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Rainer Maria Rilke das lyrische schaffen Erläuterungen zu Alle erforderlichen Infos für Abitur, Matura, Klausur und Referat von Rüdiger Bernhardt königs erläuterungen spezial

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Rainer Maria Rilke

das lyrische schaffen

Erläuterungen zu

Alle erforderlichen Infos für Abitur, Matura, Klausur und Referat

von Rüdiger Bernhardt

königs erläuterungen spezial

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Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftli-chen Einwilligung des Verlages.Hinweis zu § 52 a UrhG: Die öffentliche Zugänglichmachung eines für den Un-terrichtsgebrauch an Schulen bestimmten Werkes ist stets nur mit Einwilligung des Berechtigten zulässig.

2. Auflage 2015ISBN 978-3-8044-3062-4PDF: 978-3-8044-5062-2, EPUB: 978-3-8044-6062-1© 2009, 2012 by C. Bange Verlag GmbH, 96142 HollfeldAlle Rechte vorbehalten!Titelbild: Rainer Maria Rilke, © ullstein bild – imagnoDruck und Weiterverarbeitung: Tiskárna Akcent, Vimperk

Zitierte Ausgabe: Zitiert werden die zur Interpretation ausgewählten Gedichte nach Rainer Maria Rilke: Gedichte. Husum: Hamburger Lesehefte, 2011 (Heft Nr. 231). Weitere Ge-dichte Rilkes werden nach der Werkausgabe des Insel-Verlags von 1996 zitiert (Bandnummer, Seitenzahl).

Über den Autor dieser Erläuterung:Prof. Dr. sc. phil. Rüdiger Bernhardt lehrte neuere und neueste deutsche sowie skandinavische Literatur an Universitäten des In- und Auslandes. Er veröffentlichte u. a. Studien zur Literaturgeschichte und zur Antikerezeption, Mono grafien zu Henrik Ibsen, Gerhart Hauptmann, August Strindberg und Peter Hille, gab die Werke Ibsens, Hilles, Hermann Conradis und anderer sowie zahlreiche Schulbücher heraus. Von 1994 bis 2008 war er Vorsitzender der Gerhart-Hauptmann-Stiftung Kloster auf Hiddensee. 1999 wurde er in die  Leibniz-Sozietät gewählt.

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INhAlt

VoRwoRt 5

1. RAINER MARIA RIlkE: lEBEN uNd wERk 9

1.1 Biografie 9

1.2 Zeit- und literaturgeschichtlicher hintergrund 22

2. RAINER MARIA RIlkE: 38

dAS lyRISchE SchAffEN – EINfÜhRuNg uNd INtERpREtAtIoNEN

2.1 Einführung: würdigung des lyrischen gesamtwerkes 38

2.2 Besonderheiten der lyrik Rainer Maria Rilkes 50

2.3 Interpretationen 61

Volksweise 61

Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe? 73

Herbsttag 82

Der Panther 97

Römische Fontäne 105

Das Karussell 113

Archaïscher Torso Apollos 124

An Hölderlin 133

Duineser Elegien, Die achte Elegie 143

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INhAlt

Die Sonette an Orpheus, Zweiter Teil, VI 160

An der sonngewohnten Straße 172

Rose, oh reiner Widerspruch 180

lItERAtuR 187

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VoRwoRt

Gedichte Rainer Maria Rilkes gehören zu den bekanntesten Tex-ten deutschsprachiger Literatur und fehlen in keiner Lyrik-Antho-logie. Einige haben fast religiöse Bedeutung erlangt und werden wie Gebete verwendet. Keine Dichtung ist bei Trauerfeiern und Begräbnissen präsenter als die Rilkes. Eine Auswahl aus dem um-fangreichen lyrischen Werk Rilkes zu treffen, die auf dem zur Ver-fügung stehenden Raum alle Wünsche erfüllte, ist unmöglich. Der Dramatiker, Prosaautor, Essayist und Briefeschreiber Rilke – um die 10.000 Briefe hat er geschrieben1 – kann in diesem Zusam-menhang nur eine untergeordnete und meist illustrierende Rolle spielen. Der betörende Klang seiner Wortkaskaden, in denen ein einziger Satz zum Gedicht werden kann (vgl. Römische Fontäne), bringt bis heute selbst hartnäckige Lyrikverächter zum Staunen. Die Vieldeutigkeit, auch Undeutbarkeit mancher Verse geben den Texten und ihrem Schöpfer einen beinah mystischen Charakter. Die meisten seiner Gedichte sind beim ersten Lesen oder Hören noch wenig verständlich und geben erst nach intensiver Beschäf-tigung mit jedem einzelnen Wort ihre poetische Bedeutung und Bildhaftigkeit preis.

Rilkes eigenwillige poetische Welt will nicht nur emotional, sondern auch mit geistiger Anstrengung angeeignet werden. Sein eigenes Verhältnis zur Kunst beruhte dagegen auf einem eher in-tuitiven Zugang, den Rilke seiner Frau Clara Rilke, der Bildhauerin, am 8. März 1907 nach dem Studium der Bilder des Malers Paul Cézanne so beschrieb:

1 In einer Rezension wird sogar mit ironischem Unterton von „hunderttausend Briefen“ gespro­chen, vgl. Rolf Vollmann: Köstliche Omeletts zur Liebesnacht. In: DIE ZEIT vom 17. Juni 2004, Nr. 26, S. 52.

VoRwoRt

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VoRwoRt

6

„Das Anschauen ist eine so wunderbare Sache, von der wir so wenig wissen; wir sind mit ihm ganz nach außen gekehrt, aber gerade wenn wir’s am meisten sind, scheinen in uns Dinge vor sich zu gehen, die auf das Unbeobachtetsein sehnsüchtig ge-wartet haben, und während sie sich, intakt und seltsam ano-nym, in uns vollziehen, ohne uns, – wächst in dem Gegenstand draußen ihre Bedeutung heran, ein überzeugender, starker, – ihr einzig möglicher Name, in dem wir das Geschehnis in unse-rem Innern selig und ehrerbietig erkennen.“ (4, 996)

Dieser intuitive Zugang war für alle Künste gedacht, auch für die Literatur. Gegen die bedrängende äußere Wirklichkeit bot Rilke seine Dichtung als innere Gegenwelt auf, in der die Widersprü-che im poetischen Begriff verdichtet und dadurch mindestens teil-weise aufgehoben wurden: Das „Offene“, ein Schlüsselbegriff in seiner Lyrik, meint die unreflektierte Übereinstimmung von Welt und Kreatur, die keine Angst vor dem Tod zulässt. Der „Engel“, ein weiterer Schlüsselbegriff, ist das vom Menschen abgelöste, für ihn unerreichbare vollkommene Bewusstsein jenseits der schmerz-haften Subjekt-Objekt-Trennung. Kunst sollte nach Rilke die see-lischen Wunden, die den Menschen von der Realität einer sich modernisierenden Gesellschaft geschlagen werden, heilen. Noch einem zweiten Gegensatz setzte sich der Dichter aus: Er machte seine Befindlichkeiten zum Maßstab der Dinge und ließ seine In-dividualität Weltansprüche stellen, aber er wandte sich auch den Armen und einfachen Menschen zu, ohne dass jedoch soziale The-men in seiner Lyrik eine größere Rolle spielten. Rilke selbst lebte bevorzugt in der Welt seiner meist adeligen Mäzene und glaubte sogar, er sei selbst von adeliger Abstammung, die er stets in eine Wunschbiografie einfügte.

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Rilke ist einer der bedeutendsten Lyriker der deutschsprachi-gen Literatur – auch wenn er schon zu Lebzeiten umstritten war und sich Anhänger wie Gegner stets die Waage hielten. Doch war er auch ein kongenialer Übersetzer mit einem großen Einfühlungs-vermögen (u. a. Paul Valéry, André Gide, Elizabeth Barrett-Brow-ning). Wenig anfangen konnte er allerdings mit Großstadt-Lyrik oder Dichtern, die die moderne Technik jubelnd besangen, wie sich auch in seinem eigenen Werk Industrie und Technik, mit we-nigen Ausnahmen in der frühen Dichtung sowie dem Großstadt-thema in seinem Malte-Roman, nicht finden; er selbst lehnte sogar das Telefonieren ab.

Die Forschungsliteratur zu Rilke ist längst unüberschaubar. Selbst für einzelne Zyklen wie die Duineser Elegien ist sie „Legi-on“2. Die vorliegende Erläuterung bemüht sich, einige die Lyrik Rilkes durchziehende Entwicklungen und Motive aufzuzeigen und Deutungsvorschläge anzubieten. Dabei werden auch Rilkes eigene, meist aus Briefen stammenden Kommentare herangezo-gen. Dass es auch andere, ja gegenteilige Interpretationsansätze als die hier vorgestellten geben kann und in der Sekundärlitera-tur gibt, entspricht einer komplexen, offenen Dichtung, die allen Methoden und Lektüreversuchen gleichermaßen anspruchsvol-le Aufgaben stellt. So wirkt Rilkes Lyrik nie einseitig, und seine Dichtungen kennen keine ideologischen Beschränkungen. Zwar wurde er mitunter ideologisch vereinnahmt, besonders nachdrück-lich seine 1899 entstandene Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke, die im Ersten Weltkrieg vielen deutschen Solda-ten im Sturmgepäck als geistiges Rüstzeug für den „Opfertod“ diente. Doch konnten solche Missverständnisse in der Rezepti-onsgeschichte meist korrigiert werden. In der Forschung wurde

2 Nalewski, S. 99.

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1 RAINER MARIA RIlkE: lEBEN uNd wERk

RAINER MARIA RIlkE8

Rilke unterschiedlichen literarischen Epochen zugerechnet: Jost Hermand historisierte ihn als einen Dichter des Jugendstils, weil Rilke „um 1900 für einige Jahre einer reigenhaften Stilisierungs-tendenz“3 gefolgt sei – gemeint waren Gedichte wie Ihr Mädchen seid wie die Kähne (1898) oder Das sind die Stunden, da ich mich finde (1897). Für Hans Magnus Enzensberger standen Gedichte wie Leichen-Wäsche (1908) und Der Tod (1915) einerseits unter expressionistischem Einfluss, andererseits hätten diese Werke mit ihrem schockierenden Charakter bereits der Neuen Sachlichkeit den Weg wegbereitet, weshalb Enzensberger sie in sein Museum der modernen Poesie4 aufnahm. Im Literaturverzeichnis werden daher einige Literaturgeschichten aufgeführt, die verschiedenen Konzeptionen und Literaturverständnissen verpflichtet sind und unterschiedliche, teils gegensätzliche Bewertungen Rilkes vorneh-men, um so dem Leser die Möglichkeit zu geben, die Vielfalt der Rilke-Forschung und -Rezeption zu entdecken.

3 Jost Hermand (Hrsg.): Lyrik des Jugendstils. Eine Anthologie. Stuttgart: Reclam, 1964 (Universal­Bibliothek Nr. 8928), S. 71.

4 Museum der modernen Poesie eingerichtet von Hans Magnus Enzensberger. München: DTV, 1964, S. 142 u. 150.

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1.1 Biografie

2 rAINEr mArIA rIlkE: DAS lyrISchE SchAffEN – EINfÜhruNg uND INtErprEtAtIoNEN

DAS lyrISchE SchAffEN 9

1. rAINEr mArIA rIlkE: lEBEN uND WErk

1.1 Biografie

Rilkes Leben verlief „ruhelos und materiell ungesichert“5. Seine Biografie ist von häufigem Wechsel der Aufenthaltsorte und dem Aufenthalt bei Mäzenen geprägt; einen festen Wohnsitz hatte der Dichter selten und meist nur kurzzeitig. Da aber Begegnungen, Orte und besuchte Länder grundsätzliche Bedeutung für sein Schaffen haben und sich sogar in Titeln niederschlugen (Duineser Elegien), ist eine ausführliche Auflistung nötig, ohne dass auch nur annähernd Vollständigkeit erreicht werden kann.6

JAhr ort ErEIgNIS AltEr

1875 Prag 4. Dezember: René Karl Wilhelm Johann Jo-sef Maria Rilke als einziger Sohn des Bahn-beamten Josef Rilke (1838–1906) und der Sophie (Phia) geb. Entz (1851–1931) in der Heinrichsgasse (Jindrišká ulice) 19 geboren.

1882 Prag Deutsche Volksschule bis 1886, geleitet von Piaristen (katholische Ordensgemeinschaft, die vornehmlich in der Habsburger Monar-chie tätig war und in Erziehung und Schule wirkte). Lernt Tschechisch.

7–11

1884 Prag/Wien Trennung der Eltern: Die Mutter lebt vorwie-gend in Wien, um dem Hof nahe zu sein.

9

1886–1890

St. Pölten September: Eintritt in die Militär-Unterreal-schule.

10–14

Rainer Maria Rilke (1875 –1926) © akg/Imagno

5 Nalewski, S. 58.6 Empfohlen wird zur genauen Übersicht die „Zeittafel“ in: 2, 875–887.

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1.2 Zeit­ und literaturgeschichtlicher Hintergrund

1 RAINER MARIA RIlkE: lEBEN uNd wERk

RAINER MARIA RIlkE22

1.2 Zeit- und literaturgeschichtlicher hintergrund

Österreicher, tscheche, EuropäerDer Dichter wurde im habsburgischen Vielvölkerstaat, der Do-

naumonarchie Österreich-Ungarn, geboren und überlebte sie nur um wenige Jahre. Heimat war ihm dieser Staat nicht, vielmehr empfand er die „Heimatlosigkeit des Österreichers“, wie er am 21. Januar 1920 in einem Brief an Leopold von Schlözer gestand.17 „Heimatgefühl“18 überkam ihn, wie er in mehreren Briefen be-kannte, erstmals 1899 in Russland. Andererseits war Heimatlo-sigkeit seinem Verständnis nach eine wichtige Voraussetzung für den Dichter.

So wenig sich Rilke in Österreich-Ungarn heimisch fühlte, so sehr faszinierten ihn dennoch der Glanz der Monarchie und der Stolz der Aristokratie. Bestärkt wurde er dabei durch seine gel-tungsbedürftige Mutter, die ihren gesellschaftlichen Ehrgeiz in den Wunschtraum einer adligen Herkunft der Familie Rilke setzte. Diese vornehme Herkunft ist „bis heute nicht beweisbar“19, aber wohl die Kehrseite der Enttäuschung von Rilkes Mutter darüber, dass ihr Mann Josef Rilke nur Beamter einer Eisenbahngesell-schaft war und die Familie in einer Mietwohnung wohnen musste. Rilkes berühmteste Dichtung Die Weise von Liebe und Tod des Cor-nets Chris toph Rilke (entst. 1899, ersch. 1906) ist Ausdruck dieser familiären Sehnsüchte. Rilke stilisierte sie in seiner Lyrik, indem er auf „des alten lange adligen Geschlechtes / Feststehendes im Augenbogenbau“ (Selbstbildnis aus dem Jahre 1906; 1, 483) hin-

17 Zitiert nach: Raab, S. 98.18 Vgl. Görner, S. 22 19 Schank, S. 13.

„Heimatlosigkeit des Österreichers“

Glanz der Monarchie

Wunschtraum einer adligen Herkunft

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2.1 Einführung: Würdigung des lyrischen Gesamtwerkes

RAINER MARIA RIlkE38

1 RAINER MARIA RIlkE: lEBEN uNd wERk

2. RAINER MARIA RIlkE: dAS lyRISchE SchAffEN – EINfÜhRuNg uNd INtERpREtAtIoNEN

2.1 Einführung: würdigung des lyrischen gesamtwerkes

Als Rilke 1902 in Paris erstmals dem französischen Bildhauer Auguste Rodin begegnete, fragte er ihn, wie ein Künstler leben sollte. Rodins Antwort wurde zum Credo für Rilkes Leben: „Il faut travailler, rien que travailler. Et il faut avoir patience.“50 (Arbeiten, nichts als arbeiten, und Geduld haben.) Rilke nahm das ernst; das ging so weit, dass er das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm, eine der großartigsten, aber auch umfangreichsten Leistungen der Germanistik, systematisch durcharbeitete. Schreiben bedeutete für Rilke intensives Studium und hohe künstlerische Produktivität, Su-che nach dem einzig gültigen Begriff für den Widerhall der Dinge im Inneren des Menschen, aber auch geduldiges Warten auf die Eingebungen der Inspiration.

Die Anfänge von Rilkes lyrischem und dramatischem Schaffen in den 1890er Jahren trugen noch Merkmale naturalistischer Dichtung: Seine frühen Vorbilder waren Richard Dehmel (1863–1920), der anders als Rilke ein vitales Temperament und sozia-les Engagement zeigte, und Detlev von Liliencron (1844–1909), der sich von Rilke durch seine frische Aggressivität und in sei-ner Dichtung durch sinnliche Momentaufnahmen der Außenwelt unterschied. Beide Dichter wurden um 1900 begeistert von der Jugend angenommen; beider Dichtung galt als volksnah. Beide waren mit Peter Hille (1854–1904) befreundet, der allerdings im

50 Rilke, Briefe aus den Jahren 1901 bis 1906, S. 36 (Brief vom 5. September 1902 an Clara Rilke).

Arbeiten und Geduld haben

Richard Dehmel und Detlev von Liliencron

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2.2 Besonderheiten der Lyrik Rainer Maria Rilkes

RAINER MARIA RIlkE50

1 RAINER MARIA RIlkE: lEBEN uNd wERk

2.2 Besonderheiten der lyrik Rainer Maria Rilkes

Rilkes Gedichte wirken oft schwer, fast unverständlich, mystifizie-rend und irrational. Sie sind es nicht, doch muss man sich erst auf sie einstellen. Balladen und ähnliche inhaltsdominierte lyrische Formen finden sich bei Rilke nicht. Der Begriff der „Handlung“ lässt sich nicht problemlos mit Rilkes Lyrik verbinden. Es geht in ihr um das innere Leben, die innere Befindlichkeit der Dinge und ihre Widergabe durch das Wort. Vielleicht kommt der Begriff des „Geheimnisvollen“ den Texten nahe. Bis zur „Trunkenheit“72 habe man sich gegenseitig seine Gedichte aufgesagt, bekannte Claire Goll.

Zusätzliche Schwierigkeiten entstehen dadurch, dass Rilkes Erfahrungswelt, die Grundlage seiner Dichtung, durch den histo-rischen Abstand fremd geworden ist. Dazu gehören etwa Rilkes vielfältigen Beziehungen zur europäischen Aristokratie oder die epochentypische Sehnsucht nach Einsamkeit und die Todesver-sunkenheit.

Rilkes Gedichte sind klangvoll und geprägt von der Überein-stimmung zwischen ausgewählter Semantik und strenger Form. Die Semantik betrifft oft Kostbares (z. B. Römische Sarkophage, Die Rosenschale), wie sich auch der Dichter selbst gern mit kost-baren Gegenständen umgab. Martha Vogeler, die erste Frau des Jugendstil-Künstlers Heinrich Vogeler, erinnert sich:

„Wo er auch wohnte, immer waren köstliche Dinge um ihn: ein silberner Leuchter, eine seltene Schale auf dunkel poliertem fei-erlichen Tisch, einfache schwere braunrötliche Vorhänge, die

72 Goll, S. 6.

Inneres Leben statt Handlung

Erfahrungswelt fremd geworden

Semantik

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2.3 Interpretationen

dAS lyRISchE SchAffEN 61

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2.3 Interpretationen

Volksweise

Mich rührt so sehr böhmischen Volkes Weise, schleicht sie ins Herz sich leise, macht sie es schwer.

Wenn ein Kind sacht singt beim Kartoffeljäten, klingt dir sein Lied im späten Traum noch der Nacht.

Magst du auch sein weit über Land gefahren, fällt es dir doch nach Jahren stets wieder ein.

Das Gedicht gehört zur Sammlung Larenopfer (1895 erschienen, mit Jahreszahl 1896), die seit 1893 in Rilkes Geburtsstadt Prag entstanden ist und aus der tschechischen Tradition lebt: Straßen und Sehenswürdigkeiten sowie Stadtteile Prags, historische Ge-stalten, tschechische Dichter und Zeitgenossen wie Julius Zeyer (1841–1901) werden bedichtet.

„Das steinerne Prag liegt eingebettet in die böhmische Land-schaft (...). In dieser melancholischen Landschaft lebt das tsche-chische Lied, oft gerühmt, mit letzter Gültigkeit jedoch vom jun-gen Rilke in seiner Volksweise gestaltet.“87

87 Raab, S. 97.

5

10

Lebt aus der tschechischen Tradition

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2.3 Interpretationen

RAINER MARIA RIlkE62

1 RAINER MARIA RIlkE: lEBEN uNd wERk

Volksweise bezieht sich auf die böhmische Heimat des Dichters, aus der ein einfacher Vorgang beschrieben wird: Das lyrische Ich schätzt die Lieder des böhmischen Volkes, die voller Gefühl sind und von einem schweren Leben berichten. Sie werden schon von Kindern bei der täglichen Arbeit gesungen und klingen noch im Traum nach. Auch fern der Heimat erinnert sich das lyrische Ich ihrer. Eine Lebensgeschichte deutet sich an, die von einer Kind-heit in Böhmen geprägt wurde. Da der Titel an den Begriff des Volksliedes erinnert und das Gedicht diesen Begriff teilweise zu erfüllen versucht, wirkt Volksweise wie ein Einspruch gegen die literarische Moderne, die sich seit den 1880er Jahren herausge-bildet und im Naturalismus bevorzugt mit den sozialen Rändern, Abgründen und Außenseitern beschäftigt hatte.

Der Leser stößt bereits in diesem Frühwerk auf Besonderhei-ten von Rilkes Lyrik: Die Gedichte des jungen Dichters – er ist bei Erscheinen von Larenopfer erst 20 Jahre alt – sind Dichtungen der Erinnerung, des Vergangenen und der Einsamkeit. Aktuelle Be-züge sind nicht erkennbar. Zur Erinnerung gehört die Verklärung des ländlichen Lebens, das in erster Linie tschechisches Leben ist. – Das Gedicht erscheint in Rhythmus und Lexik schlicht. Nur einmal wird eine Metapher eingebaut, die den Erlebnisvorgang als Schöpfungsakt vermittelt: „schleicht sie ins Herz sich leise“ (V. 3). Noch während das lyrische Ich die Weise hört, setzt sich das Gehörte, vom Subjekt rational nicht bestimmbar, in Gefühl um. In einer Selbstanzeige zu Larenopfer wies Rilke darauf hin, dass sein Buch „in Böhmen die ‚starken Wurzeln seiner Kraft‘“ (1, 631) hat. Mit Böhmen, damals Teil der Donaumonarchie, verband Ril-ke tschechische Menschen, tschechische Landschaft und auf den Feldern tätige Menschen. Das bedeutete auch eine Musikalität, die sich im Rhythmus taktmäßig niederschlug und an böhmische Volksmusik anklang.

Einspruch gegen die literarische Moderne

Aktuelle Bezüge sind nicht erkennbar

Böhmische Volksmusik

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2.3 Interpretationen

dAS lyRISchE SchAffEN 63

2 RAINER MARIA RIlkE: dAS lyRISchE SchAffEN – EINfÜhRuNg uNd INtERpREtAtIoNEN

Doch ist das Gedicht komplexer, als sein Titel und der erste Blick vermuten lassen. Laren, nach denen die Sammlung Larenop-fer hieß, waren altrömische Haus- und Schutzgeister, denen man Opfer brachte. Hier sind es Schutzgeister für Rilkes tschechische Kindheits- und Jugend erinnerungen. Das ist insofern erstaunlich, als die Besinnung auf Tschechisches zu der Zeit keine selbstver-ständliche Haltung eines deutschsprachigen Dichters war. Doch wirkte bei Rilke Herders Vorstellung vom internationalen Cha-rakter des Volksliedes nach, in dem sich auch das poetische Be-wusstsein ursprünglicher Völker niederschlägt. Herder scheint auf Rilkes Misstrauen gegen allen Rationalismus gewirkt zu haben, der „leichtfertiges Aufklärungsdenken zugunsten eines Bildes vom un-gefährdeten Fortschritt abstrahiert“88. Herders Bild der ursprüng-lichen Völker ist von archaischer Frömmigkeit und antizivilisato-rischer Genügsamkeit geprägt. In Russland fand Rilke dieses Bild später bestätigt. Parallelen zwischen Herders Volkslied-Theorie und Rilkes Volksweise gehen bis in wörtliche Entsprechungen hin-ein. Herder sieht die Natürlichkeit im Volkslied bei „unverdorbnen Kindern“ bewahrt – auch Rilke sieht das Kind so (vgl. V. 5) – und bei Menschen „von gutem Naturverstande, mehr durch Tätigkeit als Spekulation gebildet“89: Bei Rilke ist diese Tätigkeit noch mehr der Natur verbunden; er sieht die Menschen beim „Kartoffeljäten“.

Herders Vorstellungen wurden verstärkt durch die Bemühun-gen romantischer Dichter um das Volkslied und Volkssagen. Rilke stand mit seinen Themen und poetischen Mitteln in beiden Traditionen. Clemens Brentano dichtete über die singenden Böh-

88 Reinhard Weisbach: „Ich rinne ... Ich bin.“ Kommentare zu Rilkes Orpheus-Sonetten. In: Rilke­Studien, S. 118.

89 Johann Gottfried Herder: Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker. In: Ders.: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767–1781 (Werke in zehn Bänden, Band 2). Hrsg. v. Gunter E. Grimm. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1993, S. 473.

Schutzgeister der Erinnerung

Herders Theorie des Volkslieds

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2.3 Interpretationen

RAINER MARIA RIlkE64

1 RAINER MARIA RIlkE: lEBEN uNd wERk

men, die Libussas Voraussage erfüllten: „Gleich frommen Bienen um der Blüten Duft / Wird alles Volk in ihrem Schatten singen“90. Rilkes lyrisches Ich hört dieses Singen und setzt die Dichtungen Wilhelm Müllers, Joseph von Eichendorffs und anderer Romanti-ker fort, die alle volksliedhaft Böhmen und die Stadt an der Moldau besangen.91 Rilke wollte nicht die nationalen Besonderheiten aus-gestellt sehen, sondern sie in eine alles Nationale überdachende Kunst einfügen, deren utopischer Charakter offensichtlich war. Die romantischen Anleihen werden auch in dem Ort erkennbar, zu dem Rilkes Dichtung gelangen soll: Sie schleicht sich „ins Herz“ (V. 3). Emotionale statt rationale Aufnahme von Dichtung wird fa-vorisiert. Für das Gefühl genügen Ausschnitte der Wirklichkeit, die sich im Gedicht niederschlagen. Die Heimat Böhmen wird emphatisch betont; es wirkt, als wolle das lyrische Ich sich dieser Heimat versichern. Dabei entsprach diese beschworene Heimat keineswegs dem wirklichen Böhmen, sondern war eine der zahl-reichen „Wahlheimaten“92, die sich Rilke zeitlebens schuf: Diese entstanden aus der Übereinstimmung zwischen dem Vorhande-nen („das Sichtbare“) und der poetischen Bilderwelt („Ausdrucks-bedürfnisse meines Instinkts“). Die Beziehung zwischen diesen beiden Polen schuf keine stabile Heimatverbundenheit, sondern Rilke „fingierte“ „eine Anstammung dort (...), wo das Sichtbare in seiner Bildhaftigkeit den Ausdrucksbedürfnissen meines Instinkts irgendwie genauer entgegenkam“93. Heimat war für Rilke immer ein utopisches Konstrukt, ihre Unerreichbarkeit spiegelte sich in Rilkes fortwährender Suche nach einem Wohnsitz. Der Klang

90 Clemens Brentano: Libussas Voraussage. In: Viktor Aschenbrenner: Böhmen. Herzland Europas. Zeugnisse in der deutschen Literatur. Würzburg: Verlag Weidlich, 1984, S. 88.

91 Vgl. ebd., S. 90 ff.92 Rilke, Briefwechsel mit Rolf Freiherrn von Ungern-Sternberg, S. 42 (Brief vom 26. Juni 1921). 93 Ebd.

Utopischer Charakter

Übereinstimmung zwischen dem Vorhandenen und der poetischen Bilderwelt

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2.3 Interpretationen

dAS lyRISchE SchAffEN 65

2 RAINER MARIA RIlkE: dAS lyRISchE SchAffEN – EINfÜhRuNg uNd INtERpREtAtIoNEN

des böhmischen Liedes erinnerte ihn an die sichere Wohnung der Kindheit, nach der er sich dauernd zurücksehnte. Diese lebenslan-ge Sehnsucht gehört zum Komplex von Krisengefühlen des jungen Dichters: Sie betrafen die familiäre und soziale Unsicherheit, den sprachlichen Schwebezustand im tschechischen Sprachgebiet und das Scheitern des jungen Rilkes in den frühen Berufsausbildun-gen.

Das böhmische Element, das sich einstellt, um Unbilden des ly-rischen Ichs zu beseitigen, ist ein utopischer Entwurf: In der Reali-tät bestimmte in den 1890er Jahren der Nationalitätenkonflikt zwi-schen der kulturell und wirtschaftlich dominierenden deutschen Minderheit (sie machte knapp 10 Prozent der Einwohner Prags aus94) und der tschechischen Mehrheit den Alltag. Der Doppelstaat wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch gegensätzliche In-teressen der Nationalitäten und einen daraus entstehenden Hass der slawischen Völker gegen die Deutschen erschüttert. Rilke hatte seinen Larenopfern bewusst einen Akzent des utopisch Friedferti-gen mitgegeben, wie er 1896 an Jaroslav Vrchlický schrieb: „Ein leiser Akkord des Friedens soll erklingen im rauschenden Kampf-getöse“ (1, 631). Rilke lehnte Nationalismus ab: „(...) ich stehe ja auf keiner Seite; / denn Recht ist weder dort noch hier.“ (In du-biis95; aus: Larenopfer, 1, 40). Er entwickelt „seine Position der positiven Indiffe renz“96. – Volksweise ist voll von friedlichen Stim-mungen: „leise“, „sacht“, „klingt“, „Lied“, „Traum“. Rilke entwarf als deutschsprachi ger Dichter ein Wunschbild des harmonischen Zusammenlebens mit den Böhmen, denen er mit dem Gedicht Respekt entgegenbrachte.

94 So die Angabe in 1, 632. An anderer Stelle wird mitgeteilt, dass 1880 von 200.000 Einwohnern Prags etwa ein Fünftel deutsch sprach (vgl. Hähnel, S. 7).

95 Dt.: In Zweifelsfällen.96 Richter, S. 173.

Komplex von Krisengefühlen

Nationalitäten­konflikt

„Recht ist weder dort noch hier“

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2.3 Interpretationen

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1 RAINER MARIA RIlkE: lEBEN uNd wERk

Prag und Böhmen um 1900: Das Verhältnis zwischen Tsche-chen und Deutschen in dem zur Donaumonarchie gehören-den Königreich Böhmen war besonders gespannt, weil die tschechische Bevölkerungsmehrheit eine Wiederherstellung des böhmischen Staatsrechts anstrebte, das den Böhmen innerhalb des Vielvölkerstaats eine ähnliche Sonderstellung wie den Ungarn verschaffen sollte. Dieses Bestreben stieß auf energischen Widerstand der fast zwei Millionen Deut-schen in Böhmen, was schließlich auch zur Ablehnung des so genannten „deutsch-böhmischen Ausgleichs“ durch Kaiser Franz Joseph I. führte, der sich zwar im Bildungswesen und in der Sprachenordnung – 1880 wurde Tschechisch neben Deutsch wieder Amtssprache, 1897 verwies eine Sprachver-ordnung auf die Gleichberechtigung beider Sprachen – all-mählich durchsetzte, aber von teils gewalttätigen Auseinan-dersetzungen auf der Straße begleitet wurde. „Als Teil der österreichischen Monarchie repräsentierte das Königreich Böhmen ein künstliches politisches Gebilde, dessen innere Spannungen aus dem Widerstreit nationaler Interessen re-sultierten. Deutsche und Tschechen standen in einem schwer überwindbarem Gegensatz, der sich in verschiedenen Kri-senkonstellationen jeweils neu auffrischte. Im Zeichen der erstarkenden tschechischen Nationalbewegung gerieten die Deutschen in Böhmen zunehmend unter Druck. Sie vertei-digten sich ihrerseits mit ideologischen Gegenentwürfen, unter denen die Vorstellung von der deutschen Kulturnation zunächst der mächtigste und einflussreichste blieb.“97

97 Peter­André Alt: Franz Kafka. Der ewige Sohn. Eine Biographie. München: C. H. Beck, 2005, S. 33. Über die Spannungen und Konflikte innerhalb des Vielvölkerstaates informiert detailliert Brigitte Hamann: Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators. München: Piper, 1996.

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2 RAINER MARIA RIlkE: dAS lyRISchE SchAffEN – EINfÜhRuNg uNd INtERpREtAtIoNEN

Rilkes Gedicht trägt im Titel den Genrebegriff „Weise“. Er wird heute kaum noch verwendet, bedeutet die Zusammenführung von Wort und Ton und unterstellt eine intensive formale Ausgestaltung, die Rilke auf die lyrische Prosa ausdehnte (Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke). Es war ein aus der Geschichte des Volksliedes bekanntes Sprach- und Klangprodukt, das dem jungen Dichter in seiner böhmischen Heimat begegnete. Herder hatte sich darüber ausgelassen, vom „Kinderton“ gesprochen und auch lautliche Besonderheiten beschrieben wie Elisionen, Lauter-setzungen wie die von „ei“ durch „a“, „schleppende Artikel, Parti-kel“, die „den Gang des Sinns oder der Leidenschaft“98 hemmen. Rilke hat diese Lautbeziehung „ei“ und „a“ ausgiebig in seinem Gedicht genutzt, hat Artikel weggelassen („Volkes Weise“), andere abgeschwächt („ins, beim, im“) oder Präpositionen vorgeschoben („über, nach“). Ein einziger bestimmter Artikel bleibt vollständig erhalten: „der Nacht“ (V. 8). „Nacht“ ist in Rilkes Dichtung von Beginn an der Zustand der Selbstbesinnung, Konzentration und Schönheit („wenn die Nacht schon Diamanten / in die blauen Fer-nen sät“, Abend, aus: Larenopfer, 1, 20). Mit diesen bedeutungs-schweren Inhalten versehen, wurde „Nacht“ bei Rilke meist sehr genau bestimmt (daher „die Nacht“). Rilkes Bemühungen um das einfache und schlichte Gedicht weisen die Absicht aus, ein Volks-lied oder mindestens ein dem Volkslied ähnliches Gedicht, eben eine Weise zu schreiben. Das Gedicht „ist eigentlich ein Lied von einem Liede, die Widerspiegelung eines Liedes in der Seele des Dichters“99.

98 Johann Gottfried Herder: Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker. In: Ders.: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767–1781 (Werke in zehn Bänden, Band 2). Hrsg. v. Gunter E. Grimm. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 1993, S. 486.

99 Silman, S. 192.

Zusammenfüh­rung von Wort und Ton

Lautliche Besonderheiten

Rilkes Absicht

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Mit ähnlichen Gedichten hatten Zeitgenossen Rilkes ihr Inte-resse für das einfache Volk, aber auch ihr soziales Engagement bekundet. Richard Dehmel wurde 1893 berühmt durch sein Ern-telied (mit dem berühmten Refrain „Mahle, Mühle, mahle!“) oder durch Der Arbeitsmann. Rilke kannte nicht nur diese Gedichte, wie sein Vortrag Moderne Lyrik von 1898 zeigt, sondern hatte sich an Dehmels „tiefe(r), innige(r) Schlichtheit“ (4, 72) orientiert, ohne das „unsympathischste Pathos“, was daneben liege, zu übersehen.

Literaturgeschichtlich liegt der Ursprung der Weise in der mittelalterlichen Spruch- und Minnedichtung, deren scheinbar anspruchsloser Bau anspruchsvolle Vereinfachung bedeutete. So auch erscheint Rilkes Gedicht.

Eine weitere Besonderheit des Dichters wurde ebenfalls in den frühen Gedichten deutlich: Schon der junge Rilke legte Wert auf Klangfülle. Er bediente sich in seiner Lyrik lyrikuntypischer Worte („böhmischen“, „Kartoffeljäten“) und formte überraschende Reim-eindrücke. Ein genialer Einfall war es, dem Enjambement – dem Zeilenbruch am Ende des Verses – durch Alliteration oder Asso-nanz entgegenzuwirken: sacht-singt, Kartoffeljäten-klingt, sein-weit. Der Vers bekommt einen fließenden Charakter, da er über das Versende hinausreicht, wird aber gleichzeitig durch die Strenge des Reims, hier des Stab- oder Binnenreims, in einen festen Rhyth-mus gedrängt. Fließen und Verharren stehen sich spannungsvoll gegenüber. Es ist eine der Spannungen, die Rilkes Lyrik durchzieht.

Drei vierzeilige Strophen, jede mit umschließendem Reim, bil-den das Gedicht. Reim und Rhythmus waren nach Rilke aber kei-neswegs allein bestimmend für ein Gedicht. Vielmehr musste ein Rhythmus der Persönlichkeit hinzukommen, „ein unbewusstes Tö-nen“ (Moderne Lyrik; 4, 82). Volksweise lebt von einem gleichblei-bend beruhigenden Ton: Alle Reimwörter bewegen sich zwischen den Vokalen e und a, variiert zu ei und ä. Neben der auffallenden

Ursprung der Weise

Überraschende Reimeindrücke

Rhythmus der Persönlichkeit

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Alliteration („so sehr“ usw.) und Assonanz (ei: „schleicht ... leise“, i: „sie ins Herz sich“) gibt es Klänge, die sich durch das Gedicht ziehen und als „schwebende“ Alliteration bzw. „schwebende“ Assonanz bezeichnet werden können: So beginnen alle Reimwor-te des jeweils ersten Verses mit „s“ („sehr“, „sacht“, „sein“), und im Reim erscheint der Diphthong „ei“ ebenso häufig wie der Vo-kal „a“. In der abschließenden dritten Strophe bilden beide die Reimstruktur. Zusätzlich klingt „ei“ im gesamten Gedicht an und erscheint außerhalb des Reims im Titel und in fünf Versen („Volks-weise“, „schleicht“, „ein“, „beim“, „sein“, „weit“). Dadurch stellt sich Klangfülle ein. 

Auffallend ist die Silbenzahl der Wörter. Rilke hat „der Silbigkeit der Wörter“100 besondere Bedeutung zugemessen, um Rhythmus und Bedeutung zu verstärken, wie er Rolf von Ungern-Sternberg schrieb. Ihm hat Rilke die Methoden seines Dichtens ausführlich beschrieben, um seinem Briefpartner adäquate Übersetzungen zu ermöglichen: In Volksweise dominieren einsilbige Wörter. Von 51 Wörtern sind 42 einsilbig, womit inhaltliche Fülle erreicht wird, denn die Silbe wird zur semantischen Einheit. Sieben Wörter sind zweisilbig, und nur zwei überschreiten diese Maße: Sie erweisen sich beide als lyrisch schwer handhabbare Wörter: „böhmischen“ (V. 2) und „Kartoffeljäten“ (V. 6). Sie bezeichnen die lokale und inhaltliche Bindung des Gedichtes, beschreiben das Auffallende der Heimat und die Sicht des lyrischen Ichs, das sich auf ländlich rustikale Erscheinungen konzentriert. „Kartoffeljäten“ im Sinne von „Kartoffeln roden“ assoziiert ein Gemeinschaftserlebnis: Ein Kind singt dabei, die Erwachsenen hören es, und das Erleben wird zur bleibenden Erinnerung. Die Gleichförmigkeit der monotonen Arbeit lässt sich in der Gemeinschaft mit Lied und Gespräch leich-

100 Rilke, Briefwechsel mit Rolf Freiherrn von Ungern-Sternberg, S. 29 (Brief vom 29. April 1921).

Alliteration und Assonanz

„Silbigkeit der Wörter“

Erleben wird zur bleibenden Erinnerung

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ter bewältigen und bestimmt schließlich das abschließende Kar-toffelfeuer. Da in der ersten und zweiten Strophe jeweils ein Wort herausfällt und das Spezifische des Volkes nennt, fragt man sich, ob die dritte Strophe ein ähnliches Wort anbietet. Die Antwort liegt auf der Hand: Es ist das „du“. Das lyrische Ich steht sich selbst gegenüber („Magst du auch sein ...“, V. 9) und vermittelt die Fol-ge des Erlebnisses: Das Lied bleibt unvergessen, auch wenn das lyrische Ich aus der Heimat in die Welt aufgebrochen und „weit über Land gefahren“ (V. 10) ist. Damit ist in der dritten Strophe ein Wort und eine auffallende Wortgruppe an die Stelle des einzelnen auffallenden Wortes getreten. Volk, Böhmen und Heimaterfahrung erscheint so als der eine Pol des Gedichtes, lyrisches Ich, Welt und Heimaterinnerung als der andere.

Während im ersten Vers der Rhythmus zwischen trochäisch-jambischen und daktylischen Versfüßen schwankt  – es wäre gleichermaßen zu betonen „Mich“ und „sehr“ wie „rührt“ und „sehr“ –, bringt das erste Wort des zweiten Verses („böhmisches“) Ordnung ins Gedicht: Es ist ein Daktylus (x x x), der dann in allen weiteren Versen erscheint und so den ersten Vers in seine Ord-nung zwingt, die durch Trochäen (x x) vervollständigt wird. Der sich durchsetzende Rhythmus steht dem Volkslied allerdings ent-gegen, denn dieses geht großzügig mit Füllungen um. Ebenfalls nicht volksliedgemäß ist die Betonung des lyrischen Ichs, das Eindruck und Folgen der Volksweise reflektiert („mich rührt“) – ein anspruchsvoller intellektueller Vorgang, während im Volkslied die Volksweise direkt mitgeteilt wird. So vermittelt das Gedicht zwar den Eindruck eines Volksliedes.101 Aber es hebt diesen Ein-

101 Robert Faesi meint, Rilke habe in dem Gedicht „das böhmische Volkslied sogar zum Gegen­stand“ gemacht und ahme „seine melancholisch süßen Molltöne nach“ (Faesi, S. 29). Das ist allerdings nicht so, vielmehr wird das Volkslied aufgehoben.

Das lyrische Ich steht sich selbst gegenüber

Zwei Pole

Rhythmus steht dem Volkslied allerdings entgegen

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druck in einem Gefühl auf, durch welches das lyrische Ich durch die Erinnerung an eine mit romantischen Requisiten ausgestattete Landschaft Böhmen stabilisiert und gegenüber modernen Krisen-erfahrungen gefestigt wird. Die von Rilke beschriebene Heimat ist, wie bereits gesagt, allerdings eine idealisierte, stilisierte Wunsch-heimat, wie die dargestellte Harmonie eines ländlichen Zusam-menlebens zeigt.

Jede Strophe ist gleichzeitig ein Satz. Die drei Sätze sind durch-weg, wenn auch nicht sofort erkennbar, Konditionalsätze. Die mittlere Strophe eröffnet mit der Konjunktion „wenn“. Aber auch die erste Strophe ist leicht zu erkennen: „Wenn mich böhmischen Volkes so sehr rührt (...)“, noch offensichtlicher in der dritten Stro-phe: „Wenn du auch weit über Land gefahren sein magst (...)“. So erklären die drei Strophen, unter welcher Voraussetzung sich das lyrische Subjekt oder sein Alter Ego (du) zu seinem Volk und seiner Heimat bekennt.

Die scheinbar beiläufige Feststellung ist folgenreich: Das Ge-dicht beschreibt kein einmaliges und spontanes Erlebnis, wie es zuerst scheint, sondern ist bereits die Reflexion darauf, weist auf Wiederkehr und Wiederholbarkeit hin. Das Gedicht ist weniger impressionistisch, also vom plötzlichen Eindruck abhängig, als es zunächst scheint. Den Dichter und seine Heimat verbinden unauf-fällige, aber dauerhafte Beziehungen.

Die fast widerspruchsfreie Harmonie in Rilkes früher Lyrik wur-de bald von anders gearteten mythischen Bildern abgelöst. Rilkes lyrisches Ich war gefühlsstark und tatenarm; es beobachtete und sah, fühlte und war gerührt, die einzige praktische Tätigkeit er-scheint in Volksweise im Hintergrund, das Kartoffeljäten, das nur deshalb vom Dichter aufgenommen wurde, weil während dieser Tätigkeit gesungen wurde. Dieses Zurückdrängen des praktisch-tätigen Lebens zu Gunsten von Fühlen und Beobachten, Nach-

Jede Strophe ist gleichzeitig ein Satz

Wiederkehr und Wiederholbarkeit

Zurückdrängen des praktischen Lebens

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denken und Erinnern wurde immer stärker zur Besonderheit der Lyrik Rilkes. Wirklichkeit wurde der besondere Fall; die Träume wurden das eigentliche Erlebnis des Dichters. Was die Erinnerung an Böhmen in diese Träume einbrachte, blieb erhalten: Das Lied „klingt (...) im späten / Traum“ (V. 7 f.).

Schon in den frühen Gedichten Rilkes wurde wie in diesem Ge-dicht die Einsamkeit des lyrischen Ichs poetisiert. Noch gab es Erinnerungen an Gemeinsamkeiten, aber sie liegen schon weit zurück. Das Ich spricht mit sich selbst als einem Du; Bindungen an andere Menschen erscheinen nicht. Auch die Beziehung zum Tschechischen beschränkt sich auf das Hören und Erinnern, nicht auf tätiges Zusammenleben. Die Einsamkeit wird durch eine ge-ringe soziale Bindung verstärkt. Die Heimat stellte sich über die Erinnerung an ein Lied her. Ähnliches fanden die Leser zur glei-chen Zeit bei Liliencron und Peter Hille.

Träume wurden das eigentliche Erlebnis des Dichters

Hören und Erinnern, nicht tätiges Zusam­menleben