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Parlament und Verfassung im Progressistischen Guinea Author(s): Joachim Ernst Source: Africa Spectrum, Vol. 4, No. 1, Recht und Rechtspraxis in Afrika (1969), pp. 18-30 Published by: Institute of African Affairs at GIGA, Hamburg/Germany Stable URL: http://www.jstor.org/stable/40173455 . Accessed: 15/06/2014 05:45 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Institute of African Affairs at GIGA, Hamburg/Germany is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Africa Spectrum. http://www.jstor.org This content downloaded from 62.122.79.21 on Sun, 15 Jun 2014 05:45:05 AM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

Recht und Rechtspraxis in Afrika || Parlament und Verfassung im Progressistischen Guinea

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Parlament und Verfassung im Progressistischen GuineaAuthor(s): Joachim ErnstSource: Africa Spectrum, Vol. 4, No. 1, Recht und Rechtspraxis in Afrika (1969), pp. 18-30Published by: Institute of African Affairs at GIGA, Hamburg/GermanyStable URL: http://www.jstor.org/stable/40173455 .

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Parlament und Verfassung im prog rassistischen Guinea

Probleme politischer Willensbildung

Für das guineische Verfassungssystem ist nach wie vor die übermächtige Stel- lung der Exekutive und vor allem des Chefs der Exekutive charakteristisch1). Doch vollzieht sich allmählich ein Übergang: aus der Präsidial Verfassung wird eine Parteiverfassung.

Die einzige Partei des Landes (Parti Democratique de Guinee, P.D.G.), seit über einem Jahrzehnt an der Macht, hat es meisterhaft verstanden, sich den Staats- apparat anzugliedern. Sekou Toure, Generalsekretär der Partei, Regierungschef und Staatsoberhaupt in einem, regiert im wesentlichen auf dem Verordnungs- wege. Zehn Jahrgänge Journal Officiel legen davon Zeugnis ab2). Die Frage nach der Gewaltenteilung, nach der Kontrolle der Exekutive durch die Legis- lative erscheint müßig, wenn man als Legislative nur die in der Konstitution v. 10. November 19583) vorgesehene Nationalversammlung in Betracht zieht. Diese hat zwar dem Buchstaben nach gewisse Kontrollbefugnisse gegenüber der Exekutive, kann sie aber in Anbetracht der Verfassungswirklichkeit nicht aus- üben. Ähnlich steht es mit ihrer Rolle als Organ der Volkssouveränität und mit ihrer Rolle als Gesetzgeber. Mit ihnen konkurrieren andere, stärkere Kräfte, die in der Konstitution nicht vorgesehen sind.

Technisch fragt sich daher, wer diese stärkeren Kräfte darstellt und in welchem Verhältnis diese zu der schwächeren oder gar anderen Kompetenz der National- versammlung stehen.

Politisch fragt sich, ob etwa außerhalb der Konstitution, sei es verfassungs- konform, sei es verfassungswidrig, ein parlamentarisches System eigener Art im Entstehen ist, ob ein auf den ersten Blick undemokratisches Staatswesen im Begriff ist, eine neue, progressistisch-afrikanische Form demokratischer Willens- bildung und Gewaltenkontrolle zu entwickeln.

Systematisch fragt sich, ob die Konstitution nur einen Teil der eigentlichen Verfassung ausmacht, ob diese nicht etwa, aus Konstitution und Parteistatut zusammengesetzt, vorgestellt werden muß.

Die Zeit, da S£kou Toure es nötig hatte, sein „r£gime presidentiel" mit einem aus „jakobinischer und marxistischer Tradition genährten Mythos konventioneller

*) Siehe hierzu J. Voss: Die Verfassungssysteme Guineas und Malis. In: Viertel Jahresberichte des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung. Nr. 30, Dez. 1967.

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2) Siehe z.B. B. Charles: La Guinee. In: Decoionisation et Regimes Pohtiques en Afnque Noire. Paris 1967, S. 159 ff.

8) Gültig i. d. Fassung des Änderungsgesetzes Nr. l/AN/63.

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Legitimität" zu vernebeln4), ist vorüber. Der volksdemokratische Charakter der neuen Ordnung wird nicht mehr verheimlicht. Die Formel vom „Präsidialregime" ist nicht mehr uneingeschränkt verwendbar. Mehr und mehr muß Sekou Toure Rücksicht auf die einflußreichen Politiker in den Führungsgremien der Partei nehmen5), vor allem auf die Leiter der regionalen Parteiorganisationen, die „secr£taires federaux". Andererseits machen selbst sowjetische Autoren auf die geringen tatsächlichen Kompetenzen der Nationalversammlung aufmerksam und halten fest, daß die Konstitution das Tätigwerden der Nationalversammlung eigentlich nur in zwei Fällen zwingend vorschreibt: Verabschiedung des Haus- haltsgesetzes und Ratifizierung der internationalen Verträge6). Aber selbst diese Autoren, die die führende Rolle der staatstragenden Partei herausstellen und von ihr sagen, sie diene den Interessen des Volkes7), erkennen nicht die quasi-parla- mentarische Rolle des Parteikongresses und seiner Interimsorgane. Der Partei- kongreß hat die Rolle des Gesetzgebers, der Volksvertretung, usurpiert. Nicht die Abgeordneten der Nationalversammlung, wie es nach Art. 2 der Verfassung der Fall sein müßte, sondern die Parteitagsdelegierten handeln im Namen des souveränen Volkes, sozusagen als Generalstände der Revolution. Nicht von der Nationalversammlung, sondern vom Parteikongreß läßt sich der Präsident das Vertrauen aussprechen:

„Le parti se substitue d VAssemblee nationale pour controler la politique generale du chef de Vexecutif . . ."8).

In der Tat: die Nationalversammlung könnte unter den gegenwärtigen Um- ständen aufgelöst und durch eine „Legisten" -Kommission ersetzt werden.

Diese Umstände aufzuhellen, ist der Zweck der nachfolgenden Darstellung. Sie schildert zunächst an Hand von Beispielen die guineische Gesetzgebungs- und Rechtsetzungspraxis als Teil einer von der Verfassung weit abweichenden Ver- fassungswirklichkeit und sodann die in Guinea herrschende Lehrmeinung über diesen Ausschnitt des Verfassungsrechts.

Die Nationalversammlung

Die guineische Nationalversammlung trat am 16. Januar 1969 zu der ersten von zwei ordentlichen Sitzungen zusammen, auf die sie nach der Verfassung alljährlich einen vagen Anspruch hat (Art. 7). Den Auftakt der Parlamentsarbeit bildete ein durch den Sturz Modibo Keitas in Mali (Nov. 1968) geforderter Schwur, nämlich auf „unwandelbare Treue dem wachsamen guineischen Volk, verstrickt in erbarmungslosen Kampf gegen den Imperialismus und für die Rehabilitierung Afrikas".

Das gelobten die Deputierten in einer gemeinsamen, von Parlamentspräsident Maka verlesenen Erklärung. Dabei besaßen sie, das rechtmäßige Parlament, die Legislative, den feinen Takt, diesen Schwur („nous le jurons") der Exekutive

4) J. Budimann: L'Afrique Noire Inde*pendante. Paris 1962, S. 246. ö) A. Gandolfi: Essai sur le Systeme gouvernemental . . . S. 390.

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8) Z. B. Entin u. a. : Stanovlenie nazionalnnoi gosudarstvennosti w nezavisimich stranach Afriki. Moskau 1963, S. 96 ff.

7) L. M. Entin: Nazionalnaja gosudarstvennost narodov zapadnoi i zentralnnoi Afriki. Moskau 1966, S. 191 ff.

8) S. M. Sy: Recherches sur l'exercice du pouvoir politique en Afrique Noire (Cote d'Ivoire, Guine*e, Mali). Paris 1965, S. 176.

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zu widmen („dedier"), nämlich dem Generalsekretär ihrer Einheitspartei, S£kou Toure, Staats- und Regierungschef, „Responsable Süpreme de la Revolution", „Fidele Serviteur du Peuple", im Volksmund kurz „le Patron" genannt.

Zwar ist dieser der Nationalversammlung immer noch (Art. 24) für die „poli- tique generale" seines Kabinetts verantwortlich, doch hat das Parlament seit über zehn Jahren keine Rechenschaft mehr von ihm verlangt. Seit Jahren schon hat keine Aussprache über die Regierungspolitik mehr stattgefunden. Nur ein- mal in zehn Jahren ließ sich Sekou Toure von der Nationalversammlung das Vertrauen aussprechen, und zwar im November 1958 für seine Politik gegenüber Frankreich9).

Auch die Tagesordnung für die gegenwärtige Sitzungsperiode sah eine Aus- sprache über die Regierungspolitik nicht vor. Es gab nur vier Punkte: die bereits erwähnte Treueerklärung, ferner eine Glückwunschadresse an den Parlaments- präsidenten wegen einer ihm verliehenen hohen Auszeichnung sowie die Tätig- keitsberichte der Ausschüsse und das Haushaltsgesetz für 1969. Die Abstimmung über diese Tagesordnung war eine Formalität; einstimmig wurde sie angenommen. Ebenfalls einstimmig und ohne Aussprache billigte das Hohe Haus eine Reihe von Gesetzen, die bereits vor Monaten im Journal Officiel veröffentlicht worden waren, darunter das Ratifizierungsgesetz zum Vertrag über das O.E.R.S.- Statut10). Der Ständige Ausschuß der Nationalversammlung hatte bereits alles Notwendige getan11). Kein Einwand, keine Frage des Plenums sind überliefert. Es genügte die Feststellung des Quästors, diese Gesetze „entsprechen vollkommen den Zielen unseres revolutionären Programms und stehen in Einklang mit unseren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Grundentscheidungen."

In der gleichen Manier wurden ein Gesetz zur Änderung der Gerichtsverfas- sung12) sowie ein Familienrechtsänderungsgesetz durchgebracht.

Lediglich - und das ist charakteristisch - der von politischen Implikationen völlig freie Bericht eines Nichtparlamentariers, des Generalinspekteurs für Gewässer und Forsten, löste den Deputierten die Zunge. Das Protokoll ver- zeichnet „un large debat". Die Haushaltsrede im Plenum enthielt bemerkenswerte Ehrenbezeugungen an die Budgethoheit des Parlaments. Der referierende Staats- sekretär wußte, was sich gehört, und sagte, getreu der Konstitution (Art. 16) mache die Regierung sich eine Pflicht daraus, dem Parlament den Entwurf des Haushaltsgesetzes vorzulegen. Gleich danach aber tabuisierte er ihn; er sei, so sagte er, die „traduction chiffr^e" des VIII. Parteitags. Dennoch ließ er gelegent- lich Wendungen einfließen wie: „wenn Ihre Versammlung dem stattgibt . . ." Natürlich gab sie dem statt. Zum Dank nannte der Staatssekretär die Versamm- lung - war es Einfalt oder Zynismus? - „votre auguste Assembl£e". Ein Abglanz parlamentarischer Erhabenheit legte sich über das Plenum . . .

Ein Jahr zuvor hatten zusammen mit der Neuwahl (Wiederwahl) des Staats- präsidenten auch Parlaments- und Regionalwahlen stattgefunden13), lt. Konsti- tution „allgemeine, gleiche, unmittelbare und geheime Wahlen"14).

9) Journal Officiel de la Ripublique de Guinee. Debats Parlementaires. 1. Jg. Nr. 3, Dez. 1958, S. 231 ff.

10) Vgl. H. Voss: Wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit in Westafrika. In: Afrika Spectrum 2/68, S. 49/50.

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n) Dieser Ausschuß nimmt die Aufgaben der Nationalversammlung in der Zeit zwischen den Sitzungsperioden wahr (Art. 7, Abs. 3).

12) Justices de paix a competence civile limitee, eine je Arrondissement. 1S) Die Dauer der Legislaturperiode beträgt nach Art. 4 Konst. 5 Tahre. 14) Art. 2 Konst.

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Der Wähler hatte auf einem Tisch im Wahlbüro - Kabinen gab es nicht - drei Stimmzettel vorgefunden: den ersten mit dem Namen des einzigen Bewer- bers um das höchste Staatsamt, d. h. mit dem Namen Sekou Toure's, der dieses Amt auch vorher schon innegehabt hatte; den zweiten mit den Namen der 75 Kandidaten für die 75 Parlamentssitze; den dritten mit den Namen der jeweils 30 Anwärter auf die jeweils 30 Plätze in den Regional Versammlungen15). Das Regime registrierte einen 99,99 %igen ,,Wahl"-Sieg16). Wer hatte die Kandidaten nominiert? Niemand anders als das Zentralkomitee (ZK) der Einheitspartei. Ebenso wie den Anwärter auf das Präsidentenamt hatte es auch die zukünftigen Abgeordneten designiert17). Da es einen Wahlkampf nicht gab, war dank der von der Konstitution vorgeschriebenen Einheitsliste die „Wahl" der Kandidaten, d. h. die Bestätigung der Vertrauensleute des ZK, durch die Bevölkerung ge- sichert18).

Wer sind diese Vertrauensleute des ZK? Mindestens 31 von ihnen, d. h. der Staatspräsident und 30 der 75 Deputierten, gehören dem ZK selbst an, der erstere als Generalsekretär der Partei, die letzteren sind die mächtigen „secre- taires f£deraux", die P.D.G.-Bezirksvorsitzenden. Der Rest der Nationalver- sammlung setzt sich aus 7 hohen Gewerkschaftsfunktionären, 7 Jugendfunktio- nären, 15 Frauen und 16 „autres camarades" zusammen19). Gewerkschaft, Jugend- bund und Frauenvereinigung sind keine selbständigen Organisationen mehr, die man in einem gewissen Gegensatz zur Einheitspartei sehen könnte, sondern sie sind seit dem VIII. Parteitag gleichgeschaltete Gliederungen der P.D.G.

Alle Mitglieder des Parlaments und der Regionalversammlungen gehören so- mit der regierenden Einheitspartei an, bekleiden in ihr hohe und höchste Füh- rungspositionen.

Staatspräsident, Nationalversammlung und die Regionalversammlungen sind daher im Grunde Parteiorgane zur Umsetzung von Parteibeschlüssen in Hoheits- akte: „a rechercher les meilleurs voies et moyens propres ä assurer la plus correcte application des d£cisions du Parti"20).

Das Regime und seine Verfechter rühmen sich, aus den Volksvertretungen, den „Stätten des Palavers, des Kompromisses und des Kuhhandels Instrumente im Dienste der Revolution" gemacht zu haben. Sie sind davon überzeugt, ein System gefunden zu haben, das ohne die von ihnen als „Häresie im Volksstaat" ange- sehene Spannung zwischen Legislative und Exekutive zu demokratischen Ergeb- nissen führt.

In den Volksvertretungen fallen aber keine Entscheidungen. Nicht die Depu- tierten der Nationalversammlung sind es, die, wie die Verfassung in Art. 2 vor- schreibt, die Souveränität des Volkes im Namen des Volkes ausüben. Die Natio- nalversammlung ist ein Relikt, das in dem immer konsequenter gedachten und gehandhabten System des Partei-Regimes immer vorsintflutlicher wirkt. Vor der neugewählten Nationalversammlung im Januar 1968 hatte S£kou Toure noch eine Art Regierungserklärung abgegeben. Im Januar 1969 war der Bericht zur Lage der Nation schon anderweitig erstattet.

15) Je Region gibt es eine "Assembtee Regionale" mit einem gewissen Selbstverwaltungsrecht hinsichtlich des bescheidenen Regionalhaushalts.

") HOROYA Nr. 1370 v. 4. Jan. 1968.

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17) HOROYA Nr. 1364 v. 27. Dez. 1967. 18) Art. 4 Konst. 19) Analog setzen sich die Regionalversammlungen zusammen. zo) HOROYA Nr. 1376 v. 12. Jan. 1968.

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Der Nationale Revolutionsrat

Dem Zusammentreten der Nationalversammlung voraufgegangen war näm- lich eine Sitzung des sog. Nationalen Revolutionsrates21). Dieses Gremium ist zwischen zwei Parteikongressen das höchste Entscheidungsorgan der nach dem Prinzip des demokratischen Zentralismus geführten Partei22). Die Arbeitsweise dieses Revolutionsrates kommt der einer Volksvertretung noch am nächsten. Ihm gehören nach den Parteistatuten außer Vertretern der Nationalen Jugend-, Frauen- und Arbeiterkomitees sowie des Büros der Nationalversammlung sämt- liche ZK-Mitglieder an, darunter die 30 Bezirksvorsitzenden der P.D.G., die wir somit in ihrer dritten Funktion kennenlernen: nach ZK (30 von 45) und Natio- nalversammlung (30 von 75) nun auch im Nationalen Revolutionsrat (30 von 147)23). In allen drei Gremien stellen sie demnach die stärkste Gruppe, und zwar allem Vernehmen nach keineswegs eine immer gefügige Gruppe. Sie scheint mit immer größerem Erfolg auf der Einhaltung der Regeln des demokratischen Zentralismus zu bestehen, die S£kou Toure selber oft verbindlich formuliert hat: „L'affaire de l'Etat ... est l'affaire de tous les citoyens ... Le programme du Parti est discute democratiquement. Tant qu'une d^cision n'est pas prise, chacun est libre de dire ce qu'il pense ou ce qu'il veut. Mais quand, apr£s de larges discus- sions . . . des decisions ont ete prises a l'unanimite ou a la majorite, les militants et les dirigeants sont tenus de les appliquer correctement . . .a24). Wenigstens die Gruppe der 30 Bezirksvorsitzenden, die S£kou Toure auf dem VIII. Parteitag beziehungsreich „die Techniker der Revolution" genannt hat, wissen diesen Spiel- raum zu nutzen - und, wie es scheint, auch zu erweitern. So soll während des VIII. Parteitags die Alleinkandidatur Sekou Tour^'s für das Präsidentenamt ihren heftigen Widerspruch herausgefordert haben.

Allerdings kann das Nationale Politbüro der P.D.G. die Zusammensetzung des Kongresses und des Nationalen Revolutionsrates beliebig erweitern, wenn die von ihm anvisierten Mehrheitsbeschlüsse anders gefährdet erscheinen. So waren zu der C.N.R.-Tagung im Januar 1969 außer den statutenmäßigen Dele- gierten sämtliche Abgeordneten, auch die der Regionalversammlungen, und vier Delegierte des Generalstabs geladen.

Auf der Tagesordnung - man vergleiche sie mit der der anschließenden Nationalversammlung!25) - standen für die Zukunft der Nation und des Regimes brisante Probleme von größter Bedeutung: radikale Neuredaktion des Parteistatuts, Überführung des bis dahin nominell immer noch selbständigen Gewerkschaftsbundes (als sog. Nationaler Arbeiterausschuß) in die Partei, Heeres- reform, Ergänzungsvorschriften zur Loi-Cadre vom 8. November 1964, Arbeits- dienst, Volksmiliz, Landwirtschaftskampagne 1969. Wenigstens die letzten fünf Punkte hätten nach herkömmlicher Auffassung vor die Nationalversammlung gehört. Nicht so in Guinea, wo die Nationalversammlung eben nicht die Instanz ist, die den Volkswillen repräsentiert und artikuliert. Sie führt ihn lediglich aus

21) "Conseil National de la Revolution* (C.N.R.). 22) Art. 42 des Parteistatuts i. d. Fassung v. Jan. 1969.

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23) Ihm gehören an (Art. 43 Parteistatut) : die 45 ZK-Mitglieder, je drei Vertreter pro Bezirks- vorstand, darunter der Gouverneur, sowie je drei Vertreter der Jugend, der Frauen, der Arbeiter und des Büros der Nationalversammlung.

24) A. Sekou Toure: Experience Guineenne et Unit6 Africaine. Paris 1962, S. 541. 25) Vgl. S. 19 ff.

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ebenso wie die Regierung26); sie gehört nach hiesiger Auffassung zum Instanzen- zug der „Administration", also der Exekutive. Sie ist in etwa die „Geschäfts- stelle" der Revolution, der Parlamentspräsident ihr „Urkundsbeamter". Hier werden die Beschlüsse der Parteigremien „ausgefertigt", „vollstreckbar" gemacht.

An der Spitze der Parteigremien, und damit an der Spitze des Parteistaates, steht der in vierjährigem Turnus zusammentretende Parteikongreß: „Sa souver- ainete est illimitee" (Art. 45 der Statuten). Er und seine Interimsinstanzen (der Nationale Revolutionsrat zwischen zwei Kongressen und das Zentralkomitee zwischen zwei C.N.R.) stellen die eigentliche Nationalversammlung dar, das Parlament der Revolution: „La Revolution est globale et multiforme". Hier finden auch Aussprachen statt; hier muß die Parteiführung mit Kritik rechnen; hier muß der Regierungschef um den Konsensus kämpfen. Vom VIII. Parteitag im Herbst 1967 weiß man, daß es zwischen S£kou Tour£, Guineas Praezeptor, und den Delegierten lebhafte Auseinandersetzungen gab. Anläßlich der Tagung des Nationalen Revolutionsrates im März 1968 kam es zu einer heftigen Kontro- verse zwischen dem „Patron" und einem seiner Staatssekretäre, Diop Alassane.

Auch die Protokolle der C.N.R.-Tagung im Januar 1969 verzeichnen „tr&s larges d£bats", jedoch „empreints de responsabilite rivolutionnaire"27). Die Be- schlüsse sind nicht etwa nur Empfehlungen, dies oder jenes in der Nationalver- sammlung durchzusetzen (gegen wen auch?), sondern sind Gesetzgebung, Recht- setzung, bindend nicht nur für die Partei und ihre Mitglieder, sondern auch und erst recht für den Staat, den diese Partei als ihr Geschöpf ansieht und behandelt.

Beispielhaft dafür - von der Neuformulierung des Parteistatuts gar nicht zu reden, die einer Verfassungsänderung gleichkommt in diesem Lande - sind die Beschlüsse zur Reorganisation der nach den Ereignissen in Mali krisengefährdeten „Volksarmee": „dans un pays revolutionnaire . . . un secteur dynamique dont ^Organisation est dict£e par les exigences du d^veloppement"28). Zwecks Anpas- sung dieser Armee an die Erfordernisse der gegenwärtigen „Kampfphase", welche nach hiesiger Auffassung im Zeichen einer „schweren Offensive des Imperialismus gegen unseren Kontinent", d. h. im Zeichen des Offiziersputsches, steht, wurde beschlossen: die Gründung von Parteikomitees in allen militärischen Einheiten, die Schaffung getrennter Generalstäbe für Heer, Marine, Luftwaffe, Gendarmerie und Polizei29), die Einrichtung eines Verteidigungsrates, die Angliederung des arbeitsdienstähnlichen „Service Civique" an die Armee, die Beibehaltung der vom Militär wie von der Bevölkerung gleichermaßen mit Vorsicht betrachteten „Milice Populaire" als Verfügungstruppe der P.D. G.-Bezirks verbände.

Beispielhaft ist ferner, wie der C.N.R., ganz Gesetzgeber, die von S£kou Tour£ am 8. November 1968 verkündeten zusätzlichen zwölf Gebote zur Loi-Cadre vom 8. November 1964 annahm „et en a demande l'application integrale et immediate"30). Lediglich die den ausländischen Händlern gesetzte Frist zur An- nahme der guineischen Staatsbürgerschaft bzw. zum Berufswechsel wurde um ein auf zwei Jahre verlängert.

26) A. Se'kou Toure*: La Revolution Guineenne et le Progres Social. Bd. VI, Sonderausgabe. Conakry 1962, S. 163 ff.

27) HOROYA Nr. 1639 v. 16. Jan. 1969.

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28) HOROYA Nr. 1639 v. 16. Jan. 1969. 29) Insgesamt etwa 10 000 Mann.

w) HOROYA Nr. 1639 v. 16. Jan. 1969.

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Der Parteikongreß

Im progressistischen Entwicklungsstaat Guinea, der den permanenten Notstand übt, sind solche Beschlüsse keineswegs außergewöhnlich. Nur kurze Zeit wurde guineische Politik in der Nationalversammlung gemacht oder wenigstens vor ihr zelebriert: von der Unabhängigkeitserklärung bis etwa zum V. Parteitag im September 1959. In dieser Zeit erschien sogar gelegentlich ein Journal Officiel - Debats Parlementaires. Von da an war es der Kongreß oder seine Interims- instanz, der C.N.R., in dem die großen Entscheidungen fielen, die Kontroversen ausgetragen, die Gesetze, nach denen dieser Staat lebt, verkündet wurden.

Der V. Kongreß (Sept. 1959)31) beschloß z. B. das Ausscheiden Guineas aus der Franc-Zone, die Schaffung einer eigenen (zunehmend inflationären) Binnen- währung sowie den ersten guineischen Drei jahresplan (1960/63).

Der VI. Kongreß (Dez. 1962) verfügte die Streichung der Abgeordnetendiäten, erweiterte die Nationalversammlung von 60 auf 75 Deputierte - und redu- zierte gleichzeitig ihre Rechtsstellung im Verfassungssystem: vor allem entfiel der verbriefte Anspruch auf zwei Sitzungsperioden im Jahr. Statt „l'Assemblee Nationale se reunit de plein droh en deux sessions ordinaires", heißt es jetzt nur noch schlicht „l'Assemblee Nationale se reunit en deux sessions ordinaires ..." Eine der beiden Sitzungsperioden fällt alljährlich aus. Dafür bewährt sich die zweite Änderung, die ebenfalls einen schweren Eingriff in die Rechte des Parla- ments darstellt: die Einführung der „Commission Permanente" (Art. 7 Abs. II), eines achtköpfigen Ausschusses, der längst nicht mehr nur die Gesetzesvorlagen behandelt, „deren Dringlichkeitscharakter keinen Aufschub duldet". Außerdem führte der VI. Kongreß eine Volksgerichtsbarkeit, zunächst auch in Strafsachen, später nur noch in Zivilsachen, auf der Ebene der Parteiortsgruppen und -kreis- verbände ein und stellte jeder regionalen Verwaltungsbehörde (Gouverneur) ein regionales Parteiorgan (Fed£ration, Secretaire federal) mit Richtlinienkompetenz gegenüber.

Der VII. Kongreß (August 1963) beschloß eine den Resultaten des VI. Partei- tags entsprechende Verfassungsreform32), übertrug die Funktionen des Gemeinde- rats auf den dörflichen Parteivorstand und amalgamierte dadurch Partei und Staat an der Basis nach dem Muster der Staatsspitze (hier Personalunion zwischen örtlichem Parteisekretär und Gemeindevorsteher, dort zwischen Generalsekretär und Staatsoberhaupt). Er verabschiedete ferner ein Austeritätsprogramm zur Sanierung der Staatsfinanzen und legte die Richtlinien für den zweiten Wirt- schaftsplan, einen Siebenjahresplan (1964/71), fest. Dieser Wirtschaftsplan wurde sodann im April 1964 vom Nationalen Revolutionsrat in Gueck£dou verabschie- det, ohne zwischendurch Gegenstand eines parlamentarischen Verfahrens gewesen zu sein. Der C.N.R. von Gueckedoü verfügte auch Maßnahmen zur Reorgani- sation des Binnenhandels.

Im November 1964, als die Revolution plötzlich vor einer inneren Krise stand, wurden Nationaler Revolutionsrat und Nationalversammlung (jetzt gelegentlich „Assemblee Nationale Populaire" genannt)33) zusammen einberufen. In gemeinsamer Sitzung hatten sie die Ausführungsvorschriften zu Sekou Tour£'s

31) Dazu die Kaderkonferenzen von Dalaba (Febr. 1960) und Kankan (April 1961).

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32) Von der Nationalversammlung durch Gesetz Nr. 1 /AN/63 vom 22. Okt. 1963 ausgeführt. 33) So z.B. in den Beschlüssen des VIII. Parteitages; vgl. R.D.A.-Revue Nr. 23.

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sog. Loi-Cadre vom 8. November 1964 zu beraten und zu verabschieden34). Im Juni 1965 verabschiedete der Nationale Revolutionsrat auf seiner Tagung in N'Z£r£kor£ gar das neue Strafgesetzbuch.

Nichts zeigt den Legislativcharakter des Parteikongresses und seiner Interims- instanzen, ihren Rang im Verfassungssystem, deutlicher. Es drängt sich der Gedanke an ein sich allmählich herausbildendes Zweikammersystem auf: Partei- tag und „Assembl£e Nationale Populaire" zusammen bilden, wenn auch nicht gleichberechtigt, so doch gleichgeschaltet, das Parlament.

Längst versteht sich die „pr^eminence du Parti", das aus dem unüberbrück- baren Gegensatz zwischen Parteiaktivisten und vorrevolutionärem, damit auch vorkonstitutionellem Establishment geborene eiserne Grundgesetz der guineischen Verfassungswirklichkeit, von selbst. Spätestens seit den Parlamentswahlen vom 28. September 1963, allerspätestens aber seit den Wahlen vom 1. Januar 1968, ist dieses Prinzip auch in der Nationalversammlung durchgesetzt. Ein Partei- organ eigener Art ist sie geworden35), das jedoch im Bewußtsein der Nation allen- falls eine Aschenbrödelrolle spielt. Es sei noch einmal betont: die Nationalver- sammlung bewegt nichts. Sie besorgt die Ablage der Revolution. Ihre Sitzungen sind kein Forum, kein Ereignis . . .

Im Gegensatz dazu stehen, um es an weiteren Beispielen noch deutlicher zu machen, die Tagungen des Nationalen Revolutionsrates, vor allem, wenn sie in Lab£, der politischen Wetterecke Guineas, stattfinden. Sie werden mit Spannung erwartet. Sie produzieren die Kommandos, ohne die das öffentliche Leben Guineas zum Erliegen käme. Sie erinnern den Bürger, manchmal recht unsanft, an seine Pflichten gegenüber der „res publica". Sie wecken sogar gelegentlich einen Anflug von Gemeinsinn und Wetteifer. Außerdem nähren sie die Hoffnung auf einen Ausweg aus der Misere des „sous-developpement" und zeigen Per- spektiven auf, die oft allerdings in keinem Verhältnis zu den realen Möglich- keiten stehen.

Dramatisch, aber die Kraft des guineischen Volkes eben weit übersteigend, waren z. B. die Beschlüsse, die der Nationale Revolutionsrat 1966 in Labe faßte: Ausstatung der Kreise (Arrondissements) mit einem eigenen Budget, gespeist aus einer eigens dafür eingeführten Steuer („taxe d'Arrondissement"), und damit eine Dezentralisierung der Staatsfinanzen, die als erster Schritt zurück zur 1959 aufgegebenen kommunalen Selbstverwaltung verstanden werden könnte; ferner die Gründung der bereits erwähnten Volksmiliz36) und eines Arbeitsdienstes sowie von 300 (!) Landwirtschaftsschulen zur polytechnischen Ausbildung des Bauern der Zukunft, der natürlich ein Genossenschaftsbauer sein soll37). Ein Drei- vierteljahr später, auf dem Höhepunkt der außenpolitischen Isolierung Guineas, war es wiederum der Nationale Revolutionsrat, der, abermals in Lab£ (Januar 1967), die „Komitees zur Verteidigung der Revolution" mobilisierte und die

*•) A. Sekou Toure: 8 Novembre 1964. Conakry 1965, S. 24 ff. M) 1963 wurden von den 75 Deputierten immerhin nur vier, 1968 dagegen alle vom Polit-

büro bzw. ZK „designiert".

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36) Vgl. S. 23.

37) Außerdem verabschiedete der C.N.R. in Labe noch eine neue Strafprozeßordnung. - Auf vorangegangenen Tagungen in Conakry (Aug. und Nov. 1965) hatte der C.N.R. sich auch mit den großen Entwicklungshilfe vorhaben bei Boke und am Konkoure beschäftigt. Ferner hatte er zur Aburteilung konterrevolutionärer Umtriebe ein Sondergericht gebildet, das sog. Comite Revolutionnaire.

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Einstellung der Mitarbeit Guineas im damaligen Ausschuß der Senegal- Anrainer anordnete.

Von der Nationalversammlung ist in dieser ganzen, an Ereignissen so reichen Zeit selten die Rede. Sie verabschiedet den Haushalt38), sie ratifiziert getreulich die von ihrem Ständigen Ausschuß längst verabschiedeten und im Amtsblatt auch längst veröffentlichten Gesetze: sie bestätigt sich als Gesetzgeber nur noch im technisch-formalen Sinne. Sie verliert ihr letztes Statussymbol, das eigene Haus, und tritt hinfort im „Palais du Peuple" zusammen, das die VR China gestiftet hat und das anläßlich des VIII. Parteitags im Herbst 1967 eingeweiht wurde.

Dieser Parteitag, bei dem noch abzuwarten bleibt, ob er wirklich der „histori- sche Wendepunkt" war, der er nach dem Willen seiner Veranstalter sein sollte, bestätigte die „preeminence du Parti", d. h. die ihres Führers, auf das glänzend- ste. Der Kongreß verlieh Sekou Toure den Titel „Responsable Süpreme de la Revolution"39) und ließ sich gegen unbedeutende Zugeständnisse bei der Bildung des Zentralkomitees die Verkleinerung des Politbüros von 15 auf sieben Mit- glieder gefallen. Er beschloß die endgültige Abschaffung der Polygamie40) und gleichzeitig - zur Beschwichtigung der „militantes" - die Gründung eines Nationalen Frauenrates41).

Auch die neuen Akzente seiner Entwicklungs- und Außenpolitik setzte Sekou Toure vor diesem VIII. Parteitag und nicht vor der Nationalversammlung. Seine Initiativen zu regionaler Zusammenarbeit in Westafrika im Rahmen der Organi- sation für Afrikanische Einheit42) und zur Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen mit Großbritannien und Frankreich erläuterte er den Parteitags- delegierten, nicht den Abgeordneten. Diese hatten lediglich, als es so weit war, das O.E.R.S.-Gründungsstatut zu ratifizieren, ohne Aussprache . . .43).

Demokratie und Nationalversammlung

Schon für die Konstituante hatte festgestanden, daß die nachkoloniale Ord- nung kein parlamentarisches System sein würde. Nicht zuletzt hatte das Frank- reich General de Gaulles mit der Verfassung von 1958 demonstriert, wie man das Parlament ausschaltet. Andererseits aber scheute man sich, dies in einem Augenblick offen zu sagen, da man gerade dank des parlamentarischen Systems an die Macht gekommen war. Sekou Toure erklärte damals44), die Nationalver- sammlung solle die „expression majoritaire du peuple de Guinee et egalement Vexpression qualificative des partis politiques"**) sein. Das sagte er in dem Augenblick, da er dem Mehrparteiensystem in Guinea einen sanften Tod bereitete! Jeder Abgeordnete, so fuhr er fort, solle in der Nationalversammlung als Man- datsträger der ganzen Nation (daher Einheitsliste) und nicht, wie in der alten

Ä) Siehe die beiden Reden Sekou Toure's, jeweils bei Eröffnung der Haushaltsdebatte der Nationalversammlung 1965 und 1966 in R.D.A.-Revue Nr. 9, Sept. 1966, S. 3 ff.

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39) Dem fügte der C.N.R. vom Tan. 1969 den Titel Tidele Serviteur du Peuple" hinzu. 40) Gesetz Nr. 004/ AN/68. 41) "Se'kou Toure, notre prote*ge", rufen die Frauen bei Kundgebungen. 42) Organisation der Senegal-Anrainer und Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft. 43) Gesetz Nr. 8/AN/68. 44) Siehe J.O.R.G.-Debats Parlementaires v. 2. Nov. 1958, S. 144: "Dans l'esprit de la

Constitution, nous cre*ons un gouvernement non parlementaire." 45) A.Se*kou Toure: Experience Guineenne et Unite* Af ricaine. Paris 1962, S. 255 ff. (2. wöchtl.

Rundfunkansprache Toure's am 16. Nov. 1958).

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Territorialversammlung, als Interessenvertreter seiner Heimatregion, seines Klans, seiner Rasse oder seiner Religionsgemeinschaft reden und handeln dürfen. Es sah also zunächst so aus, als würde die Nationalversammlung ihre normale Rolle spie- len können. Sekou Toure hielt sie als Institution offenbar für stärker, als sie nach- her wirklich sein sollte. Daher auch sein Taktieren in der Frage der Verantwort- lichkeit des Regierungschefs gegenüber dem Parlament. Er bekannte sich a. a. o. zu dieser Verantwortlichkeit und sagte, sie erlaube der Nationalversammlung jederzeit, die Regierungspolitik zu kritisieren und ihre Änderung zu erzwingen, wenn sie den nationalen Interessen zuwiderlaufe . . .

Alsbald jedoch erwies sich im Raum afrikanischer Politik, in dem Institutionen noch wenig bedeuten und, nach einem Wort Toure's, Gesetze, d. h. auch Verfas- sungen, immer nur so viel wert sind wie die Männer, die sie mit Leben erfüllen, daß die parlamentarischen Kräfte („le pouvoir deliberant") den politischen („le pouvoir actif") nicht gewachsen waren. Darüber hinaus erwiesen sich die zahllosen Lücken in dem hastig zusammengezimmerten Verfassungswerk als unwiderstehliche Versuchung für eine tatkräftige und einfallsreiche Exekutive, sie mit Dekreten und Ordonnanzen auszufüllen. Die Einheitspartei stieß bei der Verfolgung des politischen Gegners unerwarteterweise in politisches Niemands- land, das sie sofort als Spielraum betrachtete, als Ermessensspielraum von wahr- haft afrikanischer Weite. Auch der Widerstand gegen den Primatsanspruch der P.D.G. war zu ihrer eigenen Überraschung erstaunlich gering: der Gedanke der „großen Koalition", der nationalen Demokratie, bestach zunächst alle. Sekou Toure erkannte, daß er die Nationalversammlung nicht brauchte, daß sie zu einem Bollwerk der restaurativen Kräfte werden könnte.

Denn kaum standen die ersten Parlamentswahlen an (Sept. 1963), lebten die alten „combinaisons electorales, les methodes malhonnetes et indignes de pression, de corruption, les pratiques opportunistes et l'esprit de tribalisme et de sectarisme" wieder auf46). Daraus schloß Sekou Toure, daß auch die Frage der Volksvertretung in einem revolutionären Sinne neu gestellt werden müßte. Das erste Ergebnis dieser Überlegung war die Verfassunesreform vom Oktober 1963*7).

Sie setzte48) das Parlament politisch außer Kraft und beschränkte seine Rolle endgültig auf die einer „cbambre d'enregistrement" mit der Aufgabe, den im Kongreß, im Nationalen Revolutionsrat oder im Zentralkomitee getroffenen Entscheidungen „eine rechtliche Form zu geben, die ihre praktische Durchführung ermöglicht"49).

Die Politik Sekou Toure's und der P.D.G.

Die Rolle der Volksvertretung fiel endgültig dem Parteitag zu, vor allem seinem Interimsorgan, dem Nationalen Revolutionsrat, „qui marque bien la nature et la qualite de la democratie que nous avons choisie pour regir et diriger Pensemble de nos activites"50). Die Abgeordneten der Nationalversammlung

46) A. Se*kou Toure* vor der Nationalversammlung am 27. September 1963, siehe Le Cahier du Militant Nr. 20. Conakry Okt. 1963, S. 30 ff.

27

47) Gesetz Nr. l/AN/63 v. 22. Okt. 1963. 48) Vgl. S. 24. 49) Zitat bei B. Charles a.a.O. 50) A. Sekou Toure: La Revolution Guineenne et le Progres Social. Bd. 6. Conakry 1962,

S. 163 ff.

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verhielten sich kapitulantenhaft und trieben die Selbstaufgabe im Herbst 1963 so weit, dem Präsidenten anläßlich eines round-table-Gesprächs eine weitere Verfassungsänderung vorzuschlagen. Sie sollte den Art. 2 („die nationale Souveränität geht vom Volke aus, das sie in allen Angelegenheiten durch seine Deputierten in der Nationalversammlung ausübt") durch den Passus „la souverainete nationale du peuple est exerc^e par le Parti" ersetzen. Sekou Tour£ räumte ein, eine solche Verfassungsänderung würde den Gegebenheiten entspre- chen: das gesamte Volk, die Gesamtheit seiner sozialen Klassen und Schichten, sei gegenwärtig im Schöße der Partei vereint, und die „preeminence du Parti" daher momentan gerechtfertigt. Aber, so beschied er die verblüfften Deputierten, wenn man in der Verfassung schriebe, die Partei sei das oberste Organ der Nation, dann befände man sich zwar in Übereinstimmung mit der Realität von heute - „mais, nous ne savons pas les realites de demain . . ."51). Die Verfassung, d. h. der Teil der Verfassung, den wir im Zuge dieser Darstellung immer als Kon- stitution bezeichnet haben, ist demnach eine Art Hintertür, die das Regime sich für den Fall offenhält, daß die Partei ihre „preeminence" einbüßt und nur unter Berufung auf parlamentarische Spielregeln überleben kann.

Es trifft zu, daß Sekou Toure in den Jahren 1963/65 versucht hat, ganz allein zu herrschen. Vorübergehend überspielte er sowohl den Apparat der innerpartei- lichen Demokratie als auch das Politbüro, als dessen Gefangener er manchmal dargestellt wird. Vorübergehend gab er sogar die Gepflogenheit auf, stets nur als Sprecher des Politbüros aufzutreten, stets, auch als Staatschef, hinter die Autori- tät des Politbüros zurückzutreten und immer nur in seiner Eigenschaft als Gene- ralsekretär der Partei zu handeln.

Als Ursache hierfür wird häufig angeführt, er habe sich wegen der immer schlechter werdenden Wirtschaftslage von einer „equipe discreditee" distanzieren müssen, um wenigstens sein eigenes Prestige zu retten und das unzufriedene Volk zu beschwichtigen52). Das ist jedoch nur ein Aspekt.

Der andere, und zwar der wichtigere, dürfte die „inefficacite" sein, die afri- kanische Beschlußorgane im allgemeinen und guineische Parteigremien im beson- deren auszeichnet, die erstaunliche Unfähigkeit zu kollektiver Führung, der mangelnde Mut zur Mitverantwortung, der erst schwach ausgeprägte Wunsch nach Mitbestimmung; der an dessen Stelle vorhandene, typisch afrikanische Wunsch nach Mitbegünstigung sowie die Unfähigkeit der meisten Politbüromit- glieder, sich persönliche Autorität, persönliches Profil zu verschaffen, mußte eine dynamische, starke Persönlichkeit wie Sekou Tour£ an den Rand der Verzweif- lung oder der Verachtung bringen. Denn unter diesen Voraussetzungen konnte weder ein modernes Staatswesen noch eine fortschrittliche Gesellschaftsordnung aufgebaut werden; von dem totalen „Bewußtseinswandel", den Sekou Toure seinem Volke verordnet hatte, ganz zu schweigen. Nur so ist der Alleingang zu verstehen, daher die Praezeptor-Rolle, in die Sekou Toure immer weiter hinein- wächst.

Aber die zunehmende Isolierung Guineas, der Sturz der Freunde, d. h. Olym- pios, Lumumbas, Ben Bellas, Kwame Nkrumahs und jetzt auch Modibo Keitas, der passive Widerstand weiter Teile der Bevölkerung gegen sein trostloses Regime der Revolution permanente, globale et multiforme" , ferner eine Reihe äußerer und innerer Krisen ließen es ihm schon am 8. November 1964 geraten

51) Le Cahier du Militant Nr. 20. Conakry Okt. 1963, S. 44 ff.

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52) B. Carles a.a.O., S. 171.

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erscheinen, wieder Rückhalt bei den Organen der innerparteilichen und damit - siehe die Fiktion von der Kongruenz zwischen Partei und Volk - der natio- nalen Demokratie zu suchen.

Er, zeitlebens ein Führer, „ä qui la connaissance de son peuple permet d'aller au devant de ses aspirations"53), wendet sich der Idee eines „kommunokratischen" Staatswesens zu54). Das Schlagwort von der totalen Demokratie kommt auf, worunter der Aufbau demokratischer Strukturen, ausgehend vom Willen des gesamten Volkes, nicht vom Willen einer herrschenden Klasse, verstanden werden soll. Nur wenig später wird, typischer Widerspruch, der Klassenkampf prokla- miert, der, wenn er kompromißlos geführt wird, zur Klassenherrschaft führen muß. Wie auch immer, die totale Demokratie soll „une edification sociale non plus pyramidale, mais cubique" ermöglichen. Ein perpetuum mobile von Kon- gressen, Konferenzen, Partei-, Gewerkschafts-, Frauen- und Jugendwahlen wird in Gang gesetzt, zur Perfektion gebracht. Staat und Partei, auch sie identisch, erzwingen die Beteiligung aller an der „res publica". Denn, so zitiert Anne Cesaire den guineischen Präsidenten, die Partei wolle, daß das Volk trotz des niedrigen Niveaus seiner technischen und wirtschaftlichen Entwicklung „ait a determiner le sens des ses activites, meme de caractere scientifiques . . .". Nein, sagen die Kritiker, die Partei will ihre Diktatur mit Hilfe von Plebisziten der unwissenden, weitgehend analphabetischen, immer aber manipulierbaren Massen tarnen und aufrechterhalten.

Recht haben dürften beide, zumal der Demokratisierungsprozeß, aus welchen Gründen auch eingeleitet, eine eigene Dynamik entfalten wird. Es ist dies eine Frage der Zeit.

Trotz ihres anti-elitären Charakters hat sich die P.D.G. wegen der ihrer Politik im Wege stehenden kleinbürgerlichen Tendenzen in der Beamtenschaft, im Handel und in der Landwirtschaft zu dem elite-schaffenden Prinzip des Klassenkampfes bekannt. Entgegen ihrer Politik bis 1967 sieht sie darin seit dem VIII. Parteitag „la seule demarche dynamique et historiquement juste de la conquete et de l'exercice du pouvoir politique, economique, social et culturel par le peuple entier"55). Die Fiktion des „einen, einmütigen" Volkes ist immer schwerer glaubhaft zu machen. Ihr Beitrag zum „nation-building" in Guinea war groß, aber ihre Zeit ist um. Die These vom Klassenkampf schafft daher eine neue Fiktion, wonach das „peuple travailleur guineen" als geschlossene Schlachtord- nung auf eine kleine Clique konterrevolutionärer Parasiten trifft.

Die P.D.G. rüstet sich also zur Auseinandersetzung, bereit, die Macht, die sie seit mehr als zehn Jahren innehat, sei es mit politischen, sei es mit drakonischen Mitteln zu verteidigen. Vorläufig betrachtet sie sich noch als „un exemple africain de qualit£ dans l'exercice plein et entier de la Souverainete politique, economique, culturelle et sociale*.

Dieser Passus stimmt fast wörtlich mit jenem überein, dessen Einfügung Sekou Toure 1963 in die Konstitution vorgeschlagen worden war. Nun steht er, seit Januar 1969, im Parteistatut, d. h. in der höheren Rechtsnorm. „Denn", so Sekou Toure, „wer nicht begreift, daß hinter dem Staat etwas Höheres steht, nämlich die Partei, der hat den politischen Sinn der guineischen Verfassung nicht ver-

") HOROYA Nr. 1630 v. 3. Jan. 1969. 64) Aime* Cesaire: La Pense*e Politique de Sekou Toure. In: R.D.A.-Revue Nr. 3. Conakry

März 1966, S. 84 ff.

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M) Präambel des P.D.G.-Statuts vom Jan. 1969.

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standen. Die Partei spielt die führende Rolle im Leben der Nation. Sie verfügt über alle Machtmittel . . . Die politische, die richterliche, die administrative, die wirtschaftliche und die technische Gewalt befinden sich in der Hand der P.D.G. . . ."56). Das neue Parteistatut erhebt diesen Tatbestand nach zehnjähriger Übung zur Rechtsnorm, verbindlich für das gesamte guineische Volk, „solidement organise et uni au sein de son Parti, le P.D.G." .

Ziel der Partei ist nach dem neuen Statut u. a. die Zusammenfassung der Bürger zu einer „einigen, starken, demokratischen und sozialistischen Nation", der Auf- bau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung57), die Erziehung der Volksmassen „afin de les rendre pleinement et seules responsables de leur devenir". In diesem Satz kommt ein Vormundschaftsanspruch zum Ausdruck, wie ihn die P.D.G. in der Haltung Frankreichs bis zur Loi-Cadre von 1956 oft aufs schärfste angegriffen hat. Bezeichnender Weise war dieser oder ein ähnlicher Satz im alten Partei- statut nicht enthalten. Er bestätigt aufs neue das Wort von der Erziehungs- diktatur. Guinea ist dafür vielleicht Afrikas überzeugendstes Beispiel.

In der Präambel des neuen Parteistatuts fehlt beunruhigender Weise das in der Präambel des alten Statuts abgelegte Bekenntnis zum „respect rigoureux des principes de la Direction collective, du developpement de la democratie ä l'interieur du Parti"58). Es ist unwahrscheinlich, daß die im Verlaufe dieser Darstellung aufgezeigten Ansätze zu kollektiver Führung und innerparteilicher Demokratie dadurch wieder zunichte gemacht werden. Alles wird davon ab- hängen, ob diese Ansätze stark und ursprünglich waren: die Partei und ihr Staat werden sie nicht hochpäppeln. Das neue Statut umschreibt das, was es unter Demokratie versteht, auf eine in Guinea neue und gefährliche Weise: die Revo- lutionäre Volksmacht, die Staatsmacht der Partei, leite sich ab von der „ligne de masse fondement de la philosophie politique du Parti". Wer bestimmt die „ligne de masse"?

Dies ist das Feld, auf dem von den Delegierten des Parteikongresses und des Nationalen Revolutionsrats in Zukunft Mut und Geschicklichkeit erwartet wird. Gewiß, ihr Spielraum im Rahmen der aus Parteistatut und Konstitution zu- sammengesetzten Verfassung und dem aus Parteitag bzw. Nationalem Revolu- tionsrat und Nationalversammlung bestehenden Parlament ist gering. Aber er ist - bei aller gebotenen Loyalität gegenüber der P.D.G., deren Verdienste als „artisan de l'Independance du Peuple de Guinee nicht geschmälert werden sollen - ausbaufähig.

Joachim Ernst

56) Zitat Toure's bei J. P. Masseron: Le Pouvoir et la Justice en Afrique Noire francophone et ä Madagascar. Paris 1966, S. 46.

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57) Das alte Parteistatut hatte lediglich vom Aufbau einer „Welt sozialer Gerechtigkeit" gesprochen.

58) Das alte Parteistatut ist abgedruckt in R.D.A.-Revue Nr. 8, August 1966.

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