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Andreas Büchter, Hans Humenberger, Stephan Hußmann, Susanne Prediger (Hrsg.) Realitätsnaher Mathematikunterricht – vom Fach aus und für die Praxis Festschrift für Hans-Wolfgang Henn zum 60. Geburtstag Verlag Franzbecker

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Andreas Büchter, Hans Humenberger,Stephan Hußmann, Susanne Prediger

(Hrsg.)

RealitätsnaherMathematikunterricht –

vom Fach aus und für die Praxis

Festschrift für Hans-Wolfgang Hennzum 60. Geburtstag

Verlag Franzbecker

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Andreas Büchter, Hans Humenberger, Stephan Hußmann, SusannePrediger (Hrsg.)Realitätsnaher Mathematikunterricht – vom Fach aus und für die PraxisFestschrift für Hans-Wolfgang Henn zum 60. Geburtstag

ISBN 3-88120-436-9ISBN neu 978-3-88120-436-1

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere die derVervielfältigung und Übertragung auch einzelner Textabschnitte, Bilder oder Zeichnungenvorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Zustimmung des Verlages inirgendeiner Form reproduziert werden (Ausnahmen gem. 53, 54 URG). Das gilt sowohlfür die Vervielfältigung durch Fotokopie oder irgendein anderes Verfahren als auch für dieÜbertragung auf Filme, Bänder, Platten, Transparente, Disketten und andere Medien.

© 2006 by Verlag Franzbecker, Hildesheim, Berlin

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Inhaltsverzeichnis

1. TEIL: Mathematik und der Rest der Welt – Realitätsbezüge BLUM, Werner:

Modellierungsaufgaben im Mathematikunterricht – Herausforderung für Schüler und Lehrer 8

EBNER, Bruno & FOLKERS, Martin: Mit Mathematik unterschreiben: Ein Vorschlag für den Schulunterricht 24

FÖRSTER, Frank: Eytelwein, Seile und Poller − Oder: Warum kann ich ein großes Schiff mit einer Hand festhalten? 38

GALBRAITH, Peter: Mathematics, Modelling and Technology – A Challenging Trinity 48

HAINES, Chris: “Who is a good modeller and how do we know?” 59

HERGET, Wilfried & KLIKA, Manfred: Zweistellige Funktionen – ein Beitrag zu Modellbildung und Realitätsbezug im Mathematikunterricht 69

KAISER, Gabriele & MAAß, Katja: Vorstellungen über Mathematik und ihre Bedeutung für die Behandlung von Realitätsbezügen 83

SCHWARZKOPF, Ralph: Elementares Modellieren in der Grundschule 95

SCHORNSTEIN, Johannes: Wie lösen Schülerinnen und Schüler eine realitätsorientierte Aufgabe? 106

2. TEIL: Mehr Semantik, weniger Syntax – mehr Prozess, weniger Kalkül ARNDT, Frauke, MEIER, Stefanie & MÜLLER, Jan Hendrik:

Wie Modelle entstehen – Lotto in Schule und Lehrerausbildung 110FISCHER, Astrid & HEFENDEHL-HEBEKER, Lisa:

Die negativen Zahlen als gedankliche Konstruktion 120RASFELD, Peter:

Das Rencontre-Problem, eine Quelle für den Stochastikunterricht von der Primarstufe bis zur Sekundarstufe II? 129

SCHWEHR, Siegfried: Talsperren: Eine Empfehlung von Hans-Wolfgang Henn und die Folgen 140

SELTER, Christoph: Quadratzahlen im Mathematikunterricht der Grundschule 149

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INHALTSVERZEICHNIS

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3. TEIL: CAS, DGS & Co – Computereinsatz im Mathematikunterricht BARZEL, Bärbel & HUßMANN, Stephan:

Denken in Funktionen zwischen Graph, Term und Tabelle – Rechnereinsatz auf neuen Wegen 158

BRUDER, Regina: Sinnvoller Einsatz von CAS in der Schule – ein Projektbericht 170

LUDWIG, Matthias: Fußbälle mit dem Computer 180

WEIGAND, Hans-Georg & WETH, Thomas: Werkzeuge des Geistes im Dienste der Mathematik: Taschenrechner und Computeralgebra Systeme 191

4. TEIL: Eigenart und Schönheit von Mathematik BRINKMANN, Astrid:

Erfahrung mathematischer Schönheit 203MEYER, Jörg:

Die Krümmung der Sattelfläche – ein elementarer Zugang zur Differentialgeometrie 214

SCHUPP, Hans: Unbekanntes vom DIN-An-Blatt 224

HUMENBERGER, Hans & SCHUPPAR, Berthold: Irrationale Dezimalbrüche – nicht nur Wurzeln! 232

5. TEIL: Lehrerbildung – eine zentrale Aufgabe BÜCHTER, Andreas:

Vernetzungen von Geometrie und Stochastik – für ein stimmiges Bild von Mathematik 246

DANCKWERTS, Rainer: Plädoyer für eine „Schulanalysis vom höheren Standpunkt“ im ersten Semester 257

LEUFER, Nikola & PREDIGER, Susanne: „Vielleicht brauchen wir das ja doch in der Schule“ – Sinnstiftung und Brückenschläge in der Analysis als Bausteine zur Weiterentwicklung der fachinhaltlichen gymnasialen Lehrerbildung 265

NEUBRAND, Michael: Begründe, dass es unendlich viele Primzahlen gibt! Studentisches Umgehen mit einem klassischen Beweis 277

SCHARLAU, Rudolf: Curriculare und didaktische Überlegungen zur Linearen Algebra 286

ANHANG Adressen der Autorinnen und Autoren 296Verzeichnis der Schriften von Hans-Wolfgang HENN 299

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Realitätsnaher Mathematikunterricht – vom Fach aus und für die Praxis Unserem lieben Freund und Kollegen

Hans-Wolfgang Henn zum 60. Geburtstag

Vielleicht ist es ja kein Zufall, dass gerade der 60. Geburtstag besonders begangen wird: 60 war viele Jahrhunderte lang die günstige Basis eines (noch nicht vollkom-menen) Stellenwertsystems, denn keine kleinere Zahl hat so viele Teiler, nämlich 12. Die 60er-Schritte in der Zeit- und Win-kelmessung oder die 360-Einteilung beim Gradmaß erinnern heute noch daran!

Im Zusammenhang mit dieser Festschrift erscheint von mindestens ebenso hoher Bedeutung, dass 60 die Lösung der so genannten Wolfgang-Aufgabe ist, auf die uns Christoph Selter aufmerksam gemacht hat:

Wolfgang ist '47 geboren und feiert am 12. 1. seinen Geburtstag mit einem Festkolloquium. Frage: Wie alt ist er?

Die Rechnung 47 + 12 + 1 = 60 zeigt eindeutig, dass er 60 Jahre alt ist! Und diese 60 Jahre hat er u. a. mit viel Leidenschaft für die Mathematik, das Ma-thematiklehren und -lernen gefüllt:

Hans-Wolfgang Henn studierte ab 1967 die Fächer Mathematik und Physik an der Universität Karlsruhe und legte dort 1971 das Erste Staatsexamen in diesen Fächern ab. Während dieses Studiums lernte er seinen nunmehr langjährigen Freund und Kollegen Werner Blum kennen, der damals Assistent an der Uni-versität Karlsruhe war, und knüpfte damit erste Kontakte mit der Mathematik-didaktik. Direkt im Anschluss an das Erste Staatsexamen wurde er wissenschaftlicher Assistent am Mathematischen Institut II der Universität Karlsruhe bei Prof. Leopold, promovierte dort 1975 mit der fachmathe-matischen Arbeit Automorphismengruppe und Weierstraßpunkte von Funkti-onenkörpern und blieb dem Hochschulbetrieb zunächst bis 1979 erhalten.

Das erste wissenschaftliche Arbeitsgebiet von Hans-Wolfgang Henn war also nicht die Didaktik der Mathematik, sondern die Mathematik selbst – speziell die algebraische Zahlentheorie. Aber schon während seiner Zeit an der Univer-sität Karlsruhe wandte er sich ab 1976 auch dem Mathematikunterricht zu: Er absolvierte ein Gastreferendariat und das Zweite Staatsexamen in seinen Unter-richtsfächern.

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REALITÄTSNAHER MATHEMATIKUNTERRICHT

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Damit eröffnete sich der Weg in die Praxis des Mathematikunterrichts und in die Mathematikdidaktik: 1979 begann seine Laufbahn im baden-württembergischen Schuldienst, womit sich auch sein Forschungsinteresse von der algebraischen Zahlentheorie ab- und dem Lehren und Lernen von Mathe-matik zuwandte. Fortan hing sein Herz am Lehrberuf und an der Mathematik-didaktik. Dieses Herz schlägt bis heute ungebrochen und stark weiter für die Belange der Lehreraus- und -fortbildung. Bis 1999 unterrichtete er als Lehrer am Lessing-Gymnasium in Karlsruhe, wobei er ab 1989 zusätzlich Fachleiter für Mathematik am Staatlichen Semi-nar für Schulpädagogik (Gymnasien) in Karlsruhe war. In dieser Funktion hat er viele Referendarinnen und Referen-dare in die Kunst eines prozessorientierten Mathematikun-terrichts eingeweiht.

Eine Konsequenz seiner schon damals sehr regen Publika-tionstätigkeit war die Berufung als Professor für Didaktik der Mathematik an die Universität Dortmund zum Oktober 1999, wo er seither für die didaktische Ausbildung der Gymnasiallehrer und für die fachliche und didaktische Ausbildung der Grund-, Haupt- und Realschullehrer zu-ständig ist.

Die wissenschaftlichen Interessen im Bereich der Mathe-matikdidaktik sind beim Jubilar außerordentlich vielfältig, was nicht zuletzt durch sein umfangreiches und breit gefä-chertes Schriftenverzeichnis (siehe Anhang dieses Bandes) dokumentiert ist. Wenn man dennoch versucht, sie unter einem Motto zu subsumieren, so trifft der Titel dieser Fest-schrift zumindest einen wichtigen Kern:

Realitätsnaher Mathematikunterricht – vom Fach aus und für die Praxis

Selbst aus der Unterrichtspraxis kommend, ist Hans-Wolfgang Henns Tätigkeit immer von dem Anspruch geprägt gewesen, dass Mathematikdidaktik im Dienste der Praxis zu stehen hat und zu ihrer Weiterentwicklung beitragen soll. Vier besonders wichtige Felder der Qualitätsentwicklung waren für ihn die konsequente Integration von Realitätsbezügen, die Betonung prozessorientier-ten Arbeitens und inhaltlichen Denkens sowie der verständige Computerein-satz. Dabei gerät die Mathematik keinesfalls in eine Nebenrolle, sondern steht in einer vom Fach aus gedachten Didaktik immer mit ihren Eigenarten und ihrer Schönheit im Zentrum. Da ein solcher Unterricht fachinhaltlich und fach-didaktisch gebildete Lehrerinnen und Lehrern benötigt, ist die Lehrerbildung auch immer ein wichtiger Bestandteil von Hans-Wolfgang Henns Arbeit gewe-sen.

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REALITÄTSNAHER MATHEMATIKUNTERRICHT

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Und so haben wir jedem der Arbeitsschwerpunkte von Hans-Wolfgang Henn in dieser Festschrift ein Kapitel gewidmet:

1. Mathematik und der Rest der Welt – Realitätsbezüge Die Realitätsbezüge im Mathematikunterricht sind ein besonders starkes und „uraltes“ Anliegen von Hans-Wolfgang Henn. Dies wird nicht nur durch seine unzähligen Aufsätze und internationalen Vorträge zu diesem Thema dokumen-tiert, sondern auch durch seine zahlreichen verantwortungsvollen Tätigkeiten (nicht nur Mitgliedschaften) in weltweit führenden Gesellschaften, die sich der Stärkung von „Anwendungen der Mathematik“ im Unterricht verschrieben haben: An vorderster Stelle seien die ICTMA (The International Community of Teachers of Mathematical Modelling and Applications), die ICMI-Study Group (The International Commission on Mathematical Instruction) und die ISTRON-Gruppe genannt.

2. Mehr Semantik, weniger Syntax – mehr Prozess, weniger Kalkül Bei diesem Thema fügt sich Hans-Wolfgang Henn an ganz prominenter Stelle in die Reihe derer ein, die nicht müde werden zu betonen, wie wichtig es ist, Mathematik nicht nur als Produkt und den dazugehörigen Mathematikunterricht nicht nur als Weitergabe dieses Fertigproduktes an bis jetzt Unwissende zu sehen, sondern beides vielmehr als Prozess! Mathematik muss man aktiv betreiben – und dies schon im Lernprozess. Dabei steht die individuelle Ent-wicklung von tragfähigen mathematischen (Grund-)Vorstellungen immer vor einer formal korrekten Notation mathematischer Ergebnisse. Wer seine fachli-chen und didaktischen Lehrveranstaltungen erleben darf, lernt dabei Prototypen für entsprechende Lernsituationen kennen.

3. CAS, DGS & Co – Computereinsatz im Mathematikunterricht Der Computer war für Hans-Wolfgang Henn von Anfang an ein natürliches Werkzeug des Mathematiktreibens, das als solches auch seinen Platz im Ma-thematikunterricht haben muss. Theoretische und praktische Studien resultier-ten in einer Reihe von Schriften und Aktivitäten für die Unterrichtspraxis (vgl. z. B. die drei Bücher über CABRI, GEOLOG-WIN, DERIVE; des Weiteren ist er seit langem Mitglied der Fachgruppenleitung der DMV-Fachgruppe „Com-puteralgebra“). Dabei hat Hans-Wolfgang Henn immer wieder auch auf mögli-che Gefahren hingewiesen, wenn Computereinsatz zum Selbstzweck wird. Eines seiner wichtigsten Credos in diesem Zusammenhang lautet:

Nicht der Computer bestimmt mögliche Inhalte des Mathematikunterrichts („weil dies oder jenes mit dem Computer so gut machbar ist“), sondern umge-kehrt: Die wohlüberlegten Inhalte (Fach, Didaktik) bestimmen den möglichen Computereinsatz!

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REALITÄTSNAHER MATHEMATIKUNTERRICHT

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4. Eigenart und Schönheit von Mathematik Schon seine Herkunft von der algebraischen Zahlentheorie lässt vermuten, dass Hans-Wolfgang Henn die Mathematik als geistiges Schöpfungsprodukt mit einer faszinierenden Architektur immer sehr schätzte. Seit 1980 arbeitet er besonders intensiv im Bereich der Elementarmathematik. Dieses eigene Tun blieb Ausgangspunkt seiner fachdidaktischen Studien: Wie kann man – ausge-hend von interessanten Phänomenen – mathematische Zusammenhänge ele-mentar beschreiben und so deren Motivationskraft nützen, so dass die Eigenart und Schönheit von Mathematik schon in Schule und im Lehramtsstudium für möglichst viele Menschen erfahrbar wird. Ein erneutes Zeugnis für diese Ver-knüpfung von Elementarmathematik und Mathematikdidaktik ist das in den letzten Jahren verstärkte Interesse von Hans-Wolfgang Henn für „Origamics“ – die mathematische Kunst des Papierfaltens.

5. Lehrerbildung – eine zentrale Aufgabe Der Lehrerbildung hat sich Hans-Wolfgang Henn nicht erst in Dortmund ver-pflichtet, sondern schon seit den 80er-Jahren mit zahlreichen Publikationen. Ab 1989 dann auch genuin beruflich in der zweiten Phase der Lehrerausbildung in Baden-Württemberg, in zahlreichen Lehrerfortbildungen und später dann in der ersten (universitären) Phase der Lehrerausbildung in Dortmund. Notwendige Veränderungen im Schulunterricht müssen ihre Wurzeln in beiden Phasen der Lehrerbildung haben. Seine eigene Lehrerbildung war immer besonders geprägt von Engagement, Anschaulichkeit, Lebendigkeit und Faszination – dies sind sehr wichtige Eigenschaften eines Lehrerbildners und somit „Multiplikators der Lehre“, der in seiner Haltung zum Fach und zum fachlichen Lernen selbst ein Modell ist.

Die Fertigstellung dieser Festschrift hat uns viel Freude bereitet. Wir danken allen mitwirkenden Autorinnen und Autoren und insbesondere Nikola Leufer für ihre sorgfältige und geduldige Endredaktion. Außerdem danken wir Beate Ruffer-Henn für ihre Spionage-Tätigkeiten…

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REALITÄTSNAHER MATHEMATIKUNTERRICHT

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Lieber Wolfgang,

die herzlichsten Glückwünsche zu Deinem „Sechziger“!

Nicht zuletzt in unserem eigenen Interesse wünschen wir Dir für die nächs-ten 5 Berufsjahre und auch weit darüber hinaus eine produktive Zeit als Fachdidaktiker.

Außerdem wünschen wir Dir viel Freude und Vergnügen an all den beruf-lichen und privaten Dingen, die Du – am liebsten mit Deiner Frau Beate – so gerne machst: Reisen (insbesondere Fernreisen und Tauchen), Sammeln (Briefmarken, alte – vor allem englische – Gläser, Urangläser, Bücher etc.) Flohmärkte besuchen, Heimwerken, Besuche von Haubenrestaurants, ge-mütliche Runden bei Rotwein und Zigarren.

Ad multos annos!

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Modellierungsaufgaben im Mathematikunterricht – Herausforderung für Schüler und Lehrer

Werner Blum, Kassel

Zusammenfassung: In diesem Beitrag soll anhand von Beispielen aus einer laufenden Studie gezeigt werden, wie Schüler und Lehrer mit Modellierungsaufgaben umgehen, welche Probleme sich dabei zeigen und welche Möglichkeiten es gibt, diese Probleme anzugehen. Nach dem einleitenden Abschnitt 1 gebe ich in Abschnitt 2 eine Arbeitsdefi-nition des Begriffs „Modellieren“ und erinnere daran, warum Realitätsbezüge im Ma-thematikunterricht so wichtig sind. In Abschnitt 3 richte ich den Blick auf die Bearbei-tungsprozesse von Schülern, während in Abschnitt 4 das unterrichtliche Handeln von Lehrern im Blickpunkt steht. Schließlich deute ich in Abschnitt 5 an, welche Erkenntnis-se aus jener Studie abgeleitet werden können.

1. Einleitung

Dass Schüler mathematisches Modellieren lernen sollen, ist eine seit langem erhobene Forderung. Schon W. Lietzmann hat postuliert:

„Erst das Hin und Wider zwischen Wissenschaft und Wirklichkeit in bei-derlei Richtung erschöpft die Aufgabe, die im materialen Zweck der Ma-thematik liegt. Ebenso wichtig wie die Anwendung einer mathematischen Tatsache auf die Wirklichkeit, aber ungleich schwerer ist die Aufgabe, in der Wirklichkeit das mathematische Problem zu sehen.“ (Lietzmann 1919, S. 66)

Auch H.-W. Henn hat sich schon früh für einen „beziehungshaltigen“ Mathe-matikunterricht eingesetzt (Henn 1980).

Neu erhoben wurde diese Forderung im Zusammenhang mit der PISA-Studie (Baumert et al. 2001; Prenzel et al. 2004). Deutschen Fünfzehnjährigen werden hier beträchtliche Defizite in Bezug auf „Mathematical Literacy“ bescheinigt, das ist i. W. die Fähigkeit, Mathematik in Realsituationen verständig verwen-den zu können. Übersetzen zwischen Realität und Mathematik, also mathemati-sches Modellieren, bildet das Herz von Mathematical Literacy (siehe Blum et al. 2004).

Besonders aktuell ist Modellieren dann im Kontext der länderübergreifenden Bildungsstandards geworden, die in Deutschland als unmittelbare Konsequenz aus den PISA-Ergebnissen etabliert worden sind (vgl. Klieme et al. 2003). Hier ist nicht der Ort, Chancen und Risiken von Bildungsstandards zu diskutieren. Es soll nur betont werden, dass mathematisches Modellieren nun nicht mehr nur als Dekoration in den Präambeln stofforientierter (und zum Teil auch stoff-

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MODELLIERUNGSAUFGABEN IM MATHEMATIKUNTERRICHT

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überfrachteter) Lehrpläne steht, sondern eine von sechs allgemeinen mathema-tischen Kompetenzen ist, die Schüler im Mathematikunterricht erwerben sollen.

Ziel dieses Beitrags ist es aufzuzeigen, welche Probleme Schüler und Lehrer mit Modellierungsaufgaben haben und welche Folgerungen hieraus für eine unterrichtliche Behandlung solcher Aufgaben gezogen werden können. Insbe-sondere soll gezeigt werden, dass es sich lohnt, sich diesen Herausforderungen zu stellen und Modellierungsaufgaben in selbstverständlicher Weise in den Mathematikunterricht einzubeziehen.

2. Was ist und wozu dient mathematisches Modellieren?

Es gibt ganz unterschiedliche Auffassungen vom Begriff des mathematischen Modellierens (für eine Übersicht siehe Part 1 in Blum/Galbraith/Henn/Niss 2006). Sie reichen vom Mathematisieren im engeren Sinn, d. h. vom Aufstellen eines mathematischen Modells als geeignetes Abbild eines Ausschnitts der Welt, bis zum angewandten Problemlösen im umfassendsten Sinn. Ich lege hier ein Prozessschema des Bearbeitens von realitätsbezogenen Aufgaben entspre-chend Blum/Leiß (2005a) zugrunde (Abb. 1):

Math.Modell

Math.Resultate

RealeResultate

Real-modell

Situations-modell

Real-situation

Restder Welt Mathematik

1 2

3

4

5

6

1 Verstehen2 Vereinfachen/Strukturieren3 Mathematisieren4 Mathematisch arbeiten5 Interpretieren6 Validieren7 Vermitteln

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Abb. 1. Prozessschema für Modellierungsaufgaben

Nehmen wir das Aufgabenbeispiel „Leuchtturm“, das eine auch aus Schulbü-chern bekannte Problemstellung beinhaltet:

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Der erste Schritt eines idealtypischen Lösungsprozesses ist die Konstruktion einer eigenen mentalen Vorstellung von der gegebenen Problemsituation mit dem Ziel, Situation und Fragestellung zu verstehen. Das resultierende Situati-onsmodell muss dann strukturiert und vereinfacht werden, wobei naheliegende Annahmen hier sind: Die Erde ist eine Kugel, das Schiff ist punktförmig, die Sicht ist frei, das Leuchtfeuer befindet sich an der Turmspitze und der Lichtstrahl verläuft wie eine Gerade. Das liefert ein Realmodell der Situation. Nun werden die Objekte und Annahmen mathema-tisiert. Das entsprechende mathematische Modell ist (mit sinnvollen Ergänzungen) ein Dreieck wie in Abb. 2 zu sehen, wobei der Erdradius

6370 kmR ≈ ist, 30, 8 mh = bekannt und s ge-sucht ist.

Nun wird mathematisches Wissen eingesetzt: Kreistangenten stehen senkrecht auf dem zugehörigen Radius, das Modell-Dreieck ist also rechtwinklig. Pythagoras liefert dann das mathematische Resul-tat: 2 19.8 kms Rh≈ ≈ . Rück-Interpretation in die Realsituation bringt das reale Resultat: Die Sichtweite beträgt (bei den gegebenen Bedingungen) etwa 20 km. Nun muss dieses Ergebnis kritisch geprüft werden: Waren die Annah-men vernünftig? Waren die mathematischen Überlegungen und Rechnungen korrekt? Ist die Ergebnis-Genauigkeit angemessen? Zum Beispiel kann man zusätzlich nun die Höhe des Schiffs berücksichtigen. Dann revidiert man das Modell und wiederholt den Durchlauf. Ist das Schiff z. B. 10 m hoch, resultiert eine Sichtweite von etwa 31 km. Ein Bestandteil solcher Validierungsaktivitä-ten könnten auch verallgemeinernde funktionale Reflexionen sein:

Wie hängt die Sichtweite von der Turmhöhe ab? Man sieht (s ungefähr propor-tional h !), dass man die Turmhöhe vervierfachen muss, um die doppelte Sichtweite zu erhalten.

Leuchtturm In der Bremer Bucht wurde 1884 direkt bei der Küste der 30,7 m hohe Leuchtturm „Roter Sand“ gebaut. Er sollte Schiffe durch sein Leuchtfeuer davor warnen, dass sie sich der Küste nähern. Wie weit war ein Schiff ungefähr noch vom Leuchtturm entfernt, wenn es ihn zum ersten Mal sah? Runde geeignet. Beschreibe deinen Lösungsweg.

Abb. 2

RR

h s

Leuchtturm

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MODELLIERUNGSAUFGABEN IM MATHEMATIKUNTERRICHT

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Wenn im Folgenden vom mathematischen Modellieren die Rede ist, sind die Schritte 2, 3, 5 und 6 dieses Kreislaufs gemeint. Von Modellierungsaufgaben spreche ich, wenn substanzielle Anforderungen in Bezug auf diesen Teil des Bearbeitens involviert sind, so wie das z. B. bei „Leuchtturm“ der Fall ist.

Diese Form des Prozessschemas (man nennt dies meist prägnant den „Model-lierungskreislauf“) hat ihre Wurzeln zum einen in der pragmatisch orientierten Diskussion zum Modellieren als Lösen realer Problemstellungen und zum an-dern in der psychologisch orientierten Diskussion zu Textaufgaben. Aus letzte-rer kommt die Betonung des ersten Bearbeitungsschritts, des sinnentnehmenden Lesens gegebener Texte und dadurch Verstehens der gegebenen Problemsitua-tion. Dies ist ein individuell zu vollziehender Konstruktionsakt, der oft schon eine hohe kognitive Hürde darstellt (siehe Abschnitt 3). Überhaupt stellt dieses Kreislaufschema eine wirksame Hilfe zum Beurteilen tatsächlicher individuel-ler Bearbeitungsprozesse dar, auch wenn diese i. a. nicht so linear verlaufen, wie es das Schema suggeriert (zu „individuellen Modellierungsverläufen“ vgl. Borromeo-Ferri 2006). Insbesondere sind alle Stationen dieses Kreislaufs po-tenzielle kognitive Hürden.

Wozu sollen überhaupt Realitätsbezüge in den Mathematikunterricht integriert werden? Es gibt mehrere Gründe dafür (vgl. Winter 2003, Blum 1996):

• Nur mit Realitätsbezügen kann der Mathematikunterricht zum Umweltverste-hen, zur Alltagsbewältigung und zur Berufsvorbereitung beitragen („pragma-tische“ Gründe).

• Realitätsbezüge sind ein Vehikel zur Kompetenzentwicklung und sind insbe-sondere für die Förderung der Kompetenz Modellieren unentbehrlich („for-male“ Gründe).

• Realitätsbezüge helfen Schülern beim Mathematiklernen, sie dienen zum besseren Verstehen und Behalten von mathematischen Inhalten und können diese motivieren („lernpsychologische“ Gründe).

• Nur mit Realitätsbezügen lässt sich ein adäquates Mathematikbild bei Schü-lern aufbauen („kulturbezogene“ Gründe).

Mit diesen Gründen sind gleichzeitig hohe Ansprüche formuliert. Nötig ist hierzu die Behandlung eines breiten Spektrums von realitätsbezogenen Beispie-len und Aufgaben, von eingekleideten Textaufgaben bis hin zu authentischen Modellierungsaufgaben. Quellen gibt es genug, so die ISTRON-Reihe bei Franzbecker (siehe Henn/Maaß 2003 und die Übersicht hierin) oder Bücher wie Herget/Scholz (1998), Herget/Jahnke/Kroll (2001) oder Büchter/Leuders (2005).

Im Alltagsunterricht kommen Modellierungsaufgaben und -aktivitäten eher wenig vor. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass der Unterricht im Vergleich

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WERNER BLUM

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zum bewährten kalkülorientierten Unterricht anspruchsvoller wird, für Schüler und für Lehrer. Veränderungen der herkömmlichen Unterrichtspraxis in der Sekundarstufe I sind vor allem durch das BLK-Modellversuchsprogramm SINUS initiiert worden, das 1998 als Reaktion auf die unbefriedigenden Ergeb-nisse der TIMS-Studie ins Leben gerufen worden ist (Baumert et al. 1997, Henn 1999; Prenzel/Baptist 2001; Blum et al. 2000; Bendrien/Biermann/Leiß 2005). Empirische Untersuchungen haben jedoch selbst im Unterricht enga-gierter SINUS-Lehrer Defizite aufgezeigt, die offensichtlich nicht den einzelnen Lehrern anzulasten sind, sondern auf Erkenntnisdefizite zurückzuführen sind, insbesondere:

• Was genau ist das kognitive Potenzial anspruchsvoller Modellierungsaufga-ben, was ist ihr jeweiliger „Aufgabenraum“ („Task Space“)?

• Wie bearbeiten Schüler solche Aufgaben, was sind dabei „Schlüsselstellen“ und kognitive Hürden?

• Was sind hierbei schüler- und aufgabenadäquate Diagnose- und Interventi-onsmöglichkeiten für Lehrer?

• Welche (kurz-, mittel- und langfristigen) Wirkungen hat das Lehrerhandeln in solch aufgabenbasierten Lernumgebungen auf Leistungen und Einstellungen der Schüler?

3. Wie gehen Schüler mit Modellierungsaufgaben um?

Die Fragen am Ende von Abschnitt 2 waren Ausgangspunkt und Leitlinie für DISUM, ein interdisziplinäres Projekt zwischen Mathematik-Didaktik (Werner Blum), Pädagogik (Rudolf Messner, Universität Kassel) und pädagogischer Psychologie (Reinhard Pekrun, Universität München). DISUM bedeutet „Di-daktische Interventionsformen für einen selbständigkeitsorientierten aufgaben-gesteuerten Unterricht am Beispiel Mathematik“. Das Projekt begann im Jahr 2002, seit 2005 ist es DFG-gefördert (siehe z. B. Blum/Leiß 2003, Leiß/Blum/ Messner 2006). Untersuchungsschwerpunkt sind Modellierungsaufgaben in den Klassen 8 – 10 aller Schulformen. Die Untersuchungen finden sowohl im Labor (Schülerpaare mit und ohne Lehrer lösen Aufgaben) als auch im Unterricht statt. Insbesondere gab es 2004/05 eine umfangreiche „Best-Practice-Studie“, bei der besonders erfahrene und großenteils auch in der Fortbildung tätige SINUS-Lehrer aus Hauptschulen und Gymnasien diverse Modellie-rungsaufgaben im regulären Unterricht behandelt haben.

Ein konkretes Beispiel: Die Aufgabe „Riesenschuhe“:

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MODELLIERUNGSAUFGABEN IM MATHEMATIKUNTERRICHT

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Die wesentlichen kognitiven Hürden bei dieser Aufgabe liegen am Anfang der Bearbeitung, beim Verstehen der Sachsituation und Treffen geeigneter Annah-men (z. B.: proportionaler Zusammenhang Fußlänge – Menschengröße und eigener Körper als Referenz). Hier hatten viele Schüler (und übrigens auch manche Lehramtsstudenten bei parallelen Untersuchungen) große Probleme. Der folgende Auszug aus dem Lösungsprozess zweier Hauptschüler (ohne Lehrer) verdeutlicht dies:

Also aus den beiden Zahlen die Höhe, also die Größe des Menschen be-rechnen – Wenn 2,37 m die Breite des Schuhs ist und 5,29 m lang, müsste, ich glaube, 2,37 m mal 5,29 m – Dann hast’ doch die Höhe von dem Men-schen, glaube ich. (Auszug 1: Hauptschüler zu „Riesenschuhe“)

Die Schüler berechnen dann unmittelbar 2,37 x 5,29 m = 12,54 m als Größe des Riesenmenschen. Hier ist eine weit verbreitete Schülerstrategie sichtbar: Wenn du nicht genau weißt, was zu tun ist, dann benutze einfach ein unmittelbar ver-fügbares Schema, das auf die gegebenen Zahlen/Größen passt.

Ich fasse einige Beobachtungen aus Labor und Unterricht zusammen:

• Alle Schritte des Modellierungskreislaufs sind potenzielle kognitive Hürden für Schüler, variierend je nach Aufgabe und Individuum.

Folgerung: Es müssen die Teil-Kompetenzen des Modellierens (entsprechend den einzelnen Schritten des Kreislaufs) mithilfe geeigneter Aufgaben gezielt gefördert werden.

• Schüler benutzen i. a. keine bewussten Lösungsstrategien und sind bei auftre-tenden Schwierigkeiten oft hilflos.

Folgerung: Schülern müssen adäquate Strategien zum Lösen von Modellie-rungsaufgaben an die Hand gegeben werden; siehe dazu Abschnitt 4.

• Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen dem „Alleine-Arbeiten“ von Schülern und selbständigem Arbeiten mit Lehrerunterstützung; im erste-

Florentino poliert in einem Sportzentrum auf den Philippinen das laut Guinness-Buch der Rekorde weltgrößte Paar Schu-he. Ein Schuh ist 2,37 m breit und 5,29 m lang. Wie groß wäre der Riesenmensch unge-fähr, dem dieses Paar Schuhe passen würde? Beschreibe deinen Lösungsweg.

Riesenschuhe

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WERNER BLUM

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ren Fall sind Schüler oft überfordert und geben auf.

Folgerung: Die in der zeitgenössischen Pädagogik gelegentlich propagierte Abstinenz des Lehrers von Eingriffen in Lösungsprozesse ist so pauschal sicher falsch. Es geht um die subtile Balance zwischen Schüler-Selbständigkeit und Anleitung durch den Lehrer, um minimale, diagnosebasierte Interventionen bei auftretenden Schülerschwierigkeiten („Hilf mir, es selbst zu tun“). Hierzu be-darf es einer gezielten Schulung von Lehrern in Diagnose- und Interventions-möglichkeiten bei Modellierungsaufgaben.

Der letzte Punkt leitet bereits über zu Abschnitt 4.

4. Wie gehen Lehrer mit Modellierungsaufgaben um?

Wir haben die Unterrichtsstunden der erwähnten „Best-Practice-Studie“ nach unseren Qualitätskriterien beurteilt, bei denen wir „Fachlich gehaltvolle Unter-richtsgestaltung“, „Kognitive Aktivierung der Lernenden“ und „Effektive und schülerorientierte Unterrichtsführung“ unterscheiden (genauer siehe bei Blum/Leiß 2005b).

In den beobachteten Stunden waren viele dieser Kriterien erfüllt. So haben sehr viele der Lehrer eine Stundenstruktur gewählt, die selbständige Modellierungs-aktivitäten der Schüler begünstigt (vgl. auch Bendrien /Biermann/Leiß 2005):

1. Vorstellung der Aufgabe im Plenum 2. Einzelarbeit 3. Gruppenarbeit 4. Individuelles Aufschreiben von Lösungen 5. Präsentation von Lösungen im Plenum 6. Vergleich der Lösungen und reflektierender Rückblick Diese Stundenstruktur erinnert an Unterrichtsskripts, wie sie im Anschluss an TIMSS aus japanischen Stunden bekannt geworden sind (Baumert/Lehmann et al. 1997). Eine Weiterentwicklung dieses Skripts erfolgte hier u. a. dadurch, dass jeder Schüler seine eigene Lösung aufschreiben musste. In den Fällen, wo Phase 4 durch eine Gruppenlösung ersetzt wurde, bestand Phase 5 oft aus einer Lösungspräsentation in neu zusammengesetzten Gruppen („Expertenmethode“/ „Gruppenpuzzle“/„Museumsrundgang“). Hier ist ein Beispiel für die Qualität so entstandener Schülerlösungen. Es geht um die bekannte Aufgabe „Tanken“ (Blum/Leiß 2005a):

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MODELLIERUNGSAUFGABEN IM MATHEMATIKUNTERRICHT

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Tanken

Herr Stein wohnt in Trier, 20 km von der Grenze zu Luxemburg entfernt. Er fährt mit seinem VW Golf zum Tanken nach Luxemburg, wo sich direkt hinter der Grenze eine Tankstelle befindet. Dort kostet der Liter Benzin nur 0,85 Euro, im Gegensatz zu 1,1 Euro in Trier.Lohnt sich diese Fahrt für Herrn Stein? Begründe deine Antwort.

Abb. 3. Schülerlösung zu „Tanken“

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WERNER BLUM

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Eine gymnasiale Schülergruppe produzierte die in Abb. 3 abgedruckte Lösung. Bei den Validierungsüberlegungen werden hier sogar Umweltgesichtspunkte und „Patriotismus“ (Tanken in Trier als Unterstützung der deutschen Wirt-schaft) ins Spiel gebracht.

In einigen der beobachteten Stunden zu „Tanken“ fanden auch (wie schon in Abschnitt 2 bei „Leuchtturm“ angesprochen) funktionale Reflexionen statt: Wie hängt die Antwort auf die Frage, ob sich die Fahrt nach Luxemburg „lohnt“, von den getroffenen Annahmen ab? In einer der Klassen war eine Schülerfrage der willkommene Anlass hierfür:

Das ist doch jetzt komisch, wenn wir das jetzt sagen, angenommen, 8 Liter, und dann jetzt eine andere Gruppe sagt, keine Ahnung, 6 oder 7 Liter, dann hat ja jeder ein anderes Ergebnis später – müssen wir da nicht alle ir-gendwie dasselbe haben, dass wir ... (Auszug 2: Gymnasiast zu „Tanken“)

Ein besonders schönes Beispiel zum konstruk-tiven Umgehen mit Schülerfehlern war in einer gymnasialen Un-terrichtsstunde zu „Leuchtturm“ zu beo-bachten. Eine Schüler-gruppe hatte die Lösung „Sichtweite ≈ 20 km“ für ein punktförmiges Schiff produziert (siehe Abschnitt 2) und in einem zweiten Schritt mit der Schiffshöhe 10 m gearbeitet. Hier ist die zugehörige Lösung (Abb. 4):

Abb. 4. Schülerlösung zu „Leuchtturm“

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MODELLIERUNGSAUFGABEN IM MATHEMATIKUNTERRICHT

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RR

h s

Rh

Leuchtturm

Schiff

s

1

2

1

2

Abb. 5

Die Lösung ist offensichtlich falsch (geringere Sichtweite bei höherem Schiff). Wo liegt der Fehler? Man darf die 10 m natürlich nicht einfach in die Pythagoras-Gleichung einbauen (was berechnet man dann eigentlich?), vielmehr muss man das Modell wie in Abb. 5 modifizieren, mit Ergebnis

1 2 1 22s s s Rh Rh= + ≈ + (

1 22 (R h h= + )).

Der Lehrer hatte diesen Fehler sofort registriert, aber nicht interveniert. Statt-dessen berechnete er parallel zu den Schülern weitere Konsequenzen aus die-sem falschen Modell (also einige Werte der Zuordnung

2 1 22 ( )h s R h h→ ≈ − ). Er ließ die Gruppe dann dieses falsche Ergebnis prä-

sentieren, und in die beginnende Unruhe hinein thematisierte er in ganz distan-zierter Form diesen kognitiven Konflikt:

Wenn ich die Frage, welchen Einfluss hat eigentlich die Höhe des Punktes auf dem Schiff, von dem aus man den Leuchtturm beobachtet. […] Ich hab das nun eben gerade mal gerechnet, mit meinem schlauen Rechner, ich möchte Euch die Ergebnisse mal kurz zeigen. […] (L. projiziert seine Rechnung mit TC an die Wand.)

[…] So, das c1 in dieser Tabelle ist einfach die angenommene Höhe des Schiffs. c1=0 bedeutet also die Lösung […] von Gruppe 1, die auf diese Frage gar nicht eingegangen ist. c1=5 bedeutet 5 Meter Höhe, 10 Meter Höhe, 15 Meter Höhe. [...] Es ist also tatsächlich so: Wenn man das so rechnet, wie Ihr es getan habt, dann gilt: Je höher der Punkt des Schiffes ist, desto später sieht man den Leuchtturm.

Wir haben jetzt noch etwa 5 Minuten Zeit. Ich möchte Euch bitten, dass Ihr in den 5 Minuten, und zwar jeder Tisch für sich, in den Stammgruppen al-so, Euch diesen Zusammenhang zwischen der Höhe des Schiffes und der Lösung dieser Aufgabe, dass Ihr Euch bitte diesen Zusammenhang anhand einer Skizze noch mal versucht klar zu machen. Ist es denn wirklich richtig so, wie es da gerechnet wurde? Ich habe es schlicht und ergreifend genau-so gerechnet, wie der Max es vorgetragen hat. (Auszug 3: Gymnasiallehrer zu „Leuchtturm“)