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229 Verstehen als methodische Herausforderung für eine reflexive empirische Forschung Barbara Friebertshäuser Andere zu verstehen gehört in unserem privaten und beruflichen Alltag zu den selbstverständlichen Anforderungen und prägt unser soziales Zusammenleben entscheidend. Im Alltag meinen wir mit Verstehen nicht nur, dass wir die verba- len Aussagen unseres Gegenübers intellektuell erfasst haben, sondern auch: Verständnis, Empathie, mitfühlendes Nacherleben. Nahe beim Verstehen liegen damit auch die Zuneigung und die Liebe. Verstehen ist dabei nicht nur ein intel- lektuelles Unternehmen, sondern wir brauchen alle unsere Sinne, um zu hören, zu sehen, zu begreifen und den Sinn zu erfassen. Vorausgesetzt wird, dass ein wechselseitiges Verstehen möglich ist und sich ereignet. Diese Annahme ist Teil unseres Alltagsverständnisses und bildet die Basis für den zwischenmenschli- chen Umgang. Gegenseitiges Verstehen korrespondiert oft mit einer gemeinsa- men Vergangenheit, geteilten Lebenswelt, ähnlichen sozialen Herkunft, biogra- phischen Erfahrungen sowie dem Wissen über einen Anderen, über sein Leben, seine Lebensumstände und seine persönliche Geschichte. Verstehensprobleme resultieren häufig aus Fremdheit, Unvertrautheit mit dem anderen, mit der sozia- len oder kulturellen Situation oder Distanz zwischen Generationen oder Ange- hörigen unterschiedlichen Geschlechts. Erst im Streit- oder Konfliktfall begin- nen wir das Verstehen kritisch zu hinterfragen, wobei das Missverstehen häufig in persönliche und gesellschaftliche Konfliktsituationen führt. Bevor wir uns auf den Weg zur methodischen Erkundung des Verstehens begeben, der uns mit Deutungskompetenz und der damit verbundenen Macht über den Gegenstand und damit auch über andere Menschen auszustatten ver- mag, sollten wir kurz innehalten, um uns zu besinnen und bereits jetzt reflexiv zu begrenzen. Wir können einen anderen Menschen nie vollständig verstehen, weil die Einzigartigkeit seines Seins in den historischen und sozialen Verhält- nissen, seinem Alltag, dem gelebten Leben, der Biographie als Substrat eines rückblickend erzählten Lebens sowie den Tiefen und Weiten der damit verbun- denen Erfahrungen, Gefühle, Gedanken, Träume, Traumata, Verdrängungen, Illusionen, Überzeugungen und Visionen wurzelt, die zudem im Fluss des Le- bens beweglich und veränderbar bleiben und weil wir als Forschende Menschen sind, die ebenso in diese historischen, sozialen, kulturellen, altersbedingten,

Reflexive Erziehungswissenschaft || Verstehen als methodische Herausforderung für eine reflexive empirische Forschung

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Verstehen als methodische Herausforderung für eine reflexive empirische Forschung Barbara Friebertshäuser Andere zu verstehen gehört in unserem privaten und beruflichen Alltag zu den selbstverständlichen Anforderungen und prägt unser soziales Zusammenleben entscheidend. Im Alltag meinen wir mit Verstehen nicht nur, dass wir die verba-len Aussagen unseres Gegenübers intellektuell erfasst haben, sondern auch: Verständnis, Empathie, mitfühlendes Nacherleben. Nahe beim Verstehen liegen damit auch die Zuneigung und die Liebe. Verstehen ist dabei nicht nur ein intel-lektuelles Unternehmen, sondern wir brauchen alle unsere Sinne, um zu hören, zu sehen, zu begreifen und den Sinn zu erfassen. Vorausgesetzt wird, dass ein wechselseitiges Verstehen möglich ist und sich ereignet. Diese Annahme ist Teil unseres Alltagsverständnisses und bildet die Basis für den zwischenmenschli-chen Umgang. Gegenseitiges Verstehen korrespondiert oft mit einer gemeinsa-men Vergangenheit, geteilten Lebenswelt, ähnlichen sozialen Herkunft, biogra-phischen Erfahrungen sowie dem Wissen über einen Anderen, über sein Leben, seine Lebensumstände und seine persönliche Geschichte. Verstehensprobleme resultieren häufig aus Fremdheit, Unvertrautheit mit dem anderen, mit der sozia-len oder kulturellen Situation oder Distanz zwischen Generationen oder Ange-hörigen unterschiedlichen Geschlechts. Erst im Streit- oder Konfliktfall begin-nen wir das Verstehen kritisch zu hinterfragen, wobei das Missverstehen häufig in persönliche und gesellschaftliche Konfliktsituationen führt.

Bevor wir uns auf den Weg zur methodischen Erkundung des Verstehens begeben, der uns mit Deutungskompetenz und der damit verbundenen Macht über den Gegenstand und damit auch über andere Menschen auszustatten ver-mag, sollten wir kurz innehalten, um uns zu besinnen und bereits jetzt reflexiv zu begrenzen. Wir können einen anderen Menschen nie vollständig verstehen, weil die Einzigartigkeit seines Seins in den historischen und sozialen Verhält-nissen, seinem Alltag, dem gelebten Leben, der Biographie als Substrat eines rückblickend erzählten Lebens sowie den Tiefen und Weiten der damit verbun-denen Erfahrungen, Gefühle, Gedanken, Träume, Traumata, Verdrängungen, Illusionen, Überzeugungen und Visionen wurzelt, die zudem im Fluss des Le-bens beweglich und veränderbar bleiben und weil wir als Forschende Menschen sind, die ebenso in diese historischen, sozialen, kulturellen, altersbedingten,

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geschlechtsbezogenen und immer zugleich individuellen Existenzbedingungen eingewoben sind. Wir vermögen jedoch, uns über diese Verhältnisse aufzuklä-ren, um sie reflektierend in die Analysen einzubeziehen. Wie dies geschehen kann, wird zentraler Gegenstand dieses Beitrages sein.

Philosophen und Wissenschaftler haben seit mehr als 2000 Jahren das Problem des Verstehens eines anderen Menschen immer wieder zu qualifizie-ren, zu überprüfen und kritisch zu reflektieren gesucht. Die hermeneutische Tradition kann in der Erziehungswissenschaft auf eine etwa 200-jährige Ge-schichte zurückblicken. Wenn nun an dieser Stelle der Beitrag der Arbeiten von Pierre Bourdieu zum Verstehen diesen Debatten hinzugefügt wird, dann liegt der Gewinn zum einen in der Weitung der Perspektive auf historische, gesell-schaftliche und soziale Kontexte, die das Denken, Wahrnehmen, Handeln und Reflektieren von Menschen prägen, und zum anderen in der Steigerung der Reflexivität über diese Kontexte, die auch das Verstehen von Wissenschaftlern begrenzen.

So beginnt die Darstellung mit einem Überblick über einige wichtige As-pekte des Verstehens, mit denen sich die Wissenschaft beschäftigt hat und die das Verstehen auch gegenwärtig qualifizieren können. Im zweiten Teil wird danach gefragt, welches Konzept des Verstehens in den Arbeiten Bourdieus entwickelt wurde. Am Ende werden diese Überlegungen für eine reflexive em-pirische Forschung in der Erziehungswissenschaft fruchtbar zu machen ge-sucht.1

1 Aspekte der wissenschaftlichen Qualifizierung des Verstehens

Angesichts der Breite der Debatte um das Verstehen können hier nur einige zentrale Richtungen und Linien nachgezeichnet werden. Die Darstellung folgt dabei grob der historischen Entwicklung der verschiedenen Verstehenskonzepte. Von der Hermeneutik bis zu sozialwissenschaftlichen Konzeptionen sollen Teilaspekte zusammengestellt werden, die der Qualifizierung des wissenschaft-lichen Verstehens dienen.

Hermeneutik, als eine Methode, um Verstehen wissenschaftlich präzise zu fassen, umfasst verschiedene Bedeutungen, die sich historisch entwickelt haben. Aus dem Griechischen stammend bezeichnet die Hermeneutik in der Antike die Deutung der Botschaften der Götter, das Auslegen von Vieldeutigem. Die Her-meneutik, als Kunst der Interpretation von Texten, entwickelte sich zunächst in der Theologie und diente dem Deuten der Botschaften der Bibel, sie wird auch 1 Für kritische Rückmeldungen und Anregungen zu diesem Beitrag danke ich Markus Rieger-Ladich.

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als christliche Hermeneutik bezeichnet. Luthers Bibelübersetzung regte die spätere hermeneutische Diskussion an. (siehe dazu Dilthey 1993: 266; Gadamer 1995: 9)

Die Hermeneutik als Kunst der Interpretation von Texten entwickelte Schleiermacher zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu einer Kunstlehre des Verste-hens. Für Schleiermacher bedeutet hermeneutisches Verstehen noch ein sich Hineinversetzten des Interpreten in die Welt des Autors. Aber er geht davon aus, dass „jede Rede immer nur zu verstehen [ist] aus dem ganzen Leben, dem sie angehört“. Außerdem verweist er auf Kontexte: „so ist jeder Redende nur ver-stehbar durch seine Nationalität und sein Zeitalter.“ (Schleiermacher 1995: 78)

Diesen letzten Gedanken greift Dilthey auf, indem er die Geschichtlichkeit jedes Zeitdokumentes und jeder Repräsentation von Leben herausarbeitet: Es „ist immer der Fluß der Zeit, der durch alle menschliche Wirklichkeit hindurch-geht, in der Auffassung wirksam. Er ist derselbe in der historischen Welt wie in mir selbst, der ich sie betrachte“ (Dilthey 1993: 315). Dilthey unterscheidet zwischen dem „elementaren“ oder alltäglichen und dem „höheren Verstehen“, also dem mit wissenschaftlichen Methoden gestalteten Verstehen. „Hineinver-setzten, Nachbilden und Nacherleben“ sind die Methoden, denen sich das höhe-re Verstehen bedient. Das Sich-Hineinversetzen (die „Transposition“) in einen Menschen oder ein Werk aktiviert das Erleben, Nachbilden meint für ihn: „Ich versetze mich in die Umstände“ (ebd.: 266). Dazu dient das Studium von Zeit-zeugnissen und verschiedenen Quellen (Briefe, Schriften, Berichte von Zeitge-nossen, Akten und Dokumente). Wichtig für das Verstehen ist dabei die Bedeu-tung der Sprache. Die Vermittlung von Lebensäußerungen und das Verstehen geschehen in erster Linie über die Sprache. Man muss den Kontext kennen, in dem die Menschen leben und aus dem heraus ihre Sprache entsteht, um sie ver-stehen zu können.

Gadamer widmet seine philosophische Hermeneutik der geschichtlichen Bedingtheit und Begrenztheit des Verstehens und rückt damit den Interpreten stärker in den Blick. Jeder ist aufgrund seiner individuellen Geschichte und spezifischen lebensweltlichen Erfahrungen, aber auch der historischen Konstel-lation, in der wir stehen, geprägt und damit für den anderen zunächst ein Frem-der. Der Prozess des Verstehens basiert deshalb auf einer Verständigung. Denn wir können uns aufgrund unserer Geschichtlichkeit nie vollständig aus unseren lebensgeschichtlich erworbenen und historisch gebundenen Vorverständnissen lösen. Das ist auch nicht nötig, sagt Gadamer, solange diese „ins Offene ge-stellt“ und als Hypothesen behandelt werden, die scheitern oder sich bewähren können. Der Interpret bewegt sich zwar immer im Horizont seiner Lebenswelt, dieser ist aber nicht stationär gebunden, sondern kann erweitert und verschoben werden, so dass ein anderer lebensweltlicher Horizont heranreichen und mit ihm

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verschmelzen kann, insofern wir alle unsere Vorurteile ständig erproben müs-sen. Diesen Vorgang nennt Gadamer „Horizontverschmelzung“ (vgl. Gadamer 1990 und 1995; Schneider 1991: 37f.). Gadamer geht für das Verstehen vom Missverständnis als Annahme aus, damit daraus die Anstrengung der intensiven Auseinandersetzung gespeist wird und vorschnelle Zuschreibungen vermieden werden. Er blendet die Wahrheitsfrage aus: Verstehen ist kein Besserverstehen, sondern ein Anders-Verstehen, ein sich Verständigen.

Nach der Vorstellung der klassischen Hermeneutik prüft der Interpret sein Vorverständnis anhand des Textes, versetzt sich in die Umstände, und daraus entstehen Hypothesen. Um diese zu belegen oder zu widerlegen wird nicht nur der Text einbezogen, sondern auch weitere Informationen über die Person, ihre Lebensumstände, die historische Zeit und die verwendete Sprache. Diese liefern bedeutsame Hinweise. Die daraus entstehenden neuen Hypothesen überprüft und kontrolliert der Interpret ständig anhand seines eigenen Wissens, das er durch unterschiedliche Dokumente (darunter der zu verstehende Text) ergänzt und erweitert. Zur Veranschaulichung dieses Modells des Verstehens dient allgemein der „hermeneutische Zirkel“, der sich in einer Art Spirale abbilden lässt, um darzustellen, wie aus dem Vorverständnis die Interpretation hervor-geht, am Gegenstand geprüft wird und zur erneuten Hypothesenbildung beiträgt. So erfährt das Verstehen durch die Bewegung zwischen Vorverständnis, Text-verständnis und Gesamtzusammenhang eine ständige Erweiterung und Prüfung (vgl. Rittelmeyer/Parmentier 2001). Für die hermeneutische Tradition lässt sich zusammenfassend sagen, dass sie im Laufe ihrer Geschichte das Verstehen systematisiert und zunehmend zu einem selbstreflexiven Vorgang entwickelt hat. Die neueren Überlegungen kreisen darum, den Interpreten selbst in seiner historischen und kulturellen Einbettung stärker einzubeziehen und seinen Bei-trag zum Verstehensprozess mit zu reflektieren. Auf diese Weise interessiert sich die moderne Hermeneutik verstärkt für das Verstehen des Verstehens selbst und erweitert sich mit Gadamer zu einer philosophischen Perspektive.2

Einer anderen theoretischen Traditionslinie entstammt das Verstehenskon-zept, das als „interpretatives Paradigma“ mit der Tradition des Symbolischen Interaktionismus, der Chicago School der empirischen Sozialforschung ver-knüpft ist.3 Sozialwissenschaftliche Verstehenskonzepte suchen den Menschen

2 Es ist ein Verdienst der qualitativen Sozialforschung und insbesondere der erziehungswissen-schaftlichen Biographieforschung, dass sie die Hermeneutik als Methode der Erkenntnisgewinnung für die empirische Erforschung der erzählten Lebensgeschichten fruchtbar gemacht hat (vgl. Schütze 1983; Marotzki 1999). 3 Wichtig für das sozialwissenschaftliche Verstehen wurden besonders die frühen Arbeiten von Alfred Schütz sowie Peter Berger und Thomas Luckmann.

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im Kontext seiner sozialen Umwelt zu verstehen.4 Während die Gesellschafts-mitglieder in ihrem alltäglichen Handeln den Dingen Sinn geben und damit Konstruktionen „erster Ordnung“ vornehmen, entwerfen die Sozialwissenschaft-ler nach Alfred Schütz Konstruktionen „zweiter Ordnung“, diese sind verste-hende Rekonstruktionen der Konstruktionen „erster Ordnung“ und folgen eige-nen Modellen (vgl. Soeffner/Hitzler 1994: 33f.). Allerdings sind damit die so-zialwissenschaftlichen Konzepte nicht länger als „die richtigen“ oder „über-geordnete“ Deutungen zu betrachten, sondern sie folgen einer anderen Logik und Anforderung. „Der wissenschaftliche Interpret macht also nichts prinzipiell anderes, als das was Menschen im Alltag auch tun: Er deutet Wahrnehmungen als Verweise auf einen ihnen zugrunde liegenden Sinn hin. Aber anders als der Alltagsmensch versucht der wissenschaftliche Interpret, sofern er hermeneutisch reflektiert arbeitet, sich über die Voraussetzungen und die Methoden seines Verstehens Klarheit zu verschaffen. Denn dadurch, und nur dadurch, wird Ver-stehen zu einer wissenschaftlichen Methode.“ (Soeffner/Hitzler 1994: 33) Dar-aus ergibt sich folgende Definition:

„Sozialwissenschaftliche Hermeneutik beruht auf der Prämisse, daß Menschen ver-suchen, ihrem Handeln einen einheitlichen Sinn zu geben, weil sie grundsätzlich bestrebt sind, mit sich selber eins zu sein, weil sie ihre Sichtweisen als Teil ihrer selbst betrachten. Diese Sinn-,Stiftung’ ist (strukturell) zu rekonstruieren. D.h., so-zialwissenschaftliches Verstehen soll dazu dienen, gesellschaftliche Wirklich-keit(en) angemessen, stimmig, zuverlässig, gültig und überprüfbar zu rekonstruie-ren.“ (Soeffner/Hitzler 1994: 51)

Das Sinnverstehen basiert auf der Rekonstruktion derjenigen sozialen (und biog-raphischen) Prozesse, mit denen Menschen handelnd, deutend und kommunizie-rend miteinander agieren und dabei sozialen Sinn produzieren. Zu den grundle-genden Prämissen gehört der Versuch, die sozialen Wirklichkeiten aus der Pers-pektive der beteiligten Subjekte zu erfassen, und eine Offenheit im Forschungs-prozess. Die Erkenntnisse sollen aus den empirischen Daten generiert und an ihnen überprüft werden. Die intersubjektive Überprüfbarkeit des Interpretati-onsvorgangs sollte sichergestellt sein.

Die seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts entstandene empirische For-schung innerhalb der Erziehungswissenschaft beruft sich vor allem auf Verste-henskonzepte, die in diesen sozialwissenschaftlichen Traditionen wurzeln, mit der Alltagswende (Lenzen 1980) verstärkte sich diese Forschungsrichtung (vgl. König 1991; König/Zedler 1998: 84ff.). Ein wesentlicher Unterschied zwischen

4 Zur „Sozialwissenschaftlichen Hermeneutik“ gibt der von Ronald Hitzler und Anne Honer (1997) herausgegebene Sammelband einen guten Überblick.

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dem hermeneutischen und dem sozialwissenschaftlichen Verstehensbegriff betrifft die Forschungsmethodik. Kritisiert wird, dass die Hermeneutik zwar über umfangreiche methodische Verfahren zur Textinterpretation verfügt, je-doch über „kein ausgefeiltes Methodenrepertoire zum Verstehen der Lebens- und Erziehungswirklichkeit.“ (König 1991: 56) Allerdings war das interpretati-ve Paradigma zunächst auch kein forschungsmethodisch ausgerichtetes Kon-zept. Aus heutiger Sicht kann man sagen, forschungsmethodisch hat sich das sozialwissenschaftliche Verstehenskonzept ständig weiterentwickelt und verfei-nert, insbesondere in der Tradition der „grounded theory“, der Biographiefor-schung und der rekonstruktiven Sozialforschung. Anregend wirkten hier beson-ders die „objektive Hermeneutik“ nach Ulrich Oevermann, das biographieanaly-tische Verfahren des narrativen Interviews nach Fritz Schütze oder eine rekons-truktive Sozialforschung nach Ralf Bohnsack, um hier nur einige Richtungen zu benennen (vgl. die Beiträge in Flick et al. 1991 und 2000; Friebertshäuser/ Prengel 1997; Krüger/Marotzki 1999).

Doch im Zuge der Diskussion und Weiterentwicklung der qualitativen For-schung haben sich die beiden unterschiedlichen Theoriestränge zunehmend einander angenähert. Interpretative Sozialforschung nutzt die Hermeneutik in-zwischen zur Organisation sozialwissenschaftlicher Verstehensprozesse, die „objektive Hermeneutik“ führt sie im Namen und Soeffner spricht von einer „sozialwissenschaftlichen Hermeneutik“.

2 Das Verstehenskonzept einer „reflexiven empirischen Forschung“

nach Pierre Bourdieu In welcher Weise bringen die Arbeiten von Pierre Bourdieu neue Aspekte in die Diskussion um das wissenschaftliche Verstehen ein? Seine Arbeiten bewegen sich an der Schnittstelle zwischen Kulturanthropologie und Soziologie, er inter-essiert sich insbesondere für den Zusammenhang von Klassenlagen und der Reproduktion sozialer Ungleichheit in der Alltagskultur mittels verinnerlichter Haltungen – den Habitus (vgl. Bohn 1991). Er arbeitet unter anderem mit dem methodischen Instrumentarium ethnographischer Feldforschung und untersucht zahlreiche Forschungsfelder (wie den Bildungsbereich, den Kulturkonsum, die Politik, Geschlechterverhältnisse, die Gebrauchsweisen der Fotografie, die Macht der Sprache und viele andere). Dabei zeichnet sich sein methodisches Vorgehen dadurch aus, dass er häufig quantitative und qualitative Verfahren miteinander kombiniert, wobei Theorie und Empirie sich stets wechselseitig inspirieren. Der gemeinsam mit Loïc J.D. Wacquant publizierte Band „Reflexi-ve Anthropologie“, der 1996 erschien, fordert dazu auf, eine Theorie der intel-

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lektuellen Praxis zu entwickeln (vgl. Wacquant 1996: 62ff.). Insgesamt spielt die kritische Reflexion des wissenschaftlichen Vorgehens für Bourdieu auf methodischer und theoretischer Ebene jeweils eine bedeutsame Rolle. Deshalb habe ich das mit ihm verknüpfte Verstehenskonzept mit dem Label „reflexive empirische Forschung“ versehen, weil damit – ganz im Sinne Bourdieus – so-wohl der Forschungsprozess wie auch das Ergebnis in den Blick genommen werden. Natürlich nimmt jede Forschung für sich in Anspruch, über ihr Vorge-hen nachzudenken. In welcher Weise Bourdieu die „reflexive Analyse“ zu ei-nem umfassenden Konzept entwickelt und welche Schlussfolgerungen sich daraus für das Problem des Verstehens ergeben, wird im Folgenden erläutert.

Nach Bourdieu umfasst die reflexive Analyse drei Bereiche. Zum einen reflektiert der Forschende den sozialen und kulturellen Standort des Erforschten im sozialen Raum, um dessen Äußerungen und auch das Nicht-Gesagte vor dem Hintergrund seiner oder ihrer sozialen Lage und kulturellen Prägungen einord-nen zu können. Zum anderen fordert er dazu auf, den Forschungsprozess und die darin eingebetteten sozialen Beziehungen zwischen den Erforschten und den Forschenden genauer zu analysieren. Und ganz besonders gilt Bourdieus Inter-esse dem wissenschaftlichen Feld, in dem sich der Forschende bewegt und das seine Interessen und Voreinstellungen prägt. Das wissenschaftliche Denken und Forschen selbst will er zum Gegenstand einer reflexiven Analyse machen, um die Verzerrungen, die „Bias“ (Voreinstellungen), die kollektiven und unbewuss-ten „Vor-Urteile“, die bereits in den Fragestellungen, den Kategorien und dem jeweiligen Wissenschaftsverständnis der Forscherin oder des Forschers liegen, aufzuklären (vgl. Bourdieu 1993a: 366). Bourdieus Ansatz zielt auf die Erfor-schung dieser Doxa, jener scheinbaren Selbstverständlichkeiten in der Alltags-welt, die nicht in Frage gestellt werden. Bourdieu bezeichnet damit „die Gesam-theit dessen, was als Selbstverständliches hingenommen wird, insbesondere die Klassifikationssysteme, die festlegen, was als interessant bewertet wird und was als uninteressant, wovon niemand denkt, daß es erzählt zu werden verdient, weil keine (Nach)Frage besteht.“ (Bourdieu 1993b: 80) Dieser Gedanke zielt in zwei Richtungen. Mit Doxa bezeichnet Bourdieu einmal die von den Erforschten nicht reflektierten Selbstverständlichkeiten ihres Alltagsleben, die nicht erzählt werden, weil man sie als natürlich, alltäglich oder nicht der Rede wert erachtet. Deshalb kommt der teilnehmenden Beobachtung und der Analyse von Alltags-praxen in seinem Ansatz eine große Bedeutung zu. Interessant ist allerdings, dass er diese Doxa auch bei den Forschenden zu erfassen sucht. Die Doxa, das was als Selbstverständliches hingenommen wird, zeigt sich dann beispielsweise darin, dass bestimmte Fragen gestellt werden und anderes ausgeblendet bleibt. Aber auch bei den Auswertungen der Daten gibt es Äußerungen, die als interes-sant bewertet und andere Dinge, die als uninteressant erachtet werden. Die ref-

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lexive Analyse der Doxa zielt somit auch auf die Klassifikationssysteme der Forschenden, die festlegen, was in den Blick der Forschung genommen wird und was unberücksichtigt bleibt, so dass spezifische Fokussierungen entstehen, die auf den verinnerlichten Mustern der scheinbaren Selbstverständlichkeiten basieren.

„Eine bedeutsame Eigenschaft eines Feldes besteht darin, daß es Undenkbares enthält, das heißt Dinge, die überhaupt nicht diskutiert werden. (...) Das Verbor-genste ist das, worüber alle Welt sich einig ist, so einig, daß nicht einmal darüber gesprochen wird, ist das, was außer Frage steht, was selbstverständlich ist. (...) Sich danach zu fragen, was niemand sagt, ist wichtig (...) es gilt die sozialen Bedingun-gen des Irrtums herauszufinden, der als Produkt historischer Bedingungen, von De-terminationen notwendig ist. Im ‘Selbstverständlichen’ einer Epoche gibt es das de jure (aus politischen Gründen etwa) Undenkbare, das Nichtbenennbare, das Tabu – die Probleme, mit denen man sich nicht beschäftigen kann –, aber auch das fakti-sche Undenkbare, was der Denkapparat nicht zu denken erlaubt.“ (Bourdieu 1993b: 80f.)5

Wenden wir uns also zunächst dem Verstehen des Anderen im Kontext seiner sozialen Welt und dem Forschungsprozess zu, bevor das Problem der Reflexion des Forschenden über sein wissenschaftliches Feld sowie seine methodische und theoretische Arbeit genauer erörtert wird.

In einer „reflexiven empirischen Forschung“ soll der Forschende den sozia-len und kulturellen Standort der Erforschten im sozialen Raum und innerhalb eines Feldes reflektieren. Für Bourdieu besteht der soziale Kosmos aus relativ autonomen sozialen Feldern, in denen jeweils eine spezifische Logik und Not-wendigkeit vorherrscht. Der französische Begriff „champ“, in deutscher Über-setzung als „Feld“ bezeichnet, gehört zu den zentralen Kategorien in Bourdieus Arbeiten und wird in doppelter Weise definiert. Als „Feld“ bezeichnet er sowohl einen Bereich oder ein Gebiet der Forschung, also beispielsweise das Gebiet, das in der Feldforschung erkundet wird. Wichtig ist jedoch, dass Bourdieu „Feld“ auch analytisch-systematisch definiert und verwendet. In diesem Fall bezeichnet ein „soziales Feld“ einen Bereich des sozialen Raumes und dieser wird als ein Feld spezifischer sozialer Praxis betrachtet, z.B. als Markt von kul-turellen Gütern. Von Habitus zu sprechen macht nach Bourdieu nur Sinn, wenn man ihn auf ein spezifisches Feld bezieht. Dabei interessiert sich Bourdieu da-

5 Exemplarisch kann die Wirkung der Doxa anhand jener Gegenstandsbereiche anschaulich ge-macht werden, die von der Frauen- und Geschlechterforschung in den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht wurden: das Alltägliche, Private, Unterdrückte, Marginalisierte, Tabuisierte und Aus-geblendete, das einer androzentrisch orientierten traditionellen Wissenschaft einer Erforschung nicht würdig erschien.

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für, die Logik des Funktionierens eines bestimmten Feldes zu enträtseln (vgl. Krais 1989: 55ff.). Den sozialen Raum gliedert Bourdieu in unterschiedliche Felder, die jeweils eine eigene Logik besitzen (z.B. das wissenschaftliche Feld, das Feld der Macht, das Feld der Grandes écoles, usw.). In den unterschiedli-chen sozialen Feldern variiert beispielsweise auch die Hierarchie der verschie-denen Kapitalsorten (ökonomisches, kulturelles, soziales Kapital).6 Sein Denken ist dabei relational und historisch dynamisch. Nicht zufällig präferiert er die Korrespondenzanalyse zur Auswertung seiner Daten (vgl. (Bourdieu/Wacquant 1996: 125f.) und interessiert sich für die Veränderungen in den Machtverhält-nissen, durch die sich die Struktur von Feldern ändert (vgl. ebd.: 128f.) „In ei-nem Feld gibt es Kämpfe, also Geschichte.“ (ebd.: 133) „Analytisch gesprochen wäre ein Feld als ein Netz oder eine Konfiguration von objektiven Relationen zwischen Positionen zu definieren.“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 127) Die Ana-lyse der Äußerungen eines Befragten ist für Bourdieu somit immer eng ver-knüpft mit dessen Position innerhalb des sozialen Raumes und mit der Logik des jeweiligen untersuchten Feldes, dem die Person angehört und das seine Denk-, Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsmuster prägt. Die soziale Lage einer Person, ihre Verfügung über ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital, produziert einen spezifischen Habitus und äußert sich im Lebensstil, beispielsweise in den Geschmackspräferenzen und kulturellen Vorlieben. Inter-essant ist auch der Fokus auf das Nicht-Gesagte oder das, was nicht gesagt wer-den darf, weil es Teil des kollektiven Unbewußten eines sozialen Feldes ist. Hier fordert der Ansatz einer reflexiven empirischen Forschung die Forschenden heraus, nicht nur die vordergründigen Äußerungen zu betrachten, sondern einen Standort jenseits der analysierten sozialen Situation einzunehmen. Die in den alltäglichen Praxen liegende soziale Logik ist den Akteuren selbst nicht bewusst und damit auch den Forschenden nicht sofort offen zugänglich: „Weil die Han-delnden nie ganz genau wissen, was sie tun, hat ihr Tun mehr Sinn, als sie selbst wissen.“ (Bourdieu 1987: 127) Der soziale Sinn ergibt sich erst aus dem Zu-sammenspiel verschiedener Gesichtspunkte. Dazu gehört auch „verstehen zu können, was gesagt werden kann und was nicht. Es geht also darum, die Zensur zu begreifen, die bewirkt, daß bestimmte Dinge nicht gesagt werden, und die Beweggründe dafür zu erkennen, daß andere betont werden.“ (Bourdieu 1997: 781)

6 In seiner Studie „Die feinen Unterschiede“ finden sich auch graphische Darstellungen des sozialen Raumes, sie zeigen neben der vertikalen Achse des Kapitalvolumens auch eine horizontale Achse der Verteilung von ökonomischem und kulturellem Kapital und wie die verschiedenen sozialen Milieus innerhalb dieses sozialen Raumes positioniert sind sowie die Korrespondenz zwischen ihrer Lebenslage und ihrem Lebensstil (z.B. Geschmackspräferenzen oder kulturelle Vorlieben) (vgl. Bourdieu 1983: 212f.).

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Die so gewonnene Vogelperspektive nimmt nun in einem weiteren Schritt so-wohl die Handelnden wie die Forschenden in den Blick einer reflexiven Analy-se, um aus dieser Warte mehr zu sehen, als es den Akteuren im Feld möglich ist, um zumindest anschließend den Gesamtkontext – einschließlich der For-schungssituation – in die Analysen einbeziehen zu können. Denn bereits die Befragungssituation stellt eine zu reflektierende soziale Beziehung dar, deren Struktur und Qualität Einfluss auf die Ergebnisse ausübt und in der alle mögli-chen Verzerrungen und Formen struktureller Gewalt angelegt sind (vgl. Bour-dieu 1997: 780). Zur Reflexion der Interviewsituation gehört es, die Effekte zu erkennen, die man unwillkürlich durch dieses Eindringen und Sich-Einmischen ausübt, herauszufinden, wie sich die Situation für die Befragten darstellt, in welcher Weise sie auf die Situation reagieren und welche Kommentare und Interpretationen sie geben. Dies kann sich beziehen auf die Untersuchung oder Umfrage im Allgemeinen, die besondere Beziehung, in der sie sich etabliert, die Ziele, die sie verfolgt. Für das Verstehen des Interviewgeschehens ist es wich-tig, die Gründe zu erkennen, warum die Befragten in diese Austauschbeziehung einwilligen (vgl. Bourdieu 1997: 781). Es gibt eine Asymmetrie in der Inter-viewsituation, der Interviewer/die Interviewerin beginnt das Spiel, bestimmt die Spielregeln und entscheidet über die Verwendung der Ergebnisse. Dies äußert sich unter anderem auch in der Verwendung einer elaborierten Sprache bei der Formulierung der Forschungsfragen und im Gespräch insgesamt. Diese Hierar-chie zwischen dem Forschenden und den Erforschten wird noch gefördert, wenn im Hinblick auf die Position im sozialen Raum der oder die Interviewte weniger kulturelles, ökonomisches und soziales Kapital besitzt (vgl. Bourdieu 1997: 781). Wie diese Aspekte in einer Untersuchung berücksichtigt werden können, veranschaulicht exemplarisch die Studie „Das Elend der Welt“ (Bourdieu et al. 1997). Hier stehen das subjektive Erleben und Verarbeiten von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, ihre Wirkungen auf Denk-, Wahrnehmungs-, Bewer-tungs- und Handlungsmuster mittels des Habitus sowie die durch gesellschaftli-che Konstellationen (Arbeitslosigkeit) gegebenen Einschränkungen des Entfal-tungsraumes und das Leiden an der Welt im Zentrum der Analyse. Untersucht werden Interdependenzen zwischen den Positionen der Erforschten im sozialen Raum und ihren Perspektiven und Deutungen (vgl. Schultheis 1997: 835).7 Um Zugang zu den verschiedenen Sozialwelten zu erhalten, sollten hier die Inter-viewer ganz bewusst eine gewisse Nähe und Vertrautheit mit den Erforschten aufgrund ihrer eigenen sozialen Herkunft, Bildungslaufbahn und Verortung im sozialen Raum besitzen, die dann wiederum in die reflexive Analyse einbezogen 7 In ähnlicher Weise organisieren auch die an der von Schultheis/Schulz (2005) herausgegebenen Studie „Gesellschaft mit begrenzter Haftung“ beteiligten Forscherinnen und Forscher den Zugang und Verstehensprozess (vgl. auch die Beiträge von Lange-Vester und Schultheis in diesem Band).

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wurde, um die darin liegenden Erkenntnispotentiale und Begrenzungen aufzu-decken.8

Wenden wir uns nun der reflexiven Analyse des wissenschaftlichen Vorge-hens, den blinden Flecken im Forschungsprozess und der Selbstreflexion des eigenen wissenschaftlichen Standortes zu, die Bourdieu einfordert. Bereits in der Frage, was zum Gegenstand der Forschung gemacht wird, setzt für Bourdieu die reflexive Analyse der Doxa und Bias ein und begleitet somit den gesamten Forschungsprozess. „An erster Stelle geht es darum, die sozialen Bedingungen der Produktion des Produzenten zu objektivieren (...), das heißt die Eigenschaf-ten, insbesondere die Einstellungen und Interessen, die er seiner sozialen, ge-schlechtlichen oder ethnischen Herkunft verdankt.“ (Bourdieu 1993a: 369) Zweitens:

„Man muß daher auch den Mikrokosmos – die autonome soziale Welt – zum Ge-genstand nehmen, innerhalb dessen die Handelnden um eine ganz besondere Art von Einsatz kämpfen und Interessen folgen, die unter einem anderen Aspekt völlig uneigennützig erscheinen mögen (...). Es muß daher die Stellung beleuchtet werden, die der Analysierende nicht mehr innerhalb der sozialen Struktur im weiten Sinne, sondern innerhalb des wissenschaftlichen (oder universitären) Feldes einnimmt, das heißt in dem objektiven Raum sozialer Positionen, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt innerhalb einer bestimmten wissenschaftlichen Welt darbieten (das, was in etwa in dem Satz enthalten ist: Mr. X ist Assistenzprofessor für Soziologie in Co-lumbia).“ (Bourdieu 1993a: 369f.)9

Drittens – und dies ist die wichtigste Form von Reflexivität für Bourdieu – müs-sen die „im wesentlichen unbewußten Voraussetzungen“, die „unsichtbaren Bestimmungen, die der Stellung des Wissenschaftlers eingeschrieben sind“, betrachtet werden (vgl. Bourdieu 1993a: 370).

„Sobald wir die gesellschaftliche Umwelt beobachten, ist unsere Wahrnehmung dieser Welt von einem ‚Bias‘ beeinträchtigt, der an den Umstand gebunden ist, daß wir, um die Welt studieren, beschreiben und von ihr sprechen zu können, mehr oder

8 Dieses Vorgehen wird von Vera King (2004) sehr kritisch gesehen, da sie unterstellt, es werde das Neutralitätsgebot damit verletzt und die Vertrautheit mit Verstehen gleichgesetzt. Sie übersieht dabei jedoch, dass die von ihr markierten Probleme des Erhebungs- und Auswertungsprozesses innerhalb der Forschungsgruppe analytisch reflektiert und für den Verstehensprozess fruchtbar gemacht werden, so dass sich hier die geforderte analytische Distanz und Reflexion vollziehen soll. 9 In seiner Studie über „die soziale Welt der Universität“ untersucht Bourdieu den „Homo academi-cus“ und den Zusammenhang zwischen sozialer Positionierung und wissenschaftlicher Reputation exemplarisch am Beispiel des französischen Hochschulsystems. Als ein Angehöriger dieser sozialen Welt beschreibt er darin auch ausführlich die Erkenntnisprobleme, die durch zu große Nähe ebenso wie durch zu große Ferne entstehen und reflektiert diesbezüglich sein empirisches Vorgehen (vgl. Bourdieu 1988: 31ff.). Die Studie erschien 1984 in Paris und 1988 in Deutschland.

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weniger vollständig von ihr abstrahieren müssen. Der theoretizistische oder intel-lektualistische ‚Bias‘ besteht darin, daß wir vergessen, der von uns erstellten Theo-rie der gesellschaftlichen Welt den Tatbestand einzuschreiben, daß die Theorie das Produkt eines theoretischen Blicks ist, eines ‚kontemplativen Auges‘ (theorein), das dazu neigt, eher die Welt wie ein Schauspiel wahrzunehmen, wie eine (theatralische oder geistige) Darbietung, wie eine Gesamtheit von Bedeutungen, die nach einer Interpretation verlangt, denn als eine Gesamtheit von konkreten Problemen, die nach praktischen Lösungen ruft.“ (Bourdieu 1993a: 370)

„In Ermangelung einer Analyse dessen, was dem Tatbestand, die Welt zu den-ken, sich von der Welt und vom Handeln zurückzuziehen, um sie zu denken, innewohnt, setzt sich der Denker, ohne es zu wissen, der Gefahr aus, seine eige-ne Denkweise an die Stelle der Denkweise der von ihm analysierten Handelnden zu setzen, die nicht die Muße haben (noch oft den Wunsch), sich selbst zu ana-lysieren (…).“ (Bourdieu 1993a: 371) Später spricht Bourdieu von der „Neigung der Wissenschaftler, die von ihnen untersuchten Handlungsakteure nach ihrem eigenen Bild zu denken“ (vgl. Bourdieu 1993a: 372). Deshalb beschreibt er als Grundvoraussetzung der wissenschaftlichen Praxis:

„Der Soziologe hat nur dann die Möglichkeit, den gesellschaftlichen Bedingungen, deren Produkt er wie jedermann selbst ist, zu entgehen, wenn er seine eigenen wis-senschaftlichen Waffen gegen sich selbst richtet; wenn er sich mit der Erkenntnis der auf ihm lastenden gesellschaftlichen Determinierungen ausrüstet und ganz be-sonders mit der wissenschaftlichen Analyse all der Zwänge und all der Begrenzun-gen, die an eine bestimmte Stellung und eine vorbestimmte Bahn in einem Feld ge-bunden sind, um zu versuchen, die Wirkungen dieser Determinanten zu neutralisie-ren.“ (Bourdieu 1993a: 372)10

10 Am Beispiel seiner Analysen zur „Ökonomie des sprachlichen Tausches“ (vgl. Bourdieu 1990) lässt sich sein Vorgehen exemplarisch veranschaulichen. Bourdieu setzt sich mit der Alltagskultur des Sprechens aus der Makroperspektive ihrer gesellschaftlichen Ordnungsfunktion auseinander. Um Sprechakte zu analysieren, bezieht er die sozialen Positionen der Sprechenden ebenso ein wie die zwischen ihnen existierenden Machtverhältnisse sowie die ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Kontexte, in denen beide Seiten stehen, und das Feld, in dem sich die Interaktionen ereignen. Bourdieu betrachtet den sprachlichen Austausch und die Kommunikationsbeziehungen als Instrument und Ausdruck von Machtverhältnissen zwischen den Sprechern und den sozialen Grup-pen, die sie repräsentieren und den Sprachstil als Element von Distinktion (vgl. Bourdieu 1990: 11f.). „Der Raum der Interaktion ist der Ort, an dem sich die Überschneidung von verschiedenen Feldern aktualisiert.“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 291) Bourdieu geht es darum, die soziale Struktur, die in die Praxis des Sprechens einfließt, zu rekonstruieren. Dazu tritt er aus dem Spiel heraus und schaut sich von einer reflexiven Warte aus zunächst die Spieler und ihre sozialen Positionen an, um dann im weiteren auch die Position des Beobachters, der außerhalb steht, in die reflexive Analyse einzubeziehen, um damit auch dieses Feld für kritische Analysen zu öffnen.

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Reflexivität im Sinne Bourdieus heißt „Kritik der theoretischen Vernunft“11. Schultheis bezeichnet diesen Ansatz als den Weg einer „relationalen, zugleich soziogenetisch und makrostrukturell verankerten verstehenden Soziologie“ (Schultheis 1997: 832). Dabei steht nicht ein empathisches Verstehen, sondern ein systematisches Verstehen und Erklären im Zentrum des Forschungsinteres-ses. Bourdieu postuliert dazu die Trennung zwischen der Stimme der Person und der Stimme der Wissenschaft. Der Interpret müsse sich kategorisch verbie-ten, sich vollständig in den Erforschten hineinzuversetzen und sich seine Welt-sicht anzueignen (vgl. Bourdieu 1997: 802).

„Der Soziologe muß wissen, daß das Besondere seines Standpunkts darin besteht, ein Standpunkt im Hinblick auf einen Standpunkt zu sein. Nur von diesem ganz be-sonderen Standpunkt aus, an den er sich selbst begeben muß, um (gedanklich) alle möglichen Standpunkte einnehmen zu können, kann er den Standpunkt seines Ob-jektes reproduzieren und es, indem er es im sozialen Raum verortet, als solches konstituieren. Nur in dem Maße, wie er fähig ist, sich selbst zu objektivieren, kann er an dem Platz bleiben, der unauslöschlich der seine in der gesellschaftlichen Welt ist, und sich gleichzeitig gedanklich an den Ort begeben, an dem sich sein Objekt befindet (...), und so dessen Standpunkt einnehmen, das heißt verstehen, daß er, wä-re er, wie man so schön sagt, an dessen Stelle, zweifellos wie jener sein und denken würde.“ (Bourdieu 1997: 802)

Stattdessen beinhaltet das Verstehen für Bourdieu: „sich gedanklich an den Ort zu versetzen, den der Befragte im Sozialraum einnimmt.“ (Bourdieu 1997: 786) Damit konzentrieren sich seine Analysen auf Menschen als Angehörige sozialer Gruppen und Felder innerhalb eines sozialen Raumes. Wenn Bourdieu das Indi-viduum in den Blick nimmt, geht es ihm um das Herausarbeiten des Allgemei-nen im Speziellen. Nicht die Individualität, sondern die Kollektivität des Men-schen steht dabei im Fokus der Aufmerksamkeit. Er betrachtet das Denken und Handeln von Menschen primär als Produkt sozialer Verhältnisse, die sich in vielfältiger Weise in kulturelle und soziale Praxen sowie in den Körper einge-schrieben haben (siehe dazu auch Engler 2001: 101ff.).12

11 So der Untertitel des Bandes „Sozialer Sinn“, in dem Bourdieu bereits die Akte und Instrumente wissenschaftlicher Praxis kritisch beleuchtet und die Beziehungen zwischen dem Forscher und dem von ihm erforschten Gegenstand als Problem der Differenz zwischen der Logik der Praxis der erforschten Akteure und der Logik der wissenschaftlichen Praxis des Forschenden darstellt (vgl. Bourdieu 1987). 12 Diese andere Form des Verstehens nutzt bspw. Steffani Engler (2001), um jenseits der „biogra-phischen Illusion“ die Entwicklung der „wissenschaftlichen Persönlichkeit“ von Professorinnen und Professoren als soziale Konstruktion innerhalb von wissenschaftlichen Feldern anhand von berufs-biographischen Interviews zu rekonstruieren.

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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine Besonderheit des Ansatzes von Bourdieu darin liegt, dass er die Reflexion des Verstehensprozesses auch auf die methodische und theoretische Arbeit des Wissenschaftlers ausdehnt, die dieser im Forschungsfeld und an seinem Schreibtisch vornimmt. Akte der Identifizie-rung von Gegenständen, die Klassifizierung von Daten, methodische und analy-tische Instrumente, die Beziehungen zwischen dem Forscher und seinem Ge-genstand sowie die jeweiligen Positionen im sozialen Raum und innerhalb eines Wissenschaftsfeldes gilt es kritisch zu beleuchten. Wissenschaftler sind nach Bourdieu ebenfalls im sozialen Raum ihrer Lebenslagen zu verorten sowie in-nerhalb des Wissenschaftsfeldes je nach der von ihnen erreichten sozialen Posi-tion, so dass ihre Denk-, Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsmuster ebenfalls Produkt spezifischer Existenzbedingungen sind. Bourdieu fordert dazu auf, sich darüber klar zu werden, in welcher Weise in die wissenschaftlichen Werkzeuge und Operationen das soziale und intellektuelle Unbewußte von Wis-senschaftsgemeinschaften eingegangen ist, um auch die wissenschaftliche Pra-xis selbst aufzuklären (vgl. Wacquant 1996: 62ff.). Das Verstehenskonzept, das Bourdieu in seinen Arbeiten konzipiert hat, stellt hohe Anforderungen an die Forschenden, da es nicht nur die Erforschten als Akteure in einem sozialen Feld betrachtet, sondern den reflexiven Rückbezug der Erkenntnisse auf ihre Entste-hungsbedingungen fordert. Diese Form der Selbstreflexion der Wissenschaft zielt darauf, sich des biographisch, geschlechtlich, kulturell, sozial und histo-risch begrenzten eigenen Standortes im sozialen Raum und des daraus resultie-renden Denkhorizontes bewusst zu werden, um die Grenzen des Denkbaren zu erkennen und zu erweitern.13

3 Reflexive empirische Forschung in der Erziehungswissenschaft Welche Bedeutung haben diese Überlegungen zum Verstehen für eine reflexive empirische Forschung in der Erziehungswissenschaft? Die erziehungswissen-schaftliche Forschung bemüht sich um ein umfassendes Verstehen von Men-schen im Kontext ihrer sozialen, kulturellen und historischen Bezüge und fragt zudem nach der subjektiven biographischen Verarbeitung der jeweiligen Le-benslage und des Lebens mit seinen diversen Anforderungen. Die wissenschaft-liche Grundlagenforschung hat mit den rekonstruktiven Verfahren der qualitati-

13 Exemplarisch sei noch einmal auf die Geschlechterforschung verwiesen, die gegenwärtig die Konstruktion der Kategorie Geschlecht nicht nur in den Alltagspraxen, sondern auch innerhalb ihrer eigenen wissenschaftlichen Zugänge und theoretischen Konzepte selbstkritisch reflektiert. Vermut-lich bedarf es dazu kollektiver Anstrengungen und eigener Diskurse, um diese Form der Reflexivität zu entwickeln und neue Paradigmen zu etablieren.

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ven Sozialforschung ein methodisches Instrumentarium entwickelt, das sowohl biographische Prozessstrukturen des Einzelnen (vgl. Schütze 1996; Krüger/ Marotzki 1999) wie auch Gruppenprozesse, soziale Milieus und Generationen-lagen (vgl. Bohnsack 1997 und 1999; Alheit et al. 1999) zu analysieren in der Lage ist. Wenn wir jedoch die von Bourdieu geforderte Reflexivität im For-schungsprozess weiterdenken und auf den Umgang mit den Forschungsergeb-nissen ausweiten, dann geraten auch die Praxisforschung sowie der Verwen-dungszusammenhang einer praktischen Pädagogik in den Blick. Denn die Er-ziehungswissenschaft muss sich auch mit der Frage der Anwendung ihrer Er-kenntnisse in der pädagogischen Praxis reflexiv auseinandersetzen, und damit verschärfen sich die Probleme. Das sich damit eröffnende Analysefeld kann am Ende dieses Beitrages nur noch skizziert werden, um weitere Debatten und Forschungen anzuregen. Zwei Problemfelder stehen dabei im Zentrum der Be-trachtung. Erstens: das Problem der Konstruktion von Wirklichkeit im wissen-schaftlichen Text. Zweitens: das Problem sozialpädagogischen Verstehens in der Koppelung von empirischer Fallanalyse als Instrument der pädagogischen Diagnose und der sich daraus ableitenden pädagogischen Intervention.

Widmen wir uns also zunächst dem ersten Problem und der Frage: Was ge-schieht mit den Forschungsdaten auf ihrem Weg zur wissenschaftlichen Publi-kation? Die in der Postmoderne produzierte „radikale Pluralität“ in der Betrach-tung der Welt schließt auch die Wissenschaft ein, so dass sich einige wissen-schaftliche Krisen aus dieser Neubetrachtung der Beziehung des Forschenden zu seinem Gegenstand ergeben haben. Nach den Analysen von Lyotard verlieren in der Postmoderne die großen Erzählungen (z.B. auch die Hermeneutik des Sinns, die Emanzipation des vernünftigen oder arbeitenden Subjekts) ihre Glaubwür-digkeit (Lyotard 1994: 112). Hinzu kommt, „daß es auch andere Wege, Modelle und Orientierungen von gleicher Legitimität gibt“; dies fordert heraus zur grundsätzlichen „Anerkennung des Anderen in seiner Andersheit“ (Welsch 1994: 37). Zu ihrer Anerkennung kommt es auf Grund der relativ einfachen Schlüsselerfahrung, dass ein und derselbe Sachverhalt in einer anderen Sicht-weise sich völlig anders darstellen kann und dass diese andere Sichtweise doch ihrerseits keineswegs weniger Legitimität besitzt als die erstere – nur eine ande-re, die aus einer anderen Position resultiert. Dadurch kommt es zur Pluralisie-rung der „Wahrheit“ (vgl. Welsch 1997: 5). Fragen der wissenschaftlichen Au-torität, Macht- und Herrschaftsbeziehungen und eingeschränkten Perspektiven (z.B. auch Ethnozentrismus, Eurozentrismus und Androzentrismus) führen zu einem Repräsentationsproblem und münden in die Frage: Wessen Wirklichkeit wird wie in der Studie repräsentiert? (vgl. Berg/Fuchs 1993) Die Entlarvung der Subjektivität und Poesie des Geschriebenen untergräbt die Autorität des Ethnog-raphen und seinen Anspruch auf Objektivität (vgl. Geertz 1993). Die Kritik am

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Anspruch auf Allgemeingültigkeit durch die Verallgemeinerung kulturell über-formter Ergebnisse führt zu Diskussionen über die Standort- und Perspektiven-gebundenheit wissenschaftlicher Erkenntnisse. Die Vorstellung einer universa-len, intersubjektiven Sicht auf andere Menschen wird ebenso in Zweifel gezo-gen wie der Glaube an eine objektive Darstellung in einem wissenschaftlichen Text. Die bisherigen Ausführungen machen deutlich, dass die Analysekatego-rien und wissenschaftlichen Erkenntnisse an einen historischen, sozialen, kultu-rellen und theoretischen Standort sowie an ein spezifisches wissenschaftliches Feld geknüpft, von Machtbeziehungen durchzogen und relativ sind. Diese wis-senschaftlichen Diskussionen der vergangenen Jahre verunsichern somit den Glauben an eine prinzipiell höhere Rationalität und Validität (erziehungs-) wis-senschaftlichen Verstehens, indem sie das Bewusstsein für die Konstruiertheit der Gegenstände, die Pluralität des Wissens sowie die Begrenztheit und Spezifik der eigenen Erkenntnisse geschärft haben. Diese interdisziplinären Diskussions-linien, die auch innerhalb der Erziehungswissenschaft einen neuen Problemhori-zont geschaffen haben (vgl. Wimmer 2002), treffen sich mit der Argumentation und Forderung von Bourdieu nach Reflexivität – auch wenn Bourdieu allen postmodernen Formen der Reflexivität sehr kritisch gegenübersteht (vgl. Wac-quant 1996: 63) – und unterstützen das hier skizzierte Projekt einer reflexiv-empirischen Forschung in der Erziehungswissenschaft. Dieser Beitrag bemüht sich um die Herstellung eines reflexiven Horizontes für ein solches Programm, das in empirischen Projekten seine Nützlichkeit immer wieder neu konkretisie-ren und zur Diskussion stellen muss.

Wenden wir uns nun dem Problem des Verstehens im pädagogischen Pra-xisfeld zu. Hier dienen empirische Fallanalysen der pädagogischen Diagnose, Qualitätsentwicklung und Evaluation; aus den empirischen Erkenntnissen sollen dann häufig auch wissenschaftlich abgesicherte pädagogische Interventionen abgeleitet werden. In diesem Zusammenhang haben die Verfahren rekonstrukti-ver Sozialforschung in unterschiedlichen Praxisfeldern von der Sozialpädagogik bis zur Erwachsenenbildung zur methodischen und theoretischen Fundierung sowie zur Evaluation pädagogischen Handelns enorm an Bedeutung gewonnen (vgl. Mollenhauer/Uhlendorff 1992 und 1995; Uhlendorff 1997; Jakob/von Wensierski 1997; Peters 1999). Die von Bourdieu eröffnete Perspektive auf das Verstehen kann bei diesen Forschungskonzepten den Blick dafür schärfen, dass die Produktion von Sinn und Bedeutung gebunden ist an einen sozialen, kultu-rellen und historischen Standort und die sich daraus ergebenden Perspektiven im

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umfassenden Sinne.14 Als Postulat ergibt sich daraus, Mehrperspektivität für ein umfassendes Verstehen fruchtbar zu machen und sich mit der prinzipiellen Fremdheit zwischen Klienten und Professionellen reflexiv auseinanderzusetzen (vgl. Jakob 1999: 111). Eine von Bourdieu inspirierte Reflexivität erziehungs-wissenschaftlicher Forschung umfasst verschiedene Dimensionen: Zum einen bei der Analyse von menschlichem Denken und Handeln den Kontext der sozia-len Verhältnisse, kulturellen und institutionellen Prägungen sowie biographi-schen Selbstdeutungen zu erfassen und in der Darstellung zur Geltung zu brin-gen, ohne den Bedeutungszuschreibungen und dem subjektiven Sinn lediglich zu folgen oder dem Untersuchungsgegenstand vorschnelle Kategorisierungen und Stigmatisierungen überzustülpen. Stattdessen sollte jeder Verstehensprozess vom Missverstehen ausgehen und die Lebenswelten und biographischen Rele-vanzen intensiv forschend erkunden, um die jeweilige soziale Logik des Han-delns einbeziehen zu können. Zum anderen zu sehen, dass sich auch bezogen auf einen „Fall“ und innerhalb eines untersuchten Feldes differente Perspektiven finden lassen, die es einzubeziehen gilt, um ein umfassendes Bild zu zeichnen und eigene unreflektierte Deutungen zu prüfen und zu korrigieren.15 Dazu ge-hört auch die Reflexion der Interpretationsraster und Deutungsfolien der Profes-sionellen in ihrer biographischen Einbettung (vgl. Jakob 1999: 107) sowie bezo-gen auf die jeweilige soziale Logik und den fachspezifischen Habitus des Pra-xisfeldes (vgl. Thole/Küster-Schapfl 1997). Während bei diesem Verstehens-konzept zunächst der Fokus radikal auf eine analytische Durchdringung des Untersuchungsgegenstandes gerichtet wird, sollten die Scheinwerfer der Er-kenntnissuche – sofern sie den Postulaten einer reflexiven Forschung folgen – nicht zuletzt auch die Interpreten und das wissenschaftliche Feld beleuchten.

Eine reflexive empirische Forschung ist aufgefordert, die schreibende Pro-duktion des Bildes der Anderen zu thematisieren sowie die in den Forschungs-prozess eingeschriebenen sozialen Beziehungen (auch von Macht und Herr-schaft) zu beleuchten.16 Hinzu kommen: die Analyse der eigenen persönlichen Perspektiven, biographischen oder sozialen Verstrickungen mit dem Untersu-

14 Annedore Prengel arbeitet mit Bezug auf Perspektivitätstheorien heraus, dass es eine perspektivi-sche Bedingtheit der Erkenntnis gibt, so dass wir je nach gewählter Perspektive etwas völlig Ver-schiedenes wahrnehmen, und diskutiert die Folgen für die pädagogische Forschung (vgl. Prengel 1997: 605). 15 Lindemann kritisiert in seiner Untersuchung von Gutachten, die beispielsweise zur Begründung der Fremdplatzierung eines Kindes herangezogen werden, dass der Begutachtungsvorgang selbst und die gutachterlichen Voraussetzungen ebenso im Dunkeln bleiben wie die empirische Basis für die Interpretationen und Empfehlungen und fordert mehr Explikation (vgl. Lindemann 1999). 16 Auch eine Polyphonie in der Darstellung befreit nicht davon, dass die publizierten Ergebnisse immer das Produkt eigener Erkenntnisprozesse sind und einer wissenschaftlichen Logik folgen (vgl. Friebertshäuser 2003).

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chungsgegenstand sowie die Reflexion der sozialen, kulturellen und historischen Standortgebundenheit der eigenen wissenschaftlichen Erkenntnisse innerhalb eines Wissenschaftsfeldes mit seinen Denktraditionen, Denkverboten, blinden Flecken, Begrenztheiten und Erkenntnishindernissen. Wissenschaft muss sich also mit ihrer Tendenz zur vorschnellen Klassifizierung, Kategorisierung und Ausblendung des Eigensinns des Anderen sowie mit ihrer Autorität und Macht im Interpretieren und Präsentieren von Forschungsergebnissen kritisch und reflexiv auseinandersetzen. Wie kann man diesen Herausforderungen in der empirischen Forschung begegnen? Die Darstellung und kritische Diskussion des Forschungsprozesses sowie die mehrperspektivische kommunikative Auseinan-dersetzung mit den Forschungsergebnissen schaffen die Voraussetzung für eine reflexive empirische Forschung, die sich und andere über die Grenzen ihrer Erkenntnismöglichkeiten aufklärt und damit Möglichkeiten für diskursive Ref-lexionen eröffnet. Auch für die Praxisforschung verspricht dieses analytisch-reflexive Verstehenskonzept einen erweiterten Interpretationshorizont zu eröff-nen, indem die enge Verzahnung zwischen Theorie, Empirie und Praxis kritisch beleuchtet wird. Denn aus der Annahme, den anderen mit seinen Problemlagen, Anliegen und Relevanzen verstanden zu haben und einer unreflektierten Sicher-heit im Urteil, resultieren in der pädagogischen Praxis häufig Interventionsmaß-nahmen von hoher biographischer Relevanz für die Betroffenen.

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