50
marx 21 MARX IS MUSS 2012 7. - 10. JUNI READER I REVOLUTION Netzwerk für internationalen Sozialismus - ÜBERARBEITET -

READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

  • Upload
    others

  • View
    4

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

marx 21

MARX IS MUSS20127 . - 1 0 . J U N I

READER I

REVOLUTION

Netzwerk für internationalen Sozialismus

- ÜBERARBEITET -

Page 2: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:
Page 3: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Revolution | 3

Revolution bei Karl Marx

Unser Seminar heißt ganz schlicht aber bedeutsam „Revolution“. Wir reden nachher noch ausführlich über Revolutionen heute, zum Beispiel in Ägypten, oder über die Frage, ob es in Europa wieder eine Revolution geben könnte.

Wir haben uns aber gedacht, es lohnt sich, am Anfang zu schauen, woher die Idee der sozialistischen Revolution kommt. Und wie so oft bei sozialistischer Theorie ist es auch hier nützlich, bei Karl Marx und Friedrich Engels nachzuschauen.

Sie haben geschrieben, dass die Arbeiterklasse den Kapitalismus früher oder später mit einer Revolution stürzen wird, weil der Kapitalismus die Menschen immer wieder in Krisen und Kriege stürzt. Und wenn man sich die Frage stellt, warum es eine Revolution ist, die den Kapitalismus begräbt, passt dazu der berühmte Anfang des Kommunistischen Manifests:

„Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften ist die Geschichte von Klassenkämpfen.

Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigner, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedes Mal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.

Die aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft hervorgegangene moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassengegensätze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltung des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt."

Vielleicht habe ich jetzt was vorgelesen, was ihr schon kennt. Ich hab’s trotzdem gemacht, weil diese Stelle schon viel darüber aussagt, was Marx und Engels unter „Revolution“ verstanden haben.

Sie schreiben hier nicht, dass die Revolution wünschenswert sei. Dass sie aus moralischen oder humanistischen Gründen gemacht werden sollte. Die „Revolution“ ist bei Marx und Engels eben keine Utopie, eben keine Vision.

Sondern sie schreiben hier, dass der Konflikt zwischen herrschenden und unterdrückten Klassen, der Klassenkampf in der Vergangenheit immer wieder zu Revolutionen geführt hat und dass er es deshalb auch in Zukunft tun wird. Und diese Folgerung hat damit zu tun, dass Marx und Engels den Kapitalismus als eine historische Epoche begreifen, der durch einen bestimmten Entwicklungsstand der Produktionskräfte, man könnte auch sagen, einen bestimmten Entwicklungsstand der Wirtschaft gebunden ist.

In einem Brief schrieb Marx 1852:

„Was mich betrifft, so gebührt mir nicht das Verdienst, weder die Existenz der Klassen noch ihren Kampf unter sich entdeckt zu haben. Was ich neu tat war: 1. Nachzuweisen, dass die Existenz der Klassen bloß an bestimmte Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist; 2. dass der Klassenkampf notwendig zur Diktatur

Page 4: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Revolution | 4

des Proletariats führt; 3. Dass diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet.“

Das sind sehr wichtige Entdeckungen, die Marx hier ganz unbescheiden sich selbst zuschreibt:

Er sagt, die Klassengesellschaft war nicht schon immer da. Sie ist nicht der Naturzustand der Menschheit. Sondern es gab eine lange Zeit ohne Klassen, vor der Antike. Dann wird es eine unvorhersehbar lange Zeit ohne Klassen geben. Nach dem Kapitalismus, beendet durch die sozialistische Revolution. Die Revolution überführt die Menschen also nicht von ihrem Naturzustand in eine bessere Welt. Sondern die Revolution beendet nur eine relativ kurze und konfliktreiche Phase der Menschheitsgeschichte, nämlich die Klassengesellschaft.

Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat: Die Arbeiterklasse. Die Arbeiterklasse hat im Kapitalismus gelernt gemeinsam, kollektiv zu arbeiten, in großen Unternehmen. Sie kann den Kapitalismus nur stürzen, wenn Millionen von Menschen gemeinsam handeln und daher wird sie in der Lage sein, nach dem Kapitalismus eine gemeinsame, eine kollektive, eine wahrhaft demokratische und damit eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Marx nennt das „Diktatur des Proletariats“, was ein bisschen unglücklicher Begriff ist, weil mit Diktaturen haben die Menschen sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Aber was er meint ist, die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit, die Herrschaft der Arbeiter über die Kapitalisten, die tatsächliche Demokratie durch demokratische Kontrolle der Wirtschaft. Und daraus folgt laut Marx ja auch die Aufhebung aller Klassen und die klassenlose Gesellschaft, also der Kommunismus.

Warum glaubt Marx das? Weil er sagt, die Klassengesellschaft war historisch notwendig, solange es nicht genug für alle gab. Solange im Mittelalter nicht genug Nahrung für alle hergestellt werden konnte, musste es irgendeine Klasse geben, die hungerte. Aber es ist eben der Kapitalismus selbst, der den Wohlstand geschaffen hat, durch den die kapitalistische Klassengesellschaft überflüssig geworden ist.

Die sozialistische Revolution vollzieht also „nur“ das, was der Kapitalismus ökonomisch schon hervorgebracht hat: Eine Überflussgesellschaft, in der alle im Wohlstand leben können. Der Wohlstand muss den Kapitalisten also nur noch entrissen und demokratisch kontrolliert werden.

Nun hat sich ja herausgestellt, dass die sozialistische Weltrevolution, mit der Marx und Engels gerechnet haben, bisher nicht erfolgt ist. Es gab viele Revolutionen im 20. Jahrhundert und auch in den letzten Jahren, aber letztendlich war keine davon erfolgreich, da wir ja immer noch Kapitalismus haben.

Marx war sich allerdings sehr bewusst darüber, dass die Revolution keinesfalls automatisch kommt, sondern dass sie von der Arbeiterklasse gemacht werden muss, aber auch scheitern kann. Und Marx hat geschrieben, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus, die mal eine große Errungenschaft waren, nämlich zu Marx Lebzeiten. Dass diese Verhältnisse ohne eine Revolution die Fortentwicklung der Menschheit verhindern und die Möglichkeiten, heute zum Beispiel zur Bekämpfung der Armut, nicht ausnutzen.

Dazu mein vorerst letztes Zitat von Karl Marx, wieder etwas halbwegs bekanntes, dass aber, wenn man ein bisschen weiterliest viel mit Revolution zu tun hat. Aus dem Vorwort von „Zur Kritik der politischen Ökonomie“:

„Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein des Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.

Page 5: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Revolution | 5

Aber auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen und Eigentumsverhältnissen, innerhalb derer sie sich bisher bewegt hatten.

Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“

Page 6: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Revolution | 6

Staat und Revolution Wladimir Iljitsch Lenin

III. Kapitel Die Erfahrungen der Pariser Kommune vom Jahre 1871.

Die Analyse von Marx

1. Worin bestand der Heroismus des Versuchs der Kommunarden?

Es ist bekannt, daß Marx einige Monate vor der Kommune, im Herbst 1870, die Pariser Arbeiter warnte und nachwies, daß der Versuch, die Regierung zu stürzen, eine verzweifelte Torheit wäre. Als aber im März 1871 den Arbeitern der Entscheidungskampf aufgezwungen wurde und sie ihn aufnahmen, als der Aufstand zur Tatsache geworden war, begrüßte Marx, trotz der schlimmen Vorzeichen, die proletarische Revolution mit der größten Begeisterung. Marx versteifte sich nicht auf eine pedantische Verurteilung der „unzeitgemäßen“ Bewegung, wie das der zu trauriger Berühmtheit gelangte russische Renegat des Marxismus, Plechanow, tat, der im November 1905 so schrieb, daß er die Arbeiter und Bauern zum Kampf ermunterte, nach dem Dezember 1905 aber wie ein Liberaler zeterte: „Man hätte nicht zu den Waffen greifen sollen.“

Marx begnügte sich jedoch nicht damit, den Heroismus der, wie er sich ausdrückte, „himmelstürmenden“ Kommunarden Begeisterung zu zollen. Er sah in der revolutionären Massenbewegung, obwohl sie ihr Ziel nicht erreichte, einen historischen Versuch von ungeheurer Tragweite, einen gewissen Schritt vorwärts in der proletarischen Weltrevolution, einen praktischen Schritt, der wichtiger ist als Hunderte von Programmen und Auseinandersetzungen. Diesen Versuch zu analysieren, aus ihm Lehren für die Taktik zu ziehen, auf Grund dieses Versuchs seine eigene Theorie zu überprüfen – das war die Aufgabe, die sich Marx stellte.

Die einzige „Korrektur“, die Marx am Kommunistischen Manifest vorzunehmen für notwendig erachtete, machte er auf Grund der revolutionären Erfahrungen der Pariser Kommunarden.

Die letzte Vorrede zur neuen deutschen Auflage des Kommunistischen Manifests, die von seinen beiden Verfassern unterzeichnet ist, datiert vom 24. Juni 1872. In dieser Vorrede erklären die Verfasser, Karl Marx und Friedrich Engels, daß das Programm des Kommunistischen Manifests „heute stellenweise veraltet“ sei.

„Namentlich“, fahren sie fort, „hat die Kommune den Beweis geliefert, daß ‚die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen kann‘.“

Die in einfache Anführungszeichen (‚...‘) gesetzten Worte dieses Zitats haben seine Verfasser der Marxschen Schrift Der Bürgerkrieg in Frankreich entnommen.

Page 7: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Revolution | 7

Somit maßen Marx und Engels der einen Haupt- und Grundlehre der Pariser Kommune eine so ungeheure Bedeutung bei, daß sie sie als wesentliche Korrektur zum Kommunistischen Manifest hinzufügten.

Es ist überaus bezeichnend, daß gerade diese wesentliche Korrektur von den Opportunisten entstellt worden ist und daß ihr eigentlicher Sinn sicherlich neun von zehn, wenn nicht gar neunundneunzig von hundert Lesern desKommunistischen Manifests unbekannt ist. Ausführlicher sprechen wir von dieser Entstellung weiter unten in dem Kapitel, das sich speziell mit den Entstellungen befaßt. Vorläufig mag der Hinweis genügen, daß die landläufige, vulgäre „Auffassung“ des von uns zitierten berühmten Ausspruchs von Marx darin besteht, daß Marx hier angeblich die Idee der allmählichen Entwicklung im Gegensatz zur Ergreifung der Macht unterstreiche und dergleichen mehr.

In Wirklichkeit ist es gerade umgekehrt. Der Marxsche Gedanke besteht gerade darin, daß die Arbeiterklasse „die fertige Staatsmaschine“ zerschlagen, zerbrechen muß und sich nicht einfach auf ihre Besitzergreifung beschränken darf.

Am 12. April 1871, d.h. gerade während der Kommune, schrieb Marx an Kugelmann:

„Wenn Du das letzte Kapitel meines Achtzehnten Brumaire nachsiehst, wirst Du finden, daß ich als nächsten Versuch der französischen Revolution ausspreche, nicht mehr wie bisher die bürokratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andere zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen“ (hervorgehoben von Marx), „und dies ist die Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution auf dem Kontinent. Dies ist auch der Versuch unserer heroischen Pariser Parteigenossen.“ (S.709, Neue Zeit, XX, 1, 1901/1902.) (Die Briefe von Marx an Kugelmann sind in russischer Sprache in mindestens zwei Ausgaben erschienen, eine davon unter meiner Redaktion und mit einem Vorwort von mir.)

In diesen Worten: „die bürokratisch-militärische Maschinerie zu zerbrechen“, ist, kurz ausgedrückt, die Hauptlehre des Marxismus von den Aufgaben des Proletariats in der Revolution gegenüber dem Staat enthalten. Und gerade diese Lehre ist nicht nur völlig vergessen, sondern durch die herrschende, kautskyanische „Auslegung“ des Marxismus geradezu entstellt worden!

Was den Hinweis von Marx auf den Achtzehnten Brumaire anbelangt, so haben wir die betreffende Stelle weiter oben vollständig zitiert. Es ist von Interesse, zwei Stellen aus der angeführten Betrachtung von Marx besonders hervorzuheben. Erstens beschränkt er seine Schlußfolgerung auf den Kontinent. Das war 1871 verständlich, als England noch das Muster eines rein kapitalistischen Landes war, aber eines Landes ohne Militarismus und in hohem Grade ohne Bürokratie. Marx schloß daher England aus, wo eine Revolution und selbst eine Volksrevolution ohne die Vorbedingung der Zerstörung der „fertigen Staatsmaschine“ damals möglich zu sein schien und möglich war.

Jetzt, im Jahre 1917, in der Epoche des ersten großen imperialistischen Krieges, fällt diese Einschränkung von Marx fort. Sowohl England als auch Amerika, die im Sinne des Nichtvorhandenseins von Militarismus und Bürokratismus größten und letzten Vertreter angelsächsischer „Freiheit“ in der ganzen Welt, sind vollständig in den allgemeinen europäischen, schmutzigen, blutigen Sumpf der bürokratisch-militärischen Institutionen hinabgesunken, die sich alles unterordnen, die alles erdrücken. Jetzt bildet sowohl für England als auch für Amerika das Zerbrechen, das Zerstören der „fertigen Staatsmaschine“ (die dort in den Jahren 1914-1917 die „europäische“, allgemein-imperialistische Vollkommenheit erreicht hat) die „Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution“.

Page 8: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Revolution | 8

Zweitens verdient die außerordentlich tiefe Bemerkung von Marx besondere Beachtung, daß die Zerstörung der bürokratisch-militärischen Staatsmaschinerie „die Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution“ ist. Dieser Begriff der „Volks“revolution mutet im Munde von Marx sonderbar an, und die russischen Plechanowleute und Menschewiki, diese Nachfolger Struves, die als Marxisten gelten möchten, könnten am Ende diesen Ausdruck von Marx als „falschen Zungenschlag“ hinstellen. Sie haben den Marxismus zu einem so armselig-liberalen Zerrbild herabgewürdigt, daß für sie außer der Gegenüberstellung von bürgerlicher und proletarischer Revolution nichts anderes existiert, und selbst diese Gegenüberstellung wird von ihnen unglaublich starr aufgefaßt. Nimmt man als Beispiel die Revolutionen des 20. Jahrhunderts, so wird man natürlich sowohl die portugiesische als auch die türkische Revolution als bürgerliche auffassen müssen. Aber weder die eine noch die andere ist eine „Volks“revolution, denn die Volksmasse, die ungeheure Mehrheit des Volkes, ist weder in der einen noch in der anderen Revolution aktiv, selbständig, mit ihren eigenen wirtschaftlichen und politischen Forderungen sichtbar hervorgetreten. Dagegen war die russische bürgerliche Revolution von 1905 bis 1907, obgleich ihr so „glänzende“ Erfolge versagt blieben, wie sie zeitweilig der portugiesischen und der türkischen Revolution beschieden waren, zweifellos eine „wirkliche Volks“revolution, denn die Masse des Volkes, seine Mehrheit, die „untersten“ Gesellschaftsschichten, zermürbt durch Unterjochung und Ausbeutung, erhoben sich selbständig und drückten dem ganzen Verlauf der Revolution den Stempel ihrer Forderungen auf, ihrer Versuche, auf eigene Art eine neue Gesellschaft an Stelle der zu zerstörenden alten aufzubauen.

Auf dem europäischen Kontinent bildete 1871 das Proletariat in keinem Lande die Mehrheit des Volkes. Eine „Volks“revolution, die tatsächlich die Mehrheit des Volkes in die Bewegung einbezieht, konnte nur dann eine solche sein, wenn sie sowohl das Proletariat als auch die Bauernschaft erfaßte. Diese beiden Klassen bildeten damals eben das „Volk“. Beide Klassen sind dadurch vereint, daß die „bürokratisch-militärische Staatsmaschinerie“ sie knechtet, bedrückt und ausbeutet. Diese Maschinerie zu zerschlagen, die zu zerbrechen – das verlangt das wirkliche Interesse des „Volkes“, seiner Mehrheit, der Arbeiter und der Mehrzahl der Bauern, das ist die „Vorbedingung“ für ein freies Bündnis der armen Bauern mit den Proletariern, ohne dieses Bündnis aber ist die Demokratie nicht von Dauer und die sozialistische Umgestaltung unmöglich.

Zu einem solchen Bündnis bahnte sich bekanntlich denn auch die Pariser Kommune den Weg, die aus einer Anzahl innerer und äußerer Gründe ihr Ziel nicht erreichte.

Folglich hat Marx, als er von einer „wirklichen Volksrevolution“ sprach, ohne die Eigentümlichkeiten des Kleinbürgertums im geringsten zu vergessen (er sprach viel und oft davon), das tatsächliche Kräfteverhältnis der Klassen in den meisten Staaten des europäischen Kontinents im Jahre 1871 ganz genau berücksichtigt. Anderseits aber konstatierte er, daß das „Zerschlagen“ der Staatsmaschinerie im Interesse sowohl der Arbeiter als auch der Bauern notwendig ist, sie einigt, sie vor die gemeinsame Aufgabe stellt, den „Schmarotzer“ zu beseitigen und ihn durch etwas Neues zu ersetzen.

Und zwar wodurch?

Page 9: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Revolution | 9

Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft Friedrich Engels

|227| Fassen wir zum Schluß unsern Entwicklungsgang kurz zusammen:

I. Mittelalterliche Gesellschaft: Kleine Einzelproduktion. Produktionsmittel für den Einzelgebrauch zugeschnitten, daher urwüchsig-unbehülflich, kleinlich, von zwerghafter Wirkung. Produktion für den unmittelbaren Verbrauch, sei es des Produzenten selbst, sei es seines Feudalherrn. Nur da, wo ein Überschuß der Produktion über diesen Verbrauch stattfindet, wird dieser Überschuß zum Verkauf ausgeboten und verfällt dem Austausch: Warenproduktion also erst im Entstehn; aber schon jetzt enthält sie in sich, im Keim, die Anarchie in der gesellschaftlichen Produktion.

II. Kapitalistische Revolution: Umwandlung der Industrie zuerst vermittelst der einfachen Kooperation und der Manufaktur, Konzentration der bisher zerstreuten Produktionsmittel in großen Werkstätten, damit ihre Verwandlung aus Produktionsmittel des einzelnen in gesellschaftliche - eine Verwandlung, die die Form des Austausches im ganzen und großen nicht berührt. Die alten Aneignungsformen bleiben in Kraft. Der Kapitalist tritt auf: In seiner Eigenschaft als Eigentümer der Produktionsmittel eignet er sich auch die Produkte an und macht sie zu Waren. Die Produktion ist ein gesellschaftlicher Akt geworden; der Austausch und mit ihm die Aneignung bleiben individuelle Akte, Akte des einzelnen: Das gesellschaftliche Produkt wird angeeignet vom Einzelkapitalisten. Grundwiderspruch, aus dem alle Widersprüche entspringen, in denen die heutige Gesellschaft sich bewegt und die die große Industrie offen an den Tag bringt.

a. Scheidung des Produzenten von den Produktionsmitteln. Verurteilung des Arbeiters zu lebenslänglicher Lohnarbeit. Gegensatz von Proletariat und Bourgeoisie.

b. Wachsendes Hervortreten und steigende Wirksamkeit der Gesetze, die die Warenproduktion beherrschen. Zügelloser Konkurrenzkampf. Widerspruch der gesellschaftlichen Organisation in der einzelnen Fabrik und der gesellschaftlichen Anarchie in der Gesamtproduktion.

c. Einerseits Vervollkommnung der Maschinerie, durch die Konkurrenz zum Zwangsgebot für jeden einzelnen Fabrikanten gemacht und gleichbedeutend mit stets steigender Außerdienstsetzung von Arbeitern: industrielle Reservearmee. Andrerseits schrankenlose Ausdehnung der Produktion, ebenfalls Zwangsgesetz der Konkurrenz für jeden Fabrikanten. Von beiden Seiten unerhörte Entwicklung der Produktivkräfte, Überschuß des Angebots über die Nachfrage, Überproduktion, Überfüllung der Märkte, zehnjährige Krisen, fehlerhafter Kreislauf: Überfluß hier, von Produktionsmitteln und Produkten - Überfluß dort, von |228| Arbeitern ohne Beschäftigung und ohne Existenzmittel; aber diese beiden Hebel der Produktion und gesellschaftlichen Wohlstands können nicht zusammentreten, weil die kapitalistische Form der Produktion den Produktivkräften verbietet, zu wirken, den Produkten, zu zirkulieren, es sei denn, sie hätten sich zuvor in Kapital verwandelt: was gerade ihr eigner Überfluß verhindert. Der Widerspruch hat sich gesteigert zum Widersinn: Die Produktionsweise rebelliert gegen die Austauschform. Die Bourgeoisie ist überführt der Unfähigkeit, ihre eignen gesellschaftlichen Produktivkräfte fernerhin zu leiten.

Page 10: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Revolution | 10

d. Teilweise Anerkennung des gesellschaftlichen Charakters der Produktivkräfte, den Kapitalisten selbst aufgenötigt. Aneignung der großen Produktions- und Verkehrsorganismen, erst durch Aktiengesellschaften, später durch Trusts, sodann durch den Staat. Die Bourgeoisie erweist sich als überflüssige Klasse; alle ihre gesellschaftlichen Funktionen werden jetzt erfüllt durch besoldete Angestellte.

III. Proletarische Revolution, Auflösung der Widersprüche: Das Proletariat ergreift die öffentliche Gewalt und verwandelt kraft dieser Gewalt, die den Händen der Bourgeoisie entgleitenden gesellschaftlichen Produktionsmittel in öffentliches Eigentum. Durch diesen Akt befreit es die Produktionsmittel von ihrer bisherigen Kapitaleigenschaft und gibt ihrem gesellschaftlichen Charakter volle Freiheit, sich durchzusetzen. Eine gesellschaftliche Produktion nach vorherbestimmtem Plan wird nunmehr möglich. Die Entwicklung der Produktion macht die fernere Existenz verschiedner Gesellschaftsklassen zu einem Anachronismus. In dem Maß, wie die Anarchie der gesellschaftlichen Produktion schwindet, schläft auch die politische Autorität des Staats ein. Die Menschen, endlich Herren ihrer eignen Art der Vergesellschaftung, werden damit zugleich Herren der Natur, Herren ihrer selbst - frei.

Diese weltbefreiende Tat durchzuführen ist der geschichtliche Beruf des modernen Proletariats. Ihre geschichtlichen Bedingungen, und damit ihre Natur selbst, zu ergründen und so der zur Aktion berufnen, heute unterdrückten Klasse die Bedingungen und die Natur ihrer eignen Aktion zum Bewußtsein zu bringen ist die Aufgabe des theoretischen Ausdrucks der proletarischen Bewegung, des wissenschaftlichen Sozialismus.

Page 11: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Revolution | 11

Permanente Revolution Paul D’Amato

Der Marxismus, der in der sozialistischen Bewegung Anfang des 20. Jahrhunderts vorherrschte, beruhte auf der Vorstellung, die Geschichte bewege sich in festgelegten Stufen. In keiner Gesellschaft, so glaubte man, könne ein neues soziales Gebilde entstehen, bis das Alte nicht alle materiellen Vorbedingungen geschaffen habe, die seine Verwirklichung erfordern.

Mit diesem ökonomischen Schema ging ein politisches einher. „Der vulgäre ‚Marxismus‘ hat ein Schema der historischen Entwicklung ausgearbeitet“, schrieb Trotzki, „wonach jede bürgerliche Gesellschaft sich früher oder später ein demokratisches Regime sichere und danach dann das Proletariat unter den Bedingungen der Demokratie allmählich für den Sozialismus organisiere und erziehe.“ Demokratie und Sozialismus wurden „als zwei nicht nur durchaus getrennte, sondern auch voneinander weit entfernt liegende Etappen in der Entwicklung der Gesellschaft“ betrachtet.1

Bestimmte Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels schienen dieser Vorstellung Vorschub zu leisten. „Das industriell entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eigenen Zukunft“,

2

Dennoch war Marx’ und Engels Analyse der historischen Entwicklung differenzierter als diese Formulierung. In den 1880er Jahren sagten sie beispielsweise, Russland sei in der Lage, den Kapitalismus zu überspringen. „Wird die russische Revolution das Signal einer proletarischen Revolution im Westen, so dass beide einander ergänzen, so kann das jetzige russische Gemeineigentum am Boden zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen.“

schrieb Marx 1867.

3

Marx und Engels benutzten den Begriff ‚permanente Revolution‘, lange ehe Trotzki ihn benutzte, und in ihrer Analyse nach den bürgerlichen Revolutionen von 1848 nahmen sie die Theorie mit dem Argument vorweg, dass die Arbeiterklasse in einer künftigen Revolution in Deutschland die Führung übernehmen muss, weil die Bourgeoisie nicht gewillt ist, für ihre demokratischen Forderungen auch einzutreten. Es ist „unser Interesse und unsere Aufgabe, die Revolution permanent zu machen, so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von der Herrschaft verdrängt sind“,

4

Das Programm des ersten gescheiterten Versuches, in Russland eine sozialistische Partei zu gründen, das einer ähnlichen Argumentationslinie folgte, erklärte, dass „die Bourgeoisie desto nichtswürdiger und

schrieben sie 1850.

1 Trotzki, Leo D., Die permanente Revolution (1929), in: ders., Ergebnisse und Perspektiven/Die permanente Revolution, Frankfurt am Main 1971, S. 27

2 Marx, Karl, Das Kapital. Kritik der Politischen Ökonomie, in: Marx Engels Werke, Bd. 23, Berlin 121977, S. 12

3 Marx Karl und Friedrich Engels, Vorrede zur zweiten russischen Ausgabe des Manifests der Kommunistischen Partei (1881), in: Marx Engels Werke, Bd. 19, Berlin 31972, S. 296

4 Engels, Friedrich und Karl Marx, Ansprache der Zentralbehörde an den Bund [der Kommunisten] (1850), in: Marx Engels Werke, Bd. 7, Berlin 81982, S. 248

Page 12: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Revolution | 12

niederträchtiger wird, je weiter man nach Osten kommt, und sich dem Proletariat umso größere Aufgaben auf die Schultern legen.“5

Trotzdem vertraten beide Flügel der Sozialdemokratischen Partei in Russland die Ansicht, Russland müsse zunächst ein bürgerlich-demokratisches Stadium durchlaufen, auch wenn beide zutiefst unterschiedliche Ansichten davon hatten, welche Klasse die Revolution anführen sollte.

Die Menschewiki behaupteten, der natürliche Führer der künftigen russischen Revolution müsse die Bourgeoisie sein, weshalb die Arbeiterbewegung nicht ‚zu weit‘ gehen und diese so von ihrer Aufgabe abschrecken dürfe. Obwohl Lenin mit Trotzki im konterrevolutionären Charakter der Bourgeoisie und der führenden Rolle der Arbeiterklasse in der kommenden Revolution überein stimmte, hielt er die Vorstellung von der Möglichkeit einer sozialistischen Revolution in Russland vor dem Sturz der Autokratie für „unsinnig“ und „halbanarchistisch“.6

Trotzkis Analyse begann mit der Ablehnung der Idee, jedes Land verfolge dieselbe Bahn kapitalistischer Entwicklung wie ihre Vorgänger. So schrieb er:

„Russlands Entwicklung ist vor allem durch seine Rückständigkeit geprägt. Eine historische Verspätung bedeutet indessen nicht einfach eine Wiederholung der Entwicklung fortgeschrittener Länder mit einem Unterschied von hundert oder zweihundert Jahren, sondern bewirkt eine gänzlich neue, ‚kombinierte‘ gesellschaftliche Formation, in der die letzten Errungenschaften der Technik und der kapitalistischen Struktur in feudale und vorfeudale Gesellschaftsbeziehungen eingebaut werden, sie verändern, sie sich unterwerfen und so ein originales gegenseitiges Verhältnis der Klassen zueinander schaffen.“7

Der Kapitalismus entwickelte sich nicht graduell wie in Britannien, sondern wurde in Russland den alten Strukturen unter der Schirmherrschaft des Staates und durch ausländische Investitionen aufgepfropft. Inmitten einer Gesellschaft, in der die überwältigende Mehrheit aus Bauern bestand, die in alten Produktionsformen befangen blieben, schossen die Fabriken modernsten Standards in Petersburg und Moskau wie Pilze aus dem Boden. „Das Proletariat sah sich plötzlich in riesigen Massen konzentriert“, schrieb Trotzki, „und zwischen ihm und dem Absolutismus stand eine zahlenmäßig schwache kapitalistische Bourgeoisie, die, vom Volk isoliert, halb ausländischen Ursprungs, ohne historische Traditionen und einzig von der Gewinnsucht beseelt war.“

8

Trotzki argumentierte, es existiere kein Eins-zu-eins-Verhältnis zwischen der Entwicklung der wirtschaftlichen Voraussetzungen für den Sozialismus und den politischen und subjektiven Voraussetzungen für den Sozialismus. Die Fähigkeit der Arbeiterklasse, die Macht zu übernehmen, „hängen nicht unmittelbar vom Stand

5 Parteiprogramm der SdAPR (der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands), zitiert nach: Trotzki, Leo D., Die Dritte

Internationale nach Lenin. Das Programm der internationalen Revolution und die Ideologie vom Sozialismus in einem Land (1928), Essen 1993, S. 182

6 Lenin, Wladimir I., Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution (1905), in: Lenin Werke, Bd. 9, Berlin 1973, S. 14

7 Trotzki, Leo D., Drei Konzeptionen der russischen Revolution (1939), Berlin 1975

8 Ders., Ergebnisse und Perspektiven (1906), in: ders., Ergebnisse und Perspektiven/Die permanente Revolution, Frankfurt am Main 1971, S. 52

Page 13: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Revolution | 13

der Produktivkräfte ab, sondern von den Verhältnissen des Klassenkampfes, von der internationalen Lage und schließlich von einer Reihe subjektiver Momente: Tradition, Initiative, Kampfbereitschaft“.9 Deshalb, so schlussfolgerte er, ist es „möglich, dass das Proletariat in einem ökonomisch rückständigen Lande eher an die Macht kommt als in einem kapitalistisch fortgeschrittenen Land.“10

„Unserer Ansicht nach“, schrieb Trotzki, „wird die russische Revolution die Bedingungen schaffen, unter denen die Macht in die Hände des Proletariats übergehen kann (und im Falle des Sieges der Revolution muss sie dies tun), bevor die Politiker des bürgerlichen Liberalismus Gelegenheit erhalten, ihr staatsmännisches Genie voll zu entfalten.“

11

Die innere Logik der russischen Entwicklung führte naturgemäß zur Führungsrolle der Arbeiterklasse in der Revolution. Aber was ist eine bürgerliche Revolution, die von der Arbeiterklasse geführt wird?

Trotzki antwortete, sie sei eine Revolution, in der die Aufgaben der bürgerlichen Revolution (Demokratie, Arbeiterrechte, Landverteilung) mit den Zielen einer Arbeiterrevolution kombiniert wurden - der Errichtung der politischen Herrschaft der Arbeiterklasse, der Übernahme der Fabriken und dem Einsetzen des Prozesses, mit dem die Arbeiterklasse die Produktionsmittel zu vergesellschaften beginnt.

Während Lenin argumentierte, die Revolution würde auf einem Bündnis zwischen der Arbeiterklasse und der Bauernschaft beruhen, entgegnete Trotzki, dass die Bauernschaft, obwohl sie eine mächtige revolutionäre Elementargewalt darstellt, nicht unabhängig agieren konnte, sondern einer der führenden Klassen in den Städten folgen musste. Obwohl er die Bedeutung der Bauernaufstände nicht leugnete, argumentierte Trotzki, dass die Bauernrebellionen für eine erfolgreiche Durchführung der städtischen Führung durch die Arbeiterklasse bedurfte.

Aber eine Arbeiterklasse, die die Staatsmacht errungen hat, sagte Trotzki, darf ihre Macht nicht wieder preisgeben:

„Die politische Herrschaft des Proletariats ist unvereinbar mit seiner ökonomischen Versklavung. Gleichgültig, unter welcher politischen Fahne das Proletariat zur Macht gekommen ist - es wird gezwungen sein, eine sozialistische Politik zu verfolgen. Als größte Utopie muss man den Gedanken ansehen, das Proletariat könne - nachdem es sich durch die innere Mechanik der bürgerlichen Revolution zur Höhe der staatlichen Herrschaft aufgeschwungen hat -, selbst wenn es dies wollte, seine Mission auf die Schaffung republikanisch-demokratischer Bedingungen für die soziale Herrschaft der Bourgeoisie beschränken.“12

Tatsächlich würde der politische Widerstand der Bauernschaft nach einer erfolgreichen Landreform - dem Bruch des Bündnisses zwischen Arbeitern und Bauern - das erste Problem darstellen, vor dem die Revolution steht, gefolgt von Russlands wirtschaftlicher Rückständigkeit. „Ohne die direkte staatliche Unterstützung durch

9 Ebd., S. 64f

10 Ebd., S. 65

11 Ebd.

12 Ebd., S. 106

Page 14: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Revolution | 14

das europäische Proletariat kann die russische Arbeiterklasse sich nicht an der Macht halten und ihre zeitweilige Herrschaft in eine dauernde sozialistische Diktatur umwandeln.“13

Diese Prognose für die russische Revolution, die Trotzki 1906 in Ergebnisse und Perspektiven umrissen hatte, wurde in nahezu jeder Hinsicht von der Revolution 1917 bestätigt, die der russischen liberalen Bourgeoisie gerade einmal acht Monate politischer Herrschaft ließ, ehe sie von einem Arbeiteraufstand zerstreut wurde, die im Oktober die Arbeitersowjets (Arbeiterräte) an die Macht brachten.

Trotzkis Argument, dem zufolge die Revolution sich zu ihrem Überleben international ausweiten muss, wurde auf tragische Weise vom Zerfall der Revolution im Angesicht von Bürgerkrieg, Blockade und dem Scheitern der deutschen Revolution bestätigt, die ihr hätte Hilfe leisten können.

Die bürokratische Degeneration der Revolution, die in den Machtaufstieg Stalins gipfelte, der die wachsende Staatsbürokratie verkörperte, bestätigte Trotzkis Theorie im Negativen – d.h. durch die schlüssige Demonstration der Unmöglichkeit des Aufbaus des Sozialismus in einem Land, besonders in einem isolierten und unter extremen Entbehrungen leidenden Land.

Der Begriff, den Trotzki später zur Beschreibung des historischen Prozesses benutzte, der die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen in Russland benutzte, war der der „kombinierten und ungleichmäßigen Entwicklung“. Am vollständigsten skizzierte er das Konzept in seiner Geschichte der russischen Revolution:

„Die geschichtliche Gesetzmäßigkeit hat nichts gemein mit pedantischem Schematismus. Die Ungleichmäßigkeit, das allgemeinste Gesetz des historischen Prozesses, enthüllt sich am krassesten und am verwickeltesten am Schicksal verspäteter Länder. Unter der Knute äußerer Notwendigkeit ist die Rückständigkeit gezwungen, Sprünge zu machen.

Aus dem universellen Gesetz der Ungleichmäßigkeit ergibt sich ein anderes Gesetz, das man mangels passender Bezeichnung das Gesetz der kombinierten Entwicklung nennen kann im Sinne der Annäherung verschiedener Wegetappen, Verquickung einzelner Stadien, des Amalgams archaischer und neuzeitiger Formen. Ohne dieses Gesetz, selbstverständlich in seinem gesamten materiellen Inhalt genommen, vermag man die Geschichte Russlands wie überhaupt aller Länder zweiten, dritten und zehnten Kulturaufgebots nicht zu erfassen.“14

Die Schöpfung einer Weltwirtschaft, die von einer Handvoll Großmächte beherrscht wird, die gigantische Kolonialgebiete kontrollieren, warf selbstverständlich die Frage auf, welchen Zugang Marxisten zu den nationalistisch-kolonialen Aufständen in Asien, im Nahen Osten und Afrika nehmen sollten, die von der Oktoberrevolution angespornt worden waren. Auch hier erwies sich Trotzkis Theorie als bedeutender Beitrag.

Nun beeinflusste die Theorie nicht unmittelbar die Politik der Dritten Internationale - der Organisation aller revolutionären Parteien weltweit, die mit den reformistischen Parteien der Zweiten Internationale gebrochen hatten, welche sich ihren Regierungen während des Krieges unterworfen hatten.

13 Ebd., S. 109

14 Trotzki, Leo D., Geschichte der russischen Revolution, Bd. 1, Februarrevolution, Frankfurt am Main 1982, S. 15

Page 15: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Revolution | 15

Die Position bzw. die Thesen der Komintern zur nationalen und kolonialen Frage von 1920, die Lenin geschrieben hatte, traten für die unabhängige Organisation der Arbeiterklasse im Kampf für die nationale Befreiung ein, beanspruchten aber nicht die Führungsrolle für die Arbeiter:

„Die Kommunistische Internationale darf die bürgerlich-demokratischen nationalen Bewegungen in den Kolonien und zurückgebliebenen Ländern nur unter der Bedingung unterstützen, dass die Elemente der künftigen proletarischen Parteien, die nicht nur dem Namen nach kommunistische Parteien sind, in allen zurückgebliebenen Ländern gesammelt und im Bewusstsein ihrer besonderen Aufgaben, der Aufgaben des Kampfes gegen die bürgerlich-demokratischen Bewegungen innerhalb ihrer Nation, erzogen werden.

Die Kommunistische Internationale muss ein zeitweiliges Bündnis mit der bürgerlichen Demokratie der Kolonien und der zurückgebliebenen Länder eingehen, darf sich aber nicht mit ihr verschmelzen, sondern muss unbedingt die Selbstständigkeit der proletarischen Bewegung - sogar in ihrer Keimform - wahren“.15

Trotzki selbst behauptete Mitte der 20er Jahre bei mehreren Gelegenheiten, seine Theorie der permanenten Revolution sei von rein historischem Interesse. Aber die Erfahrung der chinesischen Revolution 1927 änderte seine Sichtweise.

Auf Befehl Stalins - und paradoxerweise auf der Grundlage einer Theorie, die von Martynow abgeleitet wurde, einem alten Führer der Menschewiki, der später Mitglied der KP wurde - wurde die Kommunistische Partei Chinas angewiesen, der bürgerlich-nationalen Organisation beizutreten, die man als Guomindang (GMD) kennt.

Die Politik rechtfertigte man mit dem niedrigen Entwicklungsstand der chinesischen Arbeiterbewegung und dem ‚Block vierer Klassen‘, der Vereinigung aller Klassen in einem nationalen Kampf, den die direkten Aufgaben in China - das Abschütteln des Jochs imperialistischer Herrschaft - erforderten. Als Bedingung für ihren Eintritt in die Guomindang verlangte man von der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), sich ihrer Disziplin zu unterwerfen und sich bei Strafe ihres Ausschlusses jeglicher Kritik an ihrer Politik zu enthalten.

Die Ergebnisse dieser Politik waren katastrophal. Der Guomindang-Führer Chiang Kai-shek setzte Waffen und Ausbildungsmethoden aus der Sowjetunion ein, als er sich gegen die Arbeiterbewegung richtete - die Massenstreiks in Shanghai, Hongkong und Kanton organisiert hatte - und sie zerschlug.

Trotzki bemerkte, dass Stalins Haltung in Wirklichkeit eine schlechte Karikatur der menschewistischen Position angesichts der Revolution von 1917 darstellte, die behauptete, weil die russische Revolution eine bürgerliche Revolution sein müsse, müsse sie auch von der liberalen Bourgeoisie geführt werden - und deshalb dürfe die Arbeiterklasse nichts unternehmen, dass diese Klasse von ihrer Führungsrolle ‚abschrecken‘ könne. Im Fall China argumentierten Stalin und Co. nun, die KPCh solle sich nicht nur den Interessen der nationalen Bourgeoisie unterordnen, um die ‚Einheit‘ nicht zu gefährden, sondern sich sogar organisatorisch mit ihr verschmelzen.

In seiner peitschenden Kritik bemerkte Trotzki zu allererst, dass sich Stalin und die Kominternführung mit dem Bezug dieser Position voll und ganz von Lenins Sicht des Verhältnisses zwischen bürgerlich-demokratischer Revolution und Arbeiterkampf verabschiedet hatten. Weil Lenin in seiner Haltung vor 1917 die

15 Lenin, Wladimir I., Ursprünglicher Entwurf der Thesen zur nationalen und zur kolonialen Frage (1920), in: Lenin Werke, Bd. 31, Berlin

1959, S. 138

Page 16: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Revolution | 16

Vorstellung ablehnte, der zufolge sich in Russland eine sozialistische Revolution vollziehen konnte, lag seinem gesamten Ansatz die Annahme zugrunde, dass die Arbeiterklasse unabhängig von den Liberalen bleiben und versuchen musste, die Bauernmassen hinter ihrer Führung zu versammeln.

Tatsächlich waren Trotzkis anfänglicher Aufruf an die KP, die GMD zu verlassen, und seine Warnungen, denen zufolge die chinesische Bourgeoisie zu eng mit dem Imperialismus verbunden war, als dass sie einen Kampf gegen ihn führen konnte, in Begriffe gekleidet, die Lenin in seinem Ansatz vor 1917 verwendet hatte - dem zufolge Chinas wirtschaftliche Rückständigkeit zu groß für eine sozialistische Revolution war und der national-demokratische Kampf nur von Erfolg gekrönt sein konnte, wenn er von der Arbeiterklasse im Verbund mit den chinesischen Bauern gegen die chinesische Bourgeoisie geführt wurde.

1927 griff Trotzki die Gelegenheit auf und schlussfolgerte noch ausdrücklicher, der sicherste Weg zu einer erfolgreichen nationalen Revolution in China führe über Machtergreifung der chinesischen Arbeiterklasse. „Die chinesische Revolution“, schrieb er, „wird entweder als Diktatur des Proletariats oder überhaupt nicht siegen.“

1929 schrieb Trotzki Die permanente Revolution, mit der er Stalins Theorie des ‚Sozialismus in einem Land‘ ausdrücklich mit seiner internationalistischen Perspektive der permanenten Revolution entgegen trat. Dann skizzierte er die drei Hauptthesen seiner Theorie:

Im national-demokratischen Kampf in ‚rückständigen‘ oder sich spät entwickelnden Ländern muss die Arbeiterklasse die Führung des Kampfes übernehmen, um ihn zum Sieg zu führen. Dabei kann die Arbeiterklasse nicht auf halbem Weg stehen bleiben, sondern muss, sobald sie an der Macht ist, daran gehen, sozialistische Maßnahmen umsetzen.

Die permanente Revolution ist eine Revolution, „die sich mit keiner Form der Klassenherrschaft abfindet, die bei der demokratischen Etappe nicht Halt macht, zu sozialistischen Maßnahmen und zum Kriege gegen die Reaktion von außen übergeht, also eine Revolution, deren jede weitere Etappe in der vorangegangenen verankert ist und die nur enden kann mit der restlosen Liquidierung der Klassengesellschaft überhaupt.“16

Die Frage der permanenten Revolution kann nicht außerhalb des globalen Zusammenhangs des Weltkapitalismus betrachtet werden. „Die sozialistische Revolution beginnt auf nationalem Boden. Sie kann aber nicht auf diesem Boden vollendet werden“,

17

Trotzki fuhr fort:

schrieb Trotzki.

„Bei einer isolierten proletarischen Diktatur wachsen die inneren und äußeren Widersprüche unvermeidlich zusammen mit den wachsenden Erfolgen. Isoliert bleibend, muss der proletarische Staat schließlich ein Opfer dieser Widersprüche werden. Der Ausgang besteht für ihn nur in dem Siege des Proletariats der fortgeschrittenen Länder. Von diesem Standpunkte aus gesehen, ist eine nationale Revolution kein in sich selbst verankertes Ganzes: Sie ist nur ein Glied einer internationalen Kette.“18

Mit der Entwicklung einer internationalen Perspektive war sich Trotzki bewusst (was er 1906 nicht war), dass die Aussichten für eine permanente Revolution von der Existenz revolutionärer Parteien abhing, die in der Arbeiterklasse verankert und in der Lage waren, die Arbeiterklasse zum Sieg zu führen. Die Existenz

16 Trotzki, Leo D., Die permanente Revolution (1929), in: ders., Ergebnisse und Perspektiven/Die permanente Revolution, Frankfurt am

Main 1971, S. 26

17 Ebd., S. 28

18 Ebd., S. 29

Page 17: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Revolution | 17

stalinisierter Kommunistischer Parteien, wie der KPCh in China, bedeutete, dass Trotzkis Theorie nicht im Positiven bestätigt wurde - durch den Erfolg der chinesischen Arbeiterklasse -, sondern im Negativen - durch ihre Niederlage als Ergebnis ihrer Unterordnung unter die bürgerliche GMD.

Aber was geschah, wenn die Arbeiterklasse - als Resultat ihrer Niederlage und Atomisierung oder wegen der Verräterrolle des Stalinismus – sich als unfähig erwies, die Aufgabe zu erfüllen, die ihr in Trotzkis Theorie zugewiesen wurde? Wenn die nationale Bourgeoisie den nationalen Kampf nicht führen konnte und die Arbeiterklasse ihre Vorherrschaft nicht durchzusetzen vermochte, was war die Alternative?

In seinem Buch Die Politik der kombinierten und ungleichmäßigen Entwicklung bemerkt Michael Löwy, dass in der Periode nach dem Zweiten Weltkrieg (Trotzki starb 1940) andere Klassenkräfte die Bühne betraten, um das Vakuum auszufüllen:

„Gehäuft ist eine Erscheinung von zentraler Bedeutung für die Dritte Welt eingetreten, die Trotzki nicht vorhergesehen hatte: Kleinbürgerliche nationalistische Kräfte (insbesondere das Militär) traten selbst an die Stelle der schwachen oder wankenden Nationalbourgeoisie, übernehmen die Führung der demokratischen Revolution oder Halbrevolution und setzen wichtige Reformen um, wobei ihre Radikalität die Anliegen oder Möglichkeiten der Bourgeoisie bei Weitem übertrifft. Genau das waren die Vorgänge, die sich in Nassers Ägypten, in Boumediennes Algerien, in Velasco Alvarados Peru und in Grenzen sowohl in Mexiko als auch in Bolivien ereignet haben.“19

Die von kleinbürgerlichen Intellektuellen geführten nationalen Revolutionen beschränkten sich nicht auf die von Löwy genannten Fälle. China, Vietnam und Kuba bilden weitere Beispiele. In China zog sich etwa die chinesische KP nach der Niederlage der ersten Revolution auf das Land zurück, verlor ihre Arbeiterbasis und wurde im Kern zu einer nationalistischen Armee, die von städtischen Intellektuellen geführte wurde und die sich hauptsächlich aus der Bauernschaft rekrutierte.

Die letzteren unterschieden sich von Löwys Beispielen dadurch, dass sie zu Gesellschaften geführt haben, die private Kapitalismusformen mit mehr oder weniger vollständigem Staatseigentum an der Wirtschaft ersetzten und dem Vorbild von Stalins UdSSR nachempfunden waren. Diese Revolutionen benutzten die Sprache des Sozialismus, wurden aber nicht von der Arbeiterklasse geführt und brachten die Arbeiter nicht an die Macht.

Einige Marxisten (von denen Löwy einer war) schlussfolgerten, weil diese Revolutionen das Privateigentum abgeschafft hatten, könnten sie als ‚indirekt‘ proletarisch begriffen werden, womit Trotzkis Theorie bestätigt sei. Etwas sorgfältiger, wie ich finde, sprach der britische Marxist Tony Cliff von diesen Revolutionen als ‚umgelenkte‘ permanente Revolutionen.20

Trotzdem bleibt Trotzkis Theorie der permanenten Revolution aus vielen Gründen auch heute wichtig.

Zunächst betont sie die zentrale Bedeutung der Arbeiterklasse im Kampf gegen alle Formen von Tyrannei und Unterdrückung. Von allen Klassen der Gesellschaft kann nur die Arbeiterklasse den Kampf für

19 Löwy, Michael, The Politics of Combined and Uneven Development. The Theory of Permanent Revolution, Chicago 1981

20 Siehe: Cliff, Tony, Die permanente Revolution. Kritische Revision der Theorie Trotzkis, in: Sozialistische Arbeitergruppe (Hg.), China und die Revolution in der Dritten Welt. Nationale Befreiung und sozialistische Revolution, Frankfurt am Main 1971, S. 1-22

Page 18: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Revolution | 18

Landreformen, demokratische Rechte, nationale Rechte usw. bis zur vollständigen und kompromisslosen Lösung aufnehmen. Alle anderen Klassen versuchen den Kampf auf die Grenzen des Kapitalismus zu beschränken. Allein im Interesse der Arbeiterklasse liegt es, den Kampf ‚permanent‘ zu machen - d.h. bis zu dem Punkt zu treiben, an dem alle Formen der Ausbeutung, Tyrannei und Unterdrückung ausgemerzt sind.

Schließlich bleibt Trotzkis Betonung des internationalen Charakters der Revolution von zentraler Bedeutung für jedwede ernsthafte marxistische Perspektive. Für Trotzki war ein Sozialismus in einem Land nicht möglich, „ganz unabhängig davon, ob es sich um ein zurückgebliebenes Land handelt, das erst gestern seine demokratische Umwälzung vollzogen hat, oder um ein altes kapitalistisches Land, das eine lange Epoche der Demokratie und des Parlamentarismus durchgemacht hat“.21

Er zieht die Schlussfolgerung: „Die sozialistische Revolution beginnt auf nationalem Boden, entwickelt sich international und wird vollendet in der Weltarena. Folglich wird die sozialistische Revolution in einem neuen, breiteren Sinne des Wortes zu einer permanenten Revolution: Sie findet ihren Abschluss nicht vor dem endgültigen Siege der neuen Gesellschaft auf unserem ganzen Planeten.“

D’Amato, Paul, Permanent Revolution, in: Socialist Worker (15. Juli 2009), URL: http://socialistworker.org/2009/07/15/permanent-revolution © für die deutsche Übersetzung: marx21 und Karsten Schmitz

21 Trotzki, Leo D., Die permanente Revolution (1929), in: ders., Ergebnisse und Perspektiven/Die permanente Revolution, Frankfurt am

Main 1971, S. 161

Page 19: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

75

Die ägyptische Revolution – Rückblick und Aussichten Anne Alexander

Seit dem Sturz Mubaraks vor etwas über einem Jahr ist die ägyptische Arbeiterbewegung kaum wiederzuerkennen. Es gibt keine Anzeichen für ein Nachlassen der Streikbewegung. Die Zahl der Beteiligten schwankt, aber jeden Monat flammen neue Streiks auf. Der alte staatliche Gewerkschaftsdachverband (Etuf) ist angeschlagen, er wurde aber nicht zerstört. Die neuen unabhängigen Gewerkschaften sind schnell gewachsen. Hunderttausende Arbeiter orientieren sich an ihnen, auch viele in Sektoren mit niedrigem gewerkschaftlichem Organisationsgrad. Dieses Wachstum ist aber sehr ungleichmäßig, und der Aufbau einer auch außerhalb der Betriebe einflussreichen Gewerkschaft bleibt ein schwieriges Unterfangen.

Der Aufbau der Arbeiterorganisationen ist mit der Entfaltung einer revolutionären Bewegung verwoben. Aus den vielen großen Straßenprotesten und Sit-ins ist eine neue Generation radikaler Aktivisten hervorgegangen. Ihre Wut richtet sich vor allem gegen die führenden Generäle des Obersten Rats der Streitkräfte (Scaf), neuerdings aber auch gegen die reformistischen islamistischen Parteien, die das kürzlich gewählte Parlament beherrschen. Das Bild einer revoltierenden Elite, das die westlichen Medien zeichnen, deckt sich kaum mit der Wirklichkeit einer Massenmobilisierung junger Menschen aus Arbeiterschichten und ärmeren Verhältnissen, die nicht selten den Verlust von Familienmitgliedern während des Aufstands gegen Mubarak zu beklagen haben. Organisierte Fußballfans, die Ultras, sind ebenfalls zu einer festen Größe auf Straßendemonstrationen geworden, während an den Universitäten eine neue Studentenbewegung entstanden ist, die eine führende Rolle bei den großen Straßenprotesten im November und Dezember 2011 spielte. Studierende waren es auch, die dem Aufruf revolutionärer Aktivisten zu einem Generalstreik gegen den Militärrat folgten und die landesweiten Proteste am 11. und 12. Februar 2012 anführten.

Ihre Gegner sind aber nicht nur unter den offen konterrevolutionären Elementen wie dem Obersten Rat der Streitkräfte und anderen Flügeln des

Page 20: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Die ägyptische Revolution

76

alten Regimes zu finden, die sich an die Macht klammern. Zu ihnen zählen auch reformistische islamistische Organisationen, allen voran die Muslimbruderschaft, die im neu gewählten Parlament fast die Hälfte der Sitze innehat. Natürlich bildet der Militärrat das Zentrum der Konterrevolution. Er besteht aus den alten Generälen um Mubarak, die sich in ihrer verzweifelten Lage gezwungen sahen, ihren Chef nach Hause zu schicken, um sein Regime in seiner Gesamtheit zu retten. Zu ihnen gesellen sich weitere Elemente des alten Sicherheitsapparats und der vormals herrschenden Partei.

Die ägyptischen Revolutionären Sozialisten wiesen in einer im Dezember 2011 verfassten Analyse darauf hin, dass reformistische Kräfte sich je nach eigenem politischen Vorteil mal auf die Seite der Konterrevolution schlagen und mal in Konfrontation zu ihr gehen.

„Diese Kräfte glauben, ihnen gebühre ein größerer Anteil an der Macht und am Reichtum, ohne das althergebrachte Wirtschafts- und Sozialsystem stören zu wollen. Also flirten sie mit dem Militärrat und den Überbleibseln des alten Regimes und machen ihnen Versprechungen, die Massenbewegung mit politischen Mitteln zurückzudrängen oder ihr gar ein Ende zu setzen, da Repression kein Erfolg haben werde. Zugleich versuchen sie, die Massen mit dem falschen Versprechen einzulullen, sie könnten ihre Erwartungen und Forderungen mithilfe des Parlaments erfüllen […]. Der Militärrat braucht einen Vermittler mit einem Grad an Glaubwürdigkeit auf den Straßen Ägyptens, der mit dem Versprechen auf Reformen und Veränderung die Wut der Massen auffängt.“1

Die Erwartungen der Arbeiterschaft äußern sich klar und deutlich in ihren Streikforderungen nach fester Anstellung, nach Löhnen, die ein Leben in Würde erlauben, und nach Absetzung korrupter und tyrannischer Manager. Vertreter der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei der Muslimbruderschaft und die verschiedenen salafistischen Parteien haben wiederholt vage Versprechungen gemacht, diese Hoffnungen durch das neue Parlament und den zukünftigen Präsidenten zu erfüllen. Gleichzeitig versprechen sie der Geschäftswelt Ägyptens sowie den globalen Finanzinstitutionen und den alten Hintermännern Mubaraks in Washington, dass sie für die Beendigung

1 »Egypt on the road of revolution«, http://socialistworker.org/blog/critical-reading/2011/ 12/27/statement-revolutionary-social

schlechmima01
Notiz
"keinen" statt "kein"
Page 21: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Die ägyptische Revolution

77

der Streiks und für Bedingungen sorgen werden, die die Wiederherstellung der Ausbeutung in alter Weise ermöglichen.

Hinzu kommt, dass die globale Wirtschaftskrise der neuen Regierung nur wenig Spielraum lässt. Ein finanzieller Zusammenbruch wie in Griechenland hat das Land zwar noch nicht ereilt, aber seine Staatsschulden haben fast 70 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erreicht, und die Ratingagentur Standard & Poorʾs hat die Kreditwürdigkeit Ägyptens in den letzten fünf Monate bereits dreimal herabgesetzt.

Einreißen künstlicher Schranken

Rosa Luxemburgs und Leo Trotzkis Schriften über die Russische Revolution von 1905 bieten einen wichtigen theoretischen Ausgangspunkt. Beide formulieren mit Nachdruck die Notwendigkeit, jene Mauern niederzureißen, mit denen die revolutionäre Energie in fein säuberlich geordnete Stadien und Einzelerscheinungen gepresst werden soll. Rosa Luxemburg richtete sich mit ihrer Polemik gegen die bürokratische Führung der großen gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Bewegung in Deutschland. Deren mechanistische Auffassung vom Verlauf des Klassenkampfes durch »wirtschaftliche« und »politische« Etappen offenbarte, dass sie die Revolution ablehnten und dem Reformismus den Vorzug gaben. Luxemburg hielt die Idee für grundlegend falsch, dass Arbeitskämpfe automatisch von einer wirtschaftlichen Phase in eine politische übergehen, begleitet von entsprechendem Wachstum der gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Organisationen. In ihrer Analyse zeigt sei, wie die russische Revolution von 1905 alle Annahmen über den Haufen warf, dass die wirtschaftlichen Kämpfe der Arbeiterklasse sich zwangsläufig auf einem niedrigeren Niveau bewegten oder eine frühere Phase des revolutionären Prozesses darstellten als politische Kämpfe:

Jede von den großen politischen Massenaktionen schlägt, nachdem sie ihren politischen Höhepunkt erreicht hat, in einen ganzen Wust ökonomischer Streiks um. Und dies bezieht sich wieder nicht bloß auf jeden einzelnen von den großen Massenstreiks, sondern auch auf die Revolution im Ganzen. Mit der Verbreitung, Klärung und Potenzierung des politischen Kampfes tritt nicht bloß der ökonomische Kampf nicht zurück, sondern er verbreitet sich, organisiert sich

schlechmima01
Notiz
"sie" statt "sei"
schlechmima01
Notiz
"Russische" statt "russische"
Page 22: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Die ägyptische Revolution

78

und potenziert sich seinerseits in gleichem Schritt. Es besteht zwischen beiden eine völlige Wechselwirkung.2

Anschließend verwirft Luxemburg die Vorstellung von einem linearen Verlauf von der ökonomischen zur politischen Etappe und von der säuberlichen Trennung zusammengehöriger Aspekte ein und desselben Klassenkampfs:

Mit einem Wort: Der ökonomische Kampf ist das Fortleitende von einem politischen Knotenpunkt zum andern, der politische Kampf ist die periodische Befruchtung des Bodens für den ökonomischen Kampf. Ursache und Wirkung wechseln hier alle Augenblicke ihre Stellen, und so bilden das ökonomische und das politische Moment in der Massenstreikperiode, weit entfernt, sich reinlich zu scheiden oder gar auszuschließen, wie es das pedantische Schema will, vielmehr nur zwei ineinandergeschlungene Seiten des proletarischen Klassenkampfes in Russland. Und ihre Einheit ist eben der Massenstreik. Wenn die spintisierende Theorie, um zu dem »reinen politischen Massenstreik« zu gelangen, eine künstliche logische Sektion an dem Massenstreik vornimmt, so wird bei diesem Sezieren, wie bei jedem anderen, die Erscheinung nicht in ihrem lebendigen Wesen erkannt, sondern bloß abgetötet.3

Ähnlich Trotzki in seiner Theorie über die permanente Revolution, die er zum ersten Mal in seinen Schriften zur Revolution des Jahres 1905 formulierte und später in seiner Geschichte der Russischen Revolution und anderen Schriften in den 1930er Jahren weiterentwickelte. Er reißt andere Stadien und Schranken ein, in die viele seiner Zeitgenossen die revolutionären Energien der Arbeiterklasse einzuzwängen versuchten.4 Seine wichtigste Einsicht lautete, dass wegen der Besonderheit der ungleichmäßigen und kombinierten wirtschaftlichen Entwicklung in Russland die organisierte Arbeiterbewegung die Führung über die revolutionäre Bewegung gegen die zaristische Diktatur übernehmen musste, womit sich den Arbeitern die Möglichkeit eröffnete, über die Ziele der 2 Luxemburg, Rosa, „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“, in: Luxemburg, Gesammelte Werke, Band 2, Berlin 1990, S. 128. 3 Luxemburg, »Massenstreik«, S. 128–129. 4 Trotzki, Leo, »Ergebnisse und Perspektiven. Die treibenden Kräfte der Revolution« (1906), http://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1906/erg-pers/index.htm; Trotzki, »1905: Die russische Revolution«, in: Ausgewählte Schriften Band 1, Berlin 1972.

schlechmima01
Notiz
einfügen "1917"
Page 23: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Die ägyptische Revolution

79

bürgerlichen Revolution hinauszugehen und den Kampf für den Sozialismus aufzunehmen. Genauso hartnäckig griff er die Vorstellung an, eine Arbeiterrevolution gegen ein Weltsystem wie den Kapitalismus könne sich dauerhaft auf einen Nationalstaat beschränken. Wie Joseph Choonara feststellt, waren diese Grundgedanken bereits in seinen Schriften »Ergebnisse und Perspektiven« und »1905« enthalten. Sie gewannen aber zusätzlich an Bedeutung im Rahmen seines Kampfs gegen den Stalinismus.5

Trotzkis Theorie ist in vielerlei Hinsicht weiter entwickelt als die Luxemburgs, da er erklärt, wie Russlands ungleiche und kombinierte Entwicklung die permanente Revolution ermöglichte (obwohl Luxemburg zu ähnlichen Schlussfolgerungen in ihrer Schrift »Massenstreik, Partei und Gewerkschaften« gelangte). Trotzkis Argumente sind auch radikaler als Luxemburgs in Bezug auf das Ergebnis des Prozesses, denn er zog den Schluss, den russischen Arbeitern fiele die Aufgabe zu, die Staatsmacht noch vor ihren Kollegen in Deutschland zu erobern.

Von der Doppelherrschaft zur Arbeitermacht

Die Wechselwirkung zwischen wirtschaftlichen und politischen Aspekten des Klassenkampfs in einer revolutionären Situation, wie sie Luxemburg beschreibt, ist eng verflochten mit der Struktur der kapitalistischen Gesellschaft, denn sie ist Ausdruck der zugleich politischen und wirtschaftlichen Beherrschung der Arbeiterklasse durch das Kapital. In jedem Streik gibt es ein sehr viel weiterreichendes Element, da dem Kapital vorübergehend die Macht entrissen wird und in der Hand der Arbeiterklasse liegt. Jeder Streik hat auch eine politische Dimension, wenn auch oft verborgen. Durch Einschränkung der Verfügungsgewalt des Bosses über seinen Betrieb wird potenziell auch die Verfügungsgewalt der Bosse über die Regierung infrage gestellt.

Die wechselseitige Aktion dieser miteinander »verwobenen« Aspekte des Klassenkampfs bilden den Stoff einer Revolution. Auf der einen Ebene handelt es sich um eine Seitwärtsbewegung, bei der das relative Gewicht der politischen und wirtschaftlichen Aspekte des Klassenkampfs wie ein Pendel hin- und her schwingt. Dieses Pendeln bedarf aber insgesamt einer Vorwärtsbewegung. Es muss tiefer in das Herz des kapitalistischen 5 Choonara, Joseph, »The Relevance of Permanent Revolution«, in: International Socialism 131, London 2011.

schlechmima01
Notiz
"herschwingt" zusammen.
Page 24: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Die ägyptische Revolution

80

Arbeitsprozesses eindringen und zugleich nach oben in Richtung Staatsmacht ausschlagen. Arbeiterorganisation wie die russischen Sowjets können daher als Verschmelzung der wirtschaftlichen und politischen Aspekte des Kampfs gelten, bei der die Arbeitermacht gleichzeitig am Ort der Produktion organisiert wird und das politische Vorrecht des kapitalistischen Staats so sehr infrage gestellt wird, dass eine Situation entsteht, die Trotzki »Doppelherrschaft« nannte.6

Name und Form dieser Art von Arbeiterorganisation sind nicht so wichtig wie das, was sie konkret tun. Die großen überbetrieblichen Streikkomitees, die sich in Polen zu Solidarność zusammenschlossen und die Streiks anführten, sind ein Beispiel für Organisationen dieses Typs.7 Hätten sich die Fabrikräte in der iranischen Revolution landesweit oder auch nur regional koordiniert, dann hätten auch sie sich vielleicht zu Organen der doppelten Herausforderung der kapitalistischen Ordnung im Bereich der Produktion wie auf Staatsebene entwickelt.

Um aber die zeitweilige Störung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und der politischen Herrschaft in einen dauerhaften Systemwechsel zu verwandeln, ist etwas anderes vonnöten: die Ergreifung der Staatsmacht durch die Arbeiterklasse und die internationale Ausbreitung der Revolution.

Wenn aber in der Doppelherrschaft wechselseitige Aktion und permanente Revolution zusammenkommen, ließe sich auch argumentieren, dass das Verhältnis zwischen dem Kampf für bürgerliche politische Reformen unter Führung der Arbeiterklasse und der gleichzeitigen Schaffung von Organen alternativer Arbeitermacht in Form der Sowjets einem »Hinüberwachsen« im Bewusstsein und in der Organisation der Arbeiter entspricht, das noch vor der Eroberung der Staatsmacht stattfinden muss.

Trotzki beschrieb diesen Prozess in seiner Analyse der Revolution von 1905 wie folgt:

„Die Petersburger Arbeiter nannten schon im Jahre 1905 ihren Sowjet eine proletarische Regierung. Diese Bezeichnung ging damals in den Sprachgebrauch ein und deckte sich vollständig mit dem Programm des Kampfes der

6 Trotzki, Leo, »Geschichte der russischen Revolution«, Berlin 1960, S. 178–205, http://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1930/grr/b1-kap11.htm. 7 Siehe Colin Barker, »Revolutionary Rehearsals«, Haymarket 2002.

schlechmima01
Notiz
"Arbeiterorganisationen" statt "Arbeiterorganisation"
schlechmima01
Notiz
einfügen "1979"
schlechmima01
Notiz
"bürgerliche" streichen
Page 25: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Die ägyptische Revolution

81

Arbeiterklasse um die Macht. Gleichzeitig jedoch stellten wir dem Zarismus das erweiterte Programm der politischen Demokratie entgegen (Allgemeines Wahlrecht, Republik, Miliz usw.). Anders konnten wir nicht handeln. Die politische Demokratie ist eine notwendige Etappe in der Entwicklung der Arbeitermassen – mit dem wesentlichen Vorbehalt, dass in dem einen Falle diese Etappe Jahrzehnte dauert, während in dem anderen Falle die revolutionäre Situation es den Massen erlaubt, sich von den Vorurteilen der politischen Demokratie zu befreien, noch bevor deren Institutionen in die Wirklichkeit umgesetzt worden sind.“8

Genauer könnten wir sagen, dass eben die Dynamik der wechselseitigen Aktion zwischen den politischen und wirtschaftlichen Aspekten des Klassenkampfs in einer revolutionären Situation die Organisationen und das Bewusstsein der Arbeiter bis zu einem Punkt weiterentwickelt, an dem sie den notwendigen Sprung von dem bürgerlichen Staat hin zur Arbeitermacht machen können. Natürlich folgen Revolutionen nicht einem simplen arithmetischen Verlauf, es gibt daher immer Sprünge nach vorn und Rückschritte. Auch ist keine Zwangsläufigkeit in diesem Prozess. Wenn die Dynamik wechselseitiger Aktion auf der einen Seite nachlässt, kann sie durch die andere Seite nach unten wie nach oben gezogen werden. Wichtig ist, dass in dem allgemeinen Verlauf die politischen Dimensionen des Handelns der Arbeiter auf dem wirtschaftlichen Feld erweitert und die wirtschaftlichen Folgen der politischen Kämpfe der Arbeiterschaft vertieft werden, weil das den Weg zur permanenten Revolution freimacht.

Die Dynamik der Streiks

In der Zeit von Februar bis Oktober 2011 lassen sich drei Phasen in der Entwicklung der Arbeitskämpfe unterscheiden. Von Februar bis Anfang März wurden Massen von Arbeiterinnen und Arbeitern in den Betrieben von der Revolution erfasst. Hunderttausende, möglicherweise Millionen Beschäftigte traten in den Streik und organisierten Sit-ins und Demonstrationen gegen die »kleinen Mubaraks« in ihren Betrieben.9 Ab

8 Trotzki, Leo, »Die permanente Revolution«, Frankfurt am Main 1969, S. 118, http://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1929/permrev/ltperm07.htm 9 Es ist mir nicht gelungen, genaue Zahlen für die Streiks im Februar zu finden. Awlad al-Ard, eine Nichtregierungsorganisation (NGO) für Sozialforschung, nennt für diesen Monat

Page 26: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Die ägyptische Revolution

82

März sank die Anzahl der Streiks und Proteste im Vergleich zu dem Ausbruch vom Februar und pendelte sich bei ungefähr 65.000 monatlich ein, die an verschiedenen Formen von Arbeiterprotesten teilnehmen.10 Diese Zeit war keinesfalls ungenutzt, wie ich noch erläutern werde. Im Gegenteil wurde von März bis August mit dem Wachstum und der Konsolidierung der Arbeiterorganisationen in wie auch zwischen den Betrieben das Fundament für die Massenstreiks von September und Oktober gelegt. In dieser Zeit kam es auch zu wichtigen Veränderungen im Bewusstsein der Arbeiterschaft, da sich ihre Proteste nicht mehr nur gegen die »kleinen Mubaraks« im eigenen Betrieb richteten, sondern jetzt auch gegen weiter oben angesiedelte staatliche Einrichtungen. Die Streikwelle vom September stellte mit Blick auf die unabhängige Organisation wie das Bewusstsein der ägyptischen Arbeiterschaft eine erdrutschartige Verschiebung dar. Etwa 500.000 Arbeiterinnen und Arbeiter nahmen an Streiks und Protesten allein in diesem Monat teil, eine wesentlich höhere Zahl als in den ganzen sechs Monaten zuvor. Auch wenn vermutlich weniger daran teilgenommen haben als im Februar, lag der besondere Stellenwert der Septemberstreiks darin, dass es sich um eine qualitative Veränderung hin zu landes- und branchenweit koordinierten Streiks handelte. Der bedeutendste war der landesweite Lehrerstreik, es gab aber auch andere große und koordinierte Streiks, darunter den Streik in den Zuckerraffinerien und landesweit koordinierte Streiks und Proteste der Postarbeiter. Diese dramatische Ausweitung der Koordinierung zwischen den Betrieben mündete in eine weitere Veränderung: Die Massenstreiks

eine Gesamtzahl von 486 kollektiven Arbeitsaktionen, ohne die Zahl der Beteiligten zu nennen. Awlad al-Ard, 2011 a. 10 Diese Zahl stammt aus Daten, die Awlad al-Ard für den Monatsbericht über kollektive Arbeitsaktionen zusammengestellt hat. Die NGO verwendet Pressenachrichten und stützt sich deshalb überwiegend auf Schätzungen der Teilnehmerzahl. Dabei handelt es sich nicht immer um Streiks und Arbeitsproteste. Für eine ungefähre Schätzung der Gesamtzahl der Teilnehmer im Monat habe ich kollektive Einzelaktionen nach Größe geordnet (unter 100, 100–499, 500–999, 1.000–4.999 und so weiter) und dann den Anteil der Streiks mit vermerkter Teilnehmerzahl für jede dieser Kategorien addiert. Ich ging von der Annahme aus, dass Streiks ohne Angabe von Teilnehmerzahlen in dasselbe Muster fallen, woraus ich dann die Gesamtzahl der Teilnehmer pro Monat berechnet habe. Diese Methode habe ich lediglich auf Streiks mit weniger als 5.000 Beteiligten angewendet, da Streiks mit mehr als 5.000 Teilnehmern eher die Ausnahme waren und daher in den Medien ausführlich darüber berichtet wurde. Siehe Awlad al-Ard 2011 b, 2011 c, 2011 d, 2011 e, 2011 f, 2011 g, 2011 h zu den Originalquellen.

schlechmima01
Notiz
"Teilnehmern" einfügen
Page 27: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Die ägyptische Revolution

83

drücken einen gemeinsamen Willen aus und stellten verallgemeinerte soziale Forderungen auf, was an sich schon eine ernsthafte politische Herausforderung an den herrschenden Militärrat darstellte. Zudem forderten die 250.000 bis 500.000 streikenden Lehrer ausdrücklich die Absetzung des von Mubarak eingesetzten Bildungsministers, und andere Streikende, wie die Angestellten der öffentlichen Verkehrsbetriebe von Kairo, stellten ähnliche Forderungen auf.11

Während dieser drei Phasen gestaltete sich das Verhältnis zwischen den sozialen und den demokratischen Aspekten der Revolution unterschiedlich. Die Massenstreiks vom Februar unmittelbar vor und nach dem Sturz Mubaraks wirkten sich alle sehr ähnlich auf das Regime aus: Das schiere Ausmaß der meist unkoordinierten Proteste und Streiks hatte »desorganisierende« Wirkung, weshalb es dem Regime nicht gelang, die übrige Gesellschaft von den Massenprotesten auf dem Tahrirplatz und anderswo abzuschirmen. Nach dem Sturz Mubaraks trug die Fortsetzung und Ausweitung dieser Streikwelle dazu bei, das Regime weiterhin zu desorganisieren, womit jede Hoffnung auf baldige Rückkehr zur »Normalität« zunichte gemacht wurde. Zugleich setzten die Streiks nachdrücklich die sozialen Forderungen der Arbeiterklasse und weiterer Teile der armen Massen auf die politische Tagesordnung. Die Unfähigkeit des Obersten Rats der Streitkräfte (Scaf), in den Betrieben die normalen Arbeitsbeziehungen wiederherzustellen (genauer gesagt die schiere Hilflosigkeit der Generäle angesichts einer zunehmend selbstbewussten Arbeiterschaft, die betriebliche Hierarchien zersetzte12), war umso wichtiger, da dies zeitlich mit einer Flaute bei den Straßenprotesten zusammenfiel. Gleichzeitig unternahm das neu aufgestellte Regime den ersten ernsthaften Versuch, mit einer Volksabstimmung über eine neue Verfassung das parlamentarische Verfahren zu benutzen, um sich den Anschein von Legitimität zu verschaffen.

Auch wenn die Streikaktivitäten nach dem Februar zurückgingen, behielten Arbeitsproteste von März bis August ihre Funktion als »Reservoir« für die revolutionäre Bewegung in der übrigen Gesellschaft.13 Die 11 Siehe Raslan, 2011 zum Busstreik; MENA Solidarity 2011 zum Lehrerstreik. 12 Carter Goodrich verwendet in seiner Studie von 1920 über betriebliche Organisation und Politik in Großbritannien dafür den Begriff »frontier of control« (Goodrich, 1920). Asef Bayat (Bayat, 1986) knüpfte bei der Untersuchung der Schoras in der iranischen Revolution von 1979 daran an. 13 Luxemburg, Massenstreik, S. 128.

Page 28: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Die ägyptische Revolution

84

Arbeiterbewegung vermochte es zwar nicht, eigene Demonstrationen in einem Ausmaß zu organisieren, das den Höhepunkten der wieder auflebenden Straßenproteste entsprochen hätte. Wichtig war jedoch, dass sie sich kollektiv über die neuen Gesetze zur Kriminalisierung von Streiks und Protesten hinwegsetzten. Die unaufhörliche Gärung in den Betrieben und Hunderte Arbeiterdemonstrationen in dieser Zeit trugen dazu bei, Freiräume für eine Selbstorganisierung von unten offen zu halten. Aber auch die Wiederbelebung der Massenproteste auf den Straßen verlief nicht reibungslos. Anfängliche Versuche im März und April, den Tahrirplatz erneut zu besetzen und ein dauerhaftes Protestcamp dort zu erreichten, wurden von der Militärpolizei und den Sicherheitskräften brutal niedergeschlagen.14 Erst am 27. Mai konnten nach einem Aufruf zu Freitagsprotesten, in dem das Militär offen kritisiert wurde, wieder Hunderttausende Menschen mobilisiert werden.15 Riesige Proteste und ein neues Sit-in, das am 8. Juli begann, endeten am 1. August mit der gewaltsamen Räumung der Demonstranten vom Tahrirplatz. Der Scaf war nach wie vor in der Lage, gegen Demonstrationen vorzugehen, wie die Gemetzel an Demonstranten zeigten, die am 9. Oktober ein Ende der Unterdrückung der christlich-koptischen Minderheit forderten.16

Die Massenstreiks vom September 2011

Gegen Ende August veränderte sich der Charakter der Streiks ganz wesentlich, was sich an verschiedenen Merkmalen der Septemberstreiks ablesen lässt. Der erste Unterschied zu den vorangegangen Monaten betrifft das Ausmaß der Arbeiterproteste im September. Nach groben Schätzungen anhand von Medienberichten waren mehr Arbeiter an kollektiven Aktionsformen unterschiedlicher Art (Streiks, Proteste, Sit-ins) beteiligt als in den vorangegangen sechs Monaten zusammengenommen.

14 HRW, 2011; Beaumont, 2011. 15 Shukrullah, 2011. 16 Gaber, 2011.

Page 29: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Die ägyptische Revolution

85

Geschätzte Anzahl der an kollektiven Aktionen beteiligten Arbeiter – März bis September 2011

Monat

82 000 März 65 000 April 95 000 Mai 57 000 Juni 33 000 Juli 65 000 August 500 000 – 750 000 September

Tabelle 1: Nach Berichten der NGO Awlad al-Ard und nach Presseberichten

Auch verglichen mit der vorrevolutionären Streikwelle markiert der September 2011 eine dramatische Verschiebung, weil in etwa gleich viele Arbeiter und Arbeiterinnen an kollektiven Aktionen teilnahmen wie im ganzen Jahr 2008.17

Zudem fanden im September erheblich mehr koordinierte Streiks und Proteste statt als in den vorangegangen Monaten und auch im Vergleich zu der vorrevolutionären Streikwelle. Die Gesamtzahl kollektiver Aktionen lag zwar deutlich niedriger, aber die Zahl der Teilnehmenden war sehr viel höher, was auf eine Konsolidierung der Streikwelle in weniger, dafür aber koordinierten Auseinandersetzungen hindeutet.

Monat Anzahl der kollektiven Aktionen März 123 April 90 Mai 107 Juni 96 Juli 76 August 89 September 58

Tabelle 2: Nach NGO Awlad al-Ard18

17 Beinin, 2010, S. 16. 18 Awlad al-Ard 2011 b, 2011 c, 2011 d, 2011 e, 2011 f, 2011 g, 2011 h.

Page 30: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Die ägyptische Revolution

86

In den Septemberstreiks ragt der Lehrerstreik besonders heraus. Es handelte sich um den größten koordinierten Einzelstreik in Ägypten seit den 1940er Jahren. Es ist sehr schwierig, die Zahl der Streikbeteiligten genauer zu bestimmen. Das Bildungsministerium behauptete, lediglich 1.400 Schulen, also 4,3 Prozent aller Schulen, seien von dem Streik betroffen gewesen, aber Berichte unabhängiger Medien lassen vermuten, dass die Hälfte aller Schulen ihre Tore schließen mussten.19 Aber selbst wenn wir den Lehrerstreik unberücksichtigt lassen, zeigt sich im September eine wichtige Verschiebung hin zu großen, koordinierten Streiks. Seit März wurden sieben große Streiks und Arbeiterproteste mit mehr als 10.000 Teilnehmern gezählt, fünf davon fanden im September statt.20

Hinzu kommt, dass die organisierenden Zentren der Septemberstreiks meistens unabhängige Gewerkschaften waren. Auf nationaler Ebene wurde der Lehrerstreik vom Unabhängigen Lehrerverband und dem Ägyptischen Lehrerbund organisiert. Die Unabhängige Postarbeitergewerkschaft hat den Postarbeiterstreik koordiniert, während die Initiative für den Streik der Kairoer Busfahrer von der Unabhängigen Gewerkschaft für das öffentliche Transportwesen ausging. Die Arbeiter der Zuckkerraffinerien hatten bei Abfassung dieses Artikels noch keine unabhängige Gewerkschaft gegründet, aber ihr Streik, mit dem sie die gesamte staatliche Zuckerindustrie lahmlegte, wurde von einem gemeinsamen Streikkomitee organisiert, das sich »Front der Zuckerindustrie für den Wandel« nannte.21 Die landes- und branchenweite Koordinierung geschieht meistens über ein dichtes Netz lokaler Koordinationsstellen. Die Lehrer der Stadt al-Arisch im Norden der Halbinsel Sinai beispielsweise gründeten eine »Konferenz der Streikkomitees«, um die Streikkomitees in den Schulen auf regionaler Ebene miteinander zu vernetzen.22

Arbeiteroffensive gegen den Neoliberalismus

Eine Woche nach dem Sturz Mubaraks kamen 40 führende Arbeiteraktivisten im Kairoer Zentrum für Sozialistische Studien zusammen,

19 Ali, 2011. 20 Daten auf Grundlage der Berichte von Awlad al-Ard. 21 Gabha al-Taghyir, 2011. 22 Al-Lagna al-Tansiqiyya, 2011.

schlechmima01
Notiz
Page 31: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Die ägyptische Revolution

87

um eine gemeinsame Erklärung zu verabschieden, die später unter der Überschrift »Forderungen der Arbeiter in der Revolution« veröffentlicht wurde. Die Forderungen in diesem radikalen Reformprogramm lauten unter anderem auf Anhebung des Mindestlohns und Festsetzung eines Maximallohns, der nicht mehr als das Fünfzehnfache des Mindestlohns betragen darf; ferner das Recht, Gewerkschaften zu gründen und Proteste und Streiks zu organisieren; restlose Abschaffung von unsicheren Arbeitsverhältnissen, Wiederverstaatlichung aller privatisierten Betriebe, Entlassung korrupter Manager, Ausbau des Gesundheitswesens und Auflösung der Staatsgewerkschaft aus der Zeit Mubaraks.23 Diese Liste war kein Hirngespinst einer kleinen Gruppe linker Aktivisten, sondern vielmehr die Essenz konkreter Forderungen, die bereits in Hunderten von Betrieben aufgestellt worden waren. In den folgenden sechs Monaten wurden verschiedene Elemente dieses »Arbeiterprogramms« von Hunderttausenden Arbeitern in Streiks und bei Protesten aufgegriffen. Sehen wir uns die Forderungskataloge aus über 700 Einzelprotesten von März bis September an, entdecken wir eine frappierende Ähnlichkeit mit der Erklärung der 40 Aktivisten. Es handelt sich um dieselben Themen: Arbeitssicherheit, Abschaffung befristeter Arbeitsverträge, Schluss mit betrieblicher Schikane und Absetzung korrupter Werksleitungen, umfassende Säuberung des alten Beamtenapparats, Rückkehr privatisierter Unternehmen in Staatshand, ein zum Überleben ausreichender Mindestlohn, Umverteilung des Reichtums durch Kürzung der höchsten Gehälter, mehr Staatsinvestitionen in Gesundheit, Bildung und Staatsindustrien.24

Auch bei der Aufstellung der Forderungen zeigt sich im September eine deutliche Veränderung. Sie wurden nicht mehr nur in unzähligen Einzelbetrieben aufgestellt, sondern sie flossen in den größeren Streiks, vor allem dem Lehrerstreik, zusammen und wurden mit dem Gewicht einer halben Million organisierter Arbeiterinnen und Arbeiter vorgebracht. Ganz oben auf der Forderungsliste der streikenden Lehrkräfte standen die Entlassung des von Mubarak ernannten Bildungsministers, mehr Investitionen in den öffentlichen Bildungssektor, ein Mindestlohn für Lehrer in Höhe von 1.200 ägyptischen Pfund monatlich, der Bau neuer Schulen und die Festanstellung von befristet und aushilfsweise angestellten

23 Ägyptische unabhängige Gewerkschaften, 2011. 24 Eine Analyse der Forderungen basierend auf den Berichten von Awlad al-Ard für die Monate März bis September 2011.

schlechmima01
Notiz
"1200 ägyptischen Pfund" ersetzen durch "umgerechnet 160 Euro"
Page 32: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Die ägyptische Revolution

88

Lehrkräften.25 Die Beschäftigten des öffentlichen Verkehrswesens forderten höhere Löhne, das Ende der Korruption in der Verkehrsbehörde und Investitionen in die überalterte Busflotte. Arbeiterinnen und Arbeiter der riesigen Webfabrik Misr Spinning in Mahalla al-Kubra drohten Anfang September mit Streik und zwangen so die Regierung zu Tarifverhandlungen, an deren Ende die Regierung fest zusagte, Löhne und Arbeitsbedingungen in der gesamten Textilbranche zu heben und in staatliche Textilfabriken zu investieren.26

Der Krieg, den ägyptische Arbeiter gegen Prekarisierung führten, zeugt von dem offensiven Charakter der Arbeitskämpfe. In Streiks und Protesten auf jeder Ebene, von betrieblichen bis zu landesweiten Streiks, wurde die Abschaffung befristeter Arbeitsverträge und die Überführung der befristeten Verträge in unbefristete gefordert. Obwohl es seit Februar viele Streiks wegen verzögerter Lohnzahlungen gab, ist ein sehr viel höherer Anteil der Lohnarbeitskämpfe nach vorne gerichteter Natur, in erster Linie geht es um die Durchsetzung eines Mindestlohns von 1.200 Pfund und um die bereits versprochene Erhöhung der Zulagen im öffentlichen Sektor.

Die Kampagne für die Wiederverstaatlichung der unter Mubarak privatisierten Betriebe konnte bereits bemerkenswerte Erfolge verzeichnen. Gerichte haben eine Reihe von Privatisierungen für null und nichtig erklärt, darunter die des Kaufhauses Omar Effendi, der Textilfabrik Indorama in Schibin al-Kaum, von Tanta Flax & Oil Co. und weiteren Betrieben. Dieser Kampf wurde ausschließlich von der Basis organisiert, meistens in Gestalt von Streiks. Beschäftigte von Indorama in Schibin al-Kaum sind seit dem Jahr 2006 128 Mal in den Streik getreten. Diese Kämpfe sind politisch brisant, denn sie liefern den praktischen Nachweis dafür, dass die neoliberale Umstrukturierung rückgängig gemacht werden kann. Die Entschlossenheit der Arbeiter, dem Staat diese Zugeständnisse durch ihre kollektive Aktion abzuringen, birgt das Potenzial, sich in eine noch offenere Kampfansage an den Neoliberalismus der Regierung zu entwickeln. Beschäftigte von Tanta Flax nahmen die Dinge in die eigene Hand und besetzten Anfang November 2011 ihre Fabrik, weil die Regierung nicht bereit war, den Gerichtsbeschluss über die Wiederverstaatlichung umzusetzen.27

25 MENA Solidarity 2011. 26 Mahalla Workers, 2011. 27 Fouad, 2011.

schlechmima01
Notiz
"1200 Pfund" ersetzen durch "umgerechnet 160 Euro"
Page 33: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Die ägyptische Revolution

89

Eine weitere sehr populäre Forderung ist die nach Einführung eines Maximallohns. Das ist nicht bloß eine Floskel, es ist eine Forderung, die in weiten Schichten der Arbeiterklasse Anklang findet und auf Versammlungen und in Interviews immer wieder mit Nachdruck erhoben wird. Ein Arbeiter des Kairoer Verkehrsamtes sagte im August auf einer Versammlung von Gewerkschaftsaktivisten im Zentrum für Sozialistische Studien dazu: »Ihr redet von der Festlegung eines Mindestlohns. Hört mal zu, einen Mindestlohn kann es nur geben, wenn es auch eine Lohnobergrenze gibt, um diesen Leuten mit ihren fetten Gehältern das Lachen über uns abzugewöhnen […] Wir wollen einen anständigen Mindestlohn für uns und einen Maximallohn für jene, die in Palästen wohnen, so wie es auf unseren Transparenten steht.«28

Der Ruf nach Tathir (Säuberung) der staatlichen Institutionen gehört nach wie vor zu den zentralen Forderungen der Streikbewegung auf jeder Ebene. Eine besonders beliebte Parole auf der Lehrerdemonstration am 24. September lautete: »Die Lehrer fordern den Sturz des Ministers« in Anlehnung an den berühmten Spruch bei den Aufständen gegen Ben Ali in Tunesien und gegen Mubarak. Tathir war in den letzten acht Monaten eine der häufigsten Streikforderungen, aber im Mittelpunkt der Forderung nach Säuberung stehen jetzt weniger die Werksleiter der einzelnen Betriebe, sondern hohe Beamte bis hin zu Ministern. Der gleichzeitige Ausbruch von Streiks und Studierendenprotesten an vielen Universitäten Ägyptens im September mit der Forderung nach demokratischer Wahl der Universitätspräsidenten und Fachbereichsleiter und nach Entfernung der alten Anhänger Mubaraks aus führenden Positionen bezeugt die fortdauernde Vitalität des Kampfes für Tathir.

Die Entwicklung unabhängiger Arbeiterorganisationen

Die Revolution beschleunigte und vertiefte den bereits begonnenen Prozess des Wiederaufbaus unabhängiger Arbeiterorganisationen in Ägypten erheblich, der mit der Gründung der Gewerkschaft der Grundsteuerbeamten (Retau) Ende 2008 erstmals sichtbar wurde. Die Gründung der Retau markiert einen historischen Bruch mit der Erfahrung

28 Hammam, 2011.

Page 34: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Die ägyptische Revolution

90

der vergangenen 60 Jahre. Sie war die erste unabhängige Gewerkschaft seit Gründung des Ägyptischen Gewerkschaftsdachverbands durch Gamal Abdel Nasser im Jahr 1957.29 Unter Nasser agierten die Gewerkschaften als verlängerter Arm des Staats, obwohl in den unteren Rängen der Gewerkschaftsbürokratie noch Raum blieb für engagierte und prinzipientreue Aktivisten, die Interessen der Gewerkschaftsmitglieder in den Betrieben zu vertreten. Nach Nassers Tod wurde unter seinem Nachfolger Anwar as-Sadat die herrschende Partei von Arabische Sozialistische Union in Nationaldemokratische Partei umbenannt, aber die Spitzenfunktionäre der Staatsgewerkschaft standen ihr nach wie vor in der Pflicht und die wesentliche Aufgabe der Gewerkschaften blieb unverändert. Sie hatten eine doppelte Funktion: Als Organe sozialer Kontrolle konnten sie darüber entscheiden, wer Zugang zu Vergünstigungen wie betrieblichen Sozialleistungen bekam, und sie arbeiteten Hand in Hand mit dem staatlichen Management, um den »sozialen Frieden« am Arbeitsplatz zu gewährleisten. Als Organe politischer Kontrolle agierten sie als Wahlmaschine für die herrschende Partei: Sie kontrollierten die Kandidatenaufstellung für die 50 Prozent Parlamentssitze, die für »Arbeiter und Bauern« reserviert waren, und sorgten für die Mobilisierung einer Theaterarmee »treuer Regimeanhänger«, wann immer das Regime das Bedürfnis verspürte, seine »Massenbasis« zur Schau zu stellen. Entsprechend dieser Doppelrolle ging die Gewerkschaftsbürokratie zusammen mit dem staatlichen Unterdrückungsapparat gnadenlos gegen jeden Versuch von Arbeitern vor, kollektive Aktionen auf die Beine zu stellen und unabhängige Organisationen zu gründen. Das heißt nicht, dass der Staat in der Lage gewesen wäre, Streiks und Arbeitsproteste völlig zu verhindern. Ganz im Gegenteil, von Zeit zu Zeit brachen große Streiks aus, die sich häufig zu politisch hochaufgeladenen Konfrontationen mit der Staatsmacht entwickelten. Das gilt für die Aufstände der Textilarbeiterinnen und -arbeiter von Mahalla al-Kubra und Kafr al-Dawwar im Jahr 1984 und 1994, den Eisenbahnerstreik von 1986 und den Stahlarbeiterstreik von Helwan im Jahr 1989. Es gelang aber dem Staat jedesmal, die Gründung unabhängiger Arbeiterorganisationen zu vereiteln, die in der Lage gewesen wären, Aktionen zwischen den Betrieben zu koordinieren und Netze aufzubauen, die über die Streiks hinaus Bestand gehabt hätten.

29 Alexander, 2009.

Page 35: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Die ägyptische Revolution

91

Die Verschärfung des neoliberalen Kurses in den 1990er Jahren beraubte den nasseristischen Staat seiner sozialen Aufgabe: Wegen der Privatisierungen wanderten Hunderttausende Arbeiter in den Privatsektor ab, wo die Unternehmer nicht die gleichen betrieblichen Sozialleistungen und gleiche Arbeitssicherheit boten wie der öffentliche Sektor, während jene, die im Staatssektor verblieben, die kontinuierliche Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen und Löhne erleben mussten. Das Einzige, was von dem faustischen Pakt zwischen der Arbeiterschaft und dem nasseristischen Staat noch übrig blieb, war ein autoritärer Unterdrückungsapparat. Es ist eine Ironie der Geschichte , dass gerade der Entschluss der herrschenden Partei, den offiziellen Gewerkschaftsapparat stärker an die Kandare zu legen, indem sie die untersten Ebenen des Gewerkschaftsapparats von allen Vertretern säuberte, die noch ein hohes Maß an Respekt und Vertrauen bei ihren Arbeitskollegen genossen, entscheidend zur Auflösung des Monopols des Dachverbands Etuf über die Basisgliederungen beitrug. Anlässlich der Gewerkschaftswahlen im November 2006 verloren eine Reihe Aktivisten, unter ihnen Kamal Abu Aita, der zukünftige Präsident der Retau und des Ägyptischen Unabhängigen Gewerkschaftsbunds, ihre Sitze.30 Von der Notwendigkeit befreit, sich dauernd dem Druck der Etuf-Bürokratie anzupassen, konnten viele dieser Aktivisten bei der Organisierung von Streiks eine führende Rolle spielen, und einige machten sich systematisch daran, den Zugriff der Staatsgewerkschaften auf die Betriebe zu schwächen.

Mustafa Bassiouny and Omar Said schrieben im Jahr 2007 in ihrer Broschüre, dass bestimmte Merkmale der Streiks vom Dezember 2006 zu der Herausbildung stabiler Formen unabhängiger Arbeiterorganisation beitrugen, was vorher nicht möglich gewesen war: Die Streiks dauerten länger, manchmal eine Woche oder noch mehr, was einen höheren organisatorischen Einsatz verlangte als Auseinandersetzungen, die entweder schnell beigelegt oder durch die Sicherheitskräfte brutal niedergeschlagen wurden.31 Die neue Taktik der Behörden, die meisten Streiks durch Verhandlungen zu einem Ende zu bringen, anstatt sie direkt zu unterdrücken, spielte auch eine entscheidende Rolle, denn jetzt konnten direkt gewählte Belegschaftsvertreter wertvolle Erfahrungen bei der Vertretung der Interessen der Streikenden gegenüber der

30 Bezug auf WES-Artikel. 31 Bassiouny und Sa’id, 2008.

schlechmima01
Notiz
"faustisch" streichen. Das Wort hat eine andere Bedeutung.
Page 36: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Die ägyptische Revolution

92

Unternehmensleitung und dem Staat gewinnen. Das Beispiel der Retau ist in beider Hinsicht erhellend. Die Unabhängige Gewerkschaft der Grundsteuerbeamten ging aus dem Oberen Streikkomitee der Steuerbeamten hervor, das sich aus Delegierten eines landesweiten Netzes lokal gewählter Streikkomitees zusammensetzte, die wiederum von Aktivisten in der Steuerbehörde gewählt worden waren. Das Obere Streikkomitee konnte im Januar 2008 einen Streik nach erfolgreichen Verhandlungen abschließen.

Dennoch dauerte es noch ein Jahr, bis das Obere Streikkomitee gefestigt genug war und in eine unabhängige Gewerkschaft umgewandelt werden konnte. Die Retau wurde formell im Dezember 2008 gegründet, und ihr Kongress von etwa 4.000 Delegierten besucht. In dem Jahr vor der Revolution wurden drei weitere unabhängige Gewerkschaften gegründet, die der Lehrer, der medizinisch-technischen Assistenten und der Rentner. Genauso wichtig war die Entstehung und Festigung von Untergrundnetzen aus Aktivisten anderer Bereiche. Die Organisierung von Streiks und der Aufbau unabhängiger Organisationen gingen in Bereichen wie dem Verkehrsamt und der Postdienste Hand in Hand vonstatten. Im Sommer 2009 kam es zu einem ernsthaften Versuch, Streiks über mehrere Regierungsbezirke hinweg zu koordinieren. Ein Streik der Busarbeiter des Kairoer Verkehrsamts im August 2009 wurde von Aktivisten angeführt, die nach der Revolution die Unabhängige Gewerkschaft für das öffentliche Verkehrswesen gründeten, unter ihnen Ali Fattouh, erster Gewerkschaftspräsident.

Organisation und Aufstand

Die Beteiligung der Arbeiter am Aufstand war entscheidend für den Sturz Mubaraks. Wir müssen uns jedoch über die Eigenart ihrer Beteiligung im Klaren sein. Die bestehenden unabhängigen Gewerkschaften waren im Verhältnis zur Größe der Bewegung zu klein, um den Ausgang des Aufstands oder auch nur seine Richtung wirklich zu bestimmen. In der letzten Woche von Mubaraks Herrschaft, Anfang Februar 2011, war das Eingreifen strategisch wichtiger Gruppen organisierter Arbeiter, die aber formell noch keine unabhängigen Gewerkschaften gegründet hatten – die Arbeiter des Kairoer Verkehrsamts, die Postarbeiter und die Angestellten der Suezkanalverwaltung – dennoch wichtig, weil es das Kräfteverhältnis zwischen der revolutionären Bewegung und dem Staat in einem

Page 37: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Die ägyptische Revolution

93

entscheidenden Augenblick zugunsten der Bewegung verschob. Aber abgesehen von den Anstrengungen kleiner Aktivistengruppen, größtenteils von der revolutionären Linken und den bestehenden unabhängigen Gewerkschaften, die Kontakt mit Arbeitervertretern aufnahmen und sie zu überzeugen versuchten, zur Unterstützung des Aufstands in den Streik zu treten, gab es keine Möglichkeit, die Aktionen der Arbeiterinnen und Arbeiter zwischen den Betrieben, geschweige denn landesweit abzustimmen. Trotzkis Analyse der russischen Revolution von 1905 folgend können wir sagen, dass die Streiks während des Aufstands ohne Zweifel »die Macht der Regierung desorganisierten«, dass sie aber nicht die »organisierte Macht der Massen selbst über ihre einzelnen Abteilungen« darstellten.32Dennoch ist im Nachhinein die politische und organisatorische Bedeutung der sichtbaren Präsenz der unabhängigen Gewerkschaften im Mittelpunkt des Aufstands klar zu erkennen. Nur wenige Tage nach dem Beginn des Aufstands kamen Vertreter aller vier unabhängigen Gewerkschaften auf dem Tahrirplatz zusammen und vereinbarten die Gründung des Ägyptischen Unabhängigen Gewerkschaftsbunds (Efitu).33 Sie bildeten nur eine kleine Minderheit in der riesigen Menge auf dem Platz, aber die Aktivisten der Steuergewerkschaft mit ihren Fahnen und ihren typischen blauen Baseball-Mützen bildeten eine sehr sichtbare Organisation in dem Meer der Einzeldemonstranten. Wenn also organisierte Arbeiter auf den Platz kamen, war es nicht nur eine zahlenmäßige Verstärkung. Sie waren ein Beispiel für politische und soziale Organisierung, die – wie andere Arbeitergruppierungen sofort begriffen – überall nachgeahmt werden konnte. In einem Interview bei der Gründungsversammlung der Unabhängigen Eisenbahnergewerkschaft in Bani Sueif am 4. Mai erzählte einer der Aktivisten der neuen Gewerkschaft davon, wie er auf dem Tahrirplatz zum ersten Mal von Arbeitern des Kairoer Verkehrsamts von der Existenz unabhängiger Gewerkschaften hörte.34 Der Präsident der unabhängigen Gewerkschaft im multinationalen Ölkonzern Schlumberger erzählt ähnlich von seiner ersten Begegnung mit Kamal Abu Aita und den Aktivisten der Retau auf dem Tahrirplatz, die zur Anregung wurde, auch im eigenen Betrieb den Versuch zu starten, eine unabhängige Gewerkschaft zu gründen.35

32 Trotzki, 1907. 33 Interview mit Kamal Abu Aita, auf Arabisch, Kairo, 27. Oktober 2011. 34 Rizk, 2011. 35 Interview auf Arabisch, Kairo, 27. Oktober 2011.

schlechmima01
Notiz
"Russischen" statt "russischen"
schlechmima01
Notiz
Leerzeichen einfügen
schlechmima01
Notiz
"unabhängiger" statt "unabhängigen"
Page 38: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Die ägyptische Revolution

94

Aufbau von Massenorganisationen nach dem Aufstand

Weder vor der Revolution noch nach dem Sturz Mubaraks können Wachstum und Entwicklung der Arbeiterorganisationen allein anhand des Aufschwungs der unabhängigen Gewerkschaften gemessen werden. Vielmehr müssen die unabhängigen Gewerkschaften als Teil eines breiten Spektrums an Arbeiterorganisationen begriffen werden, wozu die Gründung temporärer Streikkomitees als Antwort auf die konkreten Erfordernisse des alltäglichen Kampfes gehört wie auch Streikkoordinierungskomitees, die sich rasch zu unabhängigen Gewerkschaften weiterentwickelten, schon bestehende unabhängige Gewerkschaften und sogar Gewerkschaftskomitees, die der alten Staatsgewerkschaft angehören, von denen einige weiterhin in den Betrieben verankert sind und Respekt bei den Beschäftigen genießen. Angespornt von den Massenstreiks des September konnten im Frühherbst 2011 neue Koordinierungsorganisationen auf Branchen- wie auf regionaler Ebene Fuß fassen, so ein regionaler Gewerkschaftsbund in Suez und Koordinierungsansätze zwischen unabhängigen Gewerkschaften an den Kairoer Krankenhäusern.36

Ende Oktober war die größte unabhängige Gewerkschaft auf nationaler Ebene der Ägyptische Unabhängige Gewerkschaftsbund (Efitu) mit insgesamt 1,4 Millionen Mitgliedern.37 Ihr alter Rivale, die Staatsgewerkschaft Etuf, hing unter der vom Arbeitsminister im August eingesetzten Übergangsleitung in der Schwebe. Einige der dem Etuf angeschlossenen »allgemeinen Gewerkschaften« versuchten sich in den Medien als legitime Arbeitervertretung darzustellen, so die Gewerkschaft der Fernfahrer, die in den Septemberstreik des öffentlichen Nahverkehrs in Kairo einzugreifen versuchte, um die unabhängige Gewerkschaft zu untergraben, die den Streik anführte.38

Die Ausbreitung streikartiger Aktionen und unabhängiger Organisationen in Schichten, die sich traditionell mit der Arbeiterbewegung kaum identifizieren, trägt zu dem bunten Bild bei. Krankenhausärzte, Imame an Moscheen, Fischer, motorisierte Rikschafahrer, Handwerker, 36 Interview mit Mohammed Schafik auf Arabisch, Kairo, 27. Oktober 2011; Interview mit Haitham Muhammadain auf Arabisch, Kairo, 29. Oktober 2011. 37 Interview mit Kamal Abu Aita auf Arabisch, Kairo, 27. Oktober 2011. 38 Interview mit Haitham Muhammadain auf Arabisch, Kairo, 29. Oktober 2011.

Page 39: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Die ägyptische Revolution

95

Berater in Fragen geistigen Eigentums, Tagelöhner und die Lenker der Scarab-Boote, mit denen Touristen über dem Nil gefahren werden, sie alle wurden in den Dunstkreis der Arbeiterbewegung gezogen und orientierten sich bei ihren kollektiven Aktionen und dem Aufbau eigener Organisationen an der großen Streikbewegung.

Dennoch können eine Reihe von Merkmalen klar herausgearbeitet werden. Erstens bleiben Streiks der wichtigste Motor für Wachstum und Konsolidierung der Arbeiterorganisationen. Wie bereits erwähnt, entstehen aus Streiks heraus ständig neue Gewerkschaften, während bestehende Gewerkschaften ihre in wiederholten Streiks gewonnenen Erfahrungen für den Aufbau und die Konsolidierung ihrer Netze auf Branchen- und nationaler Ebene genutzt haben. Darüber hinaus waren die Arbeiter angesichts der Unnachgiebigkeit und des Beharrungsvermögens des Staates zur besseren Koordination gezwungen und sie begannen, ihre Forderungen an immer höhere Stellen im Staatsapparat zu richten. Hinzu kommt, dass Traditionen der Streikorganisation auch die demokratische Kultur der neuen Arbeiterorganisationen prägen, sodass die Basis in der Regel ein hohes Maß an Kontrolle über die Gewerkschaftsfunktionäre erhält.39 Bislang können wir den Prozess als einen organischen Prozess betrachten, in dem die Streikorganisation gegen die Grenzen des einzelnen Betriebs stößt, was die Arbeiter dazu zwingt, nach Koordinierungsmöglichkeiten zwischen den Betrieben zu suchen und dabei Organisationsformen zu entwickeln, die die Energie und die Wut der Basis nach oben vermittelt und in denen, die gewählten Funktionäre zur Rechenschaft gezogen werden können. Das schnelle Wachstum der unabhängigen Gewerkschaften gibt der Arbeiterbewegung eine neue Gestalt. Die unabhängigen Gewerkschaften entstehen jetzt nicht mehr nur aus Streikaktionen, sondern führen – so neu und zerbrechlich sie sind – jetzt auch Streiks an und entwickeln Mechanismen zwischengewerkschaftlicher und zwischenbetrieblicher Koordinierung, die im Fall der Lehrer im September einen Massenstreik auf nationaler Ebene hervorbrachten.

Das ist jedoch nur ein Teil des Gesamtbildes. Eine Reihe weiterer Faktoren haben die Entwicklung der Arbeiterorganisation bislang mitgeprägt. Dazu gehört das Vorgehen verschiedener Staatsorgane, angefangen mit dem Obersten Rat der Streitkräfte über den Arbeitsminister Ahmad al-Borai bis hin zu den Gouverneuren der verschiedenen Landesteile 39 Interview mit Haitham Muhammadain auf Arabisch, Kairo, 29. Oktober 2011.

schlechmima01
Notiz
"den" statt "dem"
Page 40: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Die ägyptische Revolution

96

und der Leitung der großen Staatsunternehmen. Al-Borais Politik hat eine wichtige Rolle gespielt, weil er den unabhängigen Gewerkschaften einen legalen Handlungsspielraum verschaffte. . Auf diese Weise konnte eine Bürokratie in den unabhängigen Gewerkschaften entstehen, die demselben Druck von oben und unten ausgesetzt ist wie die Gewerkschaftsbürokratien überall auf der Welt.

Die gesetzlichen Vorschriften für die Registrierung und Anerkennung der unabhängigen Gewerkschaften haben auch die Beziehungen zwischen den Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und der Arbeiterbewegung beeinflusst.Eine Reihe NGOs bietet Rechtsberatung an und Hilfe bei der Organisierung von Kampagnen der Arbeiterbewegung, so zum Beispiel das Zentrum für gewerkschaftliche und arbeiterorientierte Dienstleistungen (CTUWS). Wegen des umständlichen Registrierungsverfahrens im Arbeitsministerium sind die unabhängigen Gewerkschaften auf wohlwollende Rechtsberatung angewiesen. In Ägypten gibt es eine lange Tradition linker Rechtsanwälte, die eng mit der Arbeiterbewegung zusammenarbeiten. Jusuf Darwisch, einer der führenden kommunistischen Aktivisten der 1940er Jahre, diente vielen Gewerkschaften als Anwalt, und Anwaltsaktivisten wie Haitham Muhammadain und Chaled Ali setzen diese Tradition heute fort. Die Versuche mancher NGOs, auf die Gründung und die Führung unabhängiger Gewerkschaften maßgeblich Einfluss zu nehmen, haben jedoch seit der Revolution zu beträchtlichen Spannungen geführt. Die CTUWS zog sich im Juli 2011, nach einer scharfen Auseinandersetzung mit Vertretern der Efitu, zurück, weil diese den NGO-Mitarbeitern nicht das Recht einräumen wollten, wichtige Entscheidungen im Namen der Föderation zu treffen.40

Die Orte erreichen, wo andere Bewegungen außen vor bleiben

Die Entstehung der Efitu als Anziehungspunkt für soziale Schichten über den Kern der Arbeiterbewegung im staatlichen Sektor hinaus, spiegelt einen allgemeineren sozialen Prozess wider, in dem die organisierte Arbeiterklasse in den verschiedenen Streikwellen vor und nach der Revolution begann, in den Kämpfen der Armen einen Grad sozialer Führung auszuüben. Das

40 Interview mit Kamal Abu Aita auf Arabisch, Kairo, 27. Oktober 2011.

schlechmima01
Notiz
"." rausnehmen
schlechmima01
Notiz
Leerzeichen einfügen
Page 41: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Die ägyptische Revolution

97

Vorbild von Streikaktionen in Verbindung mit unabhängiger gewerkschaftlicher Organisation wird jetzt von Millionen Ägyptern als Mechanismus angesehen, kollektiven Widerstand gegen die gnadenlose Senkung ihres Lebensstandards und Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen infolge neoliberaler Politik zu organisieren. Es gibt wichtige Beispiele dafür, dass dieser Prozess sowohl nach „oben“ als auch „seitwärts“ verläuft: Er hat einerseits Teile der hochgebildeten, aber relativ prekär beschäftigen Mittelschicht erfasst, Ärzte und Hochschullehrer zum Beispiel, andererseits Arme in den Städten und auf dem Land, die aus soziologischen und politischen Gründen kaum eine Tradition der Identifikation mit der Arbeiterbewegung besitzen, obwohl sich ihr Lebensstandard nicht wesentlich von dem der städtischen Arbeiter unterscheidet, die den Kern der Arbeiterbewegung bilden.

Nicht alle Elemente dieser Aktivitäten sind überall und gleichgewichtig in allen Sektoren vorhanden. Manche Fachkräfte im Gesundheitswesen, wie medizinisch-technische Assistenten (Radiologen, Zahntechniker und andere) haben Gewerkschaften gegründet, lehnten anfänglich aber Streikaktionen als Taktik ab.41 Die Streikerfolge in anderen Bereichen des Gesundheitswesens, vor allem die der Ärzte, gekoppelt mit dem Misserfolg der eigenen Verhandlungen und Anstrengungen, den nötigen Druck aufzubauen, haben aber auch unter dieser Beschäftigten zu einer Radikalisierung geführt.42 Für manche Gruppen selbstständiger ausgebildeter oder angelernter Handwerker kann die unabhängige gewerkschaftliche Organisierung, um kollektiven Druck auf die Behörden auszuüben, von größerer Bedeutung sein, denn ein Mechanismus zur Organisierung von Streiks.

Aber allein schon die politische Dimension dieses Prozesses ist von größter Bedeutung, denn er beendete Jahrzehnte der Beherrschung der Ärztegewerkschaft durch die Muslimbruderschaft, als eine Liste von Basiskandidaten unter der Führung der säkularen Linken die Kontrolle über eine Mehrheit der Ortsverbände gewann, darunter auch Kairo und Alexandria, und ein Viertel aller Sitze im Bundesvorstand. Die Spitzenkandidaten der Liste waren führende Aktivisten, die die landesweiten Ärztestreiks vom 10. und 17. Mai 2011 organisiert hatten.

41 Interview auf Arabisch mit Ahmed al-Sayyid, Präsident der Gewerkschaft der Techniker im Gesundheitswesen, Kairo, 18. März 2011. 42 Tahrir News, 2011.

Page 42: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Die ägyptische Revolution

98

Der Aufstand der Ärzte

Die Ärztegewerkschaft ist eine Standesorganisation, die Praxiszulassungen ausgibt und die Ärzteschaft bei Verhandlungen mit dem Staat vertritt. Sie wurde von Nasser eingeführt, und jahrzehntelang von der Staatspartei gelenkt. Die Muslimbruderschaft errang die Kontrolle in den 1980er Jahren und besetzte die führenden Positionen bis zum Oktober 2011, als eine unabhängige Liste, ein Wahlbündnis aus Basisgruppierungen, 25 Prozent der Sitze im Generalrat einnehmen konnte.

Mohammed Schafik, Aktivist der Ärzte ohne Rechte, eines Basisnetzes, das eine führende Rolle bei den Streiks vom Mai spielte, meint, dass mehrere Faktoren die Ärzte zum kollektiven Handeln zwangen.

Nach dem 11. September 2001 wurde es schwieriger für ägyptische Ärzte, nach Europa oder Amerika auszuwandern. Es gab auch verstärkte Konkurrenz aus Pakistan und Indien auf dem Arbeitsmarkt der Golfregion. Gleichzeitig verlotterte das Bildungssystem Ägyptens. In den 1950er und 1960er Jahren galt ein ägyptischer Hochschulabschluss genauso viel wie ein in Großbritannien erworbener. Die Qualität der öffentlichen Bildung sank jedoch kontinuierlich und die Ärzte mussten feststellen, dass ihre Qualifikationen immer weniger wert waren. Sogar Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Kuwait begannen pakistanische und indische Ärzte zu bevorzugen. Ärzte und andere Spezialisten fühlten sich in den 1990er und frühen 2000er Jahren allgemein stark benachteiligt. All das drängte sie in Richtung Arbeitskampf.43

Währenddessen hatte die Muslimbruderschaft die Ärztegewerkschaft in eine »Dienstleistungsgewerkschaft« verwandelt, die Ärzten Ratenkäufe oder Aktien auf neue Gesundheitsprojekte vermittelte und dabei hinter den Kulissen gute Beziehungen zur herrschenden Partei unterhielt.

Vor diesem Hintergrund entstand Ärzte ohne Rechte. Es handelte sich um eine Gruppe von Gewerkschaftern, die ein anderes Konzept gewerkschaftlichen Aktivismus anbot. Für sie steht die Verteidigung der Interessen der Mitgliedschaft, einschließlich ihrer materiellen Interessen und ihrer sozialen und wirtschaftlichen Rechte, im Vordergrund. Sie begann als kleine Gruppe weniger Dutzend, die sich auf der Treppe vor der Gewerkschaftszentrale traf, außerhalb

43 Interview mit Mohammed in: Socialist Review, London, Mai 2012.

Page 43: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Die ägyptische Revolution

99

dieser gewaltigen Organisation mit ihrem Geld und ihrer riesigen Mitgliedschaft.44

Ein erster Streikversuch im Jahr 2008 legte den Grundstein für die erfolgreichen Streiks des Jahres 2011. Es war jedoch die Revolution, die die Karten neu mischte. Durch ihre Beteiligung an den gewaltigen Straßenprotesten radikalisiert, drängten am 25. März Tausende Ärzte auf die Hauptversammlung der Ärztegewerkschaft und verabschiedeten einen an die Regierung gerichteten Forderungskatalog. Als die Verhandlungen scheiterten, eröffnete das die Möglichkeit für die Ärzte ohne Rechte, für Streik zu argumentieren. Die Streiks vom 10. und 17. Mai stärkten die Organisation an der Basis, als Tausende Ärzte weite Teile des Gesundheitssystems lahmlegten. Trotz einiger Rückschläge, darunter die Niederlage bei der Abstimmung über die Fortführung des Streiks auf einer Vollversammlung am 10. Juni, trugen die Streiks zu erheblichen Verwerfungen innerhalb der Muslimbruderschaft und zu neuen Handlungsmöglichkeiten für die Linken bei.

„Die Unabhängigkeitsliste stellte sechs Kandidaten für die Sitze der jungen Ärzte im Generalrat auf, der auf nationaler Ebene gewählt wird. Ich war einer von ihnen. Es war allgemein bekannt, dass ich Kommunist bin. Die Liste erhielt zehntausend Stimmen. Ich erhielt insgesamt zwölftausend Stimmen. Diese zweitausend zusätzlichen Stimmen kamen von der Bruderschaft. Ich vertrat den Standpunkt, dass die Gewerkschaft eine kämpfende Gewerkschaft sein sollte, dass die Gewerkschaft ein Schild und der Streik unser Schwert seien.“45

Die Revolution an der Al-Azhar-Universität

Vielleicht noch überraschender als das Aufkommen der Ärzte als prominente Anwälte für Streikaktionen waren die Proteste und Streiks der Mitarbeiter der altehrwürdigen islamischen Universität Al-Azhar und der vom Ministerium für religiöse Angelegenheiten beschäftigten Beamten und Geistlichen. Dazu gehörten auch Streiks von Imamen der Moscheen. Im März streikten 3.600 Lehrer an der Al-Azhar-Universität angegliederten

44 Shafiq, 2011. 45 Shafiq, 2011.

Page 44: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Die ägyptische Revolution

100

Schulen in der Provinz Dakalia, organisierten Sit-ins und forderten die Rücknahme der Entscheidung des Scheichs von Al-Azhar, wonach nur Leute mit Hochschulabschluss eingestellt würden.46 Im Mai organisierten Angestellte der Hauptverwaltung eine Demonstration an der Al-Azhar-Universität selbst und forderten die Entlassung von Beratern mit weit überhöhten Gehältern. Im selben Monat kam es zu zwei verschiedenen Protesten dutzender Imame für ihre Wiedereinstellung, nachdem sie von der Geheimpolizei zum »Sicherheitsrisiko« erklärt worden waren, und für den Rücktritt des Ministers für religiöse Angelegenheiten. Hundert arbeitslose Hochschulabsolventen der Al-Azhar-Universität organisierten ebenfalls ein Sit-in an der Universität und forderten Arbeitsplätze für die 22.000 arbeitslosen Absolventen der Einrichtung.47

Im Juni organisierten Imame, die durch die Intervention der Sicherheitsdienste ihre Stellen verloren hatten, ein Sit-in vor dem Religionsministerium und forderten ihre Wiedereinstellung.48 Im August organisierten Hunderte Imame und Prediger eine Demonstration vor dem Ministerium und forderten unter anderem den Rücktritt des Ministers, die Entlassung von korrupten Beamten und Beratern mit überhöhten Gehältern und die Entfernung aller Generäle, die die wichtigsten Posten im Ministerium bekleiden.49

Im September kam es zu koordinierten Streikaktionen von Imamen und Predigern im Verwaltungsbezirk Assjut: 500 weigerten sich, die Freitagspredigt zu halten aus Protest gegen die Kürzung ihrer Leistungsprämie von 200 auf 75 Prozent ihres Grundgehalts.50 Im Oktober erreichte der Kampf an der Al-Azhar-Universität neue Höhen. Tausende Studenten besetzten die Universität und forderten die Wahl der Universitätsleitung, Beendigung der Korruption, Unabhängigkeit vom Staat und eine neue Studentenverfassung.51

Der Fall der Ärztegewerkschaft und die Radikalisierung der Lehrer und Studenten der Al-Azhar-Universität werfen einige wichtige Fragen in Bezug auf die Auswirkungen sozialer Kämpfe auf die islamistischen Massenorganisationen auf, insbesondere die Muslimbruderschaft. Hier ist 46 Awlad al-Ard, 2011 b. 47 Awlad al-Ard, 2011 d. 48 Awlad al-Ard, 2011 e. 49 Awlad al-Ard, 2011 g. 50 Awlad al-Ard, 2011 h. 51 Nur al-Din, 2011; Ali, 2011.

Page 45: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Die ägyptische Revolution

101

kein Platz,der Frage genauer nachzugehen, wie die Linke angesichts des ständigen Aufruhrs in der Bruderschaft als Folge der Streikbewegungen die sich eröffnenden Möglichkeiten praktisch nutzen kann. Aber am Beispiel der Wahlen in der Ärztegewerkschaft zeigt sich deutlich, wie die Linke solche Gelegenheiten ergreifen kann, um ihre Organisationen und ihren Einfluss wieder aufzubauen. Es lohnt sich darüber nachzudenken, wie ein fehlendes Verständnis für den Charakter von islamistischen Massenorganisationen und die ihnen innewohnenden gesellschaftlichen Widersprüche die linken Aktivisten in der Ärztegewerkschaft dazu hätte verleiten können, eine abstrakte politische Auseinandersetzung mit der Bruderschaft über den »Islamismus« gegen den »Säkularismus« zu führen, anstatt eine Strategie zu entwickeln, die den sozialen Kampf nutzt, um die interne politische Krise der Bruderschaft zu vertiefen und so der Linken Zeit für ihren Aufbau zu geben.52

Die Frage der politischen Führung

In diesem Artikel beschäftige ich mich in erster Linie mit der Entwicklung der Arbeiterbewegung und der Streikwelle im ersten Revolutionsjahr. Wir müssen verstehen, dass die organisierte Arbeiterschaft ein Element in einer Reihe von Kräften darstellt, deren Interessen am besten durch die Fortsetzung und Vertiefung der Revolution gedient ist. Die Kämpfe dieser revolutionären Kräfte haben sich oft gegenseitig verstärkt, was deutlich an der pendelartigen Bewegung zwischen Streiks und Straßenprotesten von September 2011 bis Anfang Mai 2012 abzulesen ist. Die politische und soziale Dimension dieser großen Volkserhebungen sind miteinander verflochten, was aber nicht bedeutet, dass die darin organisierten Kräfte automatisch sich selbst oder die Massen koordiniert und gemeinsam in Bewegung setzen können, wenn es um die Konfrontation mit dem Staat geht.

Die Instabilität in und zwischen den konterrevolutionären und reformistischen Kräften ist ein entscheidender Faktor für die Verlängerung des revolutionären Moments und damit auch der Hoffnungen auf weiterreichende soziale und politische Veränderungen. Einerseits wurde der Unterdrückungsapparat des Staats durch den Volksaufstand geschwächt, 52 Siehe Harmans »Politischer Islam, eine marxistische Analyse«, 4. Auflage 2012, die einen großen Einfluss auf die ägyptische Linke hatte.

Page 46: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Die ägyptische Revolution

102

und die Sorge, dass eine Konfrontation mit der Massenbewegung weitere Risse in der Armee erzeugt oder es sogar zu einem Zusammenbruch der Militärdisziplin kommt, hat die konterrevolutionären Kräfte vor einem Frontalangriff auf die Straßenbewegung zurückschrecken lassen. In der Zwischenzeit bleibt die Muslimbruderschaft weiterhin von inneren Widersprüchen zwischen ihrer Massenbasis und ihrer Führung geplagt. Diese Widersprüche fanden ihren Niederschlag in den Rücktritten und Ausschlüssen hochrangiger Funktionäre und dem Austritt einer großen Anzahl junger Aktivisten aus Wut über die enge Zusammenarbeit der Führung der Bruderschaft mit dem Militär. Vor allem ist das Verhältnis zwischen der Bruderschaft und der Armee „eine Vernunftehe, nicht eine Ehe aus Liebe oder Überzeugung“, wie Sameh Naguib schreibt.53 Dieses Bündnis wurde den Partnern wegen ihrer geteilten Furcht vor der Massenbewegung aufgezwungen, und durch ihr gemeinsames Bestreben, die jetzige Struktur des ägyptischen Kapitalismus um jeden Preis zu erhalten. Im November 2011 und im April dieses Jahrs geriet die Ehe in die Krise, als die Bruderschaft wieder auf die Straße ging, um Proteste gegen den Militärrat zu organisieren, der sich eine dauerhafte politische Position zu verschaffen suchte. Es ist auch wichtig festzuhalten, dass die Islamisten kein geschlossener Block sind. Die Bruderschaft hat einen heftigen Wahlkampf gegen die Salafisten geführt, die ihrerseits in mehrere rivalisierende Organisationen gespalten sind.

Taktische Streitigkeiten zwischen den konterrevolutionären und den reformistischen Kräften verdecken aber letztendlich weitergehende gemeinsame Ziele, wie es in einer Stellungnahme der Revolutionären Sozialisten heißt, die am 20 April auf den Massenprotesten gegen den Militärrat verteilt wurde : »Es wäre der Tod unserer Revolution, wenn die Kräfte, die gegenwärtig im Clinch über die Verfassung und die Präsidentschaft stehen, zu einer Übereinkunft gelängen, die es ihnen erlaubt, jene verschärft auszubeuten und zu unterdrücken, die sich ihrer Politik nicht unterwerfen.«

Zusammenstöße zwischen der Arbeiterbewegung und dem Staat werden unter diesen Bedingungen die Frage nach der politischen Führung sehr direkt aufwerfen. Sehr wahrscheinlich werden die Arbeiterinnen und Arbeiter die Wahl treffen müssen, ob sie , die politische Autorität des Parlaments und des Präsidenten, die viele von ihnen soeben gewählt haben, 53 http://www.e-socialists.net/node/8600.

Page 47: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Die ägyptische Revolution

103

akzeptieren oder ob sie versuchen, dem Staat ihren eigenen Willen aufzuzwingen, indem sie sich weigern, die Kosten der Wirtschaftskrise zu tragen. Die Frage des Aufbaus einer politischen Arbeiterorganisation, die alle Kämpfe von unten miteinander verbindet, ist dringender denn je. Die kleinen Kräfte der revolutionären Linken sind im Verlauf des letzten Jahres enorm gewachsen. Sie haben Hunderte neue Mitglieder gewonnen und revolutionäre sozialistische Ideen unter Zehntausenden verbreitet. Aber ihre größte Probe steht ihnen noch bevor im Kontext der zu erwartenden Konfrontationen zwischen der Arbeiterbewegung und dem Staatsapparat im Zuge eines ernsthaften Versuchs seitens des zukünftigen Präsidenten, die neoliberale Stabilität wieder einzuführen. Wie Karl Marx in seiner Ansprache vor Aktivisten der Kommunistischen Liga im Jahr 1850 sagte, müssten die Arbeiter den Schlachtruf der »permanenten Revolution« aufgreifen.

Die ägyptische Revolution hat bereits Millionen Menschen weltweit eine Vision von kollektiver Selbstbefreiung gegeben, die ihr Potenzial in der Mobilisierung von Protesten von Barcelona über Oakland bis London unter Beweis gestellt hat. Wenn es uns gelingt, auch nur eine winzige Minderheit derjenigen rund um den Globus, für die »Tahrir« nicht ein Ort, sondern ein Befreiungsprozess ist, für unsere Perspektive zu gewinnen, dass nur die Macht der organisierten Arbeiterschaft den Schlüssel zur Emanzipation der Menschheit in der Hand hält, dann werden wir auf bescheidene Weise dem Versprechen der Revolution vom 25. Januar und den Hoffnungen der Menschen, die sie vollbracht haben, gerecht.

Bibliographie

Alexander, Anne (2009): Egypt’s strike wave: lessons in leadership, September 2009 Alexander, Anne (2011): The growing social soul of Egypt’s democratic revolution,

in: International Socialism 131 (Sommer 2011), http://www.isj.org.uk/index.php4?id=741

Ali, M. (2011): Egypt teachers strike for the first time since 1951, 19. September 2011, http://english.ahram.org.eg/NewsContent/1/64/21568/Egypt/Politics-/Egypt-teachers-strike-for-the-first-time-since-.aspx

Al-Lagna al-Tansiqiyya li-idrab al-Arish (2011): Bayan mu’tamr ligan idrab al-mu’alimin bi-arish, 22. September 2011, http://www.e-socialists.net/node/7544

Page 48: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Die ägyptische Revolution

104

Al-Tahrir Newspaper (2011):Al-Faniyin al-Sahiyin tunathim idrab ghadan lisaraf hafiz ithbata 200 %, 24. September 2011 http://tahrirnews.com/

Awlad al-Ard (2011a): Hasad al-haraka al-pummaliyya fi shahr fibrayir, 21. März 2011, http://www.e-socialists.net/node/6689

Awlad al-Ard (2011b): Hasad al-haraka al-ummaliyya fi shahr maris, http://www.e-socialists.net/node/6793

Awlad al-Ard (2011c): Hasad al-haraka al-ummaliyya fi shahr abril, http://www.e-socialists.net/node/6933

Awlad al-Ard (2011d): Hasad al-haraka al-ummaliyya fi shahr mayu, http://www.anhri.net/?p=33543

Awlad al-Ard, (2011e): Hasad al-haraka al-ummaliyya fi shahr yunyu, http://www.e-socialists.net/node/7178

Awlad al-Ard (2011f): Hasad al-haraka al-ummaliyya fi shahr yuliyu, http://www.e-socialists.net/node/7255

Awlad al-Ard (2011g): Hasad al-haraka al-ummaliyya fi shahr agustus, http://www.anhri.net/?p=39423

Awlad al-Ard, (2011h,) Hasad al-haraka al-ummaliyya fi shahr sibtimbir, http://www.e-socialists.net/node/7678

Barker, Colin (2002): Revolutionary Rehearsals«, Haymarket Bassiouny, Mustafa, und Sa’id, Omar (2008): A new workers’ movement: the strike

wave of 2007, International Socialism 118, Frühjahr 2008 http://www.isj.org.uk/index.php4?id=429

Bayat, Asef (1986): Workers and Revolution in Iran, Zed Press Beaumont, Peter (2011): Egyptian soldiers attack Tahrir Square protesters, The

Guardian, 9. April 2011, http://www.guardian.co.uk/world/2011/apr/09/egyptian-soldiers-tahrir-square-protesters

Beinin, Joel (2010): The Struggle for Workers’ Rights in Egypt«, Solidarity Center, Washington, http://www.solidaritycenter.org/files/pubs_egypt_wr.pdf

Choonara, Joseph (2011): The Relevance of Permanent Revolution, in: International Socialism 131, London

Egyptian Independent Trade Unionists (2011): The demands of the workers in the revolution, 19. Februar 2011, http://www.socialistworker.co.uk/art.php?id=23984 bzw. auf Englisch unter: http://www.tahrirdocuments.org/2011/07/the-demands-of-workers-in-the-revolution/

Page 49: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Die ägyptische Revolution

105

Fouad, Hisham (2011): Ummal al-Kitan yuwasilun ihtilal al-sharika, 13. November, http://www.e-socialists.net/node/7833

Gaber, Yassin (2011): Reconstructing Maspero’s Bloody Sunday: An Ahram Online Investigation, 1. November 2011, http://english.ahram.org.eg/NewsContent/1/64/25521/Egypt/Politics-/Reconstructing-Masperos-Bloody-Sunday-Ahram-Online.aspx

Gabha al-Taghyir (2011): Facebook page, http://ar-ar.facebook.com/Gabhetattagheer.ESIIC, accessed 22. November 2011

Goodrich, L. Carter (1920): The Frontier of Control, Harcourt, Brace and Howe, New York

Hammam, Muhammad (2011): Mudakhila Niqabi min Niqabat Hi’yat Ummal al-Naql al-am, Video, http://www.youtube.com/user/mhammam78#p/u/29/XXnCImE0fDM, 19. August 2011

Harman, Chris (1994): Politischer Islam, eine marxistische Analyse, 4. Auflage 2012 Human Rights Watch (2011): Egypt: End torture, Military Trials of Civilians, 11.

März, http://www.hrw.org/news/2011/03/11/egypt-end-torture-military-trials-civilians

Kirkpatrick, David, und Myers, Steve (2011): US hones warnings to Egypt as Military Stalls Transition, New York Times, 16. November 2011, http://www.nytimes.com/2011/11/17/world/middleeast/us-warns-egypt-as-military-stalls-transition.html?scp=4&sq=SCAF&st=cse

Lu’ay Ali (2011): Bil-suwar, al-gaysh yuhawil fadd itisam tulab al-azhar, 27 Oktober 2011, Al-Yawm al-Saba’a, http://www.youm7.com/News.asp?NewsID=521778

Luxemburg, Rosa (1990): Massenstreik, Partei und Gewerkschaften (1906), in: Luxemburg, Gesammelte Werke, Band 2, Berlin 1990.

MENA Solidarity Network (2011): Egypt: Teachers tell generals ›Meet our demands or no school this year‹, 13. September 2011, http://menasolidaritynetwork.com/2011/09/13/egypt-teachers-tell-generals-meet-our-demands-or-no-school-this-year/

Nur al-Din, Ahmed (2011): Itisam tulab al-Azhar yudkhal yawmu al-sa’ba; http://www.e-socialists.net/node/7787, , 30. Oktober 2011

Raslan, Sarah (2011): Cairo bus drivers partially suspend strike after 18 days, Ahram Online, 4. Oktober 2011, http://english.ahram.org.eg/NewsContent/1/64/23343/Egypt/Politics-/Cairo-bus-drivers-partially-suspend-strike-after--.aspx

Page 50: READER I REVOLUTION - WordPress.com...Die Revolution führt zur Diktatur des Proletariats, weil nach Marx der Kapitalismus eine ganz bestimmte unterdrückte Klasse hervorgebracht hat:

Die ägyptische Revolution

106

Rizk, Philip (2011): Ummal al-Sikkat al-Hadid Awzin Niqaba Mustaqila Li? Video, http://www.youtube.com/user/intifadatintifadat#p/u/21/E10IzcERSSM, 10. Mai 2011

Shafiq, Mohammed (2011): The union is our shield and a our sword is the strike, Socialist Review, London, Dezember 2011

Shukrullah, Salma (2011): Tahrir protest swells by midday, Ahram Online, 27 May 2011, http://english.ahram.org.eg/NewsContent/1/64/13075/Egypt/Politics-/Tahrir-protest-swells-by-midday.aspx

Trotzki, Leo (1993): Ergebnisse und Perspektiven. Die treibenden Kräfte der Revolution, in: »Die permanente Revolution. Ergebnisse und Perspektiven«, Essen 1993, S. 191 ff.

Trotzki, Leo (1905): Die russische Revolution, in: Ausgewählte Schriften Band 1, Berlin 1972.

Trotzki, Leo (1969): Die permanente Revolution, Frankfurt am Main 1969, S. 118, Ummal wa (2011): Amilat al-Mahalla, Min Ummal wa Amilat al-Mahalla,

3. September 2011, http://www.e-socialists.net/node/7361