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FernUniversit¨ at in Hagen Fakult¨ at f¨ ur Kultur- und Sozialwissenschaften Institut f¨ ur Philosophie Lehrgebiet Philosophie III 58084 Hagen Radikale Entdinglichung. Technische Artefakte in der Akteur-Netzwerk-Theorie und die Reinkarnation von Husserls Krisis Masterarbeit von Krishna Pandit Anschrift: Telefon: Email: Matrikelnummer: Studiengang: MA Philosophie - Philosophie im Europ¨ aischen Kontext Letzter Abgabetermin: 08. 05. 2015 Pr¨ ufer: Prof. Dr. Thomas Bedorf

Radikale Entdinglichung. Technische Artefakte in der ... · FernUniversit at in Hagen Fakult at f ur Kultur- und Sozialwissenschaften Institut f ur Philosophie Lehrgebiet Philosophie

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FernUniversitat in Hagen

Fakultat fur Kultur- und Sozialwissenschaften

Institut fur Philosophie

Lehrgebiet Philosophie III

58084 Hagen

Radikale Entdinglichung. Technische Artefakte inder Akteur-Netzwerk-Theorie und die

Reinkarnation von Husserls Krisis

Masterarbeit

von

Krishna Pandit

Anschrift:

Telefon:

Email:

Matrikelnummer:

Studiengang: MA Philosophie - Philosophie

im Europaischen Kontext

Letzter Abgabetermin: 08. 05. 2015

Prufer: Prof. Dr. Thomas Bedorf

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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung 2

2 Technische Artefakte in der Akteur-Netzwerk-Theorie 9

2.1 Technische Artefakte als Akteure . . . . . . . . . . . . 9

2.2 Was heißt handeln und moralisch

sein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

3 Sind technische Artefakte nie Dinge gewesen? 17

3.1 Dinge und Entdinglichung . . . . . . . . . . . . . . . . 17

3.2 Aufhebung der Dualismen . . . . . . . . . . . . . . . . 23

3.3 Technische Artefakte jenseits der

Dualismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

4 Reinkarnation der Krisis 31

4.1 Selbstverstandnis und Wissenschaftstheorie der Inge-

nieurwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

4.2 Radikale Entdinglichung zeigt

Ausmaß der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

4.3 Konsequenzen der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

5 Ansatze zur Uberwindung der Krise 41

5.1 Vorabend der Revolution? . . . . . . . . . . . . . . . . 41

5.2 Handlungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

5.3 Theaterwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

5.4 Symmetrische Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . 48

5.5 Evolutionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

5.6 Integrativer Pluralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

5.7 Kritischer Vergleich der Ansatze . . . . . . . . . . . . . 53

i

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Inhaltsverzeichnis

6 Schluss 56

Literatur 60

Versicherung 63

1

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Kapitel 1

Einleitung

Man betrachte einen flachen Stein, der im Wald liegt. Ein Mensch

kommt vorbei und fallt mit dem Stein einen Baum. Dann ist dieser

Stein zu einer Axt geworden. Mit diesem Beispiel bringt Kroes das

philosophische Problem, was ein technisches Artefakt ist1, auf den

Punkt. Die Frage ist nun, an welcher Stelle der Stein zu einer Axt

geworden ist. War er schon eine Axt, als er im Wald lag? Ist er ein

technisches Artefakt geworden, als der Mensch die Absicht gefasst

hat, den Stein als Axt zu benutzen? Oder war dazu die tatsachliche

Benutzung erforderlich? An dieser Stelle wird schon deutlich, dass eine

menschliche Handlung beteiligt ist, damit ein Ding, in diesem Fall der

Stein, zu einem technischen Artefakt, in diesem Fall eine Axt, wird. Die

Handlung ist hierbei, dass der Mensch den Stein nimmt um den Zweck

zu erzielen, den Baum zu fallen. Handlungen sind die Grundlage des

Sozialen, d.h. technischen Artefakten haftet etwas Soziales an. Unter

den Untersuchungen uber das Wesen technischer Artefakte unter Einbe-

ziehung sozialer Aspekte, nehmen die Arbeiten von Latour und seinen

Kollegen einen prominenten Platz ein. Es ist das Ziel dieser Arbeit,

folgenden zwei philosophischen Fragestellungen nachzugehen: Erstens,

wie verhalt es sich mit den technischen Artefakten in den Arbeiten

von Latour? Zweitens, welche wissenschaftstheoretischen Implikationen

ergeben sich dabei fur die Ingenieurwissenschaften, wessen Gegenstand

schließlich die Untersuchung technischer Artefakte sind?

Ich mochte zeigen, dass bei rigoroser Weiterverfolgung des Ansatzes

1[8], S. 14.

2

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Kapitel 1. Einleitung

von Latour am Ende das steht, wofur ich den Begriff radikale Entding-

lichung entwickeln werde. Technische Artefakte sind bei Latour in die

Akteur-Netzwerk-Theorie eingebettet. Die Akteur-Netzwerk-Theorie

ist ein vielversprechender Ansatz, denn sie hat den Charme, dass sie ein

universelles, Disziplinen ubergreifendes Modell darstellt. In seinem Text

uber Artefakte2 untersucht Latour technische Artefakte im Kontext

der Akteur-Netzwerk-Theorie. Der entscheidende Punkt dabei ist, dass

menschliche und nicht-menschliche Akteure austauschbar sind. Das

beruhmte Beispiel, dass uns auch in dieser Arbeit begleiten wird, ist

das des Portiers und des Turschließers. Wenn es das Ziel ist, dass eine

Tur geschlossen bleibt, kann dies durch einen Mensch, den Portier, oder

ein technisches Artefakt, den Turschließer, realisiert werden. Hieraus

kann man schließen, dass technische Artefakte handeln konnen. Schließ-

lich lasst sich argumentieren, dass ein Turschließer genauso so wie ein

Portier handelt, wenn die Tur geschlossen oder der Zutritt verwehrt

wird. Dort wo gehandelt wird, ist auch die Moral verortet. Insofern

lohnt eine Untersuchung, was es heißt zu handeln und moralisch zu

sein. Da gibt es verschiedene Ansatze. Es gibt Ansatze, bei denen eine

Handlung nur eine Anderung im Zustand der Welt ist. Mit diesem

Handlungsbegriff konnen technische Artefakte durchaus handeln. Es

gibt aber auch Handlungsbegriffe, bei denen eine Handlungsmotivation

erheblich ist, welche nur von einem Menschen geleistet werden kann.

Wenn man dies zu Grunde legt, konnen technischen Artefakten keine

Handlungen zugestanden werden. Wenn man zulasst, dass Menschen

und technische Artefakte austauschbar sind, dann kommt man zu

der Aufhebung des Dualismus Mensch versus Nicht-Mensch. Dieser

Aspekt wird im Buch von Latour3 ausgefuhrt. Es zeigt sich, dass wenn

man diesen Dualismus aufhebt, man noch weitere Dualismen aufheben

muss, namlich die von Natur versus Kultur, Subjekt versus Objekt

und Handlung versus Verhalten. Dabei landet man bei einer ganzheit-

lichen Ansicht und so kommt es, dass der Untertitel von Latours Buch

”Versuch einer symmetrischen Anthropologie ist“.

Ein Schlusselbegriff ist der des Quasi-Objekts. Quasi-Objekte entste-

2[10].3[11].

3

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Kapitel 1. Einleitung

hen dadurch, dass man das Scheitern betrachtet, dass einem widerfahrt,

wenn man versucht, alle Entitaten der Welt entweder Natur oder Kultur

zuzuordnen, was nach Latour das wesentliche Merkmal der Moderne

ist. Quasi-Objekte stehen zwischen den beiden. Sie haben Aspekte des

Subjekts, denn sie handeln. Sie haben aber auch Aspekte des Objekts,

denn sie werden gehandelt. Kommen wir nun zum Begriff der Ent-

dinglichung. Gesteht man einem technischen Artefakt zu, dass es nicht

nur gehandelt wird, sondern auch handelt, hat man letztendlich eine

Entdinglichung betrieben. Denn man hat dem Ding sein wesentliches

Merkmal eines Dinges geraubt: nicht zu handeln. Nimmt man an, dass

es in der Welt Menschen, Dinge und technische Artefakte gibt und

bezeichnet Menschen als Produkte der Kultur, Dinge als Produkte

der Natur und technische Artefakte als Quasi-Objekte, die zwischen

den beiden stehen, dann hat man eine Entdinglichung der technischen

Artefakte betrieben. Ich stelle die Hypothese auf, dass es ausschließlich

Quasi-Objekte gibt und gehe damit einen Schritt weiter als Latour.

Das ist dann eine radikale Entdinglichung. Es ist nicht so, dass es

die Menge der Dinge gibt, aber die technische Artefakte sind aus der

Menge genommen. Vielmehr ist es so, dass der Begriff Ding obsolet

geworden ist, weil es keine Dinge mehr gibt.

Die nachste Hypothese ist, dass die radikale Entdinglichung die In-

genieurwissenschaften beeinflusst. Dazu ist es erforderlich, zunachst das

Selbstverstandnis und die Wissenschaftstheorie der Ingenieurwissen-

schaften zu untersuchen. Hierzu werden die Arbeiten von Ropohl sowie

Spur herangezogen. Ropohl diagnostiziert eine Krise der Ingenieurwis-

senschaften. Er wirft den Ingenieuren vor, nicht genug und nicht richtig

uber ihr Fach nachzudenken und kritisiert die Ingenieurausbildung.

Er entwirft eine allgemeine Technologie als Wissenschaftstheorie der

Ingenieurwissenschaften. Dabei werden die Ingenieurwissenschaften

nicht als angewandte Naturwissenschaft betrachtet, was eine belieb-

te Sichtweise ist, sondern als ein Zusammenspiel von Sachsystemen

und Handlungssystemen. Spur schlagt in eine ahnliche Kerbe und

fordert, dass die Ingenieurwissenschaften neben der Naturwissenschaft

auch Aspekte der Wirtschafts-, Geistes- und Sozialwissenschaften ein-

beziehen mussen. Beide haben gemeinsam, dass sie die Dualismen,

4

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Kapitel 1. Einleitung

d.h. die Aufteilung der Welt in Natur versus Kultur, Mensch versus

Nicht-Mensch, Subjekt versus Objekt und Handlung versus Verhalten,

zulassen. An dieser Stelle konnte der Einwand kommen, inwiefern es ein

philosophisches Problem ist, wenn sich die Ingenieurwissenschaften in

der Krise befinden. Die Krise ist aber derart, dass nur die Philosophie

den Ingenieurwissenschaften den Weg aus der Krise weisen kann. Dies

kann an einer Analogie erlautert werden. Vor uber 2000 Jahren hat

Demokrit die Theorie entwickelt, dass das Sehen dadurch zu Stande

kommt, dass Gegenstande Atome absondern, welche auf das Auge

treffen. Die Theorie der Lichtwellen war ihm fremd. Man stelle sich

nun eine Welt vor, in der Scharen von Wissenschaftlern mit Demokrits

Theorie ausgebildet sind und Wissenschaft des Sehens betreiben. Diese

Wissenschaftler wurden von alleine nicht darauf kommen, die Theorie

von Wellen, die in unserer vorgestellten Welt von Meeresforschern

angewendet wird, zu berucksichtigen. Es bliebe dann den Philosophen

vorbehalten, den Weg zu weisen, dass eine Theorie des Sehens, dass

die Wellen einbindet, bessere Ergebnisse abwirft. In der gleichen Weise

schlagt Latour den Pfad ein, dass die Ingenieurwissenschaften bessere

Ergebnisse erzielen konnten, wenn sie nicht die sozialen Aspekte ver-

nachlassigen und sie stattdessen in Form der Akteur-Netzwerk-Theorie

einbinden. Ich mochten diesen Pfad - um im Bild zu bleiben - fest

treten. Daher mochte ich anreißen, welche Implikationen sich aus der

radikalen Entdinglichung fur die Ingenieurwissenschaften ergeben.

Meine nachste These ist, dass erst die radikale Entdinglichung

das Ausmaß der Krise zeigt. Um dies zu zeigen, greife ich auf die

Lebenswelttheorie von Husserl zuruck. In seine Krisendiagnose in den

1930er Jahren4 hat er postuliert, dass die Naturwissenschaften sich

immer weiter von der Lebensumwelt entkoppeln. Er zeigt dies am

Beispiel der Mathematik. In der Lebensumwelt gibt es keine idealen

geometrischen Objekte. In der Naturwissenschaft werden die Objekte

der Lebensumwelt durch ideale geometrische Objekte ersetzt, da mit

diesen besser wissenschaftlich gearbeitet werden kann. Hierzu verwendet

Husserl den Begriff der Substruktion. Der Wissenschaftler unterliegt

dann der Versuchung, die Lebensumwelt zu vergessen und nur mit den

4[5].

5

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Kapitel 1. Einleitung

idealisierten Objekten weiter zu arbeiten, und Formeln, beziehungsweise

Spielregeln zu finden, die sich auf die idealisierten Objekte anwenden

lassen. Je weiter dies getrieben wird, desto mehr entkoppelt sich die

Wissenschaft von der Lebensumwelt.

Ich stelle die These auf, dass sich analog dazu die Ingenieurwis-

senschaften von der Lebensumwelt abgekoppelt haben, was als die

Reinkarnation von Husserls Krisis interpretiert werden kann. Husserl

zeigt auch, dass eine Substruktion zwingend notwendig ist, um die

Lebensumwelt objektiv erfahrbar zu machen. Ich postuliere dass die

bisherigen Substruktionen, mit denen Ingenieurwissenschaften betrie-

ben wird, nicht immer optimal sind und schlage neue Substruktionen

vor. Dies kann auch eine als eine Anlehnung an die Arbeit von Kuhn5

gesehen werden. Dort wird der Ansatz verfolgt, dass es immer ein Pa-

radigma gibt, mit dem Wissenschaft betrieben wird und Paradigmen

durch Revolutionen ausgetauscht werden. Die von mir vorgeschlagenen

Substruktionen, beziehungsweise Paradigmen haben alle Eigenschaft,

dass sie von der radikalen Entdinglichung inspiriert sind, d.h. die Dualis-

men nicht voraussetzen. Bei der Untersuchung der Arbeiten von Latour

ergeben sich viele Ansatzpunkte fur neue Substruktionen. Diese werden

gesammelt und beschrieben. Da ist zum einen die Handlungstheorie,

deren nahere Betrachtung durch die Bedeutung von Handlungen in

der Akteur-Netzwerk-Theorie gerechtfertigt ist. Bei der Beschreibung

der Rolle technischer Artefakte in der Akteur-Netzwerk-Theorie greift

Latour auf Begriffe der Theaterwissenschaft zuruck. Dies wirft die

Frage auf, ob nicht die Theaterwissenschaft Methoden liefert, die sich

fur die Ingenieurwissenschaften eignen. Es ist ferner zu untersuchen, ob

die Anthropologie, welche von Latour entwickelt wird, auch Methoden

fur die Ingenieurwissenschaften liefert. Die Aufhebung des Dualismus

Mensch versus Nicht-Mensch inspiriert technische Artefakte mit der

Methode zu untersuchen, mit der die Entwicklung der Menschheit

untersucht wird - der Evolutionstheorie. Bei der Behandlung der Dua-

lismen außert Latour immer wieder eine Skepsis, ob die Reduktion,

die in den heutigen Wissenschaften weit verbreitet ist, eine geeignete

Grundlage fur wissenschaftliches Arbeiten ist. Dieser Aspekt ist auch

5[9].

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Kapitel 1. Einleitung

Kern des integrativen Pluralismus von Mitchell, welcher auch als Me-

thode der Ingenieurwissenschaften betrachtet wird. Nachdem all dies

Methoden untersucht werden, werden sie einem kritischen Vergleich

unterzogen. Zum Abschluss wird ein Fazit gezogen und es werden

Forschungsfragen, die sich aus der Arbeit ergeben, vorgestellt.

Die Entstehung dieser Arbeit fallt in eine Zeit, in der tiefgreifen-

de gesellschaftliche Veranderungen prognostiziert werden, welche die

sogenannte Digitalisierung bringen wird. Hierbei wird oft der Begriff

”Internet der Dinge“ bemuht. Angeblich werden Dinge schlau, wozu

unter gnadenloser Verwendung von Anglizismen Begriffe wie”smart

phone“,”smart home“ oder

”smart fridge“ geschaffen werden. Die

angebliche Schlauheit bezieht sich auf die Fahigkeit der Dinge, mit-

tels Sensoren die Umgebung in irgendeiner Form zu erfassen, und zu

kommunizierten. Glaubt man den Prognosen, werden wir bald von

Milliarden vernetzten Dingen, d.h. technischen Artefakten, umgeben

sein, welche die Art wie wir leben, arbeiten und denken verandern wird.

Umso notiger ist es also, uber das Wesen der technischen Artefakte

nachzudenken.

An dieser Stelle seien folgende Abgrenzungen gemacht. Ein großer

Anteil der Literatur in der Technikphilosophie befasst sich mit ethi-

schen Aspekten. Ich lasse ethische Aspekte allerdings außen vor. Die

Untersuchung technischer Artefakte bei Latour im Kontext von ethi-

schen Aspekten wurde auch eine interessante Arbeit versprechen. Dies

gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Akteur-Netzwerk-

Theorie die Illusion ins Wanken bringt, dass der Mensch die Technik

beherrscht. Hieraus lassen sich sowohl fur die Technikethik als auch fur

die Technikfolgenabschatzung wertvolle Schlusse herleiten. In dieser

Arbeit liegt der Fokus auf dem Wesen der technischen Artefakte, mit

dem Ziel, einen Beitrag zu liefern, der als Grundlage fur Diskussionen

der Technikethik und der Technikfolgenabschatzung dienen kann.

Zweitens, wird auch der Aspekt der radikalen Entmenschlichung,

welche mit der radikalen Entdinglichung einher geht, außen vor ge-

lassen. Stellt man die These auf, dass die Welt ausschließlich von

Quasi-Objekten bevolkert ist, dann hat man auch den Menschen ab-

geschafft. Auch dies bietet das Potenzial fur eine interessante Arbeit.

7

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Kapitel 1. Einleitung

Es konnte ein Handlungsbegriff basierend auf Latour entwickelt wer-

den und in Bezug zum freien Willen gesetzt werden. In dieser Arbeit

geht es allerdings nicht darum, Latour als Handlungstheoretiker zu

verstehen. Das Ansatz dieser Arbeit ist, dass Latour einen Werkzeug-

kasten an Begriffen bereitstellt mit dem untersucht werden soll, ob

man in gewissen Situationen bessere Erklarungen findet, wenn man

diese Begriffe verwendet. Eine Einordnung vom Handlungsbegriff der

Akteur-Netzwerk-Theorie im Kontext der soziologischen Handlungs-

theorien befindet sich im Buch von Miebach, wobei klargestellt ist,

dass sich die Akteur-Netzwerk-Theorie von klassischen Handlungstheo-

rien abgrenzt6. Der damit verbundene Bezug zu den Informations-

und Kommunikationstechnologien ist hinsichtlich des oben erwahnten

”Internet der Dinge“ interessant.

6[15], S. 484:”Mit der symmetrischen Behandlung von menschlichen und nicht-

menschlichen Wesen grenzt sich die Akteur-Netzwerk Theorie (ANT) von demklassischen Handlungsbegriff ab und ist gerustet fur die wachsende gesellschaftlicheBedeutung der Informations- und Kommunikationstechnologie“.

8

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Kapitel 2

Technische Artefakte in der

Akteur-Netzwerk-Theorie

2.1 Technische Artefakte als Akteure

Wo ist die fehlende Masse7? Mit diesem Titel, den Latour fur seine

Abhandlung uber Artefakte benutzt, wird eine Analogie zur Physik

hergestellt. Beobachtungen in physikalischen Experimenten implizier-

ten, dass es im Universum mehr Materie geben muss als sichtbar ist.

Dieses physikalische Ratsel wurde durch Annahme der Existenz soge-

nannter dunkler Materie gelost. Latour postuliert, dass das Scheitern

von soziologischen Theorien durch die Ignoranz von nicht-menschlichen

Akteuren begrundet ist. Diese nicht-menschliche Akteure sind Artefak-

te, die sowohl soziale also moralische Aspekte in sich tragen. Artefakte

sind die dunkle Materie der Soziologie.

Der Begriff Artefakt setzt sich aus den lateinischen Worten arte und

factum zusammen. Arte ist der Ablativ von ars , welches verschiedene

Bedeutungen hat: Geschick, Kunstfertigkeit, Gewandtheit, Kunst und

Wissenschaft. Je nachdem welche der Bedeutungen zu Grunde gelegt

wird, ist ein Artefakt also ein mit-X -gemachtes, wobei fur X jede

der oben genannten Bedeutungen eingesetzt werden kann. Im Duden

ist Artefakt als ein Mit-Geschick-gemachtes beschrieben. Durch die

verschiedenen Bedeutungen des Wortes ars haftet Artefakten etwas

7[10].

9

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Kapitel 2. Technische Artefakte in der Akteur-Netzwerk-Theorie

Kunstlerisches an. Der kunstlerische Aspekt von Artefakten soll in

dieser Arbeit jedoch nicht vertieft werden. Zur Verdeutlichung wird

im Folgenden der Begriff des”technischen Artefakts“ verwendet. Es

wird eine Mittel-Zweck-Interpretation von Technik angenommen, d.h.

ein technisches Artefakt ist etwas, das mit Geschick gemacht wurde,

um damit einen Zweck zu erreichen. Dies deckt sich auch weitgehend

mit dem Artefaktbegriff von Latour. Latour beginnt seine Abhandlung

uber technische Artefakte mit zwei Beispielen von einem Skript. Skript

- anstelle dessen auch die Synonyme Szene, Szenario und Programm ver-

wendet werden - ist ein Schlusselbegriff der Akteur-Netzwerk-Theorie.

Ein Skript ist eine Abfolge von Handlungen. Die Besonderheit ist dabei,

dass die Handlungen von Menschen oder Nicht-Menschen ausgefuhrt

werden. Ein Skript beschreibt also, wie die Akteure innerhalb eines

Netzwerks interagieren. Im ersten Beispiel fuhrt er aus, wie Autos so

konstruiert werden, dass Fahren ohne Sicherheitsgurt nahezu unmoglich

ist. Hierbei wird sowohl auf elektronische Systeme, d.h. der Motor star-

tet nicht wenn der Gurt nicht angelegt ist, als auch auf mechanische

System, d.h. die Tur ist derart mit einem Gurt versehen, dass beim

Schließen der Tur der Gurt angelegt wird, verwiesen. Die Uberlegenheit

solcher Systeme gegenuber einem reinen menschlichen System, d.h.

Kontrollen durch die Polizei, wird impliziert. Fur eine solche Ersetzung

der Losung einer Aufgabe durch eine nachhaltigere Losung wird der

Begriff Ubersetzung definiert8. Latour zieht aus diesem Beispiel den

Schluss, dass technische Artefakte moralische Aspekte in sich tragen,

da die erwahnten Systeme einem Autofahrer durch Verhinderung von

Fahren ohne Sicherheitsgurt die Moglichkeit nehmen,”bose“ zu sein9.

Das zweite Beispiel nimmt einen großeren Raum im Text ein: eine Tur.

Die besagte Tur gibt Einblick in das Zusammenwirken von Arbeitsbe-

ziehungen, Religion, Aufforderungen und Technik in einer belanglosen

Tatsache10. An einem kalten Tag ist die technische Vorrichtung, die ein

automatisches Schließen der Tur sicher stellt, defekt und ein Schild auf

8Die englischen Begriffe hierfur sind displacement, translation, delegation odershifting. Ebd., S. 154.

9Ebd., S. 151 ff.10

”This fusion of labor relations, religion, advertisement, and technique in one

insignificant fact is exactly the sort of thing I want to describe“, [10], S. 153.

10

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Kapitel 2. Technische Artefakte in der Akteur-Netzwerk-Theorie

dem sinngemaß steht, dass die Turschließer streikt und man doch in

Gottes Namen die Tur schließen moge, hangt an der Tur. Latour nutzt

dieses Beispiel unter anderem um die Unterschiede der Delegation zu

Menschen und Nicht-Menschen zu untersuchen11. Ist eine Funktion

erwunscht, wird ein Aktant geschaffen, der diese ausfuhrt, d.h. die

Funktion wird an den Aktanten delegiert. Der Begriff Aktant steht hier

fur einen handelnden Menschen oder eine handelndes Artefakt. In vie-

len Fallen kann eine Funktion durch ein technisches Artefakt oder einen

(oder mehrere) Menschen etwa gleichwertig erledigt werden. Im Beispiel

der Tur kommt der Wunsch nach der Funktion vor, dass die Tur nach

jeder Benutzung geschlossen wird. Diese Funktion kann durch eine

technische Vorrichtung, wie einen hydraulisch gedampften Turschließer

erfolgen, oder durch eine dafur abgeordnete Person, den Portier. Der

Turschließer kann dabei genauso wie ein Portier bestimmte Benutzer

diskriminieren, wie z.B. alte Menschen oder Kinder, die nicht die Kraft

haben, die Tur mit Turschließer zu offnen12. Latour kritisiert, dass in

der Soziologie bei solchen Fragen zu sehr auf eine Unterscheidung zwi-

schen Mensch und Nicht-Mensch fokussiert wird und dabei ubersehen

wird, dass das Denken in den Kategorien Skript, Aktant und Netzwerk

vielversprechender ist. Eine Uberlegung zu Anthromorphismen unter-

streicht diesen Punkt. Eine Notiz an der Tur, der Turschließer wurde

streiken, impliziert ein menschliches Verhalten des Turschließers, wobei

bei die etymologische Analyse des Wortes”streiken“ zu Tage fordert,

dass es ursprunglich aus der Welt des Nicht-Menschlichen stammt.

Letztendlich ist die Funktion entscheidend und nicht ob der Aktant,

dem sie delegiert wird, ein Mensch oder ein technisches Artefakt ist.

Technische Artefakte sind also Aktanten, die zusammen mit anderen

Aktanten ein Netzwerk bilden und in Skripte eingebettet sind. Um

die Soziologie der Artefakte vollstandig zu erfassen, reicht es jedoch

nicht sich auf die Aktanten zu beschranken, denn neben ihnen nehmen

auch die Erschaffer und Benutzer der Skripte eine wichtige Rolle ein.

Hier bemuht Latour eine Analogie zu einem Text13. In einen Text

11[10], S. 155 - 159.12Ebd., S. 159.13[10], S. 160 ff.

11

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Kapitel 2. Technische Artefakte in der Akteur-Netzwerk-Theorie

werden von dem Autor Eigenschaften und Verhaltensmuster des Lesers

praskribiert. Gleichzeitig sind andere Eigenschaften und Verhaltensmus-

ter in den Leser inskribiert. Beim Lesen des Textes treffen diese dann

aufeinander. Der Autor versucht eine gewisse Auffassung, oder sogar

eine Handlung beim Benutzer zu erzeugen. Jedoch kann die Auffassung

vom Leser davon grenzenlos abweichen. Zuruck in der Welt der Arte-

fakte ergibt sich folgende Rollenverteilung. Dort ist der Ingenieur der

Erschaffer und praskribiert seinen gewunschten Benutzer in ein techni-

sches Artefakt. Der Benutzer nutzt das technische Artefakt jedoch nach

seiner Auffassung. Im Beispiel des Turschließers ist der gewunschte

Benutzer einer, der die Tur aufmacht und durchgeht. Es wird nicht

einmal erwartet, dass der Benutzer die Tur hinter sich schließt, dies

ubernimmt der Turschließer. Allerdings muss der Benutzer wegen des

Turschließers etwas mehr Energie beim Aufmachen aufwenden. Nun

kann allerdings der Benutzer, der seine Energie sparen mochte, auf

die Idee kommen, die Tur zu verkeilen, d.h. von dem gewunschten

Verhalten des Artefakterschaffers abweichen. Spinnt man diese Beispiel

weiter, wird schnell deutlich, dass hier ein”Wettrusten“ entstehen

kann. Um das Verkeilen der Tur zu verhindern, kann der Erschaffer

Maßnahmen treffen, wie ein Schild mit Drohungen anzubringen, oder

sogar einen Alarm einbauen der losgeht, falls die Tur eine gewisse

Zeit nicht geschlossen wurde. Dieses Wettrusten ist hinsichtlich der

Ubersetzungen interessant. Latour demonstriert dies mit den Beispielen

eines Verkehrspolizisten und eines Hotelzimmerschlussels. Um Autofah-

rer zu motivieren langsam zu fahren, gibt es verschiedene Moglichkeiten.

Man kann einen Verkehrspolizisten abordnen, oder eine Pappfigur eines

Polizisten aufstellen, oder ein Warnschild aufstellen, oder die Straße

mit einem Hindernis versehen. Bei dem Hotelzimmerschlussel geht es

um die Losung des Problems, dass Hotelgaste ihren Schlussel bei der

Abreise nicht abgeben. Hier sind die Moglichkeiten, die Gaste mundlich

darauf hinzuweisen, einen Aushang zu machen, oder ein Gewicht an

den Schlussel zu hangen. An diesem Beispiel zeigt Latour auch, dass

es zu jedem Programm ein Antiprogramm gibt. Wenn das Programm

ist, dass die Gaste ihren Schlussel zuruckgeben sollen, ist das Antipro-

gramm, dass sie es nicht tun. Die nach der Ubersetzung nachhaltigere

12

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Kapitel 2. Technische Artefakte in der Akteur-Netzwerk-Theorie

Losung provoziert dann aber ein neues Antiprogramm. Dies ist das

Wettrusten - und Latour postuliert dass Gesellschaft und Technologie

eine Gemeinschaft sind, dessen Gegenstand die Frontlinie zwischen

Programm und Antiprogramm ist14. Diese Beispiele unterstreichen

auch, dass die technischen Artefakte nur hinsichtlich ihre Rolle im

Skript erheblich sind. Sie sind austauschbar gegen andere Aktanten,

wobei auch unerheblich ist, ob die substituierten Aktanten technische

Artefakte oder Menschen sind.

Als Nachstes widmen wir uns den neueren Entwicklungen in der

Akteur-Netzwerk-Theorie, welche unter dem Namen Post-Akteur-

Netzwerk-Theorie firmieren. Ein Uberblick wurde 2012 von Sørensen

vorgelegt15. Die Post-Akteur-Netzwerk-Theorie ist aber nicht als disrup-

tive und koharente neue Theorie zu verstehen, sondern beschreibt eine

Ansammlung von kontinuierlichen Weiterentwicklungen der Akteur-

Netzwerk-Theorie. Sørensen greift drei Weiterentwicklungen auf: Raum-

lichkeit, Multiplizitat und Performativitat. Diese zielen allerdings

mehr auf das Netzwerk der Akteur-Netzwerk-Theorie ab, haben aber

auch Auswirkungen auf das Wesen der Aktanten. Unter dem Begriff

Raumlichkeit sind Arbeiten zusammengefasst, in denen argumentiert

wird, dass das Netzwerk, dass durch starre Verbindungen charakterisiert

ist, nicht optimal geeignet ist, manche Phanomene zu erklaren. Daher

wird es durch andere Metaphern ersetzt, die alternative raumliche Bezie-

hungen vorschlagen. Bei der Multiplizitat ruckt der multiple Charakter

von Phanomenen in den Fokus. Die Performativitat widmet sich dem

Gedanken, dass Phanomene immer wieder von den Akteur-Netzwerken

aufs Neue konstruiert werden.

2.2 Was heißt handeln und moralisch

sein?

Die Untersuchung des Begriffes”handeln“ beginnt im Historischen

Worterbuch der Philosophie16.

14Ebd., S. 175.15[21].16Siehe Artikel

”Handeln, Handlung, Tat, Tatigkeit“, S. 10.371 – 10.378 in [17].

13

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Kapitel 2. Technische Artefakte in der Akteur-Netzwerk-Theorie

Handeln, Handlung, Tat, Tatigkeit. Handlung [...] ist die

Umsetzung eines gewollten (oder gesollten) Zweckes in die

Realitat [...]. Nur dem Menschen (als reflektierendem We-

sen) konnen H. und Tat zugeschrieben werden; das Analogon

beim Tier heißt <Verhalten>, in der anorganischen Natur

<Prozeß>. – Anthropologisch besteht ein Bedingungszusam-

menhang von H. und Hand (als der organischen Vorausset-

zung und dem Indiz menschlicher H.-Berufung) [...]

Die Schwierigkeit, den Handlungsbegriff mit der Akteur-Netzwerk-

Theorie zu vereinen, wird sofort deutlich. Schließlich ist eine Handlung

etwas außerst menschliches, da sie Reflexion uber einen gewollten oder

gesollten Zweck voraussetzt. Will man also technischen Artefakten

Handlungen unterstellen, muss entweder der Handlungsbegriff ange-

passt werden, oder einem technischen Artefakt Reflexion unterstellt

werden. Ersteres kann mit Ruckgriff auf Kant erfolgen, der zwischen

innerer und außerer Handlung, d.h. intelligibler Handlungsmotivation

und empirischer Handlungsausfuhrung17 unterscheidet. Die Frage ist

nun, inwiefern technische Artefakte handeln konnen. Nimmt man das

Beispiel des Portiers kann man sagen, dass er jedes Mal, wenn er die

Tur offnet, handelt. Diese Handlung hat nun eben die zwei Aspekte.

Die Analyse, welchen Zweck der Portier mit dem Offnen der Tur ver-

folgt, z.B. um Besucher rein, aber kalte Luft draußen zu lassen, oder

aber um Geld zu verdienen, fallt unter den Aspekt der intelligiblen

Handlungsmotivation. Dieser Aspekt fallt bei Handlungen von tech-

nischen Artefakten eindeutig weg. Anderes verhalt es sich jedoch bei

der empirischen Handlungsausfuhrung. Aus Sicht dieser macht es in

der Tat keinen Unterschied, ob ein Portier die Handlung ausfuhrt oder

technisches Artefakt. Es lauert die Verlockung des Anthromorphismus.

Man ist geneigt, dem Turschließer dieselbe Motivation zu unterstellen

wie dem Portier, der ersetzt wurde. Letztendlich kann also festgehalten

werden, dass man nur dann sagen kann, dass technische Artefakte

handeln, wenn man den Aspekt der Handlungsmotivation außer Acht

lasst.

17S. 10.373-10.374 in [17] und KrV B 566 ff. [7].

14

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Kapitel 2. Technische Artefakte in der Akteur-Netzwerk-Theorie

Ahnlich verhalt es sich mit der Frage nach der Moral technischer

Artefakte. Auch hier wurde Kant nie akzeptieren, dass technische Ar-

tefakte moralisch sind, denn fur ihn ist die entscheidende Frage bei der

Moral die Maxime, die der Handlung zu Grunde liegt18. So handelt

z.B. ein Mensch, der Bedurftige speist, dies aber nur tut, weil er sich

selbst davon einen Vorteil, wie ein hoheres Ansehen, verspricht, nicht

moralisch. Tut er es aber, weil er dies als seine Pflicht betrachtet, ist

dieselbe Handlung nach Kant moralisch. Bei Kant kommt es also nicht

auf Handlungsausfuhrung an, sondern nur auf die Handlungsmotivation.

Nimmt man dieses Theorie als Grundlage, kommt man zu dem Schluss,

dass technische Artefakte nicht moralisch sein konnen, da oben gezeigt

wurde, dass der Aspekt der Handlungsmotivation nicht anwendbar ist.

Demgegenuber stehen ethische Theorien, die auch oder sogar nur die

Handlungsausfuhrung betrachten. Dies trifft auf den Utilitarismus19

zu. Bestimmendes Merkmal des Utilitarismus ist, dass eine Handlung

dann als gut betrachtet wird, wenn diese den optimalen Nutzen fur

die Gesamtheit verursacht, wobei sich verschiedene Stromungen dar-

in unterscheiden, was als optimaler Nutzen zu bezeichnen ist. Die

Handlungsmotivation eines Menschen ist aus Sicht des Utilitarismus

irrelevant. Insofern ist die Einbeziehung technischer Artefakte bei der

Anwendung des Utilitarismus moglich, wenn nicht gar erforderlich.

Betrachten wir erneut die Situation in Latours Beispiel mit der Tur.

Es gibt drei Moglichkeiten: gar keine Tur, eine Tur mit Portier und

eine Tur mit Turschließer. Es ware nun im Sinne des Utilitarismus die

Vor- und Nachteile aller Moglichkeiten abzuwagen. In dieser Abwagung

kommen Heizkosten und Personalkosten vor, aber es ist eben auch ein

Nachteil des Turschließers, dass er alte Menschen und Kinder diskri-

miniert20. Insofern kann man sagen, dass der Turschließer moralisch

ist. Eine Abhandlung uber die Moral von technischen Artefakten ist

bei Winner zu finden [24]. Er zeigt am Beispiel der Brucken in Long

Island, dass diese von einem Architekten so konzipiert wurden, um

18

”Der zweite Satz ist: eine Handlung aus Pflicht hat ihren moralischen Wert

nicht in der Absicht, welche dadurch erreicht werden soll, sondern in der Maxime,nach der sie beschlossen wird.“ [6], S. 400.

19Eine umfassende Einfuhrung in den Utilitarismus wurde von Hoffe [4] verfasst.20Vgl. Fußnote 12.

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Kapitel 2. Technische Artefakte in der Akteur-Netzwerk-Theorie

Busse von der Anfahrt von Stranden auszuschließen und damit die

arme Bevolkerung von diesen Stranden fernzuhalten. Selbst nachdem

der Architekt lange tot ist, diskriminieren nach Winner die Brucken

weiterhin die arme Bevolkerung, genau wie der Turschließers alte

Menschen und Kinder diskriminiert. Der Unterschied ist jedoch, dass

die Diskriminierung beim Turschließers in der Regel ein”Kollateral-

schaden“ ist, wahrend die Brucken von Long Island mit der Absicht

der Diskriminierung konstruiert wurden. Dies ist daher ein plakatives

Beispiel fur inskribierte21 Handlungsmotivation.

21Vgl. Fußnote 13.

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Kapitel 3

Sind technische Artefakte

nie Dinge gewesen?

3.1 Dinge und Entdinglichung

Der Begriff”Ding“ hat viele verschiedene Verwendungen. In der Phi-

losophie sind zwei davon gelaufig. Zum einen ist da das Ding als

Gegenstand der Anschauung. Dies hat insbesondere Kant gepragt mit

dem Begriff des”Ding an sich“ im Gegensatz zur Erscheinung. Dabei

steht ein Ding fur irgendetwas Wahrgenommenes und kann also auch

ein Lebewesen sein. In der anderen Verwendung bezeichnet Ding einen

leblosen Gegenstand. Diese Verwendung ist auch Latour zu finden. Er

teilt die Welt in Menschheit und Nicht-Menschheit auf, wobei letztere

aus Dingen, Objekten, Tieren und einem gesperrten Gott besteht22.

Latour geht nicht auf das Verhaltnis zwischen einem Ding und

einem Objekt ein. Der Begriff des Objektes hat auch eine lange Ge-

schichte in der westlichen Philosophie. Er entstammt dem griechischen

ἀντίκειμενον, welches von Aristoteles als einem Vermogen der Seele Ge-

gensatzliche eingefuhrt wurde23. Kant stellt eine Verbindung zwischen

einem Objekt und einem Ding her. Demnach setzt die Erkenntnis eines

Dinges sowohl ein Objekt als Erscheinung als auch einen Begriff des

22

”Sie vergißt die gleichzeitige Geburt der Nicht-Menschheit: die der Dinge oder

Objekte oder Tiere, und das nicht weniger befremdliche Aufkommen eines aus demSpiel bleibenden gesperrten Gottes“, [11], S. 22. Auf die Rolle der Tiere sowie desgesperrten Gottes wird hier nicht weiter eingegangen.

23Siehe Artikel”Objekt“, S. 23.480 in [17].

17

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Kapitel 3. Sind technische Artefakte nie Dinge gewesen?

Dinges voraus24. Ein Objekt ist also Gegenstand eines Erkenntnisvor-

gangs. Nicht erst seit Kants kopernikanischer Revolution ist nicht nur

dem Erkannten, sondern auch dem Erkennenden eine wesentliche Rolle

im Erkenntnisvorgang zuteil. Das Erkennende wird oftmals als Subjekt

bezeichnet, wobei dies nur eine Verwendung des Begriffes”Subjekt“25

ist, was leider haufig zu Verwirrung fuhrt. Latour benutzt die Begrif-

fe”Subjekt“ und

”Objekt“ zunachst bei der Gegenuberstellung der

Arbeiten von Boyle und Hobbes26. Diese Abschnitte befinden sich im

Kapitel”Konstitution“, in dem Latour die Konstitution der Moderne

beschreibt. Der entscheidende Punkt dabei ist, dass Naturwissenschaft

und Politik als zwei unterschiedliche Spharen betrachtet werden27. So-

wohl Boyle als auch Hobbes haben zum Ziel, die Burgerkriege, die zu

der Zeit wuten, zu beenden, und sind sich auch einig, dass dies erreicht

werden kann, in dem die verfeindeten Lager eine gemeinsame Perspek-

tive entwickeln. Ein Unterschied besteht jedoch darin, wie man zu der

gemeinsamen Perspektive gelangt. Ohne auf die Details einzugehen,

ist fur uns entscheidend, dass der Weg, den Boyle vorschlagt, uber

Dinge geht. Die Meinungsverschiedenheit hinsichtlich der Athertheorie

ist durch Experimente zu losen, d.h. Dinge wie die Vakuumpumpe

oder Quecksilber stehen im Vordergrund. Demgegenuber steht Hobbes

Theorie, die eine Losung der Konflikte allein durch einen Gesellschafts-

vertrag vorsieht, d.h. alles spielt sich in den Kopfen der Menschen ab.

Interessant ist nun, dass Latour dies als Gegensatz zwischen Subjekten

und Objekten formuliert. Dabei ist der Begriff des Objektes relativ

klar. Wenn im Zusammenhang von Boyles Experimenten von Objekten

gesprochen wird, handelt es sich um Gegenstande der Erkenntnis. Eine

Meinungsverschiedenheit ist dadurch zu losen, dass ein Experiment

aufgesetzt wird um zu bestimmen, welche Seite Recht hat. Der Streit,

den Boyle zu losen versucht, ist der, ob es ein Vakuum gibt - und

zwar mit seiner beruhmten Vakuumpumpe. Ganz frei von Subjekten

24Ebd., S. 23.514. Die Primarquelle ist [7], B299.25Fur einen Uberblick sei auf den Artikel

”Subjekt“, S. 40.574 ff. in [17] verwiesen.

26Die wird durch die Abschnittstitel”Boyle und seine Objekte“ sowie

”Hobbes

und seine Subjekte“ - S. 25 ff., beziehungsweise S. 28 ff. in [11] - hervorgehoben.27

”Sobald man diesen symmetrischen Raum skizziert und so das gemeinsame

Abkommen rekonstruiert, das die Gewaltenteilung zwischen naturlichen und politi-schen Machten organisiert, hort man auf, modern zu sein.“, Ebd. S. 22.

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Kapitel 3. Sind technische Artefakte nie Dinge gewesen?

ist Boyles Methode aber nicht, denn schließlich ist neben dem Auf-

setzen des Experiments ein wesentlicher Bestandteil, dass Ehrenleute

das Ergebnis des Experiments bezeugen28. Dagegen ist der Begriff

der Subjekte innerhalb Hobbes Theorie schwieriger. Hobbes will die

Burgerkriege losen, in dem eine konzentrierte Macht geschaffen wird. Er

sieht die Ursache der Burgerkriege darin, dass manche Menschen sich

auf eine hohere Instanz als den Staat berufen - neben den Religionen

gilt dies auch fur die Natur, womit er auf Konfrontation zu Boyle

geht. Die konzentrierte Macht - der Leviathan - wird durch einen Ge-

sellschaftsvertrag konstruiert und vom Volk kontrolliert. Erinnern wir

uns nun, dass Latour dieses Kapitel mit”Hobbes und seine Subjekte“

betitelt hat - das Wort”Subjekt“ kommt in dem Kapitel allerdings

nicht vor - stellt sich die Frage, wer die Hobbeschen Subjekte sind und

welches Wesen sie haben. Man konnte einerseits argumentieren, dass

die Erschaffer des politischen Systems die Subjekte sind, andererseits

aber auch, dass die Menschen, die das politische System dann leben,

die Subjekte sind. In beiden Fallen gilt, dass das politische System

ohne Objekte konstruiert wird. Es gilt auch in beiden Fallen, dass sich

das Wesen der Subjekte nicht auf das erkennende Ich beschrankt. Zwar

spielt die Erkenntnis eine wichtige Rolle29, jedoch mussen die Subjekte,

wer auch immer gemeint ist, auch handeln: die Erschaffer mussen das

politische System etablieren, das Volk muss es leben. Prima facie liegt

hier eine Schieflage vor. Auf der einen Seite steht das Objekt, das nur

etwas Erkanntes ist und auf der anderen Seite steht das Subjekt, das et-

was Erkennendes und etwas Handelndes ist. Um die Symmetrie wieder

herzustellen, muss das Objekt um den Gegensatz des Handeln erwei-

tert werden. Das, was im gleichen Verhaltnis zu Handelndem steht wie

Erkanntes zu Erkennendem, ist das Gehandelte. Alltagssprachlich wird

der Begriff des Gehandelten nur verwendet, wenn handeln im Kontext

des Geschaftetreibens verwendet wird. Inwiefern ist aber Boyles Vaku-

28

”[...] eine aus der Rechtsprechung abgeleitete Metapher: Glaubwurdige, auf-

richtige und unabhangige Zeugen, am Ort des Geschehens versammelt, konnen dieExistenz eines Faktum, the matter of fact, bezeugen [...]“, Ebd., S. 28.

29Latour schreibt hierzu:”Fur Hobbes ist die Macht Erkenntnis, was bedeutet,

dass es nur eine einzige Erkenntnis und nur eine einzige Macht geben darf, willman den Burgerkriegen ein Ende setzen“, Ebd. S. 29.

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Kapitel 3. Sind technische Artefakte nie Dinge gewesen?

umpumpe ein Gehandeltes, und zwar im Sinne von Handeln als der

Umsetzung eines gewollten Zweckes in die Realitat? Die Vakuumpumpe

ist ein Mittel zum Zweck. Sie wird als Requisite der Handlung gewahlt

um einen Zweck, die Auflosung eines Streits, zu erreichen. Das Objekt

ist nicht mehr darauf beschrankt, wie es erkannt wird, sondern auch

in welches - um mit Latour zu sprechen - Skript es eingebunden wird.

Dies lasst sich am einem anderen physikalischen Beispiel verdeutlichen:

dem Teilchen-Welle-Dualismus. Man stelle sich vor, ein Streit daruber

ob Elektronen Teilchen oder Wellen sind, ist mit einem Experiment

zu losen. Je nachdem wie man das Experiment aufsetzt, kommen die

Beobachter zu dem einen oder anderen Schluss. Auch Latour sieht die

Probleme die entstehen, wenn Objekte an Experimenten teilnehmen

und bringt es mit einem Zitat von Bachelard auf den Punkt:”Die

Fakten werden produziert“30. Die Probleme mit Objekten beschranken

sich jedoch nicht auf ihre Rolle als Gehandeltem. Vielmehr ist die Auf-

teilung der Welt in Subjekte und Objekte hochst problematisch. Serres

beschreibt eine Theorie der Quasi-Objekte und benutzt als Beispiel

zur Erlauterung der Subjekt-Objekt Problematik das Ballspiel31. Die

herkommliche Betrachtungsweise eines Ballspiel ist, dass die Spieler die

Subjekte sind, und der Ball das Objekt. Serres schlagt eine alternative

Sichtweise vor, und zwar dass der Ball das Subjekt der Spieler ist. Der

Ball bestimmt die Regeln und die Spieler beugen sich denen. Serres

ist jedoch nicht der einzige, der auf die Subjekt-Objekt Problematik

hinweist. Bei Merleau-Ponty ist das Beispiel des Handedrucks zu finden,

bei dem beide Teilnehmer gleichzeitig die Position des Druckenden

oder Gedrucktem, also des Handelnden und Gehandelten, einnehmen32.

Nach Latour ist unsere Welt von Elementen bevolkert, die nicht in das

Subjekt versus Objekt Schema passen. Er greift die Terminologie von

Serres auf und nennt sie Quasi-Objekte33. Zur Erlauterung greift er dort

allerdings auf ein Beispiel von Levi-Strauss zuruck, den Straßenverkehr,

bei dem Menschen und Autos derart interagieren, dass nicht gesagt

30Ebd., S. 28.31[20], S. 344 ff.32[14].33

”[...] Quasi-Objekte [...] nehmen weder die fur sie in der Verfassung vorgesehene

Position von Dingen ein, noch die von Subjekten.“ [11], S.70.

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Kapitel 3. Sind technische Artefakte nie Dinge gewesen?

werden kann, wer/was Subjekt und wer/was Objekt ist. Als Nachstes

zeigt Latour die Konsequenzen der Ignoranz von Quasi-Objekten auf

die Sozialwissenschaften34. Soziale Objekte wie Gotter, Geld, Mode

und Kunst gelten in den Sozialwissenschaften als Projektionsflachen,

auf die soziale Bedurfnisse abgebildet werden. D.h. die Objekte selbst

sind so schwach, dass sie von Menschen beliebig konstruiert werden

konnen. Auf der anderen Seite gibt es Objekte, die der Wissenschaft

und Technik entspringen und so stark sind, dass sie das Wesen des Men-

schen bestimmen und ihm sogar seinen freien Willen rauben. Hierzu

zahlen insbesondere diejenige Objekte, die biologischen und chemischen

Prozessen zu Grunde liegen. Je nachdem, wie es dem Sozialwissen-

schaftler gerade opportun erscheint, nimmt er die eine oder andere

Sichtweise fur Objekte an. Es gibt eine harte Natur, welche Subjekt der

weichen Gesellschaft ist und eine harte Gesellschaft, welche Subjekt

einer weichen Natur ist. Die”Science Studies“ haben diese Problematik

offen gelegt, da dort die harte Natur und die harte Gesellschaft zusam-

mengebracht wurden. Latour sieht die Einfuhrung der Quasi-Objekte

als Ausweg aus dem Schlamassel35. Die Frage ist nun, in welchem

Verhaltnis Quasi-Objekte zu herkommlichen Subjekten und Objekten

stehen. Von den Subjekten haben die Quasi-Objekte, dass sie handeln.

Aber sie erkennen nicht. Von den Objekten haben die Quasi-Objekte,

dass sie gehandelt werden. Aber sie beschranken sich eben auch nicht

auf das gehandelt werden. Nachdem die Quasi-Objekte eingefuhrt sind,

gibt es nun drei Mengen: die Menge der Subjekte, die Menge der

Objekte und die Menge der Quasi-Objekte. Doch wo verlaufen die

Grenzen zwischen diesen Mengen? Lasst die Theorie der Quasi-Objekte

uberhaupt noch die Existenz von Subjekten und Objekten zu? Diese

Fragen werden von Latour unzureichend beantwortet. Setzen wir auf

Carnap auf, dass ein Begriff”B“ nur dann sinnvoll ist, wenn Merkmale

identifiziert werden konnen, mit denen eindeutig zugeordnet werden

34Ebd., S. 70 - 76.35

”Quasi-Objekte sind sehr viel sozialer, sehr viel fabrizierter, sehr viel kollektiver

als die harten Teile der Natur; aber deswegen sind sie noch lange kein arbitrarerGegenstand fur eine auf sich gestellte Gesellschaft. Andererseits sind sie sehr vielrealer, nicht-menschlicher und objektiver als jene gestaltlose Projektionsflachen,auf welche die Gesellschaft - aus welchen Grunden auch immer - projiziert werdenmusste.“ Ebd., S. 75.

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Kapitel 3. Sind technische Artefakte nie Dinge gewesen?

kann, ob ein Exemplar”a“ ein

”B“ ist36. Die Voraussetzung, dass etwas

ein reines Subjekts ist, ware dass dessen Erkenntnis und Handeln von

keinem Quasi-Objekt beeinflusst ist. Die Voraussetzung, dass etwas ein

reines Objekt ist, ware dass es keine Handlung eines Quasi-Objekts be-

einflusst. Um Subjekte, Objekte und Quasi-Objekte als drei disjunkte

Menge aufrecht zu erhalten, ist es erforderlich, jeweils eine Situation zu

finden, in der etwas als reines Subjekt, beziehungsweise reines Objekt

identifiziert werden kann. Wenn Menschen Ball spielen, ist dies offen-

sichtlich nicht gegeben. Eine vermeintlich einfachere Situation ist der

Stein von Kroes37. Doch auch dort lasst sich nicht aufrecht erhalten,

dann der Mensch, der den Baum fallt, ein reines Subjekt ist, da er

vom Stein gehandelt wird, in dem Sinne dass der Stein den Menschen

dazu bringt, den Baum zu fallen. Auch ist der Stein kein reines Objekt,

da er handelt, in dem er das Fallen des Baum umsetzt. Es wird nicht

gelingen etwas zu finden, dass nicht derart in die Welt eingebettet

ist, dass es ein reines Objekt oder reines Subjekt ware. Alles handelt

und wird behandelt. Die Welt ist ausschließlich von Quasi-Objekten

bevolkert.

Wie oben bereits angedeutet, verwenden Latour und viele andere

die Begriffe Ding und Objekt nahezu synonym. Wenn es nun keine

Objekte mehr gibt, dann gibt es auch keine Dinge mehr.

Kommen wir nun zum Begriff der Entdinglichung. Das Gegenteil

- Verdinglichung - ist in der Philosophie mehrfach thematisiert wor-

den. Verdinglichung bedeutet dass etwas, was eigentlich kein Ding ist,

als Ding betrachtet wird. Eine prominente Anwendung des Begriffs

Verdinglichung ist bei Marx und Lukacs zu finden, die im Kapitalis-

mus die Reduktion des Menschen auf seine Rolle als Arbeitskraft als

Verdinglichung des Menschen betrachten. Auch bei Husserl ist der

Begriff der Verdinglichung zu finden38. Dort wird die Verdinglichung

des Bewusstseins behandelt. Husserl kritisiert, dass suggeriert wird,

dass das Bewusstsein naturwissenschaftlich analysiert werden kann -

ein Punkt den auch Latour bei seiner oben erwahnten Abhandlung

36[3].37Vgl. Fußnote 1.38[5], S. 234.

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Kapitel 3. Sind technische Artefakte nie Dinge gewesen?

uber die Willkurlichkeit harter und weicher Wissenschaften andeutet.

Demgegenuber ist der Begriff der Entdinglichung deutlich seltener zu

finden. Wendet man die analoge Definition an, bedeutet Entdingli-

chung, dass etwas, was eigentlich ein Ding ist, nicht als Ding betrachtet

wird. Das Wesen eines Dinges ist, dass es nicht handelt, sondern nur

behandelt wird. Quasi-Objekte handeln, also sind sie nicht reine Ob-

jekte sind. In Abschnitt 2.1 wurde gezeigt, dass technische Artefakte

handeln, insofern sind auch sie keine reinen Objekte. Ließe sich die

Aufteilung der Welt in die disjunkten Mengen Subjekte, Objekte und

Quasi-Objekte aufrecht erhalten, wurde an dieser Stelle der Schluss

stehen, dass technische Artefakte entdinglicht werden, in dem sie aus

der Menge der Objekte in die Menge der Quasi-Objekte befordert wer-

den. Oben wurde aber begrundet, dass es keine Dinge mehr gibt. Es ist

nicht so, dass einige Elemente aus der Menge der Objekte entdinglicht

werden, sondern die gesamte Gattung Ding wird abgeschafft. D.h. es

vollzieht sich hier eine radikale Entdinglichung.

Die Betrachtung der Welt als ausschließlich von Quasi-Objekten

bevolkert impliziert, dass auch der Mensch ein Quasi-Objekt ist. Diese

radikale Entmenschlichung geht Hand in Hand mit der radikalen Ent-

dinglichung. Die radikale Entmenschlichung bote auch Stoff fur eine

interessante philosophische Untersuchung, bei der Fragen wie freier

Wille behandelt werden konnte. Außerdem ließe sich die Leiblichkeit des

Menschen thematisieren, mit der Frage ob nicht ein Korperteil an sich

ein Quasi-Objekt ist, dass den Menschen behandelt, wobei naturlich

zu klaren ware, was dann ein Mensch uberhaupt noch ist. Diese Fra-

gen seien in meiner Arbeit jedoch auf Kosten der Untersuchung der

technischen Artefakte außen vor gelassen. Bevor wir untersuchen, was

die radikale Entdinglichung fur die technischen Artefakte bedeutet,

betrachten wir die Aufhebung einiger weiterer Dualismen bei Latour,

welche mit der Aufhebung des Subjekt-Objekt Dualismus einher gehen.

3.2 Aufhebung der Dualismen

Die Aufhebung einiger Dualismen, die tief im modernen westlichen

Denken verankert sind, beziehungsweise sogar die Moderne konstitu-

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Kapitel 3. Sind technische Artefakte nie Dinge gewesen?

ieren, ist ein zentrales Anliegen von Latour. Der erste Dualismus ist

im vorangegangenen Abschnitt bei der Einfuhrung der Quasi-Objekte

schon aufgehoben worden, namlich der zwischen Subjekt und Objekt.

Die Dualismen, die bei Latour im Vordergrund stehen, sind Natur ver-

sus Kultur und Mensch versus Nicht-Mensch. Diese beide Dualismen

sind zum einen voneinander abhangig, und zum anderen eng verbunden

mit der Auflosung weiterer Dualismen: Handeln versus Verhalten, Ding

versus Nicht-Ding und eben Subjekt versus Objekt. Damit ist der

Rahmen fur diesen Abschnitt gesteckt.

Der erste aufzuhebende Dualismus ist der zwischen Natur und

Kultur. Die Trennung der Welt ist Natur und Kultur ist fur Latour

eines der wesentlichen Merkmale der Moderne. Die Ungereimtheiten

dieser Trennung lassen an zwei Punkten festmachen. Zum einen ist

es in unserem Alltag durchaus normal, dass Naturwissenschaft, Poli-

tik, Wirtschaft und Religion in einer Erzahlung vermischt werden39.

Zum anderen werden in der Anthropologie selbstverstandlich Naturwis-

senschaft, Politik, Wirtschaft und Religion in einer Arbeit vermischt,

wobei dies immer nur auf andere Kulturen, nicht aber auf die eigene an-

gewendet wird40. Deutlich werden diese beiden Ungereimtheiten durch

die Arbeiten des Anthropologen Marc Auge, der zum einen Lagunen-

bewohner in der Elfenbeinkuste und zum anderen die Pariser Metro

zum Gegenstand seiner Arbeit macht. Wahrend er Erstere mit den

gewohnten Mitteln des Anthropologen untersucht, beschrankt er sich

bei der Pariser Metro auf die Untersuchung von Graffitis. Latour wirft

ihm vor asymmetrisch zu sein, denn ware er symmetrisch, hatte er”das

gesamte soziotechnische Netz der Metro untersucht, ihre Ingenieure und

Fahrer, ihre Direktoren und Kunden, den staatlichen Betreiber, kurz:

den gesamten Laden“41. Latour fuhrt den Begriff des”Kollektivs“42

ein, um eine solche Ansammlung von Aktanten zu beschreiben, die

uber ein Netzwerk miteinander verbunden sind - wobei das Kollektiv

auch Dinge beinhalten kann, was in diesem Beispiel ausgelassen ist.

Schließlich gibt es keine Zweifel daruber, dass die Metro naturwis-

39Latour eroffnet seinen Essay mit dieser Feststellung. [11], S. 7 ff.40Ebd., S. 14.41Ebd., S. 134.42Ebd., S. 10.

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Kapitel 3. Sind technische Artefakte nie Dinge gewesen?

senschaftliche, politische und wirtschaftliche Aspekte beinhaltet, aber

dennoch sind Untersuchungen, die alle diese Aspekte vereinen, in der

wissenschaftlichen Literatur kaum zu finden.

Zunachst seien die Begriffe”Natur“ und

”Kultur“ betrachtet. Der

Begriff”Natur“, welcher vom lateinischen

”nasci“ - geboren werden -

abstammt, hat zwei Bedeutungen. Zum einen kann ein Mensch oder

ein Ding eine Natur haben, so wie die Natur des Menschen sein Hang

zum Philosophieren ist, oder die Natur eines Steins seine Harte ist.

Im Folgenden wird dies als Wesenssinnnatur bezeichnet. Zum anderen

versteht man unter Natur alles Materielle, was nicht von Menschen

geschaffen wurde. Lebewesen haben hierbei allerdings eine besondere

Rolle. Wahrend ein Igel im Wald durchaus als Natur bezeichnet, ist

es unublich, den Hund des Nachbarn und vor allem Menschen als

Natur zu bezeichnen. Im Folgenden wird dies als Materialsinnnatur

bezeichnet. Diese zwei Bedeutungen der Natur sind auch bei Kant zu

finden43. Dabei fallt auf, dass Kant die Natur als die Gesamtheit aller

Dinge beschreibt, d.h. technische Artefakte mit einschließt. Dies stellt

einen Gegensatz zu Aristoteles dar, bei dem τέχνη das Gegenwort zu

Natur ist44.

Der Begriff”Kultur“ hat seine Wurzeln im lateinischen cultura,

Ackerbau. Im Historischen Worterbuch der Philosophie wird der Kul-

turbegriff dahin gehend beschrieben, dass uber die Metapher des bea-

ckerten Geistes und als Gegenstuck zur werklosen Natur bei Pufendorf,

der von Hobbes inspiriert wurde, sich der Kulturbegriff hin zu seiner

modernen Bedeutung entwickelte,”als eine beginnende, sich abwan-

delnde, sich vollendende und auflosende Lebensgestalt und -form von

Nationen, Volkern, Gemeinschaften“45. Die Grundlage jeder Kultur

sind Handlungen, denn sie sind es, die eine Lebensgestalt beziehungs-

weise Lebensform ausmachen. Die Kultur wird dadurch konstituiert,

dass die Mitglieder der Gemeinschaft in bestimmten Situationen in

bestimmter Art handeln. Die Große der Gemeinschaft und die Reich-

weite der Lebensgestalt, von einzelnen bis hin zu allen Aspekten der

43[17], S. 21776 im Artikel”Natur“).

44[17], S. 21760 (im Artikel”Natur“).

45Siehe Artikel”Kultur“, S. 15.381 in [17], dort mit Verweis auf B. Kopp: Beitrag

zur Kulturphilosophie der deutschen Klassik.

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Kapitel 3. Sind technische Artefakte nie Dinge gewesen?

Gemeinschaft konnen variieren. Die Ausschopfung dieser beiden Frei-

heitsgrade lasst viele Verwendungen des Kulturbegriffs zu. So kann

man, wenn man eine große Gemeinschaft und alle ihre Aspekte wahlt,

von der Kultur der Lagunenbewohner der Elfenbeinkuste oder gar

der westlichen Kultur sprechen. Man kann aber auch einen einzelnen

Aspekt in einer kleine Gemeinschaft betrachten und z. B. von der

Diskussionskultur innerhalb einer Familie sprechen. Weitere Verwen-

dungen, die auf die ursprunglichen Bedeutung des Wortes aufbauen,

wie z. B. Bakterienkulturen, sind hier nicht relevant.

Wie im vorherigen Abschnitt bereits angedeutet, ist nach Latour

die Trennung der Welt in Natur und Kultur eines der zwei wesentlichen

Merkmale der Moderne. Es werden zwei ontologische Zonen konstruiert,

jeweils eine fur die Natur, und eine fur die Kultur, und diese beiden

werden dann niemals gemeinsam betrachtet. Jedes Phanomen wird

abhangig vom Zeitgeist einer der beiden Zonen zugeordnet. So werden

nach Latour Okonomie und Biologie der Natur zugeordnet und Religion

und Politik der Kultur. Dieses Konzept, alles entweder der Natur oder

der Kultur zuzuordnen, wird als Reinigung bezeichnet46. Ein weite-

rer Schlusselbegriff ist die Ubersetzung - wobei Vermittlung synonym

verwendet wird - die das Spinnen des Netzwerks, dass die Aktanten

verbindet, beschreibt. Die Trennung der Reinigung und Ubersetzung

stellt das zweite wesentliche Merkmal der Moderne dar47. Latours The-

se ist nun, dass diese Verfassung nicht mehr tragt, und der Grund dafur

ist die Vermehrung der Quasi-Objekte. Ein Merkmal der Moderne ist,

dass diejenigen Gegenstande, die der Natur zugeordnet werden, als

Objekte betrachtet werden, und diejenigen Gegenstande, die der Kultur

zugeordnet werden, als Subjekte. Wenn nun, wie mit der Einfuhrung

der Quasi-Objekte geschehen, der Dualismus Subjekt versus Objekt

aufgelost wird, ist damit auch Natur versus Kultur Dualismus auf-

gelost. Als Nachstes kommen wir zu der Frage, ob Quasi-Objekte

handeln konnen. Die Ergebnisse aus Abschnitt 2.2 bezuglich der Hand-

lungsfahigkeit nicht-menschlicher Wesen lassen sich auf Quasi-Objekte

46[11]. Die erwahnten Beispiele sind auf S. 71 zu finden, das Konzept der Reini-gung wird auf S. 18 ff. eingefuhrt.

47Ebd., S. 18 ff.

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Kapitel 3. Sind technische Artefakte nie Dinge gewesen?

ubertragen. Allerdings ist nachdem wir nun hergeleitet haben, dass

die Welt uberwiegend, wenn nicht ausschließlich von Quasi-Objekten

bevolkert ist, die Unterscheidung zwischen Handlung und Prozess,

welche in dem zitierten Absatz aus dem historischen Worterbuch der

Philosophie definiert wurde, obsolet geworden. Bleibt der Dualismus

Mensch versuch Nicht-Mensch, dessen Auflosung mit der ahnlichen

Argumentation erfolgt, die bereits in Abschnitt 2.1 angewandt wurde.

Um ein Szenario in der Akteur-Netzwerk-Theorie zu untersuchen, ist es

unerheblich ob ein Aktant ein Mensch oder Nicht-Mensch ist, sondern

nur wie der Aktant in das Netzwerk eingebettet ist und im Kollektiv

mit anderen Aktanten handelt. Das Beispiel des Turschließers verdeut-

licht dies. Wenn die Funktion gefragt ist, die Tur nach jeder Benutzung

zu schließen, ist es unerheblich, ob diese Funktion an einen Mensch

oder eine technische Vorrichtung delegiert wird.

Im Zusammenhang mit den Dualismen verwendet Latour den Begriff

des”Pols“. Damit lassen die Dualismen in Relation setzen. Der eine

Pol beinhaltet Natur, Objekt, Nicht-Mensch und Prozess, der andere

Pol beinhaltet Kultur, Subjekt, Mensch und Handlung.

3.3 Technische Artefakte jenseits der

Dualismen

Dieser Abschnitt widmet sich der Frage, was die Auflosung der Dualis-

men fur die technischen Artefakte bedeutet. Beginnen wir damit, das

technische Artefakt, das uns in Kapitel 2 begleitet hat - der Turschließer

- im Kontext der aufgelosten Dualismen aus dem vorherigen Abschnitt

zu betrachten. Der Mensch versus Nicht-Mensch Dualismus ist bereits

thematisiert worden, schließlich nutzt Latour, wie in Abschnitt 2.1

beschrieben, den Turschließer um die Problematik der Mensch versus

Nicht-Mensch Sichtweise zu zeigen. In Abschnitt 2.2 wurde hergeleitet,

unter welchen Umstanden technische Artefakte handeln konnen. Es hat

sich herausgestellt, dass technische Artefakte dann handeln konnen,

wenn ein Handlungsbegriff zu Grunde gelegt wird, der nicht menschliche

Reflexion beinhaltet. Wird der Mensch versus Nicht-Mensch Dualismus

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Kapitel 3. Sind technische Artefakte nie Dinge gewesen?

allerdings aufgelost, ist ein solcher Handlungsbegriff hinfallig und, wie

im vorherigen Abschnitt gezeigt, die Unterscheidung zwischen Hand-

lung, Verhalten und Prozess nicht mehr moglich. D.h. nach Auflosung

der Dualismen besteht kein Zweifel, dass es Handlungen sind, wenn

der Turschließer die Tur vor der Nase schließt oder Alte und Kinder

diskriminiert48. Bei diesen Handlungen ist der Turschließer Subjekt. An-

dererseits ist er, wenn er gebaut oder bedient wird, auch Objekt. Durch

die Auflosung des Subjekt versus Objekt Dualismus, muss er nicht

mehr auf eines beschrankt werden, sondern fallt ins Reich der Quasi-

Objekte. Kommen wir nun zur Betrachtung des Natur versus Kultur

Dualismus. Es ist naheliegend, in welchem Verhaltnis ein Turschließer

zur Natur steht. Er macht sich physikalische Eigenschaften zu Nutze,

die sich auf die Natur zuruckfuhren lassen, sei es ein hydraulisches oder

elektronisches System. Wurde ein Mitglied einer anderen Kultur auf

einen Turschließer stoßen, wusste er damit nichts anzufangen. Dass so

dafur gesorgt wird, dass die Kalte draußen bleibt, dass die Annahme

steht dass die Leute nicht die Disziplin haben, die Tur zu schließen

und dass Alte und Kinder diskriminiert werden, sind die kulturellen

Aspekte des Turschließers. Damit ist der Turschließer gleichzeitig ein

Kulturprodukt.

Der Turschließer ist ein technisches Artefakt, bei dem das zu Grun-

de liegende”Ding“ eine prominente Rolle hat. Das muss nicht bei

jedem technischen Artefakt so sein. Betrachten wir zum Beispiel das

technische Artefakt Internet. Da kann man keine so eindeutige Zu-

ordnung zu physikalische Dingen bestimmen. Zwar ist klar welche

Dinge dem Internet zu Grunde liegen, namlich vereinfacht Rechner und

Verbindungskabel. Diese sind fur sich genommen jeweils technische

Artefakte, aber das Internet ergibt sich nicht aus einer Ansammlung

davon, sondern es ist mehr.

Geht man einen Schritt weiter, sind auch technische Artefakte

vorstellbar, die noch weniger auf physikalischen Dingen beruhen, wie

z.B. Gott und Geld. Zwar sind diese auch nicht ganz von den physi-

kalischen Dingen gelost - Geld basiert auf Papier, Munzen oder etwas

Vergleichbarem - jedoch spielt das Physikalische prima facie beim Geld

48Vgl. Fußnote 12.

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Kapitel 3. Sind technische Artefakte nie Dinge gewesen?

eine geringere Rolle als beim Internet, wo es wiederum prima facie eine

geringere Rolle spielt als beim Turschließer.

Dies ist aber nur prima facie der Fall, denn letztendlich sind alles

Aktanten in Netzwerken. Das Entscheidende bei den Aktanten ist nicht

ihre physikalische Begebenheit, sondern ihre Rolle im Netzwerk.

En passant wird durch Aufhebung der Dualismen auch ein Problem

gelost, dass von Kroes49 beschrieben wurde. Im Wald liegt ein flacher

Stein. Ein Mensch kommt vorbei und fallt mit diesem Stein einen

Baum. Wann ist nun das Ding Stein zum technischen Artefakt Axt

geworden? Mit der Akteur-Netzwerk-Theorie lasst sich sagen, dass der

Stein ein Aktant ist, der vor sich hin schlummert, bis er in ein Skript

eingebunden wird. Es muss es nicht mal ein Mensch sein, der einen

Baum fallt - mit der Akteur-Netzwerk-Theorie jenseits der Dualismen

sind wir begrifflich auch fur den Fall gerustet, dass der Stein seinen

Platz in einem Skript findet, in dem ein Sturm den Stein aufwirbelt

und einen Baum fallt.

Wir haben in Abschnitt 2.1 ein Artefakt als etwas Mit-Geschick-

Gemachtes definiert. Nach der Auflosung der Dualismen gibt es aller-

dings kein Geschick mehr, da Geschick einen Handlungsbegriff voraus-

setzt, der menschliche Reflexion unterstellt, und wir diese Sichtweise

verlassen haben. Wir haben in Abschnitt 3.1 gezeigt, dass es streng

genommen gar keine Dinge mehr gibt, sondern nur noch Quasi-Objekte.

Wenn wir nun die Frage beantworten, ob technische Artefakte nie Dinge

gewesen sind kommen wir zu folgender Antwort. Technische Artefakte

sind Aktanten und sie sind keine Dinge, schon alleine deshalb, weil es

keine Dinge gibt. Wir haben es hier also mit einer radikalen Entding-

lichung zu tun, denn wir sagen nicht, dass dass es zwar Dinge gibt,

aber technische Artefakte keine sind, sondern wir sagen: Es gibt keine

Dinge.

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass drei Sichtweisen zur

Auswahl stehen. In der ersten Sichtweise werden technische Artefakte

als Dinge betrachtet. Die Welt ist aufgeteilt in Subjekt und Objekte,

und technische Artefakte gehoren zur Menge der Objekte. In der zweiten

Sichtweise, werden technische Artefakte entdinglicht. Es die disjunkten

49Vgl. Fußnote 1.

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Kapitel 3. Sind technische Artefakte nie Dinge gewesen?

Mengen, Subjekte, Objekte und Quasi-Objekte, und die technischen

Artefakte werden aus der Menge der Objekte, in die Menge der Quasi-

Objekte befordert. Die radikale Entdinglichung ist die dritte Sichtweise,

welche hier angenommen wird. Es gibt keine reinen Subjekte und reinen

Objekte mehr, sondern die Welt besteht nur noch aus Quasi-Objekten,

zu denen dann naturlich auch die technischen Artefakte gehoren.

Durch die Akteur-Netzwerk-Theorie und die radikale Entdingli-

chung andert sich das Wesen der technischen Artefakte. Dies bleibt

nicht ohne Auswirkungen. Wir richten unser Augenmerk nun auf die In-

genieurwissenschaften, deren Gegenstand die Untersuchung technischer

Artefakte ist. Vergegenwartigt man sich den weiten Weg, den techni-

sche Artefakte in den vorangegangenen Kapiteln gegangen sind, von

Dingen in einer modernen Welt zu Quasi-Objekten unter der Annahme

aufgehobener Dualismen, stellt sich die Frage, inwiefern die Methoden

der Ingenieurwissenschaften, welche auf der Annahme beruhen, dass

technische Artefakte Dinge sind, noch legitimiert sind. Dieser Frage

wird im nachsten Kapitel nachgegangen.

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Kapitel 4

Reinkarnation der Krisis

4.1 Selbstverstandnis und Wissenschafts-

theorie der Ingenieurwissenschaften

Nachdem in den vorangegangenen Kapiteln die Entdinglichung techni-

scher Artefakte beschrieben wurde, stellt sich die Frage, was dies fur

die Ingenieurwissenschaften bedeutet. Um dieser Frage nachzugehen,

ist es erforderlich, zunachst einen Einblick in das Selbstverstandnis

und die Wissenschaftstheorie der Ingenieurwissenschaften zu erlangen.

Als Literatur werden hierfur die Arbeiten von Ropohl [18, 19] sowie

Spur [23] herangezogen.

Wie sich die Technikwissenschaften herkommlicherweise

selbst verstehen, ist nicht ohne weiteres zu ermitteln, da

Angehorige dieser Disziplin selten daruber nachdenken und

darum auch nicht viel daruber schreiben. Die wenigen wis-

senschaftlichen Untersuchungen, die es inzwischen zu den

Technikwissenschaften gibt, sind bereits Ausdruck eines Pa-

radigmenwechsels, indem sie eine zuvor unbefragte For-

schungs- und Gestaltungspraxis kritisch reflektieren.50

Mit dieser Hypothek beginnt Ropohl seine Untersuchung uber die

Technikwissenschaften. Er lehnt den Begriff der Ingenieurwissenschaf-

ten zu Gunsten der Technikwissenschaften ab, was nachvollziehbar

50[18], S.7.

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Kapitel 4. Reinkarnation der Krisis

ist, da schließlich die Technik, und nicht der Ingenieur, Gegenstand

der wissenschaftlichen Untersuchung ist51. Dies ist nur ein Aspekt

seiner Kritik der ungenauen Fachsprache52. Dass die Ingenieurwissen-

schaften nur im Plural genannt werden, ist bemerkenswert, da weder

jeder einzelne Teilbereich, wie z.B. Elektrotechnik, Maschinenbau und

Bauingenieurwesen fur sich in Anspruch nimmt, eine eigenstandige

Wissenschaftsdisziplin zu sein, noch es eine ubergreifende allgemeine

Technologie gibt, welche die Teilbereiche als Grundlage annehmen53.

Als ubergreifendes Element der Ingenieurwissenschaften wird gemein-

hin die Naturwissenschaft gesehen, so dass sich Ingenieurwissenschaften

oftmals als angewandte Naturwissenschaft verstehen. Diese Sichtwei-

se ist aber willkurlich, da sich viele Naturphanomene nur mit Hilfe

von Technik zeigen lassen - man denke an Boyles Vakuumpumpe -

so dass Naturwissenschaft auch als angewandte Technik bezeichnet

werden konnte54. Diese Lucke einer fehlenden allgemeinen Technologie

als wissenschaftstheoretischer Grundlage aller Ingenieurwissenschaften

versucht Ropohl in seinem Buch55 zu schließen. Diese steht oftmals im

Gegensatz zum Selbstverstandnis der Ingenieurwissenschaften. Ropohl

nahert sich dem Technikbegriff, in dem er drei Dimensionen skizziert56:

die naturale Dimension, die humane Dimension und die soziale Dimen-

sion. Die naturale Dimension umfasst den Aspekt der Technik, der

sich mit dem physikalischen Gegenstand befasst, d.h. das”Ding“, dass,

entweder verarbeitet oder wie in der Natur vorgefunden, als technisches

Artefakt benutzt wird. Hinter der humanen Dimension verbirgt sich

der Aspekt der Technik, der den Mensch als Individuum betrifft. Ein

Beispiel hierfur ist die Erfindung durch einen Menschen, in dem ein

technisches Potenzial mit einer Nutzungsidee zusammengefuhrt werden.

Die letzte ist die soziale Dimension, worunter Aspekte wie politische

51Im Englischen heißt es”engineering sciences“. Vielleicht ruhrt das Problem

auch nur daher, dass es im Deutschen kein Wort entsprechend”to engineer“ gibt,

und”Ingenieurwesenwissenschaften“ zu sperrig ist. Daher wird hier weiterhin Inge-

nieurwissenschaften verwendet und nur, wenn explizit auf Ropohl Bezug genommenwird, Technikwissenschaften.

52Ebd. S. 19 ff.53Ebd. S. 32.54Ebd., S. 89.55[19].56Ebd., S. 29 ff.

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Kapitel 4. Reinkarnation der Krisis

Entscheidungen bezuglich Technik zu verstehen sind. Die humane

und soziale Dimension werden durch sogenannte Handlungssysteme

erfasst, welche vierstufig, Individuen, Organisationen, die Gesellschaft

und die Weltgesellschaft, beschrieben sind57. Die naturale Dimension

wird durch Sachsysteme abgedeckt58. Daruber hinaus fuhrt Ropohl

den Begriff des soziotechnischen Systems ein, in dem Handlungs- und

Sachsystem einfließen59.

Ein wichtiges Ziel Ropohls ist die Entwicklung eines koharenten

Modells der technischen Entwicklung60. Dies fallt allerdings recht kom-

plex aus, da alle identifizierten Aspekte untergebracht werden mussen:

Forschung und Entwicklung, Produktion, Konsumtion, Mesosystem,

Mikrosystem, Makrosystem, Angebotsdruck, Nachfragesog, soziale Kon-

struktion, Technikpolitik. Auf die Details dieses Modells wird hier nicht

eingegangen, wobei festzuhalten ist, dass Ropohl evolutionstheoretische

Ansatze als irrefuhrend abstempelt, mit der Begrundung, dass”sie

den Unterschied zwischen blinder Naturwuchsigkeit und zielstrebigem

Handeln vernachlassigen“61. In weiteren Verlauf seiner Ausfuhrungen,

bestarkt Ropohl diese Kritik mit der Aussage, dass”sie [die evoluti-

onstheoretische Deutung, K.P.] bloss in eine naturalistische Metapher

kleidet, was doch in Wirklichkeit vor Allem eine menschliche Kultur-

leistung bildet“62.

Der Versuch, eine solche Vielzahl von Aspekten in ein Modell zu

zwangen erinnert an Latours Ausfuhrungen uber die Versuche, die

Natur- und Kulturwissenschaften zu vereinen, welches in der Entde-

ckung der Quasi-Objekte endet63. Es liegt die Vermutung nahe, dass

das Festhalten an den Dualismen, welches sich hier durch die Aufteilung

des Technikbegriffs in die verschiedenen Dimensionen manifestiert, ein

solch komplexes Modell zwangslaufig zur Folge hat. Aus dem Modell

leitet Ropohl acht Hypothesen her64. Fur uns interessant ist vor allem

57Ebd., S.89 ff.58Ebd., S.117 ff.59Ebd., S.135 ff.60Dies ist in Bild 45 auf Seite 297 in [19] dargestellt.61Ebd., Fußnote 1 auf S. 252.62Ebd. S. 285.63Vgl. Abschnitt 3.1 und [11], S. 70 ff.64[19], S. 299.

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Kapitel 4. Reinkarnation der Krisis

die Hypothese 2:

Nur solche Erfindungen haben eine Chance, Innovationen

anzustoßen, die vom Informationssystem eines Produkti-

onsunternehmens zur Kenntnis genommen werden.

Hier unterstreicht Ropohl die Wichtigkeit der industriellen Praxis bei

der Betrachtung von Technik. Dieser Aspekt hebt Spur in seiner Be-

handlung der Technikwissenschaft noch starker hervor. Beginnen wir

jedoch mit dem Technikbegriff. Auch nach Spur hat Technik mehrere

Dimensionen. Diese sind Technik als Kultur, als Hilfswelt, als System

und als Kunstfertigkeit65. Wissenschaft wird als”ein geordnetes, folge-

richtig aufgebautes, zusammenhangendes System von Erkenntnissen“66

definiert. Die Herausforderung der Technikwissenschaft ergibt sich

durch die verschiedenen Dimensionen. Es muss unterschieden werden

zwischen Grundlagen-, angewandter und Industrieforschung. Es fließen

Natur-, Wirtschafts-, Sozial- und Geisteswissenschaften ein. Und es gibt

eine Vielzahl von Aufgabenstellungen, die von Wissens- und Erkennt-

nisgewinnung bis hin zur Optimierung von Prozessen und Produkten

reichen. Die Mathematik erhalt eine besondere Rolle67. Ein wesent-

licher Aspekt der Technikwissenschaft ist nach Spur die”Dominanz

der konkreten Anwendungserfordernisse“68. Dies ist ein Gegensatz zur

Naturwissenschaft, die diesen Aspekt nicht hat. Der Gedanke, dass

Technik Forschung erst moglich macht, ist ebenfalls bei Spur zu finden69.

Als Abschluss seiner Betrachtung der Technikwissenschaft widmet sich

Spur der Technosophie als”metatechnischen Wissenschaftslehre, die das

geistige Rustzeug fur den interdisziplinaren Dialog der Wissenschaften

mit Wirtschaft und Politik liefert“70. Mit dem Begriff”interdisziplinar“

wird das Festhalten an den Dualismen impliziert, da eine Aufhebung der

Dualismen schließlich auch das Aufheben der einzelnen, abgeschlossenen

65[23], S. 1 ff.66Ebd., S. 52.67Ebd., S. 56, zur Mathematik:

”[...] die Einbindung der Mathematik sowohl zur

abstrakten Erklarung technischer Funktionsverknupfungen als auch zur Theoriebil-dung fur der Weiterentwicklung der Technik uberhaupt.“

68Ebd., S. 63.69Ebd., S. 66 ff. Vgl. Fußnote 54.70Ebd., S. 67.

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Kapitel 4. Reinkarnation der Krisis

Disziplinen zur Folge hat. In der weiteren Behandlung fallt folgender,

bemerkenswerter Satz:”Technosophie will ein neues Selbstverstandnis

der Technikwissenschaft entwickeln und damit aus der Hulle der sa-

chorientierten Funktionswelt Technik heraustreten“71. Spur beendet

dieses Kapitel mit einem Aufruf zur Neugliederung der Technikwis-

senschaft. Hieraus lassen sich zwei Schlussfolgerungen ziehen. Erstens

ist das 1998 aktuelle Selbstverstandnis der Technikwissenschaften die

sachorientierte Funktionswelt. Zweitens ist ein neues Selbstverstandnis

notwendig.

Wir legen die Annahme zu Grunde, dass die Arbeiten von Ropohl,

Spur oder anderen Untersuchungen zur Wissenschaftstheorie der In-

genieurwissenschaften bei den einer Vielzahl der Ingenieure in der

Praxis nicht bekannt sind und folglich auch nicht angewendet werden.

Das bedeutet auch, dass die Krise weiterhin besteht. Uns ist keine

wissenschaftliche Untersuchung zu dem Thema bekannt, daher bleibt

nur, dies als Annahme zu formulieren. Es kann aber gesagt werden,

dass die Wissenschaftstheorie in der Ingenieurausbildung bis heute eine

untergeordnete Rolle spielt.

4.2 Radikale Entdinglichung zeigt

Ausmaß der Krise

Die Krise ist also diagnostiziert. Sie manifestiert sich nach Ropohl darin,

dass es eben keine allgemeine Technologie gibt, welche die Grundla-

ge der Ingenieurwissenschaften bildet. Wie im vorherigen Abschnitt

beschrieben wurde, setzt Ropohl bei der Beschreibung allgemeiner tech-

nischer Artefakte auf die Zusammenfuhrung von Handlungssystemen

und Sachsystemen. Dahinter steckt die Annahme, dass die Aufteilung

der Welt in Natur, d.h. Sachsysteme, und Kultur, d.h. Handlungssyste-

me, sinnvoll ist, und fur die Untersuchung technischer Artefakte beide

zusammenzufuhren sind. Er sieht allerdings auch die Probleme dieser

Betrachtungsweise, die offensichtlich werden, wenn man genmanipulier-

71Ebd., S. 70.

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Kapitel 4. Reinkarnation der Krisis

te Tiere betrachtet72. Die Sichtweise Ropohls kann als Entdinglichung

interpretiert werden. Er lasst die Existenz von Dingen und Nicht-

Dingen zu und verortet technische Artefakte aber nicht zu den Dingen.

Dies steht im Gegensatz zu dem Standpunkt aus Kapitel 3, dass die

Aufteilung der Welt in Dinge und Nicht-Dinge nicht zielfuhrend ist, was

als radikale Entdinglichung bezeichnet wurde. Ropohl begegnet der Kri-

se in den Ingenieurwissenschaften mit der Entdinglichung technischer

Artefakte, aber es ist eben keine radikale Entdinglichung. Als konkre-

ten Ausweg schlagt er eine Reform der Ingenieurausbildung, welche

einen substantiellen Anteil allgemeiner Technologie enthalten soll, vor

und fordert die Einbeziehung ethischer Aspekte in die gesellschaftliche

Praxis der Technik73.

Spur diagnostiziert zwar nicht explizit eine Krise, jedoch zeigt sei-

ne Beschreibung der Technikwissenschaften, dass auch er Bedarf an

Anderungen der Praxis sieht. Auch seinem Modell liegt die Aufteilung

der Welt in Natur und Kultur zu Grunde. Sein Losungsvorschlag sieht

analog zu Ropohl vor, technische Artefakte mit kulturellen Aspekten

anzureichern. D.h. auch Spur sieht die Losung in einer Entdinglichung

technischer Artefakte, aber auch hier ist es keine radikale Entdingli-

chung.

Dass vollstandige Ausmaß der Krise ist allerdings noch nicht be-

stimmt. Die Krise weitet sich noch einmal aus, wenn man Husserls

Lebenswelttheorie explizit heranzieht. Wir schreiben hier”explizit“,

denn da die Arbeiten Husserls einen wesentlichen Einfluss auf den

franzosischen Strukturalismus hatten, welcher wiederum eine der Grund-

lagen von Latours Arbeiten ist, kann man sagen, dass Husserls Le-

benswelttheorie bereits implizit in die Uberlegungen dieser Arbeit

Einzug gehalten hat. Husserl argumentiert in seinem 1936 erstmals

veroffentlichten Text74, dass die Naturwissenschaft losgelost von der

Lebensumwelt agiert. Er liefert also einen Rahmen, mit dem Krisen

in Wissenschaften analysiert werden konnen. Es ist zu beachten, dass

mit dem Begriff der Lebenswelt die transzendentale Voraussetzung,

72[19], S. 120.73Siehe Kapitel 11 und 12 in [18].74 [5].

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Kapitel 4. Reinkarnation der Krisis

dass wir Sinn verleihen konnen, beschrieben ist - sie liegt unter uns,

nicht vor uns. Die wahrgenommene Welt, die vor uns liegt, wird mit

dem Begriff Lebensumwelt erfasst. Die Grundzuge seiner Argumen-

tation sind im §9 unter dem Titel”Galileis Mathematisierung der

Natur“75 zu finden. Die Mathematik wird als”ideale Praxis“ bezeich-

net, mit der wir es”anstelle der realen Praxis“76 zu tun haben. Dies ist

das Erbe von Platons Ideenlehre. Inspiriert vom Gegensatz zwischen

dem Reich der Ideen und der realen Welt, wird bei der Mathemati-

sierung der Natur nicht mehr die Welt wie sie ist betrachtet, sondern

es wird eine Welt aus idealisierten, geometrischen Korpern konstru-

iert. Die unendlichen”empirisch-anschaulichen Gestalten“ werden auf

”ideale Gegenstandlichkeiten“ abgebildet, wodurch sie erst

”objektiv

bestimmbar“77 werden. Dies trifft universal zu, in dem Sinne, dass alle

empirisch-anschaulichen Gestalten ihren”ihren mathematischen Index

[...] in Vorkommnissen der selbstverstandlich immer schon idealisiert

gedachten Gestaltsphare“78 haben mussen. Diese Ersetzung der Le-

bensumwelt durch die Welt aus idealisierten, geometrischen Korpern

bezeichnet Husserl als”Substruktion“79. In der Wissenschaft wird dann

nicht mehr die Welt wie sie ist, die Lebensumwelt, betrachtet, sondern

die substruierte Welt. Die Weiterentwicklung besteht dann daraus, neue

Formeln zu entwickeln, die sich jedoch nur noch auf die substruierte

Welt beziehen, wodurch sich diese immer weiter von der Lebensumwelt

abkoppelt, wobei”man dazu verfuhrt wurde, in diesem Formeln und

Formelsinn das wahre Sein der Natur selbst zu fassen“80. Selbst damit

ist das Ende noch nicht erreicht. Mit dem Begriff”Arithmetisierung

der Geometrie“ beschreibt Husserl die Methode, die idealisierten, geo-

metrischen Korper auf Zahlen abzubilden, welches zur”Entleerung

ihres Sinnes“81 fuhrt. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass dort,

wo die Lebensumwelt betrachtet werden sollte, am Ende nur noch

Zahlen stehen. Die Wissenschaft verkommt zu einer”Kunst“, die nach

75Ebd., S. 23 ff.76Ebd., S.26.77Ebd., S.33.78Ebd., S. 39.79Ebd., S. 40 – 41.80Ebd., S. 46.81Ebd., S.47.

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Kapitel 4. Reinkarnation der Krisis

”Spielregeln“82 neue Formeln produziert, aber eben weit weg von der

Erkenntnis uber die Natur operiert. Sie ist lediglich ein”Ideenkleid“83,

dass uber die Lebenswelt gestulpt wird, um diese objektiv erfahrbar zu

machen. Ein weiteres Merkmal dieser Wissenschaft ist die Annahme,

dass es Kausalitat gibt, d.h. dass”jedes Geschehen der Natur - der

idealisierten - unter exakten Gesetzen stehen muss“84. Die Arbeiten

von Ropohl und Spur zeigen, dass sich, analog zu der Mathematisie-

rung der Natur, bei den Ingenieurwissenschaften eine Verdinglichung

der technischen Artefakte entwickelt hat. Die Ingenieurwissenschaften

betrachten eine sachorientierte Funktionswelt unter der Annahme, dass

technische Artefakte Dinge in einer modernen Welt sind. Dagegen

zeigt die Akteur-Netzwerk-Theorie eindrucksvoll, dass Quasi-Objekte

ein wesentlicher Bestandteil der Lebensumwelt technischer Artefakte

sind. Daher kann die Situation in den Ingenieurwissenschaften als eine

Reinkarnation von Husserls Krisis interpretiert werden.

Das Ausmaß der Krise ist nun bestimmt. Dass auch Ropohl der

Mathematisierung seiner Theorie eine hohe Prioritat zugesteht, wofur

sein Anhang”Mathematische Modelle“85 ein Beleg ist, ist eine bemer-

kenswerte Randnotiz.

4.3 Konsequenzen der Krise

Widmen wir uns erneut dem Zusammenhang zwischen der industri-

ellen Praxis, d.h. der Wirtschaft, und den Ingenieurwissenschaften,

den sowohl Ropohl als auch Spur thematisieren. Prima facie haben

diese beiden zwei unterschiedliche Ziele. Die Wirtschaft hat das Ziel,

Profit hervorzubringen und die Wissenschaft hat das Ziel, Wahrheit

hervorzubringen. Zumindest fur die sogenannte westliche Welt gilt, dass

die große Mehrheit der technischen Artefakte der Wirtschaft entstam-

men, d.h. von einem Unternehmen mit dem Ziel des Profits produziert

wurden. Es gibt durchaus Ausnahmen hierzu, wie ein besonderes Fahr-

rad, das in Eigenarbeit umgebaut wird, Open-Source-Software oder

82Ebd., S. 49.83Ebd., S.55.84Ebd., S. 56 – 57.85[19], S. 312 ff.

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Kapitel 4. Reinkarnation der Krisis

technische Artefakte die von gemeinnutzigen Organisationen im Rah-

men von Entwicklungshilfe produziert werden. Hinter den meisten

technischen Artefakten steht jedoch das Streben nach Profit. Fur die

wissenschaftliche Untersuchung technischer Artefakte ist es daher un-

abdingbar, auch die wirtschaftlichen Aspekte heranzuziehen86. Eine

Entkopplung der Lebensumwelt und Wissenschaft des Ingenieurwe-

sens ist also gleichzusetzen mit der Entkopplung der Wirtschaft und

Wissenschaft des Ingenieurwesens. Diese ließe sich empirisch unter-

suchen. Erstens musste man wissenschaftliche Publikationen dahin

gehend untersuchen, welche von Ihnen Einzug in die Produkte der

Wirtschaft gehalten haben. Zweitens musste man Firmen dahin ge-

hend untersuchen, welche von Ihnen auf Produkten grunden, die in

einem wissenschaftlichen Umfeld entwickelt wurden. Drittens musste

untersucht werden, welche Forschungsprojekte, die gemeinsam von Un-

ternehmen und wissenschaftlichen Institutionen durchgefuhrt wurden,

wirtschaftlich verwertbare Produkte hervorgebracht haben. Uns ist kei-

ne Studie dieser Art bekannt, so dass wir es als Annahme postulieren

mussen, dass eine solche Studie zeigen wurde, dass Wirtschaft und

Wissenschaft des Ingenieurwesens entkoppelt sind. Bei einer solchen

Entkopplung stellt sich die Frage nach der Legitimation der Ingenieur-

wissenschaften. Bei den Naturwissenschaften und Sozialwissenschaften,

welche beide das primares Ziel haben, Wissen zu erzeugen, d.h. das

Erklaren der Natur, beziehungsweise des Menschen, ist das Verhaltnis

zur Wirtschaft irrelevant. Das Ziel der Ingenieurwissenschaften muss es

sein, die Entstehung technischer Artefakte zu erklaren, die sich jedoch

in der entkoppelten Wirtschaft abspielt. Bleibt noch der Aspekt der

Ingenieurausbildung, der auch von Ropohl thematisiert wird. Es kann

unmoglich das Optimum sein, die Ingenieurausbildung in Institutionen,

die von der Wirtschaft entkoppelte Ingenieurwissenschaften betreiben,

statt finden zu lassen. Mehr Inhalte zu allgemeiner Technologie und

Technikethik anstelle zu entkoppelter Wissenschaft, wie von Ropohl

vorgeschlagen, scheinen der bessere Ansatz. Damit ist eine Konse-

quenz der Krise, dass die Legitimation der Ingenieurwissenschaften

in Frage steht. Die theoretische Konsequenz der Krise ist, dass die

86Vgl. Fußnote 64.

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Kapitel 4. Reinkarnation der Krisis

Ingenieurwissenschaften neue Methoden brauchen. Die praktische Kon-

sequenz dieser Uberlegungen ist, dass die Forschungsgemeinschaft mehr

Ressourcen in die Erforschung neuer Methoden der Ingenieurwissen-

schaften investieren sollte. Der verbleibende Teil dieser Arbeit widmet

sich diesem Projekt mit dem Ziel, einige Ansatze aufzuzeigen.

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Kapitel 5

Ansatze zur Uberwindung

der Krise

5.1 Vorabend der Revolution?

Die Ingenieurwissenschaften brauchen neue wissenschaftliche Theorien

und, damit verbunden, neue Methoden. Die neuen Methoden mussen

die Lebensumwelt und Wissenschaft des Ingenieurwesens naher zusam-

menbringen. Husserl hat gezeigt, dass eine Wissenschaft nie in volligem

Einklang mit der Lebensumwelt sein kann87. Es kann also nur darum

gehen, neue, bessere Substruktionen zu finden.

In diesen Uberlegungen ist die Parallele zu dem Konzept der wis-

senschaftlichen Revolutionen von Thomas Kuhn unverkennbar. In

seinem viel beachteten Werk88 nimmt Kuhn sich der Geschichte der

Wissenschaft an. Ein Schlusselbegriff ist dabei das”Paradigma“. Ein

Paradigma entsteht als Folge eines Werks, dass zwei Kriterien erfullt.

Zum einen ist es so originell, dass es Wissenschaftler von konkurrie-

renden Methoden anzieht. Zum anderen eroffnet es eine Reihe von

Forschungsfragen. Diesen nehmen sich dann Generationen von For-

schern an89. Irgendwann geraten Paradigmen in Krisen und dann gibt

es wissenschaftliche Revolutionen, in denen sich ein Paradigmenwechsel

vollzieht. Das neue Paradigma ist dem alten aber nicht in allen Belan-

87Vgl. Fußnote 83.88[9].89Ebd., S. 10.

41

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Kapitel 5. Ansatze zur Uberwindung der Krise

gen uberlegen, sondern bietet fur gewisse Probleme bessere Antworten.

Die Verfechter des neuen Paradigmas argumentieren dann, dass die

Probleme, fur die das alte Paradigma besser geeignet ist, irrelevant

sind90. Kuhn stellt sich also gegen die These, dass in der Wissenschaft

Fortschritt in einem linearen Verlauf erzielt wird, wobei er ausfuhrt,

warum es in den Geschichtsbuchern so aussieht, als ob dem so ist91.

Das Kuhnsche Paradigma ist letztendlich nichts anderes als eine

Husserlsche Substruktion. Auch beim Paradigma wird anstatt der

Lebensumwelt eine Welt aus idealisierten Korpern betrachtet, so dass

die entwickelte Theorie passt. Die Aspekte der Lebensumwelt, die nicht

in die Theorie passen, werden als irrelevant deklariert. Das hat zur

Folge, dass bei der Weiterentwicklung der Theorie die Theorie selbst als

Ausgangspunkt verwendet wird, und nicht die Lebensumwelt - genau

das hat Husserl kritisiert. Insofern ist es bemerkenswert, dass Kuhn

Husserl ob der Parallelen nicht zitiert.

Eine interessante Randnotiz bleibt, dass es bei den Ingenieurwissen-

schaften das fur Kuhn typische, initiierende, Paradigma definierende

Werk nicht gibt. Ropohls”Allgemeine Technologie“ versucht, diese

Lucke zu fullen und nimmt dabei explizit Bezug auf Kuhn92.

In den folgenden Abschnitten begeben wir uns auf die Suche nach

neuen Substruktionen, d.h. Paradigmen. Dabei suchen wir nicht eine

Supersubstruktion, denn es ist nicht zu erwarten, dass es eine Methode,

d.h. eine Substruktion, d.h. ein Paradigma geben wird, welche alle

Probleme lost. Die bisherigen Ergebnisse dieser Arbeit lassen die An-

nahme zu, dass ein Grund der Krise das Festhalten an den Dualismen

ist. Wir konzentrieren uns daher auf solche Methoden, die nicht die

Dualismen voraussetzen. Aus den bisherigen Untersuchungen ergeben

sich einige Ansatzpunkte derartiger Methoden. Diese sind die Hand-

lungstheorie, die Theaterwissenschaft, die symmetrische Anthropologie,

die Evolutionstheorie und der integrative Pluralismus.

90Ebd., S.144 ff.91Ebd. S. 136 ff.92[19], S. 323.

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Kapitel 5. Ansatze zur Uberwindung der Krise

5.2 Handlungstheorie

Die Akteur-Netzwerk-Theorie, welche Latour in seinem Text uber Ar-

tefakte93 skizziert und Gegenstand von Abschnitt 2.1 ist, stellt das

Konzept des Handelns in den Mittelpunkt. Aus diesem Grund ist

es naheliegend, die Handlungstheorie als eine potentielle Methode

zur Uberwindung der Krise in Betracht zu ziehen. In Abschnitt 2.2

wurde untersucht, unter welchen Umstanden technische Artefakte han-

deln konnen. Die Frage ist nun, inwiefern diese Ergebnisse zusammen

mit den ubrigen Ergebnissen zulassen, die Handlungstheorie zu ei-

ner Methode der Ingenieurwissenschaften auszubauen. Das Wesen der

Handlungstheorie ist es, die Welt als eine Abfolge von Handlungen zu

erklaren. Somit ist die Handlungstheorie vorwiegend eine erklarende

und beschreibende - und weniger eine prognostizierende - Wissenschaft.

Da in der modernen Welt Handlungen nur Menschen zugeschrieben

werden, beschrankt sich die Handlungstheorie bisher auf die Sozialwis-

senschaften. Wie eine handlungstheoretische Untersuchung aussehen

kann, wenn die Dualismen aufgelost werden, zeigt sich mit Hilfen eines

Ruckgriffs auf den Abschnitt 2.1. Dort wurde beschrieben, wie tech-

nische Artefakte aus Handlungsabfolgen entstehen. Der Turschließer,

das Verkehrsschild und der Hotelzimmerschlussel dienen als Beispiele.

Entscheidend ist dabei, dass die technischen Artefakte und Menschen

gleichermaßen handeln. Die Methode ist also ein technisches Artefakt

zu betrachten und zu erkunden, welche Handlungen zu dessen Entste-

hung beigetragen haben. So konnen technische Artefakte beschrieben

und erklart werden. Um Prognosen treffen zu konnen, ware der nachste

Schritt dann wiederkehrende Muster in der Entstehung technischer

Artefakte zu finden und diese dann auf Zukunft anzuwenden. Handlun-

gen vorauszusagen ist allerdings ein von der Wissenschaft noch nicht

gelostes Problem, selbst wenn nur Menschen und keine Dinge involviert

sind. Latour wurde an dieser Stelle moglicherweise einwenden dass

die Tatsache, dass Dinge nicht involviert werden, genau der Grund

ist, weshalb Voraussagen nicht gelingen. Versucht man die Welt mit

Hilfe der Handlungstheorie zu erklaren, kommt man am Konzept der

93[10].

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Kapitel 5. Ansatze zur Uberwindung der Krise

Kausalitat nicht vorbei, d.h. der Frage, welche Sachverhalte durch

welche Handlungen verursacht wurden und welche Handlungen welche

Konsequenzen haben. Die Schwierigkeit, unabhangig davon ob Dingen

Handlungen zugestanden werden, hierbei ist, dass bei der Untersuchung

von Kausalitat alternative Welten bemuht werden mussen, namlich bei

der Frage, wie die Welt aussehen wurde, wenn die besagte Handlung

nicht stattgefunden hatte. Es gibt zahlreiche philosophische Theorien

der Kausalitat94. Fur unsere Zwecke scheint insbesondere die Theorie

von Mackie95 geeignet zu sein. Mackie untersucht was gemeint ist, wenn

gesagt wird, dass”A“ die Ursache fur ein Resultat

”P“ war. Er kommt

zu dem Schluss, dass dies bedeutet, dass”A“ ein nicht hinreichender

aber notwendiger Teil einer nicht notwendigen aber hinreichenden Be-

dingung fur das Ergebnis ist.”A“ ist eine sogenannte INUS-Bedingung,

wobei dies sich aus den ersten Buchstaben der englischen Charakte-

risierung zusammensetzt,”insuffcient but necessary, unnecessary but

sufficient“. Angewandt auf die Untersuchung der Entstehung techni-

scher Artefakte hieße dies, dass alle notwendigen, hinreichenden und

beitragenden Handlungen untersucht und kategorisiert werden. Bemer-

kenswert ist hierbei, dass die Theorie von Mackie die Dualismen nicht

voraussetzt, d.h. das menschlichen und nicht-menschliche Ursachen

gleich behandelt werden. Generell lassen sich die Ausfuhrungen von Ma-

ckie als Netzwerk von Ursachen und Randbedingungen interpretieren,

die im Ansatz Parallelen zur Akteur-Netzwerk-Theorie aufweisen.

Ein Aspekt, den wir bisher ausgelassen haben, ist die Handlungs-

motivation. Wie in Abschnitt 2.2 ausgefuhrt wurde, werden in der

Akteur-Netzwerk-Theorie gewisse Annahmen uber die Handlungsmo-

tivation getroffen, insbesondere dass ein Handlungsbegriff, der eine

menschliche Motivation voraussetzt, aufgegeben werden muss. Wenn

technische Artefakte handeln, ist die Handlungsmotivation jedoch in sie

inskribiert, und dies muss bei der handlungstheoretischen Untersuchung

der technischen Artefakte auch berucksichtigt werden.

Setzt man die Teile zusammen, ist die Methode, mit Mackie die

notwendigen, hinreichenden und beitragenden Handlungen der Entste-

94Ein guter Uberblick befinden sich in [22].95[13].

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Kapitel 5. Ansatze zur Uberwindung der Krise

hung des betrachteten technischen Artefakts aufzuspuren, wobei Dinge

auch handeln konnen und ihre inskribierte Handlungsmotivation zu

beachten ist.

5.3 Theaterwissenschaft

Im vorangegangenen Abschnitt wurde die Handlungstheorie als Me-

thode der Ingenieurwissenschaften untersucht. Die dabei vorgestellte

Methode ist durch eine Abfolge von Handlungen ohne Prasenz eines

ubergeordneten Plans, d.h. einem Skript, charakterisiert. In diesem

Abschnitt wird nun eine Methode betrachtet, der eine Abfolge von

Handlungen mit einem Skript zu Grunde liegt. Sie ist davon inspi-

riert, dass Latour das Konzept des Textes als erlauternde Analogie der

Akteur-Netzwerk-Theorie gewahlt hat, wie in Abschnitt 2.1 erwahnt

wurde. Es gibt jedoch ein Konzept das einen Vergleich geradezu pro-

voziert: das Theater. Dies wird vor allem deutlich, wenn man sich die

Englischen Begriffe”actor“ und

”script“ vor Augen halt, die sowohl in

der Akteur-Netzwerk-Theorie als auch im Theater wesentlich sind. Im

Theater gibt es ein Drehbuch (Englisch: script), das unter Anleitung

eines Regisseurs mit Schauspielern (Englisch: actors) und Requisiten

vor einem Publikum umgesetzt wird. Dies hat große Ahnlichkeit mit der

Akteur-Netzwerk-Theorie, jedoch gibt es auch wichtige Unterschiede.

Die Aufgabe der Unterscheidung zwischen Mensch und Nicht-Mensch

wurde ins Theater ubertragen bedeuten, nicht zwischen Schauspielern

und Requisiten zu unterscheiden. Das Drehbuch ist bei der Analyse

soziotechnischer Systeme nicht explizit vorhanden sondern in die Ak-

tanten inskribiert. Zwar konnte man argumentieren, dass es durchaus

Falle gibt, in denen es ein explizites Drehbuch gibt, z.B. die Bedienungs-

anleitung eines technischen Gerates. Allerdings ist dies dann nur ein

Drehbuch fur einen Aktanten und außerdem in Beispielen wie dem des

Turschließers in Abschnitt 2.1 irrelevant. Auch die Regieanweisungen

sind in die Aktanten inskribiert. D.h. der Ingenieur, der technische

Artefakte konstruiert, ist Drehbuchautor und Regisseur zugleich. Kom-

men wir nun zum Benutzer der technischen Artefakte. Prima facie

wurde ihm die Rolle des Zuschauers gehoren. Allerdings hatte er in

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Kapitel 5. Ansatze zur Uberwindung der Krise

der Akteur-Netzwerk-Theorie dann eine interaktivere Rolle als das

Publikum im Theater. In der Akteur-Netzwerk-Theorie partizipiert der

Benutzer im Geschehen, z.B. in dem er den Turschließer betatigt geht

oder seinen Hotelzimmerschlussel nicht zuruck gibt, und je nach seinem

Verhalten werden Aktanten ausgetauscht, umkonfiguriert, hinzugefugt,

etc. Zwar gibt es prinzipiell auch Theater in denen das Publikum ein-

gebunden wird, dies ist jedoch die Ausnahme. Eine Alternative ist dem

Benutzer die Rolle eines Schauspieler oder eine Requisite zuzugestehen.

Wenn die Tur mit Schließer die Buhne ist, dann agiert der Benutzer,

der durch die Tur geht, mitten auf der Buhne. Zuschauer waren dann

die Passanten, die das Treiben an der Tur mit Schließer aus der Ferne

betrachten, aber auch Wissenschaftler, die das Netzwerk analysieren.

Somit ist die Theaterwissenschaft ein weiterer Vorschlag, neue

Substruktionen zur Uberwindung der Krise zu finden. Ansatze, wie

diese Methode aussehen konnten, finden sich bei Balme in seinem

Buch96. Mit den Begriffen”Theatralitat“ und

”Performance-Theorie“

wird eine Rechtfertigung geliefert, denn hinter ihnen verbirgt sich eine

”Erweiterung des Theaterbegriffs [, die] jede Form von inszenierter

Wirklichkeit [erfasst, wie etwa] Politik oder Nachrichten“97. Da ist es

naheliegend, auch die Erstellung und Verwendung technischer Artefakte

mit den Begriffen des Theaters zu analysieren. Bei diesem Gedanken

fallt auf, dass Latour die Inszenierung vergessen hat. Die Akteur-

Netzwerk-Theorie ließe sich durchaus um den Aspekt der Inszenierung

erweitern, in dem Sinne, dass nicht nur die Aktanten und das Netzwerk,

d.h. die Art wie sie miteinander verknupft sind, betrachtet werden,

sondern auch die zeitliche Abfolge von Aktionen - die Inszenierung.

Einer ahnlichen Uberlegung gehen die Forschungen der Post-Akteur-

Netzwerk-Theorie unter dem Schlagwort Performativitat nach98.

Eine wesentliche Methode der Theaterwissenschaft ist die Semio-

tik99. Sie ist im Kontext dieser Arbeit besonders interessant, da sie

auch im Strukturalismus wurzelt, und damit mit den Arbeiten von

Latour und Husserl auf eine Art verwandt ist. Der Fokus bei der

96[1].97Ebd., S. 69.98Vgl. Fußnote 15.99Ebd., S.58 ff.

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Kapitel 5. Ansatze zur Uberwindung der Krise

Theatersemiotik liegt auf der Betrachtung von Zeichen, die auf der

Buhne verwendet werden um Empfindungen beim Zuschauer herzu-

stellen. Ubertragen wir dies auf die Ingenieurwissenschaften, mussen

wir zunachst die Zuschauerrolle den Benutzern der technischen Arte-

fakte zuschreiben und nicht Wissenschaftlern oder Passanten, denn

fur letztere sind technische Artefakte kaum gemacht. Bei den Inge-

nieurwissenschaften ist es nicht immer nur das Ziel, eine Empfindung

im Benutzer zu erzeugen, sondern es kann auch das Ziel sein, ihn zu

einer Handlung bewegen zu wollen. Beispiele hierfur sind das Anle-

gen des Sicherheitsgurts und die Ruckgabe des Hotelzimmerschlussels.

Eine bemerkenswerte Parallele zu dem Konzept der Delegation in

der Akteur-Netzwerk-Theorie stellt Balme mit den Begriffen”Mobi-

litat“ und”Polyfunktionalitat“ theatraler Zeichen her, die besagen

dass”jedes Zeichen im Theater, egal welcher Art, durch ein anderes

Zeichen ersetzt werden kann, beispielsweise Raum durch Sprache, ein

Gegenstand durch einen Menschen“100. Als Nachstes umreißt Balme

die poststrukturalistischen Ansatze der Theaterwissenschaft101, die auf

der Psychoanalyse von Lacan oder der Energiestrome von Lytoard be-

ruhen. Dies legt den Ansatz nahe, die poststrukturalistischen Theorien

auch auf die Fragen der Ingenieurwissenschaften anzuwenden. Auch die

Theatertheorien, die auf der Phanomenologie aufbauen102, sind wegen

der Rolle der Phanomenologie in dieser Arbeit von besonderem Interes-

se. Balme beschreibt sie als ein Gegenprogramm zur Theatersemiotik,

bei dem die”Erlebnis- und Wahrnehmungskomponenten“ gegenuber

einer semiotischen Betrachtung gestarkt werden, wobei Merleau-Pontys

Postulat gilt,”Wahrnehmung - im Theater wie anderswo - lasse sich

nicht zergliedern“103. Es ist zu beachten, dass bei den Ingenieurwissen-

schaften das Erlebnis und die Wahrnehmung eine andere Rolle spielt

als im Theater, da in der Regel das”Produkt“ nicht nur passiv als

Zuschauer erlebt und wahrgenommen wird, sondern aktiv als Benutzer.

Ein weiterer Aspekt in der Theaterwissenschaft ist die Nachahmung,

welche bereits von Aristoteles mit dem Begriff Mimesis eingefuhrt wur-

100Ebd., S. 61. Vgl. Fußnote 11.101Ebd., S. 64 ff.102Ebd., S. 66 ff.103Ebd., S. 68.

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Kapitel 5. Ansatze zur Uberwindung der Krise

de104. Bezuglich der Ingenieurwissenschaften lasst sich feststellen, dass

sich jedes technisches Artefakt auf die Nachahmung einer menschlichen

Fahigkeit zuruckfuhren lasst. Offensichtlich ist dies beim Turschließer,

der eine Nachahmung des Portiers darstellt.

5.4 Symmetrische Anthropologie

Der Untertitel von Latours Text zur Moderne105 ist”Versuch einer sym-

metrischen Anthropologie“. Gegenstand dieses Abschnitts ist die Frage,

ob die symmetrische Anthropologie auch als Methode der Ingenieurwis-

senschaften geeignet ist. Dabei ist zu beachten, dass nach Latour die

Aufteilung der Wissenschaften nach Natur-, Sozial-, Ingenieurwissen-

schaften, etc., so wie sie heute praktiziert wird, nicht sinnvoll ist. Die

Anthropologie ist als Lehre des Menschen sehr vielschichtig und dies

findet sich auch wieder in allem, was unter ihr verstanden wird. Latour

definiert den Begriff Anthropologie nicht explizit. Seine Verwendung

legt aber nahe, dass er die Kulturanthropologie im Sinn hat. Ein Beleg

dafur ist die bereits erwahnte Ausfuhrung uber die Auges Arbeiten

uber die Lagunenbewohner in der Elfenbeinkuste. Interessanterweise

setzt die Kulturanthropologie nicht die Dualismen voraus, obwohl sie

mit Kultur und Mensch zwei Begriffe beinhaltet, welche Teile eines

Dualismus sind. Es wird aber, sofern eine andere Kultur untersucht

wird, auch die Natur und Technik mit einbezogen. Das Problem ist

jedoch, dass der westlichen Kultur, die sozusagen Erfinder der Anthro-

pologie ist, im Gegensatz zur untersuchten Kultur ein privilegierter

Zugang zur Natur zugestanden wird. Damit ist die Anthropologie,

so wie sie bisher betrieben wird, asymmetrisch und somit als wissen-

schaftliche Methode nicht geeignet106. Verwirft man die Annahme eines

privilegierten Zugangs der westlichen Kultur und wurdigt die Natur

entsprechend, wobei die Dualismen aufgehoben bleiben, gelangt man

zur symmetrischen Anthropologie. Dort stehen die Quasi-Objekte und

die Netze, die sie verbinden, im Mittelpunkt. Latour fuhrt den Begriff

104Ebd., S. 44.105[11].106Ebd., S. 122.

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Kapitel 5. Ansatze zur Uberwindung der Krise

des”Parlament der Dinge“107 ein. An diesem Begriff ist bemerkenswert,

dass er prima facie das Beibehalten der Dualismen impliziert. Hinter

dem Begriff steht wohl die Absicht zu provozieren und einen klaren

Kontrast zu einem Parlament der Menschen zu setzen. Rein inhaltlich

betrachtet ware Parlament der Quasi-Objekte allerdings treffender. Der

entscheidende Punkt ist, dass Latour anregt, die Diskurse nicht mehr

entlang der Wissenschaften zu sortieren, sondern entlang der vernetzten

Quasi-Objekte. Wie dies funktionieren soll macht Latour am Beispiel

des Ozonlochs deutlich. Das Ozonloch, die Chemieindustrie und ihre

Arbeiter, die Wahler der Region, die Meteorologie der Polarregionen

und der Staat sollen gleichzeitig betrachtet werden. Latour beendet

daraufhin seinen Essay mit der Beobachtung, dass dies heute implizit

schon geschieht, ohne offentlich zugegeben zu werden, und schließt

damit den Kreis zu dem Gedanken, dass in der Zeitung viele Aspekte ei-

nes Quasi-Objekts behandelt werden, was in Abschnitt 3.2 thematisiert

wurde108. Die Frage ist nun, wie die symmetrische Anthropologie als

Methode der Ingenieurwissenschaften aussieht. Es wird ein Gegenstand

der Ingenieurwissenschaften, d.h. ein technisches Artefakt, betrachtet

und das dazugehorige Netz untersucht. Die Lebensumwelt wird also

mit einer Welt aus vernetzten Quasi-Objekten substruiert. Die ent-

scheidende Frage ist dabei, welche Quasi-Objekte relevant sind und mit

betrachtet werden mussen. Hierzu mussten Metriken entwickelt werden,

mit denen bestimmt wird, ob Quasi-Objekte miteinander vernetzt sind

oder nicht - dies waren die neuen Husserlschen Spielregeln109. Diese

Diskussionen wurden im dem Stil der heutigen Diskussionen, ob ein

Sachverhalt bei einer anthropologischen Untersuchung einer fremden

Kultur relevant ist, gefuhrt. Diese Methode kann prinzipiell deskriptiv,

erklarend und prognostizierend eingesetzt werden, wobei zu beachten

ist, dass das Hauptziel der anthropologischen Untersuchungen meist

die Deskription ist.

107Dies wird im letzten Kapitel von [11] angerissen und außerdem hat Latourdem einige Jahre spater ein eigens Buch gewidmet [12].108Ebd., S. 191. Vgl. auch Fußnote 39.109Vgl. Fußnote 82.

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Kapitel 5. Ansatze zur Uberwindung der Krise

5.5 Evolutionstheorie

Ropohl hat die Evolutionstheorie als Methode zur Untersuchung der

Ingenieurwissenschaften verworfen110. Rufen wir uns die Begrundung

hierzu ins Gedachtnis, wird offensichtlich, dass es sich lohnt, dieses

Thema neu aufzurollen. Diese war, dass neue technische Artefakte aus

menschlicher Handlungen hervorgehen, wahrend neue Organismen von

Zufallsprozessen der Natur hervorgehen. In der Begrundung befinden

sich also drei Dualismen. Erstens wird stehen sich die Handlung und der

Zufallsprozess gegenuber. Zweitens beziehen stellen die Handlungen die

Kultur dar, wahrend die Zufallsprozesse zur Natur gehoren. Drittens

lasst sich prinzipiell auch der Mensch versus Nicht-Mensch Dualismus

rekonstruieren, wobei die technischen Artefakte die Nicht-Menschen

reprasentieren, wahrend die Organismen im weitesten Sinne den Mensch

reprasentieren. Lost man die Dualismen auf, so wie es in Abschnitt 3.2

beschrieben ist, lasst sich die von Ropohl angefuhrte Begrundung nicht

mehr aufrecht erhalten. Daher ist die Evolutionstheorie als Methode

der Ingenieurwissenschaften erneut zu beleuchten, allerdings mit der

Annahme der aufgelosten Dualismen.

Des Weiteren folgt die von Latour beschriebene Entwicklung tech-

nischer Artefakte durch eine Aneinanderreihung von Programm und

Antiprogramm111 dem evolutionstheoretischen Gedanken. Ein techni-

sches Artefakt stirbt aus, wenn es ein Antiprogramm gibt, dass die

Ausfuhrung seiner Funktion verhindert. Beispielsweise wird ein hy-

draulischer Turschließer durch eine elektronische Version mit Alarm

ersetzt, wenn das Antiprogramm, den hydraulischen Turschließer mit-

tels eines Keils außer Kraft zu setzen, uberhand nimmt. Es uberleben

nur die technischen Artefakte, die hinsichtlich der Ausfuhrung ihrer

inskribierten Funktion an die Umwelt angepasst sind.

Ein viel beachtetes Werk der Evolutionstheorie im Kontext der

Technik ist die Untersuchung von Basalla112. Basalla stutzt seine Ar-

beit auf vier Begriffe: Vielfalt, Kontinuitat, Innovation und Selektion.

Entsprechend der Schlusselbegriffe ist das Buch auch aufgebaut. Er

110Vgl. Fußnoten 61 und 62.111Vgl. Fußnote 14.112[2].

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Kapitel 5. Ansatze zur Uberwindung der Krise

begrundet die Eignung der Evolutionstheorie als Methode zur Un-

tersuchung technischer Artefakte mit der Tatsache, dass diese eine

vergleichbare Vielfalt an Erscheinungsformen haben, wie die Arten in

der Biologie, was er an der Anzahl der erteilten US-amerikanischen Pa-

tente festmacht113. Die Faktoren, welche Innovationen entstehen lassen,

sind in zwei Kategorien aufgeteilt. Zum einen sind da die psychologi-

schen und intellektuellen Faktoren, also Faktoren, die vom einzelnen

Menschen ausgehen114. Auf der anderen Seite stehen die kulturellen

und soziookonomischen Faktoren, also Faktoren die aus der Gesell-

schaft entstehen115. Eine Ahnlichkeit zur Akteur-Netzwerk-Theorie

ist unverkennbar. Jeder Faktor ist ein Aktant, welcher uber ein Netz

mit anderen Faktoren, d.h. Aktanten, verbunden ist und gemeinsam

Innovationen produziert. Bemerkenswerterweise greift Basalla bei der

Untersuchung der Innovationen auf die Anthropologie zuruck, namlich

auf den Umstand, dass in den USA mehr technische Artefakte - oder

anders ausgedruckt: Quasi-Objekte - produziert werden als beim Volk

der Tikopia. Allerdings werden bei weitem nicht alle Innovationen

tatsachlich umgesetzt. Die Selektion der Innovationen wird somit zu

einer Schlusselfrage116. Analog zu den Innovationen gibt es bei der

Selektion eine Reihe von Faktoren, die manchen technischen Artefakten

den Einzug in eine Kultur ebnen, und anderen nicht. Basalla nennt

wirtschaftliche, militarische, soziale und kulturelle Faktoren. Auch der

Teilbereich der Selektion zeigt also Parallelen zur Akteur-Netzwerk-

Theorie. Unter Verwendung des Begriffs der Kontinuitat fugt Basalla

hinzu, dass die Geschichte der bisherigen technischen Artefakte auch

einen Einfluss auf die Entwicklung neuer technischer Artefakte hat117.

Ein technisches Artefakt lasst sich nun als das Produkt eines großen

Netzwerks von Aktanten interpretieren, dass die Teilnetze Geschichte,

Innovation und Selektion mit allen ihren Faktoren beinhaltet. Basalla

halt jedoch an den Unterschied fest, dass Evolution in der Natur zufallig

vonstatten geht, bei den technischen Artefakten jedoch zielgerichtet118.

113Ebd., S.2.114Ebd., S.64 ff.115Ebd., S.103 ff.116Ebd., S.135 ff.117Ebd., S.26 ff.118Ebd., S. 3:

”[...] result of purposeful human activity.“ und S. 208:

”[...] a process

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Kapitel 5. Ansatze zur Uberwindung der Krise

Die Frage ist nun was bleibt, wenn man die radikale Entdinglichung

annimmt, d.h., nur noch allgemein Aktanten zulasst nicht mehr unter-

scheidet zwischen Mensch, Naturprodukt oder technischem Artefakt.

Es gibt nun zwei Moglichkeiten. Man kann jedem Aktant Handlungen

zugestehen und den Zufall ausschließen - dann ist man wieder genau

bei Latours Akteur-Netzwerk-Theorie. Die Alternative ist den Zufall

zuzulassen. Dann ware die Evolution der technischen Artefakte naher

an der biologischen Evolution, als von Basalla angenommen.

5.6 Integrativer Pluralismus

Die Akteur-Netzwerk-Theorie kann als eine Absage and die Methode

interpretiert werden, Phanomene zu unterteilen und die Teile getrennt

zu betrachten. Dies wird bei Latours Ausfuhrungen uber die Zeitung

deutlich, in der die gleiche Sache in verschiedenen Bereichen themati-

siert wird119. Mitchells integrativer Pluralismus strebt eine Alternative

zu den wissenschaftlichen Methoden an, die sich darum bemuhen,”die

’bluhende, schwirrende, Verwirrung’ auf einfache, universell gultige,

zeitlose Grundprinzipien zu reduzieren und damit zu erklaren, was ist

und wie es sich verhalt“120. Dabei wird auf die Annahme gesetzt, dass

es nicht eine universelle Wahrheit gibt, sondern jedes Phanomen auf

verschiedenen Ebenen analysiert werden kann. Welche Ebene geeignet

ist ergibt sich aus dem Ziel der Untersuchung. Kern der Untersuchung

ist eine Szenarienanalyse121 Ein Geschehen wird auf verschiedenen

Ebenen betrachtet und es werden mogliche Verlaufe aufgezeigt. Diesen

Verlaufen werden Wahrscheinlichkeiten zugeordnet, anhand welcher

Entscheidungen getroffen werden konnen. Ein Beispiel, das immer

wieder verwendet wird, ist die Depression, die auf chemischer, biolo-

gischer, psychischer oder sozialer Ebene untersucht werden kann. Es

handelt sich also um ein”multifaktorielles, vielschichtiges, komple-

xes Geschehen“122. Primar zielt Mitchell auf die Naturwissenschaft

directed by willful, conscious, active people and molded by historical forces.“119Vgl. Fußnote 39.120[16], S. 20.121Ebd., S.117 ff.122Ebd., S. 138.

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Kapitel 5. Ansatze zur Uberwindung der Krise

ab, wobei das Beispiel Depression zeigt, dass die Sozialwissenschaften

auch berucksichtigt werden. Trotzdem hat Mitchell etwas anderes als

Latour im Sinn, wenn von unterschiedlichen Ebenen gesprochen wird.

Dies zeigt sich am besten an der Stelle, an der Mitchell ein Beispiel

vorbringt, auf das Latour auch gerne zuruckgreift: das Ozonloch. Als

Beispiel fur verschiedene Ebenen zeigt Mitchell, das je nach Zweck

eine Betrachtung des Ozeans als Ganzes, auf Molekularebene oder

auf Submolekularebene sinnvoll ist. Wobei die Methode des integrati-

ven Pluralismus zulasst, alle Ebenen die Latour betrachtet, von der

Wirtschaft bis zur Politik123 auch einfließen.

Wahrend die bisher betrachteten Methoden ihre Starke darin ent-

falten, die Welt zu erklaren, liefert der integrative Pluralismus eine

Methode, Prognosen zu erstellen und Entscheidungen zu treffen.

5.7 Kritischer Vergleich der Ansatze

Im vorherigen Abschnitten wurden funf Ansatze hinsichtlich ihrer Eig-

nung als Methode der Ingenieurwissenschaften, d.h. zur Erlangung

von gesichertem Wissen uber technische Artefakte, beleuchtet. Ge-

genstand dieses Abschnitts ist es nun, diese Methoden miteinander

zu vergleichen. Beginnen wir mit dem Ausgangspunkt der jeweiligen

Methode hinsichtlich der Pole Natur, Ding und Objekt auf der einen

Seite und Kultur, Mensch und Subjekt auf der anderen Seite. Bei der

Handlungstheorie sowie der Evolutionstheorie ist der Ausgangspunkt

jeweils der Mensch. Sie unterscheiden sich dadurch, dass in der Hand-

lungstheorie die Handlungen des Menschen betrachtet werden, wahrend

der Evolutionstheorie der Mensch als biologisches Wesen zu Grunde

liegt. Im Gegensatz dazu lassen sich die Theaterwissenschaft und die

symmetrische Anthropologie nicht im Koordinatensystem der Pole

zuordnen, denn sie behandeln die Kollektive explizit. Der Unterschied

besteht in der Großenordnung. Der kleinste Gegenstand der Theater-

wissenschaft ist eine Auffuhrung, die zwar von dem Pol, der Kultur,

Mensch und Subjekt beinhaltet, dominiert wird, aber auch Objekte

wie Buhne oder Requisiten beinhaltet. Im Gegensatz dazu betrachtet

123Vgl. Fußnote 108.

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Kapitel 5. Ansatze zur Uberwindung der Krise

die symmetrische Anthropologie Kollektive in ihrer Gesamtheit, wobei

interessanterweise die Theaterkultur ein Teilaspekt sein kann124. In der

konventionellen Anthropologie ist auch der Pol, der Kultur, Mensch

und Subjekt beinhaltet, dominant, wobei es das ausgemachte Ziel von

Latour bei der Begrundung der symmetrischen Anthropologie ist, der

Natur, Dinge und Objekte einen gebuhrenden Platz einzuraumen.

Nachdem die Ausgangspunkte offen gelegt sind, ist zu betrachten,

wie innerhalb der jeweiligen Methode ein Akteur-Netzwerk konstruiert

wird. In der Handlungstheorie wird ein Aktant dann hinzugefugt, wenn

sie durch eine Handlung aktiviert werden. Dagegen ist das Netzwerk

in der Theaterwissenschaft und der symmetrischen Anthropologie weit-

gehend vorab festgelegt, wobei bei Ersterem das, was sich auf der

Buhne befindet betrachtet wird und bei Letzterem alle Gegenstande

des Systems. In der Evolutionstheorie werden diejenigen Aktanten

betrachtet, welche ein Uberleben oder ein Aussterben der technischen

Artefakte beeinflussen.

Zuletzt bleibt der Vergleich, welche Rolle den technischen Arte-

fakten zukommt, wenn sie mit der jeweiligen Methode untersucht

werden. In der Handlungstheorie ist die ein technisches Artefakt ein

Produkt von unkoordinierten Handlungen. Die in Abschnitt 2.1 dis-

kutierten Artefakte sind Beispiele hierfur. Ist zu ergrunden, weshalb

am Hotelzimmerschlussel ein Gewicht hangt, sind die Handlungen

des Wettrustens125 nachzuvollziehen. In der Theaterwissenschaft sind

die technischen Artefakte als Schauspieler und Requisiten in eine

Auffuhrung eingebunden, wobei nach der radikalen Entdinglichung

nicht mehr zwischen beiden unterschieden wird. Die Eigenschaften

eines technischen Artefakts ergeben sich dann aus seiner Rolle in einer

Auffuhrung, die nach einem Skript ablauft. Nimmt man das evolu-

tionstheoretische Modell an, wird ein technisches Artefakt in dem

Kontext betrachtet, warum es sich in seiner Umwelt durchgesetzt hat.

In der symmetrischen Anthropologie ist ein technisches Artefakt in ein

Kollektiv eingebettet, dass ganzheitlich betrachtet wird.

Eine der Methoden ist bisher beim Vergleich ausgelassen worden:

124Vgl. [1], S. 167 ff.125Vgl. Fußnote 14.

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Kapitel 5. Ansatze zur Uberwindung der Krise

der integrative Pluralismus. Dieser lasst sich auch schlecht mit den

hier betrachteten Kategorien bewerten. Der integrative Pluralismus

ist als eine Metamethode zu verstehen, die darin besteht, diejenige

Methode auszuwahlen, mit der das gewunschte Ziel erreicht werden

kann. Nachdem in diesem Abschnitt die Eigenschaften der vorgeschlage-

nen Methoden ausgearbeitet wurden, kann der integrative Pluralismus

angewendet werden, um die fur die zu Grunde liegende Fragestellung

die am Besten geeignete Methode zu finden. Dabei stehen die Metho-

den nicht im Wettbewerb zueinander, sondern es kann durchaus auch

zielfuhrend sein, verschiedene Methoden miteinander zu kombinieren.

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Kapitel 6

Schluss

Die erste philosophische Frage, die in dieser Arbeit angegangen wird,

lautet: Wie verhalt es sich mit den technischen Artefakten bei Latour?

Hierzu werden zwei aufschlussreiche Texte, die Abhandlungen uber

die Artefakte sowie uber die Moderne, herangezogen. Die gemeinsame

Betrachtung dieser beiden Texte erlaubt eine Bestimmung des Wesens

technischer Artefakte. Es zeigt sich, dass sich technische Artefakte

verstehen lassen, wenn die Dualismen aufgehoben werden. Dabei geht

es nicht darum, einen neuen Handlungsbegriff zu schaffen, sondern nur

darum zu untersuchen, ob nicht in manchen Situationen diese Sicht-

weise Vorteile birgt. Latour nimmt an, dass es Trennlinien zwischen

den Naturprodukten, Quasi-Objekten und Kulturprodukten gibt, lasst

jedoch offen, wo sie zu ziehen sind. Ich gehe einen Schritt weiter und

hebe die Trennlinien komplett auf. Diese Aufhebung der Trennlinien,

welche mit der Aufhebung der Dualismen einhergeht, bedingt einen

neuen Begriff des technischen Artefakts. Ein Artefakt ist etwas Ge-

machtes. Ein technisches Artefakt ist etwas, dass mit einem Zweck

gemacht wurde. Wenn wir die Dualismen nun aufheben, mussen wir

die Rolle des Zwecks im technischen Artefakt neu definieren. Etwas

mit einem Zweck zu tun, setzt zunachst menschliches Vermogen voraus.

Wenn wir den Dualismus zwischen Mensch und Nicht-Mensch aufgeben

und auch Nicht-Menschen Handlungen zugestehen, mussen wir auch

Dingen zugestehen, einen Zweck zu verfolgen. In dem Sinne ware der

Mensch als biologisches Wesen selbst ein technisches Artefakt, das von

Nicht-Menschen gemacht wurde. Das soll heißen, dass wenn Dinge han-

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Kapitel 6. Schluss

deln konnen, dann konnen Dinge auch in dem Sinne handeln, dass sie

andere Dinge herstellen. Genauso wie Menschen technische Artefakte

herstellen, konnen technische Artefakte andere technische Artefakte

herstellen. Dieser Aspekt ist bei Latours Text uber technische Arte-

fakte nicht explizit thematisiert. Er lasst sich jedoch argumentieren,

wenn wir auf diesen Text die Ergebnisse aus Latours Buch uber die

Moderne anwenden. Die zweite philosophische Frage lautet: was im-

plizieren die Ergebnisse bezuglich der Rolle der technischen Artefakte

bei Latour fur die Ingenieurwissenschaften? Hierzu wird das Selbst-

verstandnis und die Wissenschaftstheorie der Ingenieurwissenschaften

untersucht. Mit den Arbeiten von Ropohl und Spur und mit Ruckgriff

auf die Lebenswelttheorie von Husserl wird argumentiert, dass sich

die Ingenieurwissenschaften in einer Krise befinden. Mit den erzielten

Ergebnissen wird der Frage nachgegangen, inwiefern Dualismen fur die

Krise verantwortlich sind. Es wird postuliert, dass die Krise vom Fest-

halten der Dualismen und den damit verbundenen Problemen herruhrt.

D.h. die Probleme der Ingenieurwissenschaften sind analog zu den Pro-

blemen, die Latour bezuglich der modernen Verfassung beschreibt. Der

naheliegende Losungsansatz ist dann in den Ingenieurwissenschaften

auf Methoden zuruckzugreifen, welche die Dualismen nicht vorausset-

zen. Die Untersuchung der technischen Artefakte bei Latour liefert

einige solcher Ansatzpunkte fur Methoden der Ingenieurwissenschaften.

Diese lassen sich dahin gehend kategorisieren, was der Ursprung der

Methoden ist. Letztendlich geht es immer darum, das Wesen von tech-

nischen Artefakten, die gleichzeitig Quasi-Objekte sind, zu ergrunden.

Bei der handlungstheoretischen Betrachtung technischer Artefakte ist

die einzelne Handlung die Grundlage. Der Startpunkt bei der Theater-

wissenschaft ist die Auffuhrung. Der Mensch ist der Startpunkt bei der

Evolutionstheorie, bei der eine Population von Individuen betrachtet

wird, und der Anthropologie, bei der eine Kultur als System betrachtet

wird. Außerhalb dieser Methoden ist der integrative Pluralismus zu ver-

orten. Sein Wesen ist es nicht auf eine allumfassende Methode zu hoffen,

sondern je nach Zielstellung eine Methode, oder eine Kombination aus

Methoden, anzuwenden. Damit ist die Stoßrichtung anders als in der

aktuellen Forschung zur Post-Akteur-Netzwerk-Theorie. Wahrend dort

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Kapitel 6. Schluss

das Ziel verfolgt wird, die Verbindungen der Aktanten mit besseren

Alternativen anstelle des Netzwerks zu beschreiben, liegt hier der Fokus

auf der Suche nach Methoden, technische Artefakte im Kontext der

Akteur-Netzwerk-Theorie wissenschaftlich zu ergrunden.

Im Laufe dieser Arbeit, haben sich einige Fragestellungen erge-

ben, die einer weiteren Untersuchung bedurfen. Zum einen sind einige

Annahmen getroffen, die empirisch zu validieren waren, wie z.B. die

Frage, inwiefern Ingenieurwissenschaftler uber das Wesen technischer

Artefakte nachdenken. Dies ware allerdings keine philosophische Un-

tersuchung, sondern eine soziologische. Die vielleicht interessanteste

philosophische Frage, die aufgeworfen wird, ist die, dass die radika-

le Entdinglichung einher geht mit einer radikalen Entmenschlichung.

Genauso wie die Menge der Dinge abgeschafft wird, und alle Elemen-

te zur Menge der Quasi-Objekte wandern, wird auch die Menge der

Menschen abgeschafft, und auch diese wandern zu den Quasi-Objekten.

Dann haben Menschen und technische Artefakte denselben Status,

d.h. Menschen sind technische Artefakte. Dies ließe als Startpunkt

fur Arbeiten uber den freien Willen oder Ethik verwenden. Zuletzt

konnte die Folgearbeit darin bestehen, die erzielten Ergebnisse in die

Praxis umzusetzen. Zum einen in die wissenschaftliche und industrielle

Praxis, wobei argumentiert wird, dass diese beiden zusammenzufuhren

sind. Zum anderen - und dies ware die notwendigere Aufgabe - sind

die Ergebnisse in die politische Praxis umzusetzen, um zu einer bes-

seren Gesetzgebung zu kommen, damit nicht mehr die Technik den

Menschen beherrscht, sondern der Mensch die Technik. Legen wir die

Akteur-Netzwerk-Theorie zu Grunde, muss es das Ziel einer wissen-

schaftlichen Tatigkeit sein, das Netzwerk zu beschreiben. Dafur ist es

erforderlich, alle Aktanten zu identifizieren und das Verhaltnis unter-

einander zu beschreiben. Relevante Aktanten sind oft innerhalb der

Industrie zu finden, denn die meisten technischen Artefakte, die uns

umgeben, werden in der Industrie hergestellt. D.h. eine Methode der

Ingenieurwissenschaften wird immer daran gemessen werden mussen,

ob sie auch die industrielle Praxis adaquat berucksichtigt. Letztendlich

ist die Frage auch, was die Aufgabe der Wissenschaft ist. Zunachst ist

es die Aufgabe der Wissenschaft, Wahrheiten zu formulieren. Bei den

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Kapitel 6. Schluss

Ingenieurwissenschaften stellt sich daruber hinaus die Frage, welche

Wahrheiten relevant sind. Dies lauft auf die Frage hinaus, welches

technische Artefakt zu untersuchen ist. Ich argumentiere, dass es Ziel

sein muss, die technischen Artefakte zu untersuchen, die uns umgeben,

welche meist diejenigen sind, die in der industriellen Praxis hergestellt

werden.

Die Technik lost Unbehagen aus. Dies wird von Latour thematisiert,

wie zum Beispiel beim Ozonloch. Es gilt heute allerdings auch noch, da

jeden Tag Artikel uber Unbehagen auslosende Technik die Medien fullt,

wobei die Vernetzung, Roboter und sogenannte kunstliche Intelligenz

aktuell beliebte Themen sind. Vielleicht liegt dieses Unbehagen auch

nur daran, dass wir nicht die Sprache und damit verbunden Denkwei-

se bezuglich der Technik an den Tag legen. Latour wirbt dafur, die

Akteur-Netzwerk-Theorie zu verwenden, um die Interaktion zwischen

Technik und Mensch besser zu verstehen, und letztendlich zu besseren

politischen Entscheidungen zu kommen. Es ist ein frommer Wunsch,

dass meine Arbeit dazu beitragt, die Dinge klarer zu sehen. Auch wenn

die radikale Entdinglichung und damit die Gleichsetzung von Mensch

und technischem Artefakt zunachst das Unbehagen eher vergroßert als

verkleinert, ist zu hoffen, dass diese Sichtweise ganzheitliche Diskussio-

nen in Wissenschaft und Industrie anregt und zu einer Verbesserung

der Situation fuhrt.

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Versicherung

Name: Krishna Pandit

Matrikelnummer:

Fach: Philosophie - Philosophie im Europaischen

Kontext

Hiermit versichere ich, dass ich die vorliegende Abschlussarbeit mit

dem Thema

Radikale Entdinglichung. Technische Artefakte in der Akteur-

Netzwerk-Theorie und die Reinkarnation von Husserls Krisis

ohne fremde Hilfe erstellt habe. Alle verwendeten Quellen wurden ange-

geben. Ich versichere, dass ich bisher keine Haus- oder Prufungsarbeit

mit gleichem oder ahnlichem Thema an der FernUniversitat oder einer

anderen Hochschule eingereicht habe.

Datum:

Unterschrift:

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