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C TITEL Von ROOIGER BRAUN und EOGAR ROOTMAN (Fotos) E s schien nur ein Routineeinsatz zu sein, wie ihn die Feue,rwehr in Cleveland schon unzählige Male erlebt hatte, ein Küchenbrand in einem ein- stöckigen Wohnhaus. Doch der Einsatzlei- ter hatte ein mulmiges Gefühl. Er gab seinen Männern den Auftrag, zum Brandherd vor- zudringen und aus unmittelbarer Nähe zu löschen, aberimmer wieder flackerte das Feuer auf. Alsdie Mannschaft sich schließ- lich ins Wohnzimmer zurückzog, um das weitere Vorgehen zu besprechen, wurde das ungute Gefühl des Einsatzleiters übermäch- tig. "Sofort alle raus hier", brüllte er. Der Letzte war gerade im Freien, da brach der Boden des Hauses zusammen. Als die Davongekommenen vor der rau- chenden Ruine standen, konnte der Ein- satzleiter nicht sagen, warum er plötzlich losgeschrien hatte. Erst sehr viel später wurde ihm klar: "Es war still, und das pass- te nicht mit der Tatsache zusammen, dass das Feuer so viel Hitze produzierte." Wie sichherausstellte, hatte der Brandherd gar nicht in der Küche gelegen, sondern im Keller darunter. Binnen kürzester Zeit eine Wahl treffen, ohne die Chance) sich alle Details der Situ- ation bewusst zu machen - das müssen nichtnur Brandhelfer, Notärzte, Polizisten und Börsianer. Biszu 10000 spontane Ent- scheidungen hat der Durchschnittsbürger pro Tag zu treffen: Soll er vor der gelben Rüdiger Nehberg, 71Jahre,_und _er ,,Ich bin aul jeden Fall ein Bauchmensch. Meinen Reisen gehen immer Strategien und eine rationale Vorbereitung voraus. Deshalb habe ich in gelährlichen Situationen dann auch immer ein Jl6s im Ärmel, I 'I; i; 1 "1 1 [ j ;! , zum Beispiel eineOberiebens- weste. Aber vor Ort entscheide ich ganz viel aus dem Bauch heraus. Vor allem, wenn ich mit Menschen Z1I lun habe. denn die sind schwerer !calkulierbar als das Wetter oder Tiere. Ich blicke den Menschen in die Augen oder schaue. ob sie sich normal verhalten. Meine Menschen- kenntnis funktioniert selbst bei Leuten, deren Sprache ich nicht !cann. Das ist irgendwie so ein sechster Sinn." 60 STERN 18/2007 Felicitas Schirow, 50 Jahre. _"Ibeb eiIIorln ,.Mit 16 Jahren begann ich als Prostituierte Z1I arbeiten. Klar, damals war ich noch naiv, habe vor allem auf das Glück gesetzt, wenn ich zu einem ins Auto stieg. Ein Freier hatte einmal einen Orgasmus wie ein Erdbeben. Mit irrem Blick krallte er sich an mir lest. Der Glaube an mein Bauchgefühl war weg, nur noch nackte Angst beherrschte mich. Dann bedankte und verabschiedete er sich höflich. Glück gehabt! Intuition ist für mich das Ergebnis vieler kleiner Ein- drücke, die man unbewusst wahrnimmt Verarbeitet man sie bewusst, nennt man das dann wohl Erfahrung. Beides ist in meinem Beruf überlehenswichtig. " Hermann Bühlbecker, 56 Jahre, Inhaberderl.am~ ..Mit 26 Jahren habe ich lambertz. das verschuldete Traditionsunternehmen für Weihnachtsgebäck, von meinem Onkel übernommen. Trotz BWl-Studium, Promotion, jahrzehntelanger Erfahrung und wirtschaftlichen Abwägungen stehen einem Erfolg immer unzählige Faktoren entgegen, die weder kontrollierbar noch voraus sehbar sind. Hier ist dann Instinkt gefragt. Ich bin zum Beispiel mit meinem Unter- nehmen in den Osten expan diert. als die Osterweiterung der EU noch nicht einmal absehbar war. Heute ist die lambertz-Gruppe Weltmarktführer für Weihnachtsgebäck."

Rüdiger Nehberg, Felicitas Schirow, · 2019. 10. 27. · Rüdiger Nehberg, 71Jahre,_und_er,,Ich bin aul jeden Fallein Bauchmensch. Meinen Reisen gehen immer Strategien und eine rationale

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  • C TITEL

    VonROOIGER BRAUNund EOGAR ROOTMAN (Fotos)

    Es schien nur ein Routineeinsatzzu sein, wie ihn die Feue,rwehr inCleveland schon unzählige Maleerlebt hatte, ein Küchenbrand in einem ein-stöckigen Wohnhaus. Doch der Einsatzlei-ter hatte ein mulmiges Gefühl. Er gab seinenMännern den Auftrag, zum Brandherd vor-zudringen und aus unmittelbarer Nähe zulöschen, aber immer wieder flackerte dasFeuer auf. Alsdie Mannschaft sich schließ-lich ins Wohnzimmer zurückzog, um dasweitere Vorgehen zu besprechen, wurde dasungute Gefühl des Einsatzleiters übermäch-tig. "Sofort alle raus hier", brüllte er. DerLetzte war gerade im Freien, da brach derBoden des Hauses zusammen.

    Als die Davongekommenen vor der rau-chenden Ruine standen, konnte der Ein-satzleiter nicht sagen, warum er plötzlichlosgeschrien hatte. Erst sehr viel späterwurde ihm klar: "Es war still, und das pass-te nicht mit der Tatsache zusammen, dassdas Feuer so viel Hitze produzierte." Wiesich herausstellte, hatte der Brandherd garnicht in der Küche gelegen, sondern imKeller darunter.

    Binnen kürzester Zeit eine Wahl treffen,ohne die Chance) sich alle Details der Situ-ation bewusst zu machen - das müssennicht nur Brandhelfer, Notärzte, Polizistenund Börsianer. Bis zu 10000 spontane Ent-scheidungen hat der Durchschnittsbürgerpro Tag zu treffen: Soll er vor der gelben

    Rüdiger Nehberg,71Jahre,_und_er,,Ich bin aul jeden Fall einBauchmensch. Meinen Reisengehen immer Strategien undeine rationale Vorbereitungvoraus. Deshalb habe ich ingelährlichen Situationen dannauch immer ein Jl6s im Ärmel,

    I 'I; i; 1»"1 ·1·[j ;! , zum Beispiel eineOberiebens-weste. Aber vor Ort entscheide ich ganz viel aus demBauch heraus. Vor allem, wenn ich mit Menschen Z1I lunhabe. denn die sind schwerer !calkulierbar als das Wetteroder Tiere. Ich blicke den Menschen in die Augen oderschaue. ob sie sich normal verhalten. Meine Menschen-kenntnis funktioniert selbst bei Leuten, deren Sprache ichnicht !cann. Das ist irgendwie so ein sechster Sinn."

    60 STERN 18/2007

    Felicitas Schirow,50Jahre. _"Ibeb eiIIorln,.Mit 16 Jahren begann ich als Prostituierte Z1Iarbeiten. Klar, damals war ich noch naiv, habe vor allemauf das Glück gesetzt, wenn ich zu einem ins Autostieg. Ein Freier hatte einmal einen Orgasmus wie einErdbeben. Mit irrem Blick krallte er sich an mir lest.Der Glaube an mein Bauchgefühl war weg, nur nochnackte Angst beherrschte mich. Dann bedankte und

    verabschiedete er sichhöflich. Glück gehabt!Intuition ist für mich dasErgebnis vieler kleiner Ein-drücke, die man unbewusstwahrnimmt Verarbeitetman sie bewusst, nennt mandas dann wohl Erfahrung.Beides ist in meinem Berufüberlehenswichtig. "

    Hermann Bühlbecker,56Jahre, Inhaberderl.am~..Mit 26 Jahren habe ich lambertz. das verschuldeteTraditionsunternehmen für Weihnachtsgebäck, vonmeinem Onkel übernommen. Trotz BWl-Studium,

    Promotion, jahrzehntelangerErfahrung und wirtschaftlichenAbwägungen stehen einemErfolg immer unzähligeFaktoren entgegen, die wederkontrollierbar noch voraus·sehbar sind. Hier ist dannInstinkt gefragt. Ich bin zumBeispiel mit meinem Unter-nehmen in den Osten expan·

    diert. als die Osterweiterung der EU noch nichteinmal absehbar war. Heute ist die lambertz-GruppeWeltmarktführer für Weihnachtsgebäck."

  • Oben oder unten, links oder rechts:Erfahrene Handballtorhüter sehen oft intuitivvoraus, in welche Ecke der Ban fliegt

    Ampel noch mal Gas geben? Beim Son-derangebot zugreifen? Die Unbekannteansprechen, die in Kneipe oder U ~Bahnseinen Weg kreuzt? All diese Entschlüsse,von denen einige weitreichende Folgenhaben können, werden in der Zeit einesWimpernschlags gefasst, und meist glau-ben wir, dass der Verstand uns dabei lei-tet. Das jedoch ist eine Illusion. Psycholo-gen und Hirnforscher haben Abläufe wieden Feuerwehr-Fall von Cleveland rekons-truiert. Sie lassen Testentscheider im La-bor verkabeln, messen Hirnströme undHautwiderstande, machen die Aktivitätverschiedener Areale unserer Steuerzent -rale im Kopf sichtbar. Was sie bis heuteherausgefunden haben. ist irritierend undberuhigend zugleich: Das VerstandestierMensch lässt sich bei Weitem nicht so oftvom Verstand lenken, wie es g1aubt. Aberdas kann ein Segen sein - nicht nur fürFeuerwehrmänner.

    Wie wenig unsere analytischen Fähig-keiten mitunter zum Tragen kommen,zeigen Forschungen wie die des UlmerNeurophysiologen Manfred Spitzer. Eruntersuchte die Hirnaktivität von Auto-fahrern und stellte erstaunt fest, dass diefür Entscheidungsprozesse und bewusstesNachdenken zuständigen Bereiche imFrontalhirn beim Fahrer weniger aktivwaren als beim Beifahrer. Außerdemnahm die Großhirnaktivität des Fahrersmit steigender Geschwindigkeit nicht etwazu, sondern weiter ab. "Da die vergleiche-weise langsam im Großhirn stattfin -denden Denkvorgänge ungeeignet sind

    für automatisch ablaufende schnelle Pro-zesse, verlieren sie mit zunehmender Ge-schwindigkeit immer mehr Einfluss aufdie Informationsvorgänge beim Fahren",schließt Spitzer. Die bewusste Wahrneh-mung wird reduziert, damit wir über-haupt in der Lage sind zu handeln.

    SELBST BEI SCHEINBAR GEZIELTEN, wil-lentlichen Entscheidungen schalten wirden Verstand offenbar erst dann ein, wenndie Wahl unterschwellig längst getroffenist. In einem berühmten Experiment ausdem Jahr 1983 bat der amerikanischeNeurobiologe Benjamin Libet Versuchs-personen, sich spontan zu entscheiden,wann sie den rechten Arm heben. Gleich-zeitig mussten sie auf einer speziellen Uhrden Moment ablesen, in dem sie sich zurBewegung entschlossen hatten. Libet undseine Mitarbeiter erfassten dabei mithilfevon Elektroden die Hirnströme der Test-personen. Sie konnten so in einem be-stimmten Teilder Großhirruinde das "Be-reitschaftspotenzial" sichtbar machen,welches anzeigt, dass Nervenzellen eineBewegung vorbereiten. Die Wissenschaft-ler waren von den Resultaten verblüfft: Inallen Tests war das Potenzial etwa einehalbe Sekunde vor dem Zeitpunkt mess-bar, zu dem sich die Versuchsteilnehmerzur Bewegung entschlossen hatten - einErgebnis, das inzwischen mit modernenMethoden bestätigt werden konnte.

    Offenbar gibt es auch ein "unbewuss-tes wissen'; das WlS hilft, blitzschnellsinnvolle Entscheidungen "aus dem-+

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  • ~ TITEl

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    Bauch heraus" zu treffen: Routinierte Zoll-fahnder greifen aus mehreren HundertFlugpassagieren zielsicher den Drogenku-rier heraus, obwohl dieser auf den erstenBlick völlig unauffällig wirkt. ErfahreneKunstexperten entlarven eine meisterhafteFälschung oft zuverlässiger als chemischeAnalysemethoden. Gute Torhüter ahnenoft, in welche Ecke der Ball rast.

    DER US-PSYCHOLOGE Gary Klein, einPionier der Entscheidungsforschung, derheute Konzerne, die Nasa und die USNavyberät, hält so etwas nicht für übersinnlicheWahrnehmung, sondern für unbewussteIntelligenz: "Manche glauben, Intuitionfunktioniert wie in "Star Wars"-Filmen,wenn Luke Skywalker kurz vor dem Show-down die Computer seines Raumschiffsauf Handbetrieb umschaltet und daraufvertraut, dass .die Macht' ihn leitet. Dabeihandelt es sich um komplexes Denken"

    Auch wenn es uns widerstrebt: Wirmüssen uns damit abfinden, dass unserVerstand häufig "nicht Herr im eigenenHause" ist, wie es der Bremer HirnforscherGerhard Roth provokant ausdrückt. Dassvon den vielen Tausend Entscheidungen,die wir täglich treffen, nur ein geringer Teilmithilfe unseres luziden Bewusstseins zu-stande kommt. Womit aber dann? Was istdas .Bauchgefühl"; die "Intuition"?

    Ein Teil der Intuition beruht auf un-serem evolutionären Erbe, auf MillionenJahre alten Verhaltensprograrnmen. Sokönnen bereits sechs Monate alte Babys dieGesichter von Männern und Frauen unter-scheiden und reagieren unterschiedlich aufsie. Ein gesunder Mensch muss nicht langeüberlegen, wann es Zeit ist, wieder etwaszu essen oder zu trinken, wann er dennächsten Atemzug nehmen soll.

    Aber das ist längst nicht alles. Wissen-schaftler gehen heute davon aus, dass imLaufe des Lebens zahllose individuelle Er-fahrungen in den Tiefen des Unbewussten

    Mithilfe einesspeziellenEntscheidungs-trainings bereitetlufthansa-Sicher-heitsexperteManfred MüllerPiloten auf Notfall-situationen vor

    gespeichert werden, auf die der Menschkeinen direkten, willentlichen Zugriff mehrhat. Trotzdem fließen diese Informationenin unsere Entscheidungen ein. In dem Au-genblick, in dem schnell eine Wahl zu tref-fen ist, werden im Unbewussten alle bereitsvorliegenden Erfahrungen auf ihre Nütz-lichkeit hin überprüft. Wir denken, ohnezu wissen, dass wir denken. Das bewussteDenken ist nur die Spitze des Eisberges.

    "Das Gehirn arbeitet hocheffizient. in-dem es einen großen Teil des komplexenDenkens an das Unbewusste delegiert':meint der US-Sozialpsychologe TimothyWilson. "Das adaptive Unbewusste ver-steht es hervorragend, die Umwelt einzu-schätzen, Menschen vor Gefahren zu war-nen, Ziele zu setzen und Handlungen inintelligenter und effizienter Weise einzu-leiten."

    Das ist vor allem deshalb bemerkens-wert, weil für "Bauch-Entscheidungen"trotz der Speicher im Unbewussten oft vielweniger Informationen zur Verfügung ste-hen als für die Urteile des abwägenden Ver-stands. Aber Gerd Gigerenzer und seinTeam aus Psychologen, Informatikern,Statistikern und Evolutionsbiologen arnMax-Planck-Institut für Bildungsfor-schung in Berlin haben in verschiedenenUntersuchungen gezeigt, dass solides Halb-wissen bei Entscheidungen tatsächlich hilf-reicher sein kann als profunde Fakten-kenntnis.

    "Unser Gehirn hat es im Lauf der Evo-lution zu einer Meisterschaft gebracht, auswenig Information rasch nützliche Schlüs-se zu ziehen", sagt der Psychologe. Dazuarbeitet es mit einer Vielzahl von Entschei-dungsregeln, mit Denkabkürzungen, die esermöglichen. "Ignoranz in Wissen zu ver-wandeln". Gigerenzer nennt sie .Heuris-tiken" oder einfach J)Faustregeln'~

    So einfach wie wirkungsvoll ist die soge-nannte Rekognitionsheuristik (Entschei-den nach der Bekanntheitsregel). Sie-e

  • Heidi Gross,_derApomw.,Model Mo_"enl".Als ich vor 14Jahren Oiane Krugers Bewerbungsfotofür den Elite-Modelwettbewerb in meinen Händenhielt war ich sofort bezaubert - was äußerst seltenvorkommt Bei ihr spiirte ich: Hinter dem schüch-Il!men, nicht besonders auft.llligen Mädchen steckt

    I q. i~':l\I unglaubliches Potenzial.Natürlich beziehe ich

    ~ - .. mich bei der Beurteilung[» vor allem auf mein ge-schu~es Auge uod meineästltetiscben Kriterien.Aber diese klare Schön-heit von Oiane sahenviele andere Kollegen da-mals nicht sowie ich. Ichhatte einfach diese Intui-tion. die mehr als nur diereine Optik wahrnimmt."

    Christoph Reuter,39Jahre,Jteul 'eplN tee.Es wäre Selbstmord, sich in Regionen wie demIrak oder Afghanistan allein auf sein Bauchgefiihlzu verlassen, das Wichtigste ist eine gründlicheVorbereitung; Trotzdem gibt es Situationen, indenen nur kurze Zeit zum Abwägen bleibt.

    Wo das Bauchgefühl zählt.Als ich vor drei Jahren inBagdad lebte, konnte jederTaxHahrergenausogutein Entführer sein. Damuss die Entscheidungschnell fallen: Wirkter vertrauenerweckend?Stört mich etwas?

    lst er jung; alt, Schiit (mit Ali-Bild am Rückspiegel),Christ (Kreuz am Spiegel) - es gibt viele schiitischeKidnapper, keine christlichen. Im letzten Momententscheidet die Intuition:

    besagt: Wenn du angeben sollst, welchesvon zwei Objekten dem anderen auf ir-gendeine Weise überlegen ist, welches etwaschneller, größer, stärker ist, dann wähledasjenige aus, das du kennst.

    In seinem neuen Buch .Bauchentschei-dungen - Die Intelligenz des Unbewusstenund die Macht der Intuition" zeigt Gige-renzer, dass sich mit dieser Methode Wahl-ausgänge, Turniererfolge und Börsenent-wicklungen prognostizieren lassen - selbst,wenn man nur wenig von der Sache ver-steht. So befragte der Forscher in Berlin100 Passanten, von welchen Aktien sie be-reits gehört hatten. Aus den zehn Aktien,die am häufigsten wiedererkannt wordenwaren, bildete er ein Portfolio, in das er50000 Euro investierte. Nach sechs Mona-ten hatte das Aktienpaket um 47 Prozentzugelegt und schnitt damit besser ab als diemeisten Investmentfonds.

    Im Vorfeld der Fußball-Europameister- INZWISCHEN KENNEN Wissenschaftlerschaft 2004 hatten die Max-Planck-For- sogar einige der Regionen in unseremscher Testkandidaten, die sich wenig fürs Kopf, in denen das unbewusste DenkenKicken interessierten, gebeten vorherzusa- vonstatten geht. Besonders aktiv scheintgen, welche Mannschaften die Vorrunden- bei diesen Prozessen die rechte Gehirn-spiele gewinnen würden. Zudem sollten hälfte zu sein. Sie arbeitet eher assoziativdie Fußball-Muffel angeben, von welchen und gefühlsbezogen. während die linkeder teilnehmenden Mannschaften sie Hemisphäre eher den analytischen Partschon einmal gehört hatten. Die Ergeb- übernimmt. Anatomisch zeigt sich dasnisse zeigten, dass die meisten Versuchs- daran, dass die rechte Hälfte stärker mitpersonen tatsächlich intuitiv mit der Ent- weiter entfernten Hirnregionen vernetztscheidungsregel arbeiteten. Trotz der über- ist, etwa mit dem limbisehen System, demraschenden Spielverläufe während des Tur- Entstehungsort der Gefühle.niers erlaubte die Heuristik, mehr als 70 Meist werden uns die Signale der Ner-Prozent der Ergebnisse korrekt zu bestim- venzellen nicht bewusst, wenn wir Ent-men. Allerdings ist die Rekognitionsheu- scheidungen zu treffen haben. Aber dasristik kein Patentrezept, sondern nur ein ist nicht immer so. Der amerikanischeHilfsmittel, um fehlendes Wissen zu über- Neurologe Antonio Damasio spricht vonbrücken. Bei völliger Ahnungslosigkeit "somatischen Markern': Körperempfin-lässt sie sich ebenso wenig anwenden wie dungen, die unser Denken und Handelnbei zu viel Kenntnis. I begleiten können: wohlige Wärme im

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    "Äußerst effektiv'; so Gigerenzer , seienauch bestimmte Stopp-Regeln, die dazuführen, dass wir den Entscheidungsprozessbeenden, sobald wir etwas gefunden ha-ben, das unseren Ansprüchen gerecht wird:ein preiswertes Lieblingsgericht auf Seiteeins der Speisekarte, das wir spontan be-stellen, auch wenn noch drei Seiten vollerAngebote folgen; eine günstige, schöneWohnung, die wir mieten, auch wenn wirnoch sieben weitere Besichtigungstermineauf dem Zettel haben. .Kluge Entschei-dungen': sagt Gigerenzer, "müssen nichtperfekt sein, sondern lediglich gut genug.Rastlose Maximierer- Typen, die alle Reg-ler auf Optimum stellen, haben es schwerim Leben." Psychologische Studien zeigen,dass sie unzufriedener, pessimistischerund anfälliger für Depressionen sind alsdie Pragmatiker.

    Bauch, ein weites Gefühl in der Brust, einangenehmes Kribbeln, ein Kloß im Hals,die Verspannung bestimmter Muskeln, ein"ungutes Gefühl': wie es der Feuerwehr-einsatzleiter in Cleveland hatte. Damasioist der Meinung, dass uns diese emotio-nalen Etiketten zwar nicht die Entschei-dung abnehmen, uns aber dabei helfen,indem sie "einige Wahlmöglichkeiten insrechte Licht rücken". Jedes Erlebnis werdeauf diese Weise mit einem positiven odernegativen Prädikat versehen. So entstehtim Lauf der Zeit ein "Ratgeber" mit Erfah-rungen, die erstrebenswert sind oder de-nen man besser aus dem Weg gehen sollte.

    Erfolgreiche Börserunalder und Mana-ger wissen, wie hilfreich die Intuition auchin der angeblich so nüchternen Geschäfts-welt sein kann - aber die meisten erzählendavon nur hinter vorgehaltener Hand. An-ders Andrea Schauer, die Geschäftsführe-rin der Zirndorfer Firma Playmobil, diesich Jahr für Jahr mit neuen Kollektionenvon Plastikspielzeug im Geschäft behaup-ten muss. "Bei der Entscheidung, welcheNeuheiten wir auf den Markt bringen,müssen wir uns meist auf unser Bauchge-fühl verlassen': sagt sie. "Es macht keinengroßen Sinn, Markttests mit Musterfigurendurchzuführen. Denn das Herstellen be-stimmter Produktionsformen ist so auf-wendig, dass wir die Serie auch gleichvermarkten können. Wir müssen einfachins Wasser springen und sehen, ob dasSpielzeug dann schwimmt:' Bisher hat derVerzicht auf die "harten Fakten" nichtgeschadet. Entgegen der rückläufigenBranchenentwicklung schaffte Playmobilim vergangenen Jahr international ein Um-satzplus von fünf Prozent.

    Dass man mit dem Bauchgefühl voll da-nebenliegen kann, würde Andrea Schauertrotzdem nicht bestreiten, so wenig wie alleExperten. Schließlich kommt es oft genugvor, dass Autofahrer in krisenhaften Mo-menten das Steuer in die falsche Richtungreißen. Und dass Frauen erst im Restau-rant feststellen, dass sie sich mit dem auf-geblasensten Langweiler der Stadt verab-redet haben.

    Aber niemand ist den Fehleinschät-zungen seines Bauchs einfach ausgeliefert.Intuition lässt sich trainieren. Das zeigenbeispielhaft die Untersuchungen, die derPsychologe Markus Raab vom Institut fürBewegungswissenschaften und Sport derUniversität Flensburg mit Handballernmachte. Er spielte Freizeitsportlern undBundesligaspielern kurze Filmsequenzenvon Spielsituationen vor und fragte, wieder jeweilige Spielzug idealerweise wei- -+

  • abrufen"; erklärt Truppenpsychologin Ka-tharina Appel. "Intuition ist schließlichnichts Spukiges, sondern Handeln auf-grund unbewusster Informationsverarbei-tung, die schneller ist als das Bewusstsein.Sieberuht auf Erfahrung und auf dem, waswir mit den Sinnen wahrnehmen"

    Auch bei der Lufthansa wird der Bauchlange trainiert, damit er richtig funktio-niert, wenn es drauf ankommt. Denn nacheiner Lufthansa -Umfrage bei mehr als2000 Piloten hat in neun Prozent der si-cherheitsrelevanten Entscheidungen Intui-tion eine wesentliche Rolle gespielt.

    Manfred Müller, Flugsicherheitsleiterbei der Kranich-Linie und Dozent für Risi-komanagement an der Hochschule Bre-men, trainiert mit den Piloten das Verhal-ten inMomenten, die über Leben und Todentscheiden können. Im Flugsimulatorspielen sie den Startabbruch bei hoher Ge-schwindigkeit durch, den Triebwerksaus-

    terlaufen würde. Gleichzeitig untersuchtenRaab und seine Mitarbeiter mit einer spe-ziell entwickelten Apparatur die Blickbe-wegung der Probanden, um zu verfolgen,auf welche Weise sie die Szene wahrneh-men. Eine Auswertung durch Handball-trainer zeigte: Je erfahrener die Spieler wa-ren, um so zuverlässiger waren ihre spon-tanen Entscheidungen.

    Da, wo das Leben von Menschen aufdem Spiel steht, verlässt man sich dennauch längst nicht mehr darauf, dass je-mand allein durch seine Alltagserfahrungeinen "guten Bauch" hat. So etwa bei derBundeswehr. In der Abgeschiedenheit derRhön, aufdem Truppenübungsplatz Wild-flecken, steht Soldaten ein komplettesDorf für Planspiele zur Verfügung, mit de-nen sie ihre intuitiven Fähigkeiten über-prüfen und verbessern können. In .Baba-rica" proben sie den Ernstfall, bevor sie inKrisengebiete geschickt werden, ins Koso-vo oder nach Afghanistan. Manchmal ex-plodiert hier zweimal täglich zur übungder ..Kindergarten". schreien ,Yerletzte",muss ein Patrouillenfuhrer mit Schweißauf der Stirn entscheiden, ob er Verstär-kungruft.

    Natürlich wird das Verhalten in solchenFällen auch theoretisch gelehrt. Aber diepraktische übung ist durch nichts zu erset-zen .••Die Soldaten können hier in der Aus-bildung Erfahrungen mit gefährlichen Si-tuationen sammeln und diese in ihrememotionalen Gedächtnis speichern. ImErnstfall kann das Gehirn dann die rich-tigen Entscheidungsmuster blitzschnell IIE°I- ...J

    Mika Häkkinen38Ja1we,lIe"nf_"Ich war schon oft auf mein Bauchgefühl an-

    ~ gewiesen, das gehört zu meinem Beruf. Wenn

    Il;;· irgeodetwas mit demWagen passiert etwaskaputtgeht, muss maninstinktiv reagieren. Das~ ist keine Frage yoo Spe-Sit zialtrainings - ein gutes

    Bauchgefühl kommt mitder Erfahrunll'''

    66 STERN 18/2007

    Blitzschnelles Entscheiden im Ernst-falllernen Bundeswehrsoldaten auf demTruppenübungsplatz Wildflecken

    fall und andere technische Defekte. "Sielernen dabei sogenannte Canned Deci-sions, detailliert vorbereitete Handlungs-opticnen, die sie inkritischen Situationen.wenn kaum Zeit zum Nachdenken bleibt,routiniert abspulen können'; sagt Müller.

    WIE WICHTIG DIE VORBEREITUNG aufbrenzlige Situationen sein kann, weiß derTrainer aus eigener Erfahrung. Als er vorJahren als Copilot auf einer Boeing 737 ar-beitete, wurde mitten im Startvorgangplötzlich die sogenannte überziehwarnungaktiv, ein technisches System, das signali-sierte, dass die Maschine nicht flugfähigsei. Ein Dilemma: Ein Start schien extremriskant zu sein. Aber ein Abbruch desStarts hätte damit geendet, dass das bereitssehr schnelle Flugzeug über die Rollbahnhinausgeschossen wäre. Was Müller undseinem Kapitän in diesem Moment half:Beide hatten eine solche Situation bereitsin ihrer Ausbildung bewältigen müssen.Und beide hatten zuvor einen Artikel gele-sen, in dem ein ähnlicher Fall beschriebenwar - bei dem die Warnung sich schließ-lich als Computerfehler entpuppt hatte.Die beiden entschlossen sich spontan zumStart, die Maschine flog problemlos: Eswar tatsächlich eine Fehlwarnung gewesen."Intuition ist unverzichtbar, weil ein tech-nisches Gerät nie hundertprozentig per-fekt ist': sagt Müller. .Der gesunde Men-schenverstand spielt eine große Rolle"

    Was für Piloten und Soldaten gilt, kannauch den Normalbürger weiterbringen:Übung, Übung, übung. Wer schon des Öf-teren bei Glatteis gefahren ist, wird beimnächsten Eisregen intuitiv besser reagierenals ein Anfänger. Bereits ein oder zweiFahrtrainings beim ADAC können denBauch schulen. Wer Dutzende Male miteinem Freund die kritischen Fragen einesBewerbungsgesprächs durchgespielt hat,ist im Ernstfall nicht mehr so leicht aus derRuhe zu bringen.

    Manche Situationen freilich will oderkann man nicht zu übungszwecken insze-nieren. Und das ist auch nicht nötig. Denninzwischen wissen Forscher, dass allein inGedanken gemachte Erfahrungen bereitsso intensiv sein können, dass sie ebenfallsin unserem Unbewussten abgespeichertwerden und unsere Entscheidungen beein-flussen. Lufthansa-Trainer Müller emp-fiehlt den Piloten deshalb, sich zusätzlichzu den Simulatorübungen mit mentalemTraining auf Extremsituationen vorzube-reiten. Die Flieger sollen sich aus ihren Un-terlagen die Handlungsanweisungen fürbestimmte Szenarien herausschreiben, -+

  • Test-Klassiker

    das ganze Programm auswendig lernenund es durch "Chair-Flying" mental simu-lieren. Für dieses .Stuhl-Fliegen" stellensie sich vor) sie wären im Flugzeug undmachten alle Schalterbewegungen undEingaben ins Gerät, die in einem richtigenFlugzeug erforderlich wären. "Nicht nurdie gefühlte Sicherheit wird dadurch bes-ser", sagt Müller, "sondern auch die objek-tiv messbare Arbeitsqualität"

    Das Chair-Flying der Lufthansa lässtsich auf den Alltag übertragen - und vieletun das längst, ohne es zu wissen. Wer sicheine bestimmte Situation immer wiedervorstellt, mit allen Risiken und mit allenReaktionen, der macht genau das Richtige,um Panik und Blackouts im Notfall vorzu-beugen. Wer ein Prüfungsgespräch vorherDutzende Male im Geiste durchgeht, füt-tert sein Unbewusstes mit Erfahrungen,die später nützen können.

    Und noch eines raten Experten: denVerstand zu nutzen, um den Bauch besserzu machen. Situationen zu rekonstruieren,in denen man spontan entschieden hat,sich über die Mechanismen klar zu wer-den, die die Wahl beeinflusst haben. Ent-scheidungsforscher Gary Klein empfiehlt,die Intuition wie den "Rat eines gutenFreundes" zu benutzen und mit rationalenüberlegungen zu überprüfen. Sie sei einRatgeber, der mit jeder Benutzung präziserwerde. Menschen mit wenig Erfahrungsollten sich nicht blind auf ihre Einge-bungen verlassen, ohne diese kritisch zuhinterfragen. Ein junger Pilot tut gut dar-an, sich bei einem Triebwerksausfall skla-visch an die vorhandene Notfall-Checklistezu halten.

    Wann sie genug Erfahrung gesammelthaben, um ihrem Bauch trauen zu können,scheinen viele Menschen von selbst zu wis-sen. Der Flensburger Psychologe Raab ließseine Versuchshandballer nicht nur spon-tan angeben, welcher Spielzug in einerbestimmten Situation arn besten wäre. Erließ sie später Alternativen entwickeln undfragte zum Schluss noch einmal, ob sie beiihrer ersten, spontanen Wahl bleiben woll-ten. Das Resultat: Die meisten gestande-nen Spieler, waren auch im Nachhineinsicher, dass ihre erste Wahl die beste war,viele Ungeübtere wurden unsicher.

    "Erfahrung': so lautet die tröstlicheWeisheit des Entscheidungsforschers Kleinfür alle) die schon Falten bekommen, "Er-fahrung ist keine Last) die wir mit uns her-umschleppen, sie. macht den Menschenleichter und schneller." )i

    Mitarbeit; Angelika Unger, Tanja Masur undCorinne Benzing (Interviews)

    Page 1TitlesC TITEL Felicitas Schirow,

    Page 2Page 3Titles~ TITEl

    Page 4TitlesChristoph Reuter,

    Page 5TitlesMika Häkkinen ~ ist keine Frage yoo Spe-

    Page 6TitlesTest-Klassiker