Ludwig Tieck· Wilhelm Heinrich Wackenroder

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Literarisches LebenDrucknachweise

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