2
Seite 2 Seite 1 1. Decker, Oliver; Brähler, Elmar; Geißler, Norman: Vom Rand zur Mitte. Rechtsextreme Einstellungen und ihre Einflussfaktoren in Deutschland. Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Berlin 2006 S. 11f., Decker, Oliver et al.: Ein Blick in die Mitte. Zur Entstehung rechtsextremer und demokratischer Einstellungen in Deutschland. Friedrich- Ebert-Stiftung, Form Berlin, 2008 S.16 2. Vom Rand zur Mitte S. 54f. 3. ebd., S. 160 4. ebd., S. 167 5. ebd., S. 168 6. Ein Blick in die Mitte S.127 7. ebd., S. 128 8. ebd,. S. 443 9. Ein Beispiel bieten die rassistischen esen des Berliner Ex-Senators ilo Sarrazin: http://www.sueddeutsche.de/politik/gutachten-zu- sarrazin-eindeutig-rassistisch-1.54865 10. Ein Blick in die Mitte, S. 274 11. ebd., S. 376 12. ebd., S. 449 13. Ein Blick in die Mitte, S. 450f. 14. ebd., S. 280 15. Grass, Günter, Im Krebsgang. März 2004, 5. Auflage März 2009, München, S.117 16. ebd., S. 81f.. siehe auch S. 183 zu Konrads Haltung gegenüber den „Glatzen“ im Prozess 17. http://de.wikipedia.org/wiki/Junge_Freiheit 18. Krebsgang, S. 81f. 19. s. Anm. 17 D er Begriff „Rechtsextremismus“ wird hier verwendet, obwohl er irreführend ist. Er suggeriert, dass es sich um eine gesellschaftliche Randerscheinung handelt und eine gesellschaftliche Mitte existiert, die frei von Rechtsextremismus sei. Das ist nicht der Fall. 1 „Im Überblick lässt sich feststel- len, dass rechtsextreme Einstellungen durch alle gesellschaftliche Gruppen und in allen Bundesländern gleicher- maßen vertreten werden. [...] Rechts- extremismus ist [..] ein politisches Problem in der Mitte der Gesellschaft. [...] Dies zeigt sich sehr deutlich in den Zustimmungswerten zu einzelnen rechtsextremen Aussagen, bei denen teilweise über 40% der Befragten zu- stimmen konnten. Aber auch [...] in einer Beschränkung auf geschlossene Weltbilder werden sehr hohe Werte erreicht.“ 2 „Jugendliche stellen nicht die größte Gruppe der Rechtsextremen. Des weiteren setzt sich die Gruppe nicht nur aus Arbeitslosen zusammen, sondern zu einem großen Prozentteil aus Erwerbstätigen (38,4%). Zusam- menfassend lässt sich sagen, dass die Rechtsextremen in allen Schichten der Bevölkerung vertreten sind.“ 3 „Die Ausländerfeindlichkeit ist sehr hoch, es kann sogar von einem dauerhaft hohen Sockelwert gesprochen werden. [...] Die Ausländerfeindlichkeit auch bei den Anhängern etablierter Parteien weist auf ein großes Problem hin. Die demokratischen Parteien haben mit der Übernahme von mindestens in der Tendenz ausländerfeindlichen Po- sitionen zwar einerseits diese Wähler- schichten an sich binden können. Die Frage ist aber, inwiefern sie damit an- dererseits eine Spirale in Gang gesetzt haben: Die öffentlich dokumentierte Akzeptanz von Ausländerfeindlichkeit macht diese zu einer ebenso akzep- tierten politischen Position. [...] Beim Einsatz von scheinbar harmlosen aus- länderfeindlichen Strategien durch demokratische Parteien muss bedacht werden: Ausländerfeindlichkeit ist die Einstiegsdroge in ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild.“ 4 „Jede Ausgrenzung von Gruppen, wie Sündenbock-Schemata überhaupt, basiert im Kern auf einer rechtsextre- men Einstellung, da sie die Ungleich- heit von Menschen im Alltag legiti- miert und verfestigt. Die Legitimation von rechtsextremer Einstellung wird immer dann erfahren, wenn die Un- gleichheit in der Gesellschaft in der öf- fentlichen Inszenierung zur Erfahrung der Ungleichwertigkeit wird. Dies gilt insbesondere und bespielhaft auch im sozioökonomischen Bereich: jede Form der Denunziation von Arbeitslosen als zu faul, als nicht leistungsbereit, oder die periodisch auftretende Ahndung von Transferempfängern als Betrüger schafft ein Klima der Stigmatisierung und Ungleichwertigkeit, das der Nähr- boden für rechtsextreme Einstellungen ist. Die Stigmatisierung von Auslän- dern und Leistungsbeziehern schafft eine Hackordnung, an deren unterstem Ende die Migranten stehen.“ 5 (Hervor- hebungen: A.W.) Der zeitgenössische deutsche Rechts- extremismus bedient sich meist nicht mehr der rassistischen Diskriminie- rungsmuster des 19. und 20. Jahrhun- derts: „Während ‚klassische‘ Diskrimi- nierungen mit einer konstitutionellen, weil ‚rassischen Minderwertigkeit‘ der jeweiligen Gruppe (Migrant/innen, Ju- den und Jüdinnen) begründet werden, stehen in der ‚modernen‘ Begründung Normen im Vordergrund, die von Sei- ten einer Gemeinschaft (In-Group) aufgestellt und an andere Gruppen (Out-Group) angelegt werden. Die dann festgestellte Normabweichung ist die Begründung der Ablehnung und Diskriminierung der Mitglieder der Out-Group.“ 6 Dieser subtilere neue Rassismus wird als „Kulturalismus“ be- zeichnet. 7 „Markantester Auslöser für kulturalistische Argumentation scheint derzeit der islamische Glaube zu sein.“ 8 Der Kulturalismus kann zu klassischem biologistischen Rassismus werden, nämlich wenn der Normverstoß der stigmatisierten Gruppe auf genetische Gegebenheiten zurückgeführt wird. 9 Selbst offener Rassismus findet in der deutschen Gesellschaft Zustimmung: „Dass es ‚wertvolles und unwertes Le- ben Leben‘ gebe, fanden ein Zehntel der Deutschen zustimmungsfähig, bei der Aussage ‚wie in der Natur sollte sich auch in der Gesellschaft der Stär- kere durchsetzen‘ waren es knapp 18%, und die Aussage, die Deutschen seien von Natur aus anderen Völkern überle- gen, hielten 15% für richtig.“ 10 Die Einstellungen der Mitglieder rechtsextremer Organisationen unter- scheiden sich vom Rechtsextremismus in der Mitte der deutschen Gesell- schaft: durch die offene Verherrlichung des Dritten Reiches. „[...] bei organi- sierten Neonazis [gehört] die Bezug- nahme auf und die Verherrlichung des Nationalsozialismus ganz explizit zum Programm [...] und zeigt nach wie vor die größten Mobilisierungserfolge.“ 11 Diese Rechtsextremisten haben also den Schritt zur offenen Feindschaft ge- genüber dem „System“ getan, indem sie Rechtsextremismus Konrads Rechtsextremismus von Anja Wolfgramm einen Tabubruch begingen, um sich Gleichgesinnten an- zuschließen. Ihre Ansichten müssen sich ansonsten nicht von denen der Rechtsextre- misten in der Mitte der Ge- sellschaft unterscheiden. Zu dem Ursachen: „Wir fanden als Einflussfaktoren für die Herausbildung die- ser rechtsextremen Einstel- lungen den als stark emp- fundenen Normierungsdruck, die Angst vor Zugriffen auf das Individuum, ein nicht reflektiertes Verhältnis von vermeintlich bedrohlicher Fremdheit und idealisierter Heimat sowie kulturalistische Vorbehalte gegenüber Mi- grant/innen, vor allem gegen- über Muslimen.“ 12 Also nicht zuletzt die (Neo-)Liberalisie- rung Deutschlands und der durch sie ständig wachsende Konformitätsdruck in Schule, Ausbildung und Arbeitsle- ben schüren den deutschen Rechtsextremismus. Angst vor Statusverlust, sozialem Abstieg und dem Dasein der sozial „Abgehängten“ – für die seitens der Mehrheit der Deutschen ironischerweise immer mehr Härten gefordert werden – löst Aggression gegen Sündenböcke aus, welche von Medien und Politik präsentiert werden. Deren Normverstöße sollen schuld da- ran sein, dass ein phantasiertes Ideal- Deutschland nicht existiert. „Ein Blick in die Mitte“ zu den bi- ographischen Ursachen von Rechtsex- tremismus: Je autoritärer und strenger die Erziehung, desto eher besteht die Tendenz zur Befürwortung von Dikta- tur und zu Hass und Verachtung gegen Schwächere. 13 „Ein harter, kalter und strafender Vater war besonders bei Menschen mit rechtsextremer Einstel- lung anzutreffen.“ 14 Konrad Prokriefke, der Rechtsextremist K onrad Prokriefke ist ein sehr un- gewöhnlicher Rechtextremist. Es soll hier nicht behauptet werden, die Figur könnte nicht Ent- sprechungen in der Wirklichkeit haben, dafür ist der deutsche Rechtsextremis- mus zu heteromorph. Aber schon in bi- ographischer Hinsicht weicht er stark vom typischen Rechtsextremisten ab. Der Vater erzieht ihn nicht mit Härte, sondern gar nicht, und die Mutter, bei- nahe die Karikatur einer Pädagogin 15 , ersetzt nicht die autoritäre Vaterfigur. Er bleibt ein Einzelgänger, nach- dem sein Erlebnis mit „den Glatzen“ für ihn negativ verlaufen war. 16 Diese sind (neben einigen stumm bleibenden Mitgliedern einer rechtsextremen Partei in der selben Szene) die einzigen im Buch auftretenden orga- nisierten Rechtsextremisten. Mit weniger bildungsfernen rechten Zirkeln 17 sucht Kon- rad keinen Kontakt, was da- ran liegen kann, dass sie im Gesichtskreis der Novelle keine Rolle spielen. Diese untypische „Kar- riere“ als Rechtsextremist entspricht einer ebenso un- typischen Entwicklung des rechtsextremen Weltbilds der Figur. Die „Einstiegsdroge“ Ausländerfeindlichkeit wird in „Krebsgang“ „den Glatzen“ zugeschrieben 18 , sie ist weder in der Mitte der Gesellschaft verbreitet noch von sicht- barer Relevanz für Konrad. Existenz- und Zukunftsäng- ste kennt er nicht, sein selbst auferlegter Leistungsdruck macht gesellschaftlichen Normierungsdruck für ihn irrelevant. In offen disziplina- risch geprägten Umgebungen fühlt er sich wohl. 19 Die oben zitierten Studien zeigen dagegen, dass reale Rechtsextremisten typischerweise der Disziplin verbal huldigen und sie für die Objekte ihrer Aggression for- dern, selbst aber unter hohem Normie- rungsdruck leiden. Inhaltlich fehlt vom Kulturalismus der Neuen Rechten bei Konrad jede Spur. Dieser für den zeitgenössischen Rechtsextremismus so wichtige neue Rassismus kommt in „Krebsgang“ praktisch nicht vor. Das ist nur kon- sequent, denn die Quelle für Konrads Rechtsextremismus ist nicht die durch die Zerrbrille der Rechtsextremisten gesehene Gegenwart, sondern die Ver- gangenheit. Auch das ist für Rechtsex- tremisten und organisierte Neonazis in der Realität untypisch, bei denen die Rechtsextremismus

Rechtsextremismus Konrads Rechtsextremismus · 2012. 9. 25. · mus zu heteromorph. Aber schon in bi-ographischer Hinsicht weicht er stark vom typischen Rechtsextremisten ab. Der

  • Upload
    others

  • View
    1

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

  • Seite 2Seite 1

    1. Decker, Oliver; Brähler, Elmar; Geißler, Norman: Vom Rand zur Mitte. Rechtsextreme Einstellungen und ihre Einflussfaktoren in Deutschland. Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Berlin 2006 S. 11f., Decker, Oliver et al.: Ein Blick in die Mitte. Zur Entstehung rechtsextremer und

    demokratischer Einstellungen in Deutschland. Friedrich-Ebert-Stiftung, Form Berlin, 2008 S.16

    2. Vom Rand zur Mitte S. 54f.3. ebd., S. 1604. ebd., S. 1675. ebd., S. 168

    6. Ein Blick in die Mitte S.1277. ebd., S. 1288. ebd,. S. 4439. Ein Beispiel bieten die rassistischen Thesen des Berliner

    Ex-Senators Thilo Sarrazin:

    http://www.sueddeutsche.de/politik/gutachten-zu-sarrazin-eindeutig-rassistisch-1.54865

    10. Ein Blick in die Mitte, S. 27411. ebd., S. 37612. ebd., S. 44913. Ein Blick in die Mitte, S. 450f.

    14. ebd., S. 28015. Grass, Günter, Im Krebsgang. März 2004, 5. Auflage

    März 2009, München, S.11716. ebd., S. 81f.. siehe auch S. 183 zu Konrads Haltung

    gegenüber den „Glatzen“ im Prozess 17. http://de.wikipedia.org/wiki/Junge_Freiheit

    18. Krebsgang, S. 81f.19. s. Anm. 17

    D er Begriff „Rechtsextremismus“ wird hier verwendet, obwohl er irreführend ist. Er suggeriert, dass es sich um eine gesellschaftliche Randerscheinung handelt und eine gesellschaftliche Mitte existiert, die frei von Rechtsextremismus sei. Das ist nicht der Fall.1

    „Im Überblick lässt sich feststel-len, dass rechtsextreme Einstellungen durch alle gesellschaftliche Gruppen und in allen Bundesländern gleicher-maßen vertreten werden. [...] Rechts-extremismus ist [..] ein politisches Problem in der Mitte der Gesellschaft. [...] Dies zeigt sich sehr deutlich in den Zustimmungswerten zu einzelnen rechtsextremen Aussagen, bei denen teilweise über 40% der Befragten zu-stimmen konnten. Aber auch [...] in einer Beschränkung auf geschlossene Weltbilder werden sehr hohe Werte erreicht.“2 „Jugendliche stellen nicht die größte Gruppe der Rechtsextremen. Des weiteren setzt sich die Gruppe nicht nur aus Arbeitslosen zusammen, sondern zu einem großen Prozentteil aus Erwerbstätigen (38,4%). Zusam-menfassend lässt sich sagen, dass die Rechtsextremen in allen Schichten der Bevölkerung vertreten sind.“3 „Die Ausländerfeindlichkeit ist sehr hoch, es kann sogar von einem dauerhaft hohen Sockelwert gesprochen werden.[...] Die Ausländerfeindlichkeit auch bei den Anhängern etablierter Parteien weist auf ein großes Problem hin. Die demokratischen Parteien haben mit der Übernahme von mindestens in der Tendenz ausländerfeindlichen Po-sitionen zwar einerseits diese Wähler-schichten an sich binden können. Die Frage ist aber, inwiefern sie damit an-dererseits eine Spirale in Gang gesetzt

    haben: Die öffentlich dokumentierte Akzeptanz von Ausländerfeindlichkeit macht diese zu einer ebenso akzep-tierten politischen Position. [...] Beim Einsatz von scheinbar harmlosen aus-länderfeindlichen Strategien durch demokratische Parteien muss bedacht werden: Ausländerfeindlichkeit ist die Einstiegsdroge in ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild.“4

    „Jede Ausgrenzung von Gruppen, wie Sündenbock-Schemata überhaupt, basiert im Kern auf einer rechtsextre-men Einstellung, da sie die Ungleich-heit von Menschen im Alltag legiti-miert und verfestigt. Die Legitimation von rechtsextremer Einstellung wird immer dann erfahren, wenn die Un-gleichheit in der Gesellschaft in der öf-fentlichen Inszenierung zur Erfahrung der Ungleichwertigkeit wird. Dies gilt insbesondere und bespielhaft auch im sozioökonomischen Bereich: jede Form der Denunziation von Arbeitslosen als zu faul, als nicht leistungsbereit, oder die periodisch auftretende Ahndung von Transferempfängern als Betrüger schafft ein Klima der Stigmatisierung und Ungleichwertigkeit, das der Nähr-boden für rechtsextreme Einstellungen ist. Die Stigmatisierung von Auslän-dern und Leistungsbeziehern schafft eine Hackordnung, an deren unterstem Ende die Migranten stehen.“5 (Hervor-hebungen: A.W.)

    Der zeitgenössische deutsche Rechts-extremismus bedient sich meist nicht mehr der rassistischen Diskriminie-rungsmuster des 19. und 20. Jahrhun-derts: „Während ‚klassische‘ Diskrimi-nierungen mit einer konstitutionellen, weil ‚rassischen Minderwertigkeit‘ der jeweiligen Gruppe (Migrant/innen, Ju-

    den und Jüdinnen) begründet werden, stehen in der ‚modernen‘ Begründung Normen im Vordergrund, die von Sei-ten einer Gemeinschaft (In-Group) aufgestellt und an andere Gruppen (Out-Group) angelegt werden. Die dann festgestellte Normabweichung ist die Begründung der Ablehnung und Diskriminierung der Mitglieder der Out-Group.“6 Dieser subtilere neue Rassismus wird als „Kulturalismus“ be-zeichnet.7 „Markantester Auslöser für kulturalistische Argumentation scheint derzeit der islamische Glaube zu sein.“8 Der Kulturalismus kann zu klassischem biologistischen Rassismus werden, nämlich wenn der Normverstoß der stigmatisierten Gruppe auf genetische Gegebenheiten zurückgeführt wird.9 Selbst offener Rassismus findet in der deutschen Gesellschaft Zustimmung:

    „Dass es ‚wertvolles und unwertes Le-ben Leben‘ gebe, fanden ein Zehntel der Deutschen zustimmungsfähig, bei der Aussage ‚wie in der Natur sollte sich auch in der Gesellschaft der Stär-kere durchsetzen‘ waren es knapp 18%, und die Aussage, die Deutschen seien von Natur aus anderen Völkern überle-gen, hielten 15% für richtig.“10

    Die Einstellungen der Mitglieder rechtsextremer Organisationen unter-scheiden sich vom Rechtsextremismus in der Mitte der deutschen Gesell-schaft: durch die offene Verherrlichung des Dritten Reiches. „[...] bei organi-sierten Neonazis [gehört] die Bezug-nahme auf und die Verherrlichung des Nationalsozialismus ganz explizit zum Programm [...] und zeigt nach wie vor die größten Mobilisierungserfolge.“11 Diese Rechtsextremisten haben also den Schritt zur offenen Feindschaft ge-genüber dem „System“ getan, indem sie

    R e c h t s e x t r e m i s m u s

    Konrads Rechtsextremismusvon Anja Wolfgramm

    einen Tabubruch begingen, um sich Gleichgesinnten an-zuschließen. Ihre Ansichten müssen sich ansonsten nicht von denen der Rechtsextre-misten in der Mitte der Ge-sellschaft unterscheiden.

    Zu dem Ursachen: „Wir fanden als Einflussfaktoren für die Herausbildung die-ser rechtsextremen Einstel-lungen den als stark emp-fundenen Normierungsdruck, die Angst vor Zugriffen auf das Individuum, ein nicht reflektiertes Verhältnis von vermeintlich bedrohlicher Fremdheit und idealisierter Heimat sowie kulturalistische Vorbehalte gegenüber Mi-grant/innen, vor allem gegen-über Muslimen.“12 Also nicht zuletzt die (Neo-)Liberalisie-rung Deutschlands und der durch sie ständig wachsende Konformitätsdruck in Schule, Ausbildung und Arbeitsle-ben schüren den deutschen Rechtsextremismus. Angst vor Statusverlust, sozialem Abstieg und dem Dasein der sozial „Abgehängten“ – für die seitens der Mehrheit der Deutschen ironischerweise immer mehr Härten gefordert werden – löst Aggression gegen Sündenböcke aus, welche von Medien und Politik präsentiert werden. Deren Normverstöße sollen schuld da-ran sein, dass ein phantasiertes Ideal-Deutschland nicht existiert.

    „Ein Blick in die Mitte“ zu den bi-ographischen Ursachen von Rechtsex-tremismus: Je autoritärer und strenger die Erziehung, desto eher besteht die Tendenz zur Befürwortung von Dikta-tur und zu Hass und Verachtung gegen Schwächere.13 „Ein harter, kalter und strafender Vater war besonders bei Menschen mit rechtsextremer Einstel-lung anzutreffen.“14

    Konrad Prokriefke, der Rechtsextremist

    Konrad Prokriefke ist ein sehr un-gewöhnlicher Rechtextremist. Es soll hier nicht behauptet werden, die Figur könnte nicht Ent-sprechungen in der Wirklichkeit haben, dafür ist der deutsche Rechtsextremis-mus zu heteromorph. Aber schon in bi-ographischer Hinsicht weicht er stark vom typischen Rechtsextremisten ab. Der Vater erzieht ihn nicht mit Härte, sondern gar nicht, und die Mutter, bei-nahe die Karikatur einer Pädagogin15, ersetzt nicht die autoritäre Vaterfigur.

    Er bleibt ein Einzelgänger, nach-dem sein Erlebnis mit „den Glatzen“ für ihn negativ verlaufen war.16 Diese

    sind (neben einigen stumm bleibenden Mitgliedern einer rechtsextremen Partei in der selben Szene) die einzigen im Buch auftretenden orga-nisierten Rechtsextremisten. Mit weniger bildungsfernen rechten Zirkeln17 sucht Kon-rad keinen Kontakt, was da-ran liegen kann, dass sie im Gesichtskreis der Novelle keine Rolle spielen.

    Diese untypische „Kar-riere“ als Rechtsextremist entspricht einer ebenso un-typischen Entwicklung des rechtsextremen Weltbilds der Figur. Die „Einstiegsdroge“ Ausländerfeindlichkeit wird in „Krebsgang“ „den Glatzen“ zugeschrieben18, sie ist weder in der Mitte der Gesellschaft verbreitet noch von sicht-barer Relevanz für Konrad. Existenz- und Zukunftsäng-ste kennt er nicht, sein selbst auferlegter Leistungsdruck macht gesellschaftlichen Normierungsdruck für ihn irrelevant. In offen disziplina-risch geprägten Umgebungen fühlt er sich wohl.19 Die oben

    zitierten Studien zeigen dagegen, dass reale Rechtsextremisten typischerweise der Disziplin verbal huldigen und sie für die Objekte ihrer Aggression for-dern, selbst aber unter hohem Normie-rungsdruck leiden.

    Inhaltlich fehlt vom Kulturalismus der Neuen Rechten bei Konrad jede Spur. Dieser für den zeitgenössischen Rechtsextremismus so wichtige neue Rassismus kommt in „Krebsgang“ praktisch nicht vor. Das ist nur kon-sequent, denn die Quelle für Konrads Rechtsextremismus ist nicht die durch die Zerrbrille der Rechtsextremisten gesehene Gegenwart, sondern die Ver-gangenheit. Auch das ist für Rechtsex-tremisten und organisierte Neonazis in der Realität untypisch, bei denen die

    R e c h t s e x t r e m i s m u s

  • Seite 4Seite 3

    teilweise davon ab, sie beschuldigt auch „das Computerding“ und sieht in Kon-rads Deutschland-Glorifizierung kein Problem. Aber auch sie beschuldigt die Eltern. Rechtsextremismus ist diesen Aussagen zu Folge ein Fehlschlag bei der Normalisierung eines Heranwachsen-den, ein Normverstoß. Impliziert ist eine Forderung nach effizienterer Norma-lisierung, die dann Rechtsextremismus vermieden hätte bzw. vermeiden würde.

    Bezug nehmend auf die zitierten Studien muss dem entgegen gehalten werden, dass Rechtsextremismus im

    zeitgenössischen Deutschland eben kein Normverstoß ist. In der Mitte der deutschen Gesellschaft können Rechts-extremisten offenbar unbehelligt leben und ihre Ansichten verbreiten, sofern sie nicht offen erkennbar zu den orga-nisierten Neonazis gehören. Der An-schluss an diese ist – noch – ein Tabu-bruch. Normverstöße werden hingegen

    „Ausländern“, Muslimen und Arbeitslo-sen pauschal vorgeworfen, ob sie diese nun begehen oder nicht.

    Zudem gehört starker Normierungs-druck zu den Auslösern von Rechtsex-

    tremismus. Dem Rechtsextremismus durch Normalisierungs- und Diszipli-narmaßnahmen zu begegnen hieße Öl ins Feuer gießen. Inhaltlich wäre eine Aussage wie „Du sollst nicht Rechtsex-tremist sein, sondern Demokrat, weil wir, die wir Macht über dich ausüben, es so wollen“, nicht nur wenig zielführend, sondern auch absurd. Sie wäre jedoch nicht absurder als der Versuch, mit Nor-mierungsdruck und Disziplinierung Menschen zur Achtung vor Rechten und Freiheiten anderer zu bewegen. Zwang erzeugt vielleicht Gehorsam, aber keine Einsicht.

    Faszination für das Dritte Reich ge-wöhnlich erst eintritt, nachdem sich ihr gegenwartsbezogenes rechtsextremes Weltbild verfestigt hat.

    Gemessen am typischen Werdegang des organisierten Neonazis beginnt der Einzelgänger Konrad nicht am Anfang, sondern am Ende des Weges. Nicht nur der Ich-Erzähler, sondern auch Konrad bewegt sich im Krebsgang: Um den Rechtsextremismus als vergangen-heitsbezogene Verwirrung zeigen zu können, lässt Grass Konrad alle wich-tigen Elemente des realen deutschen Rechtsextremismus quasi seitlich um-gehen. Der „Blick in die Mitte“ wird dem Leser erspart, und damit womög-lich der Blick in den Spiegel.

    Die Aussagen der Prozessbeteiligten zu den

    Ursachen von Konrads Rechtsextremismus Aus

    aller Welt

    LDie Mutter des Ich-Erzäh-lers gibt den Eltern und dem „Computerding“ die Schuld.20 Konrads „unverbrüchlichen Stolz auf Deutschland“21 rühmt sie vor Gericht und sieht anscheinend keinen Zusam-menhang zwischen diesem und dem Mord. Den Vorwurf gegen die Eltern wiederholt der Ich-Erzähler: „Blind gestellt haben wir uns.“22 In der Pas-sage zeigt sich allerdings, dass bereits Konrads Schulreferate seinen Rechts-extremismus deutlich erkennen ließen. Ebenfalls dem Vater geben die Gutach-ter die Schuld, der deren Auffassungen als „wissenschaftliches Geschreibsel“ und „Schnitzeljagden im familiären Gehege“ bezeichnet.23 Im Wider-spruch zu seiner Selbstbezichtigung beschuldigt er jedoch sowohl Konrads als auch seine Mutter.24 Der Verteidiger versucht, in der Spur der Gutachter sei-nem Anliegen dienen zu können und versucht sogar, Konrads Faszination für den „Blutzeugen“ als Suche nach einem

    R e c h t s e x t r e m i s m u s

    Vaterersatz zu deuten.25 Die Zusam-menfassung liefert der Ich-Erzähler:

    „... während Anklage und Verteidigung, die dreieinigen Gutachter und auch der Richter samt Beisitzern und Schöffen hilflos auf der Suche nach dem Tat-motiv herumirrten, wobei sie Gott und Freud als Wegweiser bemühten.“26

    Allen Aussagen ist gemeinsam, dass sie Konrads Rechtsextremismus als Ergebnis eines Fehlschlags seiner Er-ziehung deuten. Allenfalls weicht die Einschätzung der Mutter des Ich-Er-zählers teilweise davon ab, sie beschul-digt auch „das Computerding“ und sieht in Konrads Deutschland-Glori-fizierung kein Problem. Aber auch sie beschuldigt die Eltern. Rechtsextre-mismus ist diesen Aussagen zu Folge ein Fehlschlag bei der Normalisierung eines Heranwachsenden, ein Normver-stoß. Impliziert ist eine Forderung nach effizienterer Normalisierung, die dann Rechtsextremismus vermieden hätte bzw. vermeiden würde.

    Bezug nehmend auf die zitierten Studien muss dem entgegen gehalten werden, dass Rechtsextremismus im zeitgenössischen Deutschland eben kein Normverstoß ist. In der Mitte der deutschen Gesellschaft können Rechtsextremisten offenbar unbehelligt leben und ihre Ansichten verbreiten, sofern sie nicht offen erkennbar zu den organisierten Neonazis gehören. Der Anschluss an diese ist – noch – ein Ta-bubruch. Normverstöße werden hinge-gen „Ausländern“, Muslimen und Ar-beitslosen pauschal vorgeworfen, ob sie diese nun begehen oder nicht.

    Zudem gehört starker Normie-rungsdruck zu den Auslösern von Rechtsextremismus. Dem Rechtsextre-mismus durch Normalisierungs- und Disziplinarmaßnahmen zu begegnen hieße Öl ins Feuer gießen. Inhaltlich wäre eine Aussage wie „Du sollst nicht Rechtsextremist sein, sondern Demo-krat, weil wir, die wir Macht über dich ausüben, es so wollen“, nicht nur wenig

    zielführend, sondern auch absurd. Sie wäre jedoch nicht absurder als der Ver-such, mit Normierungsdruck und Dis-ziplinierung Menschen zur Achtung vor Rechten und Freiheiten anderer zu bewegen. Zwang erzeugt vielleicht Ge-horsam, aber keine Einsicht.

    Die Aussagen der Prozessbeteiligten zu den

    Ursachen von Konrads Rechtsextremismus

    Die Mutter des Ich-Erzählers gibt den Eltern und dem „Com-puterding“ die Schuld. Konrads „unverbrüchlichen Stolz auf Deutsch-land“ rühmt sie vor Gericht und sieht anscheinend keinen Zusammenhang zwischen diesem und dem Mord. Den Vorwurf gegen die Eltern wiederholt der Ich-Erzähler: „Blind gestellt haben wir uns.“ In der Passage zeigt sich al-lerdings, dass bereits Konrads Schulrefe-rate seinen Rechtsextremismus deutlich erkennen ließen. Ebenfalls dem Vater geben die Gutachter die Schuld, der de-ren Auffassungen als „wissenschaftliches Geschreibsel“ und „Schnitzeljagden im familiären Gehege“ bezeichnet. Im Wi-derspruch zu seiner Selbstbezichtigung beschuldigt er jedoch sowohl Konrads als auch seine Mutter. Der Verteidiger versucht, in der Spur der Gutachter sei-nem Anliegen dienen zu können und versucht sogar, Konrads Faszination für den „Blutzeugen“ als Suche nach einem Vaterersatz zu deuten. Die Zu-sammenfassung liefert der Ich-Erzähler:

    „... während Anklage und Verteidigung, die dreieinigen Gutachter und auch der Richter samt Beisitzern und Schöffen hilflos auf der Suche nach dem Tatmotiv herumirrten, wobei sie Gott und Freud als Wegweiser bemühten.“

    Allen Aussagen ist gemeinsam, dass sie Konrads Rechtsextremismus als Er-gebnis eines Fehlschlags seiner Erzie-hung deuten. Allenfalls weicht die Ein-schätzung der Mutter des Ich-Erzählers

    R e c h t s e x t r e m i s m u s

    Plädoyer des Jugendstaatsanwalts

    „Hohes Gericht, der Angeklagte Konrad Prokriefke hat durch seine langen Ausführungen selbst den Be-weis erbracht, dass er über für sein Alter überdurchschnittliche geistige Fähigkeiten verfügt. Sein absurdes Weltbild tut hierbei nichts zur Sa-che, sehr wohl aber die inhaltliche Schlüssigkeit seines Vortrags. Damit ist hinlänglich erwiesen, dass er vor, während und nach der Tat genau wusste, was er tat bzw. getan hatte. Er hat dies im Laufe des Verfahrens

    auch immer wieder bekräftigt. Sei-ner warmherzigen Begeisterung für den Nazi Gustloff steht die Art und Weise gegenüber, wie er sein Opfer kaltblütig in den Tod lockte und „hinrichtete“, um seine eigenen Worte zu gebrauchen. Zeit seines Lebens verschlossen und kaltblütig, richtete sich seine einzige zwischen-menschliche Regung auf Gustloff, den er zum Helden stilisierte. Er nutzte die liberale Einstellung seiner Mutter aus, für die er aufgrund sei-nes Weltbilds nur Verachtung haben kann, um dauerhaft in die Nähe sei-ner Großmutter zu gelangen. Diese

    benutzte er als Quelle für seinen Heldenkult, und für diese Phanta-sien tötete er vorsätzlich und kalt-blütig einen Menschen von Fleisch und Blut. Sein nüchternes und be-herrschtes Verhalten auch nach der Tat ist nicht mit dem verwirrten Ju-gendlichen in Einklang zu bringen, den die Gutachter in ihm sehen, sondern mit einen skrupellosen und kalten Erwachsenen, der für seine absurden Ideale über Leichen geht. Hohes Gericht, ich plädiere auf die zulässige Höchststrafe für den An-geklagten.“

    Plädoyer des Verteidigers

    „Hohes Gericht, die Gutachter ha-ben bereits dargelegt, dass der Ange-klagte Konrad Prokriefke an einer schweren emotionalen Störung lei-det, die seine Zurechnungfähigkeit erheblich beeinträchtigt. Entgegen seinen Beteuerungen wusste er nicht, was er eigentlich tat, und er weiß es immer noch nicht. Er wird es erst begreifen, wenn er durch intensive therapeutische Hilfe gelernt hat, in der wirklichen Welt zu leben und andere als wirkliche Menschen wahrzunehmen. Seine schreckliche Tat war ein Hilferuf. Einsam und

    ängstlich-verschlossen litt er stumm am Fehlen der für die Entwicklung junger Menschen so wichtigen nor-malen familiären Bindungen. Trau-matisiert durch die Trennung der Eltern, suchte er unterbewusst nach dem Vater, der im wahren Leben nicht für ihn da war. Zu verletzlich, um sich realen Menschen zu öffnen, floh er in die Weiten des Internet, wo die Anonymität und die Virtua-lität ihm Schutz boten. Es war nichts als ein unseliger Zufall, dass die Erzählungen seiner Großmutter vom Untergang der „Wilhelm Gust-loff“, die den sensiblen Jungen stark aufgewühlt hatten, ihn zu dem Mann führten, der für Konrad Pro-

    kriefke den Platz des Vaters ein-nahm. Ihm fehlte der Vater, dem kinderlosen Ehepaar Gustloff der Sohn. Hier war ein Platz, den Kon-rad Prokriefke einnehmen konnte. Der Angeklagte klammerte sich mit einer solchen emotionalen Intensität an den endlich gefundenen Ersatz-vater, dass er sogar für ihn tötete. Selbst jetzt, da es um sein künftiges Schicksal geht, versteckt er sich hin-ter markigen Sprüchen aus der Ver-gangenheit und vorgetäuschter Ruhe und Selbstsicherheit. Konrad Prokriefke braucht Hilfe. Hohes Gericht, ich plädiere auf Einweisung des Angeklagten in eine therapeu-tische Heilanstalt.“

    20. Krebsgang, S. 18021. ebd., S. 18122. ebd., S. 183f. Die Uneinigkeit der Eltern bezüglich der

    Schulreferate siehe S. 187 f.23. ebd., S. 19324. ebd.

    25. ebd., S.195 26. ebd., S. 196