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654 © Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin. Beton- und Stahlbetonbau 109 (2014), Heft 10 DOI: 10.1002/best.201400054 FACHTHEMA Reinhard Maurer, Philipp Gleich, Konrad Zilch, Daniel Dunkelberg Querkraftversuch an einem Durchlaufträger aus Spannbeton Herrn Professor Dr.-Ing. Dr.-Ing. e.h. Gert König zu seinem 80. Geburtstag gewidmet. 1 Einleitung Bei der Nachrechnung bestehender älterer Spannbeton- brücken auf Grundlage der aktuellen Normen DIN-Fach- bericht 102 bzw. DIN EN 1992-2 ergeben sich im Allge- meinen erhebliche Defizite in Bezug auf die Bewehrung für Querkraft und Torsion. Ursache ist in erster Linie die zwischenzeitlich erfolgte Weiterentwicklung der Nach- weisverfahren. So basiert das Fachwerkmodell nach Euro- code 2 im Wesentlichen auf Querkraftversuchen an Stahl- betonbalken. Die Besonderheiten im Tragverhalten von Spannbetonbalken werden von diesem Modell jedoch nicht vollständig und ausreichend genau erfasst. In diesem Zusammenhang interessiert insbesondere die günstige Tragwirkung des Druckbogens als Betontraganteil, die be- reits anhand einer Nachrechnung von Versuchen an vor- gespannten Einfeldträgern bestätigt wurde [1, 2, 3]. Im Rahmen eines von der BASt beauftragten Forschungs- vorhabens wurde an der TU Dortmund in Kooperation mit Zilch + Müller Ingenieure GmbH ein Großversuch an einem vorgespannten Zweifeldträger [4] mit dem Ziel durchgeführt, das Tragverhalten genauer zu untersuchen, da bislang nur wenige Untersuchungen an vorgespannten Zweifeldträgern bzw. Einfeldträgern mit belastetem Kra- garm bekannt sind [5, 6, 7]. Im Gegensatz zu den Endauf- lagern ist an den Zwischenstützen zusätzlich zur Quer- kraft gleichzeitig ein negatives Biegemoment wirksam, das einen deutlichen Einfluss auf die inneren Kräfte hat. Im Rahmen dieses Großversuchs sollte daher auch der Frage nachgegangen werden, inwieweit auch hier vom Druckbogen als Betontraganteil eine Entlastung der Bü- gelkräfte ausgeht. 2 Großversuch 2.1 Versuchsaufbau und Trägergeometrie Bei der Dimensionierung des Trägers und der Anordnung der Pressen für die Lasteinleitung wurde eine möglichst repräsentative Abbildung der Verhältnisse, wie sie im Brückenbau auftreten, angestrebt: Der Träger weist relativ große Abmessungen auf. Durch die gewählte Anordnung der Einzellasten (Pressen) ist eine direkte Abstützung als auflagernahe Einzellast (a v /d 2) in das innere Auflager nicht mög- lich. Der Plattenbalken-Versuchsträger mit Spanngliedführung ist in Bild 1 in der Ansicht dargestellt. Im Bereich der Endauflager war der Steg auf 60 cm Breite angevoutet. Die Nachrechnungen bestehender älterer deutscher Spann- betonbrücken auf Grundlage der aktuell gültigen Normen zei- gen im Allgemeinen erhebliche Defizite in Bezug auf die erfor- derliche Querkraftbewehrung in Längsrichtung. Es ist jedoch bisher kein Querkraftversagen eines bestehenden deutschen Brückenbauwerks bekannt. Bis heute gibt es nur sehr wenige Versuche an Spannbetonbal- ken als Durchlaufträger. Um das Tragverhalten durchlaufender Spannbetonbalken eingehender zu untersuchen, wurde im Rahmen eines von der BASt beauftragten Forschungsvorha- bens an der TU Dortmund ein Großversuch an einem vorge- spannten Zweifeldträger durchgeführt. Dabei sollte auch der zusätzliche Traganteil aus einer Druckbogenwirkung genauer betrachtet werden. Zur kontinuierlichen Erfassung der Bean- spruchungen im gesamten Bauteil unter allen Laststufen wurde eine umfassende Messtechnik installiert. Im vorliegenden Beitrag werden der Großversuch und die da- raus gewonnenen wesentlichen Erkenntnisse dargestellt. Zu- dem erfolgen eine Versuchsauswertung auf Basis geltender Normen und ein Vergleich mit dem Druckbogenmodell. Shear testing on a prestressed continuous concrete beam The structural assessment of existing older prestressed con- crete bridges on the basis of current standards often uncovers substantial deficits in terms of the required shear reinforce- ment in the main girders of bridge superstructures. However, shear failures of existing German bridge structures have not been reported so far. Until now, only few tests on prestressed continuous concrete beams have been carried out. In order to investigate the load bearing capacity of such beams more precisely, a large scale experiment was executed at TU Dortmund in the course of a research project funded by the Federal Highway Research In- stitute (BASt). Within this project a particular focus was put on the investigation of the additional shear load bearing capacity caused by the compressive arch effect. Therefore an extensive range of measurement devices was used in the experiment to guarantee the continuous recording of structural behavior and internal forces. In this contribution the large scale experiment as well as the main findings are presented. An interpretation of the test re- sults based on current standards and a comparison with the compressive arch model are carried out.

Querkraftversuch an einem Durchlaufträger aus Spannbeton

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654 © Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin. Beton- und Stahlbetonbau 109 (2014), Heft 10

DOI: 10.1002/best.201400054

FACHTHEMAReinhard Maurer, Philipp Gleich, Konrad Zilch, Daniel Dunkelberg

Querkraftversuch an einem Durchlaufträger aus SpannbetonHerrn Professor Dr.-Ing. Dr.-Ing. e.h. Gert König zu seinem 80. Geburtstag gewidmet.

1 Einleitung

Bei der Nachrechnung bestehender älterer Spannbeton-brücken auf Grundlage der aktuellen Normen DIN-Fach-bericht 102 bzw. DIN EN 1992-2 ergeben sich im Allge-meinen erhebliche Defizite in Bezug auf die Bewehrungfür Querkraft und Torsion. Ursache ist in erster Linie diezwischenzeitlich erfolgte Weiterentwicklung der Nach-weisverfahren. So basiert das Fachwerkmodell nach Euro-code 2 im Wesentlichen auf Querkraftversuchen an Stahl-betonbalken. Die Besonderheiten im Tragverhalten vonSpannbetonbalken werden von diesem Modell jedochnicht vollständig und ausreichend genau erfasst. In diesemZusammenhang interessiert insbesondere die günstigeTragwirkung des Druckbogens als Betontraganteil, die be-reits anhand einer Nachrechnung von Versuchen an vor-gespannten Einfeldträgern bestätigt wurde [1, 2, 3].

Im Rahmen eines von der BASt beauftragten Forschungs-vorhabens wurde an der TU Dortmund in Kooperationmit Zilch + Müller Ingenieure GmbH ein Großversuch aneinem vorgespannten Zweifeldträger [4] mit dem Zieldurchgeführt, das Tragverhalten genauer zu untersuchen,da bislang nur wenige Untersuchungen an vorgespanntenZweifeldträgern bzw. Einfeldträgern mit belastetem Kra-garm bekannt sind [5, 6, 7]. Im Gegensatz zu den Endauf-

lagern ist an den Zwischenstützen zusätzlich zur Quer-kraft gleichzeitig ein negatives Biegemoment wirksam,das einen deutlichen Einfluss auf die inneren Kräfte hat.Im Rahmen dieses Großversuchs sollte daher auch derFrage nachgegangen werden, inwieweit auch hier vomDruckbogen als Betontraganteil eine Entlastung der Bü-gelkräfte ausgeht.

2 Großversuch2.1 Versuchsaufbau und Trägergeometrie

Bei der Dimensionierung des Trägers und der Anordnungder Pressen für die Lasteinleitung wurde eine möglichstrepräsentative Abbildung der Verhältnisse, wie sie imBrückenbau auftreten, angestrebt:

– Der Träger weist relativ große Abmessungen auf.– Durch die gewählte Anordnung der Einzellasten

(Pressen) ist eine direkte Abstützung als auflagernaheEinzellast (av/d ≤ 2) in das innere Auflager nicht mög-lich.

Der Plattenbalken-Versuchsträger mit Spanngliedführungist in Bild 1 in der Ansicht dargestellt. Im Bereich derEndauflager war der Steg auf 60 cm Breite angevoutet.

Die Nachrechnungen bestehender älterer deutscher Spann -betonbrücken auf Grundlage der aktuell gültigen Normen zei-gen im Allgemeinen erhebliche Defizite in Bezug auf die erfor-derliche Querkraftbewehrung in Längsrichtung. Es ist jedochbisher kein Querkraftversagen eines bestehenden deutschenBrückenbauwerks bekannt.Bis heute gibt es nur sehr wenige Versuche an Spannbetonbal-ken als Durchlaufträger. Um das Tragverhalten durchlaufenderSpannbetonbalken eingehender zu untersuchen, wurde imRahmen eines von der BASt beauftragten Forschungsvorha-bens an der TU Dortmund ein Großversuch an einem vorge-spannten Zweifeldträger durchgeführt. Dabei sollte auch derzusätzliche Traganteil aus einer Druckbogenwirkung genauerbetrachtet werden. Zur kontinuierlichen Erfassung der Bean-spruchungen im gesamten Bauteil unter allen Laststufen wurdeeine umfassende Messtechnik installiert.Im vorliegenden Beitrag werden der Großversuch und die da-raus gewonnenen wesentlichen Erkenntnisse dargestellt. Zu-dem erfolgen eine Versuchsauswertung auf Basis geltenderNormen und ein Vergleich mit dem Druckbogenmodell.

Shear testing on a prestressed continuous concrete beamThe structural assessment of existing older prestressed con-crete bridges on the basis of current standards often uncoverssubstantial deficits in terms of the required shear reinforce-ment in the main girders of bridge superstructures. However,shear failures of existing German bridge structures have notbeen reported so far.Until now, only few tests on prestressed continuous concretebeams have been carried out. In order to investigate the loadbearing capacity of such beams more precisely, a large scaleexperiment was executed at TU Dortmund in the course of aresearch project funded by the Federal Highway Research In-stitute (BASt). Within this project a particular focus was put onthe investigation of the additional shear load bearing capacitycaused by the compressive arch effect. Therefore an extensiverange of measurement devices was used in the experiment toguarantee the continuous recording of structural behavior andinternal forces.In this contribution the large scale experiment as well as themain findings are presented. An interpretation of the test re-sults based on current standards and a comparison with thecompressive arch model are carried out.

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2.2 Betonstahl

Die Quer- und Längsbewehrung des Versuchsträgers istin Bild 2 im Längsschnitt dargestellt. Im Bereich der Last -einleitungen und der Innenstütze wurden Längsbeweh-rungszulagen (∅20 bzw. ∅25) eingelegt.

Bild 3 zeigt schematisch die Bewehrungsanordnung inden Schnitten a und b gem. Bild 1. Die Querkraftbeweh-rung des Versuchsträgers, bestehend aus Bügeln ∅8/20,entsprach der nach DIN-FB  102 geforderten Mindest-querkraftbewehrung für gegliederte Bauteile mit vorge-spanntem Zuggurt bei einer charakteristischen Beton-druckfestigkeit von fck = 35 N/mm2. In einem kurzen Bereich unmittelbar neben der Innenstütze in Feld 2 wur-den jedoch Bügel ∅12/20 verwendet, wodurch ca. diedoppelte Mindestquerkraftbewehrung abgedeckt wurde.

2.3 Spannstahl und Vorspannung

Bild 4 zeigt den Verlauf der zwei girlandenförmigenSpannglieder aus Spannstahl St 1570/1770. Der Zielwertder Vorspannung vor dem Ablassen der Pressen und Ver-

Bild 1 Geometrie des Versuchsträgers mit Spanngliedführung und LasteinleitungGeometry of test beam with inclined tendon and load application

Bild 2 Darstellung der Bewehrung Visualization of reinforcement

Bild 3 Querschnitt in Feld 1 (Schnitt a) bzw. in Feld 2 (Schnitt b) im Bereichneben der InnenstützeCross section in span 1 (section a) respectively span 2 (section b) nextto the inner support

Bild 4 Höhenlage des Spannglieds von Trägerunterkante zur HüllrohrmittePosition of the tendon measured from bottom of the beam to the center of the duct

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ankern der beiden Spannglieder wurde mit σp = 0,6 · fpk =0,6 · 1770 = 1062 N/mm2 (σp m σz = 0,6 · βz) angesetzt.Die mittlere Vorspannung nach dem Ablassen der Pres-sen sollte auf diese Weise etwa dem nach DIN 4227 zu-lässigen Wert in Höhe von 0,55 · βz entsprechen.

2.4 Materialkennwerte

Die ermittelten Kennwerte der verwendeten Baustoffesind in den Tab. 1 bis 3 dokumentiert. Der Versuchsträgerwurde am 21.03.2013 betoniert. Die hier angegeben Materialkennwerte für den Beton wurden am 17.09.2013nach der Beendigung des Großversuchs an Bohrkernenermittelt [4].

2.5 Messtechnik2.5.1 Allgemeines

Bei dem Versuch wurde eine umfangreiche Messtechnikzur kontinuierlichen Erfassung des Tragverhaltens undder Beanspruchungen im Bauteil über alle Laststufen in-stalliert:

– 4 Kraftmessdosen zur Messung der Pressenkräfte undder Auflagerkraft an der Innenstütze

– 244 DMS an Bügelschenkeln– 12 DMS an Längsbewehrungsstäben– 1 Beton-DMS zur Messung der Stauchung des Betons

in der Druckzone an der Innenstütze– 2 induktive Wegaufnehmer zur Messung der Durch-

biegung– 6 induktive Wegaufnehmer zur Messung von Rissbrei-

ten am Balkensteg sowie auf der Oberseite der Gurt-platte in der Achse der Innenstütze

– 1 Messfeld (b/h = 90/65 cm) für optische Messungenzur Erfassung der Rissbildung im Bereich der Innen-stütze

2.5.2 Dehnungsmessstreifen (DMS)

Durch die sehr große Anzahl an DMS konnte das Trag-verhalten des Versuchsträgers detailliert erfasst werden.Eine Darstellung der DMS-Positionen auf den Quer- undLängsbewehrungsstäben liefert Bild 5.

Tab. 1 Kennwerte Betonstahl (Mittelwerte)Reinforcing steel properties (mean values)

Durchmesser fy0,2 ft Es[mm] [N/mm2] [N/mm2] [N/mm2]

∅8 475 514,6 184000

∅12 532 610,9 200750

∅16 554 644,2 205200

∅20 580 671,0 196000

∅25 555 646,6 196000

Tab. 2 Kennwerte Spannstahl (Mittelwerte)Prestressing steel properties (mean values)

Durchmesser fp0,1 fp0,2 fpt Ep[mm] [N/mm2] [N/mm2] [N/mm2] [N/mm2]

∅15,3 1666 1718 1911 199.700

Tab. 3 Kennwerte Beton (Mittelwerte)Concrete properties (mean values)

Zeitpunkt der Ermittlung fc,cyl,100/100 Ecmder Materialkennwerte [N/mm2] [N/mm2]

Nach 2. Belastungsversuch an Bohrkernen mit ∅/H = 100/100 mm 57,0 32.800

Bild 5 Darstellung der DMS-Positionen auf den Bewehrungsstäben (oben: auf Bügelschenkeln; Mitte: auf gegenüberliegenden Bügelschenkeln zum Vergleich; unten: auf Längsbewehrungsstäben)Position of strain gauges on reinforcement bars (top: on stirrup legs; middle: for comparison on opposing stirrup legs; bottom: on longitudinal reinforcementbars)

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2.5.3 Optische Messung

Die optische Messung und die anschließende Auswertungerfolgten in Kooperation mit der Zilch + Müller Ingenieu-re GmbH. In einem lokal begrenzten Bereich des Stegesin Feld 1 nahe der Innenstütze wurde ein optisches Mess-verfahren eingesetzt, welches eine flächenhafte Erfassungdes Riss- und Verformungsverhaltens im Steg ermöglichte(Bild 8 (1)). Das Messfeld umfasste die gesamte Steghöhevon 65 cm und hatte in Trägerlängsrichtung eine Längevon ca. 90 cm. Der linke Rand des Messfeldes befand sichin einem Abstand von ca. 45 cm vom Mittelauflager. Er-gebnisse aus der Vorbemessung des Trägers während derVersuchsplanung und die Vorausberechnung des Trägersdurch numerische Simulationen ließen in diesem Bereicheine ausgeprägte (Biegeschub-)Rissbildung und ein Ver -sagen des Trägers durch Fließen der Bügelbewehrung er-warten.

2.6 Versuchsablauf

Die experimentellen Untersuchungen zur Querkrafttrag-fähigkeit des vorgespannten Zweifeldträgers bestandenaus zwei zeitlich versetzt durchgeführten Belastungsver-suchen. Beim ersten Belastungsversuch zeigten sich uner-wartet hohe Tragfähigkeiten, sodass die auf Grundlageder zuvor rechnerisch abgeschätzten Traglast ausgelegtenPressen nicht ausreichten, um die tatsächliche Bruchlastzu erreichen. Dies machte einen umfangreichen Umbaudes Versuchsstands und den Einbau stärkerer Pressen erforderlich. In einem folgenden zweiten Belastungsver-such wurde der Versuchsträger dann bis zum Versagenbelastet.

3 Versuchsergebnisse

Grundsätzlich ist zu jeder beliebigen Laststufe des Ver-suchs eine Auswertung der Dehnungen aller DMS, derzugehörigen Durchbiegungen, der Auflagerkraft an derInnenstütze sowie beider Pressenkräfte möglich. Die Er-gebnisse der optischen Messung können bis zum Anbrin-gen der zusätzlichen Verstärkung im Bereich des Mess -feldes nach Erreichen der Laststufe 1743 kN kontinuier-lich ausgewertet werden.

3.1 Verformungen

Die Last-Verformungs-Kurve für Feld 1 für beide Belas-tungsversuche ist in Bild 6 dargestellt. In dem Diagrammist der Übergang vom ungerissenen Zustand I in den geris-senen Zustand II ab einer Pressenlast von ca. 700 kN deut-lich zu erkennen. Oberhalb einer Pressenlast von ca.1550 kN steigen die Last-Verformungs-Kurven der weg -geregelten Versuche bedingt durch Rissbildungen säge-zahnartig an.

3.2 Rissverhalten

Die ersten Risse entstanden in den Feldbereichen unterden Lasteinleitungen bei einer Laststufe von ca. 680 kN inForm von Biegerissen. Ab ca. 1000 kN kam es auch überder Innenstütze zur Bildung von Biegerissen. Mit zuneh-mender Belastung entstanden weitere Biegerisse, welchesich im Verlauf des Versuchs zu geneigten Biegeschub -rissen entwickelten. Reine Schubrisse im Steg, die nichtaus Biegerissen entstanden, bildeten sich in der Regelschlagartig und erst ab einer Laststufe von ca. 1550 kN.

Bild 7 zeigt das Rissbild unter der maximal erreichten Lastvon 1890 kN. Die geneigten Biegeschubrisse entwickelten

Bild 6 Last-Verformungs-Kurven für Feld 1Load-deformation curve of span 1

Bild 7 Rissbild bei Laststufe 1890 kN und Rissneigung ausgewählter SchubrisseCrack pattern at load step 1890 kN and crack angle of selected shear cracks

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sich ausgehend von Biegerissen am gezogenen Quer-schnittsrand in den nicht durch die Vorspannung über-drückten Bereichen. In Höhe der schlaffen Bewehrungund/oder des geneigten Spannglieds konnte man ein leich-tes Abflachen der Rissneigung beobachten. In überdrück-ten Trägerbereichen war dieser Effekt, der aus einer hori-zontalen Abstützung der Betondruckstreben auf dieSpannglieder resultiert, nicht festzustellen. Die dort aufge-tretenen reinen Schubrisse verliefen mit konstanter Nei-gung von der oben liegenden Druckzone im Feld zur untenliegenden Druckzone an der Innenstütze.

Im Bereich des Momentennulldurchgangs entstanden inbeiden Feldern in ausgeprägter Form reine Schubrisse,welche nicht von Biegerissen am gezogenen Querschnitts-rand ausgingen.

3.3 Bauteilversagen

Ab der Laststufe 1743 kN konnte die Last in Feld 1, auf-grund des Fließens der gesamten Bügelbewehrung in die-sem Feld, ohne Einbau einer Verstärkung nicht mehr signi-fikant gesteigert werden. Da ein vollständiges Versagen alsFolge des Fließens der Bügelbewehrung ∅8 an der Innen-stütze im schwächer bewehrten Feld 1 (Bilder 1 und 2) zuerwarten war, wurde der Versuchsträger unter dieser Last-stufe mit Traversen und Zugstangen als zusätzliche äußereQuerkraftbewehrung in Feld 1 verstärkt (Bild 8 (1)).

Nach Einbau dieser Verstärkung wurde der 2. Belastungs-versuch mit dem Ziel fortgesetzt, das Tragverhalten desVersuchsträgers im stärker bügelbewehrten Bereich in Feld2 an der Innenstütze genauer zu untersuchen. Das endgül-tige Bauteilversagen trat jedoch bei der Laststufe 1890 kNdurch einen Schubzugbruch in Verbindung mit einemplötzlichen Versagen der Druckzone unter der Lasteinlei-tung in Feld 1 ein (Bild 8 (2)).

Der Versagensriss hatte dabei seinen Ursprung am Endeder Feldzulagebewehrung 3∅20 und verlief demgemäßunter einer Rissneigung von ca. βr = 30° in Richtung derLasteinleitung. Dadurch kreuzte dieser Riss insgesamt6 Bügel (12 Stäbe ∅8), welche unter den zunehmendenDehnungen schließlich durch Reißen versagten. Dies führ-

te in der Folge zum schlagartigen Bruch der Biegedruck -zone.

Die Ursache des Versagens war das Erreichen der Streck-grenze fy in den Bügeln (Stahlversagen). Da der Stahl erstbei sehr großen Dehnungen reißt, erfolgte der Bruch derDruckzone durch das Vordringen des immer weiter auf-klaffenden Schubrisses letztlich infolge einer Überschrei-tung der Druckfestigkeit des Betons. Das Fließen der unte-ren Längsbewehrung aus Betonstahl am Ende der Zulagenwirkte sich hierbei zusätzlich ungünstig aus.

3.4 Ergebnisse aus den optischen Messungen3.4.1 Rissbildung

Die folgenden Darstellungen aus der Auswertung der opti-schen Messung zeigen die sog. „Hauptformänderungen“im Messfeld, jeweils bezogen auf die in der Referenzstufe(unbelasteter Träger) vorhandene Geometrie. Dort, wo Ris-se entstehen, werden hohe Hauptformänderungen gemes-sen. Die Ergebnisse können also als Rissbilder interpretiertwerden.

Bis zur Laststufe 1000 kN hatten sich im Messfeld nochkeine nennenswerten Risse gebildet. Erste Biegeschubrisse,die sich aus Biegerissen in der Platte entwickelt hatten undschräg in Richtung des Mittelauflagers verliefen, waren imMessfeld ab der Laststufe 1200 kN deutlich sichtbar. In derLaststufe 1541 kN (Bild 9) am Ende des ersten Teilver-suchs war die Biegeschubrissbildung weitestgehend abge-schlossen. Auch bei weiteren Laststeigerungen im zweitenTeilversuch entstanden keine neuen Biegeschubrisse mehr.Man kann erkennen, dass sich im rechten oberen Bereichdes Messfeldes die Entstehung von Schubrissen andeutet.Diese weisen keine Verbindungen zum oberen Messfeld-rand auf und können damit nicht als sich ausweitende Biegerisse der Platte eingeordnet werden.

Bild 10 zeigt den Zustand bei Erreichen der Laststufe1743 kN. In der rechten unteren Ecke des Messfeldes istdas linke Ende eines Schubrisses zu erkennen, der sichschlagartig bei einer Belastung von ca. 1580 kN im zweitenVersuch gebildet hat (vgl. auch Bild 7). Darüber hinauskann man erkennen, dass sich die schon in Laststufe

Bild 8 (1) Vollständiges Fließen der Bügelbewehrung und Anbringung einer Verstärkung bei Laststufe 1743 kN; (2) Schubzugbruch bei Laststufe 1890 kN(1) Yielding of the entire shear reinforcement and mounting of strengthening at load step 1743 kN; (2) Shear failure at load step 1890 kN

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1541 kN (Bild 9) feststellbaren Schubrisse im rechten obe-ren Bereich des Messfeldes weiter aufgeweitet haben. Bild11 zeigt den Zustand unmittelbar nach Erreichen der Last-stufe 1743 kN. Aus den lokalen Schubrissen haben sichschlagartig zwei weit geöffnete, über annähernd den ge-samten Steg durchlaufende, schräge Schubrisse gebildet.Die Pressenkraft in Feld 1 ist infolge der Rissbildung auf1727 kN abgefallen.

Durch die optische Messung konnte der zeitliche und ört -liche Ablauf der Rissbildung im Messfeld sehr gut nachvoll-zogen werden. Die beobachteten Rissneigungen der Biege-schubrisse liegen im Bereich von 25° bis 40°, während dieSchubrisse im Mittel eine flachere Neigung von ca. 20° auf-weisen.

3.4.2 Rissbreite und Rissgleitung

Eine wesentliche Fragestellung im Rahmen des vorliegen-den Projekts war, ob und in welcher Größenordnung einTeil der Querkraft infolge Rissverzahnung über geneigteRisse übertragen werden kann, bzw. welche gegenseitigenRissuferbewegungen sich einstellen. In der Literatur findensich zahlreiche Arbeiten zur Beziehung zwischen Rissöff-nung, Rissgleitung und im Riss vorhandener Schubspan-nung für Risse mit und ohne kreuzende Bewehrung, diezur Quantifizierung des Querkrafttraganteils infolge Riss-verzahnung herangezogen werden. Beispielhaft sei hier dieDissertation von WALRAVEN [8] genannt, dessen Über -legungen zu Rissöffnungs-Schubspannungs-Beziehungenauch in die Modified Compression Field Theory eingegan-gen sind, welche heute eine Grundlage der Querkraftbe-messung des Model Code 2010 bildet.

Im Rahmen der durchgeführten Untersuchungen wurdenan 17 ausgewählten Stellen an zwei Biegeschubrissen undzwei Schubrissen die im Laufe der beiden Versuche vor-handenen Rissöffnungen und Rissgleitungen bestimmt. Ei-ne Übersicht der Auswertestellen ist in Bild 12 gegeben.Die vollständigen Auswertergebnisse können [4] entnom-men werden. Bild 13 zeigt exemplarisch den Rissöffnungs-pfad für einen Biegeschubriss (Auswertstelle I-3). Es zeigtesich, dass an dieser Stelle zu Beginn der Rissbildung nursehr geringe Rissgleitungen stattfanden. Dies bedeutet,dass sich der beobachtete Riss zunächst nur senkrecht zur

Bild 9 Rissbild aus der optischen Messung in Laststufe 1541 kN (Ende 1. Teil-versuch)Crack pattern from optical measurements in load step 1541 kN (end ofload test 1)

Bild 10 Rissbild aus der optischen Messung in Laststufe 1743 kN kurz vor derschlagartigen Bildung zweier SchubrisseCrack pattern from optical measurements in load step 1743 kN imme -diately before sudden formation of 2 shear cracks

Bild 11 Rissbild aus der optischen Messung in Laststufe 1727 kN nach Abfallder Last infolge der schlagartigen Bildung zweier SchubrisseCrack pattern from optical measurements in load step 1727 kN afterload drop due to sudden formation of 2 shear cracks

Bild 12 Bezeichnung und Lage der Auswertestellen mit zugehörigen Riss -winkeln βR im MessfeldDenomination and location of positions for evaluation of crack displacement and corresponding crack angles βR in the optical meas-uring field

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Rissrichtung öffnete. Dieses Verhalten konnte sowohl fürdie Biegeschubrisse wie auch die reinen Schubrisse imMessfeld beobachtet werden. Ein ähnliches Verhalten wirdin [9] beschrieben.

Ein nennenswerter Anstieg der Gleitung mit zunehmenderRissbreite konnte an keiner Auswertestelle beobachtetwerden. Es werden in keinem der Risse im Messfeld Ver-hältnisse von Rissöffnung zu Rissgleitung erreicht, die aufdas Entstehen von größeren Schubspannungen infolgeRissreibung gemäß [8] schließen lassen. Da die Risse im op-tischen Messfeld jedoch nicht die höchsten am Träger ge-messenen Rissbreiten aufweisen, ist zu vermuten, dass,wenn eine weitere Öffnung der Risse im Messfeld erfolgtwäre, auch die Gleitungen weiter angestiegen wären. ROD-RIGUEZ und MUTTONI beschreiben in [9], dass die Gleitun-gen in Biegeschubrissen erst stark zunehmen, wenn dieden Riss kreuzende Längsbewehrung ins Fließen gerät.Die Ergebnisse der Dehnungsmessung auf der oberenLängsbewehrung zeigen aber, dass dies bei den Biege-schubrissen I und II am Ende des 1. Teilversuchs von Be-lastungsversuch 2 noch nicht der Fall war. Die Risse im op-tischen Messfeld stellen also vermutlich keine kritischenRisse im Grenzzustand der Tragfähigkeit dar.

3.4.3 Erkenntnisse

Die beobachteten Risse passen sich sehr gut in die im an-grenzenden Trägerbereich händisch angezeichneten Risseein. An den insgesamt 17 ausgewerteten Stellen an Biege-schub- und Schubrissen wurden nur geringe Gleitungen inBezug auf die Rissöffnung beobachtet. Anhand dieser Er-gebnisse lassen sich keine hohen Schubspannungen infol-ge einer Rissverzahnung begründen. Es muss jedoch ange-merkt werden, dass in der Literatur große Gleitungenhauptsächlich dann berichtet werden, wenn der betrachte-te Riss erstens den Versagensriss darstellt und zweitens dieBelastung im Bereich der Traglast liegt (vgl. z.B. [9]). Dadie Rissöffnungs- und Rissgleitungsmessungen aus mess-technischen Gründen nur bis zur Laststufe 1743 kN durch-geführt werden konnten, ist nicht auszuschließen, dass es

über die Laststufe 1743 kN hinaus zu einer Zunahme derGleitungen gekommen ist, die auch zur Aktivierung vonSchubspannungen infolge Rissreibung gemäß [8] geführthaben können.

4 Versuchsauswertung4.1 Vergleich der Versuchsergebnisse mit dem

Bemessungsansatz nach DIN EN 1992-2

Der Vergleich mit dem Bemessungsansatz nach DIN EN1992-2 erfolgt in Anlehnung an [10]. Der belastungsabhän-gige Winkel cotθ wird dafür aus der Laststufe 1743 kN be-stimmt [4]. Die für den Versuchsbalken ermittelten Festig-keiten von Beton, Betonstahl und Spannstahl werden mitihren Mittelwerten berücksichtigt.

Die Traganteile VR,s und Vp sowie die Summe der Tragan-teile VR = VR,s + Vp sind in Bild 14 der einwirkenden Quer-kraft |VE| gegenübergestellt. Es zeigt sich, dass bei Ansatzeines konstanten inneren Hebelarms z (aus der Biegebe-messung im Stützquerschnitt) und dem Winkel cotθ für dieLaststufe 1743 kN nur ca. 30–40% der einwirkendenQuerkraft in Feld 1 im Bereich zwischen der Innenstützeund der Lasteinleitung über den Bügeltrag anteil aufgenom-men werden.

Des Weiteren wird deutlich, dass die Querkraftkomponen-te Vp einen erheblichen Traganteil darstellt und in Berei-chen mit großer Spanngliedneigung bis zu 25% der einwir-kenden Querkraft abträgt. Jedoch variiert dieser Traganteilstark in Abhängigkeit von der Spanngliedneigung.

Die gesamte rechnerische Tragfähigkeit VR = VR,s + Vp istin Bild 14 dem Betrag der einwirkenden Querkraft |VE| gegenübergestellt. Es zeigt sich, dass bei der Versuchs -nachrechnung mit dem Bemessungsmodell nach DINEN 1992-2 bei der hier untersuchten Laststufe 1743 kNvor Einbau der Verstärkung die im Versuch festgestellteQuerkrafttragfähigkeit deutlich unterschätzt wird. DasNachweisformat berücksichtigt offensichtlich nicht allemaßgeblichen Traganteile.

Bild 13 Rissöffnungspfad im Riss I an der Stelle I-3Crack opening path at position I-3 of crack I

Bild 14 Gegenüberstellung der einwirkenden Querkraft |VE| und der Querkraft-traganteileComparison of acting shear force |VE| and the shear load bearing capacities

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Die Auswertungen zeigen, dass eine Bemessung nachDIN EN 1992-2 auch unter Verwendung der Mittelwerteder Materialeigenschaften ohne Teilsicherheitsbeiwertefür das untersuchte Bauteil deutlich auf der sicheren Seiteliegt und damit zu einer robusten Auslegung für Neubau-ten führt. Die tatsächliche Querkrafttragfähigkeit kann da-mit rechnerisch nicht nachvollzogen werden, da wesent -liche Traganteile unberücksichtigt bleiben. Für die reali-tätsnahe Bewertung der Tragsicherheit bestehender Bau-werke sind daher weiterführende Verfahren erforderlich.

4.2 Versuchsnachrechnung mit dem Druckbogenmodell4.2.1 Allgemeines

Beim Druckbogenmodell [1, 3] wird dem Fachwerkmodellmit Rissreibung die Tragwirkung eines Betondruckbogensinfolge Vorspannung und kombinierter Beanspruchung ausMoment und Querkraft überlagert. Daraus ergibt sich einzusätzlicher Betontraganteil. Zur vereinfachten Ermittlungdes Druckbogenverlaufs werden längs des Trägers in diskre-ten Schnitten die Dehnungsebenen aus den zugehörigenBiegemomenten bestimmt. Daraus folgen in jedem Schnittdie Druckzonenhöhe x und der Abstand der resultierendenDruckkraft Fc vom oberen Rand, der sich mit den längs desBalkens veränderlichen Biegemomenten ebenfalls ändert.Aus der Verbindungslinie der Druckzonenhöhen x ergibtsich der überdrückte Bereich entlang des Balkens. Entspre-chend ergibt sich aus der Verbindungslinie der Biegedruck-kraftresultierenden Fc der Verlauf des Druckbogens. In denDarstellungen des Druckbogens in den Bildern 15 und 16handelt es sich bei der grau unterlegten Fläche um die über-drückten Querschnittsbereiche.

4.2.2 Gegenüberstellung von Druckbogenverlauf,Rissbildern und Traganteilen

In den nachfolgenden Bildern wird für die Laststufen800 kN und 1200 kN der vereinfacht auf Grundlage derrechnerischen Dehnungsebenen infolge Moment und Nor-malkraft ermittelte Verlauf des Druckbogens den Rissbil-dern und Bügelspannungen gegenübergestellt. Zudem er-folgt eine Berechnung der summierten Querkrafttragantei-le entlang der Balkenachse auch unter Berücksichtigungder Druckbogenwirkung.

Bei der Gegenüberstellung der Traganteile und der einwir-kenden Querkraft in den folgenden Abbildungen handeltes sich bei den Größen Vp bzw. Vcc jeweils um die Quer-kraftkomponente der gegenüber der horizontalen Balken-achse geneigten Spanngliedkraft bzw. der geneigten Kraftim Druckbogen. Bei VR,s handelt es sich um die Summeder Bügelkräfte entlang eines geneigten Schrägschnitts derhorizontalen Länge z · cotθ. Dabei wurde näherungsweisedie Neigung θ der Druckstreben gleich der minimalen be-obachteten Neigung βr der Schubrisse in der betrachtetenLaststufe angesetzt (θ m βr). Der Traganteil infolge derRissreibungskräfte wird zunächst nicht berücksichtigt. AlsRechenwerte der Bügelspannungen im Schrägschnitt wur-

de die im jeweiligen Bügel maximal gemessene Spannungangesetzt.

Laststufe 800 kN (Bild 15)Dieser Belastungszustand ist in etwa mit dem Gebrauchs-zustand bei einer realen Straßenbrücke unter der häufigenbis seltenen Einwirkungskombination vergleichbar. In Be-reichen sind Dekompression und einzelne Biegerisse vor-handen.

Der Versuchsbalken weist senkrecht verlaufende Biegeris-se unmittelbar unter den Lasteinleitungen und über deminneren Auflager auf. Unter dieser Laststufe wurden nursehr kleine Bügelspannungen gemessen. Der Druckbogenverläuft aufgrund der Einzellasten weitgehend in Form ei-nes Sprengwerks.

Unter dieser Laststufe kann die maximale Querkrafttragfä-higkeit ausschließlich mit den Querkraftkomponenten dergeneigten Spanngliedkraft sowie der geneigten Druckbo-genkraft abgebildet werden. Da unter dieser Laststufe na-hezu keine Bügelspannungen gemessen wurden, ist derTraganteil des Fachwerks VR,s = 0.

Gegenüber dem Verlauf der Querkraftbeanspruchung VE

ergeben sich in den D-Bereichen unter den Einzellastenund bei der Auflagerkraft am inneren Auflager V-förmigeEinschnitte bei den überlagerten Traganteilen. In diesenBereichen stellen sich unter den höheren Laststufen die fä-cherartigen Rissbildungen ein. In der Laststufe 800 kNsind hier entsprechend große Hauptzugspannungen σ1 imBeton wirksam.

Laststufe 1200 kN (Bild 16)Die Laststufe liegt um den Faktor 1,5 über der Laststufe800 kN. Sie ist so gesehen etwa einer Belastung, wie sie imrechnerischen Grenzzustand der Tragfähigkeit für die Be-messung zugrunde gelegt wird, vergleichbar und liegt deut-lich unter der Bruchlaststufe.

Im Bereich der Lasteinleitungen und über der Innenstützefinden sich vertikale Biege- und geneigte Biegeschubrisse,wobei die Biegeschubrissbildung in den Feldbereichen aus-geprägter ist.

Die gemessenen Bügelspannungen liegen unterhalb derStreckgrenze und erreichen in den Feldbereichen maxi -male Werte von ca. 400 N/mm². Die maximalen Bügel-spannungen im Bereich der Innenstütze sind auf derschwächer bewehrten Seite rechts von der Innenstütze mitca. 200 N/mm² dagegen nur halb so groß. Auf der stärkerbewehrten Seite links von der Innenstütze sind sie nochdeutlich kleiner.

Die Ausdehnung der Bereiche im gerissenen Zustand IInimmt zu, ebenso die Bereiche, in denen der allein aufGrundlage der rechnerischen Dehnungsebenen infolge derzugehörigen Biegemomente vereinfacht ermittelte Druck-bogen nahezu horizontal verläuft. In diesen Bereichenwird die Querkraft zunehmend auch über eine Fachwerk-

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R. Maurer, P. Gleich, K. Zilch, D. Dunkelberg: Querkraftversuch an einem Durchlaufträger aus Spannbeton

Bild 15 Belastungsversuch 1, Laststufe 800 kN; Darstellung von Rissbild, gemessenen Bügelspannungen, Druckbogenverlauf, Beanspruchung |VE| und summiertenTraganteilen (VR = VR,s + Vp + Vcc)Experiment 1, load step 800 kN; Demonstration of crack pattern, measured strains in stirrups, shape of the compressive arch, loading |VE| and summarizedload bearing capacities (VR = VR,s + Vp + Vcc)

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Bild 16 Belastungsversuch 1, Laststufe 1200 kN; Darstellung von Rissbild, gemessenen Bügelspannungen, Druckbogenverlauf, Beanspruchung |VE| und summiertenTraganteilen (VR = VR,s + Vp + Vcc)Experiment 1, load step; Demonstration of crack pattern, measured strains in stirrups, shape of the compressive arch, loading |VE| and summarized loadbearing capacities (VR = VR,s + Vp + Vcc)

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tragwirkung abgetragen. Der Druckbogen ist in den End-bereichen und im Bereich der Momentennullpunkte ge-neigt. Ein Querkrafttraganteil aus der Druckbogenneigungist daher lediglich in diesen Bereichen gegeben. In Über-einstimmung damit wurden dort keine nennenswerten Bü-gelspannungen gemessen. Der Querkrafttraganteil der Bü-gel auf Grundlage der gemessenen Bügelkräfte ist jedochauch in Bereichen ohne nennenswerte Druckbogennei-gung relativ gering. Die Umlenkung des Betondruckbogensim ungerissenen Bereich vor der Innenstütze ist jedoch nurmöglich, solange die zugehörigen Hauptzugspannungendie Zugfestigkeit des Betons nicht überschreiten.

Bei großen Belastungen bis hin zum Bruchzustand trifftdie Voraussetzung vom Ebenbleiben der Querschnitte alsGrundlage für die vereinfachte Ermittlung des Druckbo-genverlaufs nur infolge der Biegemomente und Normal-kräfte immer weniger zu. Der Druckbogen kann dann zu-treffender mittels nichtlinearer Simulationsberechnungenauf Grundlage der FEM aus dem Hauptdruckspannungs-feld infolge Biegung und Querkraft ermittelt werden. Diesdemonstriert die Gegenüberstellung des für die Laststufe1541 kN vereinfacht ermittelten Druckbogenverlaufs mitden numerisch, mithilfe des Programmsystems ABAQUS,berechneten Hauptdruckspannungstrajektorien (Bild 17).Derartige Untersuchungen sind Gegenstand aktuellerForschung an der TU Dortmund.

5 Zusammenfassung

Der Großversuch liefert aufgrund der umfassenden Beob-achtungen und Messwerterfassungen wertvolle Erkennt-nisse zum Tragverhalten von durchlaufenden Spannbeton-trägern. Zusätzlich konnte eine gut dokumentierte Grund-lage für die Verifizierung von numerischen Rechenmodel-len geschaffen werden.

Die im Versuch beobachteten Neigungen der Schubrisse,die sich im überdrückten Bereich der Momentennullpunk-te unter höheren Lasten schlagartig bildeten, betragen ca.20°–22°. Diese Werte liegen unter der minimal zulässigenDruckstrebenneigung gem. DIN EN 1992-2 + NAD vonca. 30° (cot θ ≤ 1,75). Da der zum minimalen Druckstre-benwinkel θ zugehörige Risswinkel aufgrund der implizi-ten Berücksichtigung von Betontraganteilen durch eineAnpassung des Druckstrebenwinkels sogar noch höher istals 30°, kann die untere Grenze nach Eurocode 2-2 + NADfür den Druckstrebenwinkel als konservativ angesehenwerden.

Nach Bildung der ersten Schubrisse in dem Balkenteil mitMindestquerkraftbewehrung konnte die Belastung bis zumendgültigen Schubzugbruch noch deutlich gesteigert wer-den.

Es zeigte sich, dass bei allen im optischen Messfeld erfass-ten Rissen bis zur Laststufe 1743 kN nur geringe Gleitun-gen in Relation zur Rissöffnung auftraten. Damit lassensich an dieser Stelle keine hohen Spannungen infolge Riss-verzahnung begründen. Es ist aber denkbar, dass es beiRissen außerhalb des optischen Messfelds sowie bei Belas-tungen über die Laststufe 1743 kN hinaus zu einer Zunah-me der Gleitungen gekommen ist, die zur verstärkten Akti-vierung der Rissverzahnungskräfte geführt hat.

Der Druckbogenverlauf kann vereinfacht unter der An-nahme des Ebenbleibens der Querschnitte aus dem Verlaufder zugehörigen Biegemomente ermittelt werden. Diesstellt eine Näherung dar, die in Bereichen mit geneigtenSchubrissen und mit ansteigenden Beanspruchungen zu-nehmend an Gültigkeit verliert. Die Querkrafttragfähigkeitlässt sich mit dieser Näherung für die sehr hohen Laststu-fen bis zum endgültigen Versagen durch den Schubzug-bruch nicht mehr in allen Bereichen längs des Balkens zu-

Bild 17 Laststufe 1541kN; Gegenüberstellung des vereinfacht ermittelten Druckbogenverlaufs infolge M mit numerisch berechneten Hauptdruckspannungstrajek -torien infolge M + VLoad step 1541kN; Comparison of shape of compressive arch from simplified determination based on M and principal compressive stress trajectories fromnumerical simulation resulting from M +V

Druckbogenverlauf nach vereinfachter Berechnung (zug. ME und Ebenbleiben der Querschnitte) sowie Fächer der Druckstreben über der InnenstützeCompressive arch based on simplified determination (consideration of corresponding ME and assumption plane sections remain plane) and fan-shaped struts at inner support

Numerisch berechneter Verlauf der HauptdruckspannungstrajektorienPrincipal compressive stress trajectories from numerical simulation

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Literatur

[1] KIZILTAN, H.: Zum Einfluss des Druckbogens auf denSchubwiderstand von Spannbetonbalken. Dissertation TUDortmund, Schriftenreihe Betonbau, 2012.

[2] MAURER, R.; ZILCH, K.; KIZILTAN, H.; DUNKELBERG, D.; FITIK, B.: Untersuchungen zur Querkraftbemessung vonSpannbetonbalken mit girlandenförmiger Spanngliedfüh-rung. Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Brü-cken- und Ingenieurbau, Heft B 79, 2011.

[3] MAURER, R.; KIZILTAN, H.: Zum Einfluss des Druckbogensauf den Querkraftwiderstand von Spannbetonbalken. Bau-ingenieur, Band 88, Heft 4, S. 165–176, April 2013.

[4] MAURER, R.; ZILCH, K.; GLEICH, P.; HEEKE, G.; DUNKEL-BERG, D.: Untersuchungen zur Querkrafttragfähigkeit an einem vorgespannten Zweifeldträger. Schlussbericht FE89.0264/2011 im Auftrag der BASt, Veröffentlichung inVorbereitung.

[5] HEGGER, J.; HERBRAND, M.: Einfluss einer nachträglichen ex-ternen Vorspannung in Längsrichtung auf die Querkrafttrag-fähigkeit bestehender Spannbetonbrücken. Schlussbericht fürdie Bundesanstalt für Straßenwesen, Projekt-Nr. FE 15.0498/2010/FRB, Bericht-Nr. IMB 317/2013, Aachen 2013.

[6] HERBRAND, M.; HEGGER, J.: Experimentelle Untersuchun-gen zum Einfluss einer externen Vorspannung auf die Quer-krafttragfähigkeit vorgespannter Durchlaufträger. Bauinge-nieur, Band 88, Heft 12, S. 509–517, Dezember 2013.

[7] RUPF, M.; FERNÁNDEZ RUIZ, M.; MUTTONI, A.: Post-ten-sioned girders with low amounts of shear reinforcement:Shear strength and influence of flanges. Engineering Struc-tures 56 (2013), pp. 357–371.

[8] WALRAVEN, J. C.: Aggregate Interlock: A theoretical and ex-perimental analysis. Dissertation, Technische UniversitätDelft, 1980.

[9] RODRIGUEZ, R.V.; MUTTONI, A.; FERNÁNDEZ RUIZ, M.: Influ-ence of Shear on Rotation Capacity of Reinforced ConcreteMembers Without Shear Reinforcement. ACI Structural Jour-nal, V. 107, No. 5, September-October 2010, pp. 516–525.

[10] REINECK, K.-H.; KUCHMA, D.; FITIK, B.: Erweiterte Daten-banken zur Überprüfung der Querkraftbemessung für Kon-struktionsbauteile mit und ohne Bügel. DAfStb Heft 597, 1.Auflage 2012.

Autoren

Dipl.-Ing. Philipp GleichTechnische Universität DortmundLehrstuhl BetonbauAugust-Schmidt-Straße 844227 [email protected]

Prof. Dr.-Ing Reinhard MaurerTechnische Universität DortmundLehrstuhl BetonbauAugust-Schmidt-Straße 844227 [email protected]

Prof. Dr.-Ing. Dr.-Ing. E.h. Konrad ZilchZilch + Müller Ingenieure GmbHErika-Mann-Straße 6380636 Mü[email protected]

Dipl.-Ing. Daniel DunkelbergZilch + Müller Ingenieure GmbHErika-Mann-Straße 6380636 Mü[email protected]

treffend abbilden. Der Druckbogen kann unter den sehrhohen Laststufen zutreffender mit der nichtlinearen FEMaus dem Feld der Hauptdruckspannungen infolge M + Vermittelt werden.

Im Versuch wurde erwartungsgemäß beobachtet, dasssich die geneigten Druckstreben im Steg in den über-drückten Bereichen nicht horizontal auf die die Rissekreuzenden Spannglieder abstützen. Infolgedessen än-dert sich die Neigung der Schubrisse dort nicht. Der An-satz des relativ kleinen inneren Hebelarms z aus der Bie-gebemessung im GZT für das zugehörige Moment ist da-her in diesen Querschnitten nicht zutreffend. Der innereHebelarm z kann in guter Näherung entsprechend derBiegebemessung im GZT für das maximale Moment(Stützmoment) im zugehörigen Querkraftbereich ange-setzt werden.

Der Vergleich mit der gemäß DIN EN 1992-2 ermitteltenQuerkrafttragfähigkeit auf Grundlage des Mittelwertni-

veaus der am Versuchsträger ermittelten Festigkeiten zeigt,dass selbst damit die tatsächliche Querkrafttragfähigkeitdeutlich unterschätzt wird. Ursächlich ist die Vernachlässi-gung wesentlicher Betontraganteile. Dies verdeutlicht dieNotwendigkeit weiterer Forschung.

Dank

Diesem Bericht liegen Teile der im Auftrag des Bundes -ministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur, vertre-ten durch die Bundesanstalt für Straßenwesen, unter FE-Nr. 89.0264/2011 durchgeführten Forschungsarbeit zu-grunde [4]. Die Verantwortung für den Inhalt liegt alleinbei den Autoren.

Wir danken der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt)für die Beauftragung mit dem Forschungsprojekt und demzuständigen Fachbetreuer für die sehr anregenden Diskus-sionen.