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36 hlz – Zeitschrift der GEW Hamburg 10-11/2013 REFORMPÄDAGOGIK Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile Gespräch mit Stefan Wilken, Lehrer an der Primarschule Rellinger Straße, über jahrgangsübergreifenden Unterricht und individualisiertes Lernen in und an Projekten hlz: Ihr seid eine der übrig gebliebenen Primarschulen und auch, wenn sich das Konzept in Hamburg aus bekannten Grün- den nicht durchgesetzt hat, seid ihr darüber hinaus auch so et- was wie eine Reformschule. Was macht ihr denn anders? Stefan Wilken: Einer der Schwerpunkte ist – und das war damals auch der Grund für mich, weswegen ich mich an dieser Schule beworben habe, … hlz: Du warst an einer koope- rativen Gesamtschule… Stefan Wilken: … dieses jahrgangsübergreifende Lernen. Das ist der zentrale Punkt, glau- be ich. Hier wird wirklich der Schwerpunkt auf Individualität im Lernen gelegt. Es geht auch gar nicht anders. Also, wenn du jahrgangsübergreifend arbeitest, kannst du das klassische Modell, – der lehrerzentrierte Unterricht, d.h.: du erzählst was und du be- dienst alle irgendwie gleichzei- tig – nicht mehr machen, weil der jüngste Viertklässler und die älteste Sechstklässlerin unter- schiedliche Angebote brauchen. Du kannst sie also in der Regel nicht gleichzeitig bedienen. Ist es okay, wenn ich ein biss- chen von mir plaudere? Ich muss immer meine Erfahrungen mit rein bringen. hlz: So war’s gedacht. Stefan Wilken: In meiner vorherigen Schule habe ich be- reits immer mal ein bisschen versucht in diese reformpäda- gogische Richtung zu gehen, habe aber gemerkt, dass es da nicht funktionierte. Als ich dann hierher kam, habe ich gedacht: Okay, jetzt machst du alles ganz anders, jetzt machst du es rich- tig. Da bin ich komplett weg von dem Lehrerzentrierten und habe im Grunde nur noch individua- lisiert gearbeitet. Im ersten Jahr war ich noch Fachlehrer, habe aber dann nach Monaten ge- merkt: „Oh ha, du verlierst den Überblick und du erreichst nicht alle Kinder“. Mittlerweile ist es so, dass ich schätzungsweise 70 Prozent individualisiert arbeiten lasse. Der Rest ist tatsächlich im- mer noch auf die klassische Art. Oder sagen wir mal: klassisch im Sinne einer Methode, bei der alle gemeinsam an einer Sache arbeiten oder zumindest in einer größeren Gruppe. hlz: Du unterrichtest Ma- thematik. Kannst du an deinem Fach konkretisieren, was das in Hinblick auf individualisiertes Lernen bedeutet? Stefan Wilken: Vielleicht kann die Praxis von heute dies illustrieren. Ich habe eine beson- dere Situation ausgenutzt und zwar haben wir gerade ein Pro- jekt zum Thema Wahlen in Gang gebracht. (Das Interview fand zwei Wochen vor der Bundes- tagswahl statt – JG). Die Schü- ler_innen sind gerade dabei, in kleinen Gruppen loszugehen, um die Bürger_innen nach ihrem Wahlverhalten zu befragen. Den Fragebogen dazu hatten wir im Vorhinein mit den Schüler_innen entwickelt. Drei Gruppen waren unterwegs und zwei Gruppen waren hier, die hatten gestern die Umfrage gemacht. Das heißt, ich habe mit acht Kindern heute an- derthalb Stunden einen Block in Mathe gehabt, davon drei Sechst- klässler. Die arbeiten für sich ge- rade am Thema Bruchrechnung und sind schon ziemlich tief drin im Thema. Es gibt ein Skript, das aus mehreren Teilen besteht. Die Kinder bekommen die Seiten abschnittweise ausgehändigt, da- mit sie nicht allein vom Umfang abschreckt werden. Ich weise sie an, die Arbeitszeit, die ihnen zur Verfügung steht, nachdem wir Organisatorisches geklärt haben, aufzuteilen. Die eine Hälfte am Script, den Rest mit ‚scoyo‘ am Computer, das mit den Inhalten des Skripts abgestimmt ist. hlz: Was ist scoyo? Stefan Wilken: Das ist eine online-Lernplattform. Die Ein- führung in ein Thema geschieht mittels Geschichten, in die der mathematische Aspekt immer eingebunden ist. Auf diese Weise ist immer ein aktueller lebensge- schichtlicher Punkt berührt. Das macht das Ganze anschaulich und lebendig. Aber dann gibt es letztlich auch einen Part, wo es darum geht, mit Übungsaufgaben die reine Technik zu lernen. Dazu das Skript, das sie im Grunde ge- nommen ziemlich kleinschrittig

REFORMPÄDAGOGIK Das Ganze ist mehr als die … · vorherigen Schule habe ich be- ... derthalb Stunden einen Block in Mathe gehabt, ... ich muss jemanden fragen, von dem ich annähernd

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36 hlz – Zeitschrift der GEW Hamburg 10-11/2013

REFORMPÄDAGOGIK

Das Ganze ist mehr als die Summe seiner TeileGespräch mit Stefan Wilken, Lehrer an der Primarschule Rellinger Straße, über jahrgangsübergreifenden Unterricht und individualisiertes Lernen in und an Projekten

hlz: Ihr seid eine der übrig gebliebenen Primarschulen und auch, wenn sich das Konzept in Hamburg aus bekannten Grün-den nicht durchgesetzt hat, seid ihr darüber hinaus auch so et-was wie eine Reformschule. Was macht ihr denn anders?

Stefan Wilken: Einer der Schwerpunkte ist – und das war damals auch der Grund für mich, weswegen ich mich an dieser Schule beworben habe, …

hlz: Du warst an einer koope-rativen Gesamtschule…

Stefan Wilken: … dieses jahrgangsübergreifende Lernen. Das ist der zentrale Punkt, glau-be ich. Hier wird wirklich der Schwerpunkt auf Individualität im Lernen gelegt. Es geht auch gar nicht anders. Also, wenn du jahrgangsübergreifend arbeitest, kannst du das klassische Modell, – der lehrerzentrierte Unterricht, d.h.: du erzählst was und du be-dienst alle irgendwie gleichzei-tig – nicht mehr machen, weil der jüngste Viertklässler und die älteste Sechstklässlerin unter-schiedliche Angebote brauchen. Du kannst sie also in der Regel nicht gleichzeitig bedienen.

Ist es okay, wenn ich ein biss-chen von mir plaudere? Ich muss immer meine Erfahrungen mit rein bringen.

hlz: So war’s gedacht.

Stefan Wilken: In meiner vorherigen Schule habe ich be-

reits immer mal ein bisschen versucht in diese reformpäda-gogische Richtung zu gehen, habe aber gemerkt, dass es da nicht funktionierte. Als ich dann hierher kam, habe ich gedacht: Okay, jetzt machst du alles ganz anders, jetzt machst du es rich-tig. Da bin ich komplett weg von dem Lehrerzentrierten und habe im Grunde nur noch individua-lisiert gearbeitet. Im ersten Jahr war ich noch Fachlehrer, habe aber dann nach Monaten ge-merkt: „Oh ha, du verlierst den Überblick und du erreichst nicht alle Kinder“. Mittlerweile ist es so, dass ich schätzungsweise 70 Prozent individualisiert arbeiten lasse. Der Rest ist tatsächlich im-mer noch auf die klassische Art. Oder sagen wir mal: klassisch im Sinne einer Methode, bei der alle gemeinsam an einer Sache arbeiten oder zumindest in einer größeren Gruppe.

hlz: Du unterrichtest Ma-thematik. Kannst du an deinem Fach konkretisieren, was das in Hinblick auf individualisiertes Lernen bedeutet?

Stefan Wilken: Vielleicht kann die Praxis von heute dies illustrieren. Ich habe eine beson-dere Situation ausgenutzt und zwar haben wir gerade ein Pro-jekt zum Thema Wahlen in Gang gebracht. (Das Interview fand zwei Wochen vor der Bundes-tagswahl statt – JG). Die Schü-ler_innen sind gerade dabei, in kleinen Gruppen loszugehen, um die Bürger_innen nach ihrem

Wahlverhalten zu befragen. Den Fragebogen dazu hatten wir im Vorhinein mit den Schüler_innen entwickelt. Drei Gruppen waren unterwegs und zwei Gruppen waren hier, die hatten gestern die Umfrage gemacht. Das heißt, ich habe mit acht Kindern heute an-derthalb Stunden einen Block in Mathe gehabt, davon drei Sechst-klässler. Die arbeiten für sich ge-rade am Thema Bruchrechnung und sind schon ziemlich tief drin im Thema. Es gibt ein Skript, das aus mehreren Teilen besteht. Die Kinder bekommen die Seiten abschnittweise ausgehändigt, da-mit sie nicht allein vom Umfang abschreckt werden. Ich weise sie an, die Arbeitszeit, die ihnen zur Verfügung steht, nachdem wir Organisatorisches geklärt haben, aufzuteilen. Die eine Hälfte am Script, den Rest mit ‚scoyo‘ am Computer, das mit den Inhalten des Skripts abgestimmt ist.

hlz: Was ist scoyo?

Stefan Wilken: Das ist eine online-Lernplattform. Die Ein-führung in ein Thema geschieht mittels Geschichten, in die der mathematische Aspekt immer eingebunden ist. Auf diese Weise ist immer ein aktueller lebensge-schichtlicher Punkt berührt. Das macht das Ganze anschaulich und lebendig.

Aber dann gibt es letztlich auch einen Part, wo es darum geht, mit Übungsaufgaben die reine Technik zu lernen. Dazu das Skript, das sie im Grunde ge-nommen ziemlich kleinschrittig

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durch die Bruchrechnung führt. Das Ganze muss mit unserem ‚Checklistenprinzip‘ korrespon-dieren, das heißt, wir haben alle Themen der Mathematik in den Jahrgängen 4, 5 und 6, die es laut Rahmenplan gibt, in 42 sol-cher Checklisten – andere sagen mglw. Portfolio dazu – abgebil-det. Diese Checklisten sind im Grunde genommen der Aufga-benpool für die Schüler_innen, mit dessen Hilfe bestimmte Kompetenzen erreicht werden sollen. Dabei müssen sich die Kinder aber nicht alles erarbei-ten. Es ist halt ein Pool. Ziel ist es, beim Kind ein Gefühl der Sicherheit zu schaffen, dass es nach einiger Zeit der Beschäf-tigung mit dem Thema sagen kann: „Jetzt bin ich soweit, dass ich den Test schreiben kann.“

hlz: Also keine Klassenarbeit, die die Kinder unter Druck setzt, auch keine Benotung?

Stefan Wilken: Nein, wenn das Ziel nicht erreicht ist, muss auf bestimmten Feldern eben nachgearbeitet werden. Bis es passt.

hlz: Okay, aber was passiert mit dem Rest der Lerngruppe?

Stefan Wilken: Die Viert-klässler habe ich mir nach vorne geholt und habe mit denen die Punkt vor -Strichregel erarbei-tet – immer in Verbindung mit anschaulichem Material: Fässer auf der Ladefläche von einem Laster u.ä. Schon am Anfang hatte ich gesagt: „Seid beson-ders konzentriert, denn morgen machen wir das Gleiche wieder, wenn die anderen Viertklässler da sind.“ Dann sollen die Viert-klässler von heute einen großen Teil von der Einführung in das Thema übernehmen, also das, was ich heute gemacht habe – natürlich mit meiner Unterstüt-zung. So was bringt viel Spaß, so was kann sehr effektiv sein, aber nicht für jeden. Es gibt trotzdem

immer noch Kinder, bei denen du merkst: die haben es noch nicht begriffen. Aber so ist das im Schulalltag.

hlz: Es gibt also Gewinner und Verlierer in so einem Sys-tem. Welcher Schülertypus hat eher Schwierigkeiten mit dieser Autonomie?

Stefan Wilken: Natürlich gibt es hier auch Verlierer wie in je-dem System. Aber meine Erfah-rung nach den gut drei Jahren ist: es gibt weniger Verlierer! Und selbst diese Kinder kriegen mehr mit als im herkömmlichen Un-terricht, weil sie sich im Grunde genommen, ohne das richtig zu merken, automatisch auch an an-deren orientieren, ohne sich da-bei stigmatisiert zu fühlen. Wenn ich eine Jahrgangsklasse 4 habe, dann ist relativ schnell klar, wer da Leistungsträger ist und wer mit der Sache nicht so gut klar kommt. Wenn sich das aber in 4, 5, 6 immer total mischt, dann kriegt zum Beispiel ein sehr schwacher Sechstklässler das oft gar nicht richtig mit, da er immer noch jemanden findet, nämlich eine Viertklässlerin, der er was

erzählen kann. Das motiviert eben die gerade nicht so Leis-tungsstarken. Das ist für mich ein Kernpunkt.

hlz: Du hast es eben ange-sprochen: Der Sechstklässler – so der Anspruch – versucht der Viertklässlerin was zu erklä-ren. Wie stark wird dies von den Schüler_innen eingelöst?

Stefan Wilken: Es gibt eine Menge Schüler_innen, die das richtig gut auf die Reihe krie-gen. Das ist dann für mich auch eine Entlastung. Es gibt hier so eine Art Regel: Bevor du den/die Lehrer/in fragst, musst du erst mindestens zwei andere Schüler_innen gefragt haben. Je mehr ich das einhalte, desto bes-ser. Das ist nicht immer einfach. Denn oft fragen die Kinder nicht die, die ihnen helfen könnten. Also: dieses Gespür dafür zu bekommen: ich muss jemanden fragen, von dem ich annähernd weiß, dass er weiter ist als ich - das kriegen manche nicht auf die Reihe. Wenn da viele Sachen stimmig sind, dann ist es ein richtig gutes Konzept. Aber ge-nau das ist halt auch ein Teil der

Ein richtig gutes Konzept mit weniger Verlierern

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Prozesse, die hier laufen und die brauchen einfach auch Zeit. Da kann man nicht sagen: „Heute geht es los und in sechs Mona-ten ist das ganz toll.“ Das muss wachsen.

hlz: Nun gibt es ja in der Ma-thematik im Vergleich zu anderen Fächern klarere Strukturen und Essentials, die abgearbeitet wer-den müssen. In anderen Fächern sind die Fragen offener und die Antworten oft nicht so eindeu-tig wie in der Mathematik. Der projektorientierte Ansatz soll dieser Komplexität ja Rechnung tragen. Ist die Projektauswahl nicht insofern ein Problem, als sie mehr oder weniger zufällig ist? Lernen die Kinder auf diese Weise nicht wahllos? – Wo bleibt die curriculare Struktur?

Stefan Wilken: Am Anfang war es tatsächlich nicht einfach. Wir haben uns den Bildungsplan vorgenommen und uns gefragt: „Was sind eigentlich die Vor-gaben?“ Dann haben wir uns angeguckt: Welche Fächer flie-ßen eigentlich in diese auf fünf Doppelstunden pro Woche kon-zipierten Projekte ein? Wir ha-ben uns also einen groben Plan

gemacht, wie wir das einzeln abarbeiten wollen. Völlig klar ist aber, dass es natürlich nicht so sein kann, dass man sagt: „Okay, Geschichte geht mit in diesen Projektunterricht.“ Dann guckt man sich den Rahmenplan Geschichte an, darin stehen die unterschiedlichen Themen, die pro Jahrgang abgearbeitet wer-den sollen und man stellt fest, dass das ja gar nicht als Projekt unterrichtet werden kann, denn für Jahrgang 4 sind es andere Themen als für Jahrgang 5 und 6. Es kommt aber ein nicht un-bedeutender anderer Aspekt zum Tragen: Was bringen wir eigent-lich im Lehrer_innenteam mit an Talenten und Qualitäten zu be-stimmten Themen? Wenn es um Technik und Physik und Mathe geht, kann ich naturgemäß i.d.R. mehr einbringen als Leute, die Geschichte studiert haben oder die aus dem gesellschaftswissen-schaftlichen Bereich kommen. Die setzen andere Impulse, ge-nauso wie die, die die künstleri-schen Fächer vertreten. Also auf das Zusammenspiel der Profes-sionen kommt es an. Das Team produziert als Ganzes mehr als die Summe seiner Teile. Und wir berücksichtigen: Wie ist gerade

die Jahreszeit? Wie ist gerade die Stimmung? Was ist gerade ak-tuell? Jetzt haben wir das beste Beispiel: Die Bundestagswahlen sind am 22. September. Wir ha-ben den Auftrag der politischen Bildung! Selbst in Klasse 4 – ein hoher Anspruch, warum aber nicht? Im Rahmen eines Projek-tes muss das möglich sein. Dann wird das zusammengebastelt, natürlich alles immer unter enor-mem Zeitdruck. Dazu probieren wir diesmal eine so genannte ‚story line‘-Methode aus.

hlz: Ein hoher Anspruch an Teamarbeit also. Und was ist ‚story-line‘?

Stefan Wilken: Die Methode – ich versuche es knapp zu ma-chen – war für mich auch neu. Sie funktioniert so, dass man im Grunde genommen parallel zu der realen Wahl eine Geschichte aufbaut, in der das einzelne Kind eine Figur für sich entwickelt, die es dann in der gemeinsam entwickelten Story ‚spielt‘. Im Vorfeld gehören dazu eine Ein-führung durch den/die Lehrer_in, dann ein Brainstorming. Auf einer mind-map werden Wis-senssprengsel, werden Begriffe gesammelt und sortiert – bes-tenfalls entsteht schon so etwas wie eine Struktur. Dann geht es darum, einen Fragebogen zu er-stellen.

Schwerpunktmäßig wollen wir aber darauf hinaus, dass die Kinder sich irgendwann mit ei-nem Charakter identifizieren, mit einer Person also, die ein be-stimmtes Äußeres hat, bestimm-te Klamotten trägt und eine bestimmte Einstellung hat, an bestimmte Orte geht, also einen ganz bestimmten Wähler_in-nentyp oder Politiker_innentyp darstellt.

Ein hoher Anspruch, der darü-ber hinaus – und wir hoffen, dass dies die Sache erleichtert – als Steckbrief konkret dargestellt werden soll. Danach soll das gleiche mit den Kandidaten einer

Das Logbuch – nicht die Heilige Schrift, aber hier wird von den Schüler_innen dokumentiert, was gemacht wurde

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Partei stattfinden. Das Ganze soll in einer Parteigründung münden, die Wahl eines/r Parteivorsit-zenden eingeschlossen, mit der dann auch die Aufstellung eines Wahlprogramms verbunden sein muss. So ausgerüstet, sollen die Kinder die Bürger_innen im Stadtteil nach ihren Problemen befragen, von denen sie meinen, dass die Politiker sie lösen kön-nen.

In der Hochphase sollte der ‚Parteivorsitzende‘ eine Wahl-kampfrede halten. Wir wollen die sieben Lerngruppen der Unterstufe in zwei Wahlkreise aufteilen und dann eine Wahl stattfinden lassen. Bei der Aus-wertung kommt dann natürlich wieder die Mathematik ins Spiel. Säulen- und Tortendiagramme können erstellt werden. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung kann man dann der Realität be-gegnen. Deutschland ist in 299 Wahlkreise unterteilt, Hamburg hat sechs davon. Es gibt den Be-zirk Eimsbüttel als Wahlkreis. Wie viele Einwohner gibt es ei-gentlich in den einzelnen Berei-chen? Wie viele Wahlberechtigte gibt es? Und wie viele gehen eigentlich davon zur Wahl? Und dann rückbesinnt man sich auf die letzte Wahl 2009. Wie war eigentlich die Wahlbeteiligung insgesamt, wie in Eimsbüttel im Vergleich zur vorherigen Wahl?

Ich habe das Original eines Stimmzettels mitgebracht. Ich konnte also zeigen, welche Par-teien hier in Eimsbüttel gewählt werden können. Dann sind die Kinder darauf gestoßen, dass links, bei der Spalte für die Erst-stimme, nur ein Name steht, aber keine Partei. Daraufhin ein Schüler: „Ja, das ist der Marko Scheffler, der wohnt bei mir ge-genüber, der hat hier die Knei-pe 040. Also er ist eine Partei, „Mensch macht Politik“ heißt die, glaube ich. Diese Verknüp-fungen der Erfahrungen aus der lebensnahen Umwelt der Schü-ler_innen mit den großen The-men herzustellen, das ist es, was

wir eigentlich wollen.

hlz: Dieses war nun ein Bei-spiel aus dem Bereich Gesell-schaft. Ich weiß aber, dass ihr auch im naturwissenschaftlichen Bereich positive Erfolge erzielt habt.

Stefan Wilken: Das war bspw. das Thema „Bewegung und Konstruktion“. Da lag der Schwerpunkt im physikalischen Anteil. Es sollte ein Fahrzeug gebaut werden, dass innerhalb einer bestimmten Zeit eine Stre-cke von einer bestimmten Länge zurücklegen sollte, ohne dass es auseinanderfällt oder dass es zur Seite fährt. Dies wurde Schritt für Schritt untersucht: Wie ist es eigentlich, wenn Fahrzeuge un-terschiedlich schwer sind? Was hat es eigentlich für ein physika-lisches Verhalten?

Das Besondere: Wir haben auch einen Roboterprojekttag angeboten, der von Studenten der TU Harburg durchgeführt wurde. Dieses Projekt im Projekt hieß „Roberta“ und wollte speziell bei Mädchen ein höheres techni-sches Verständnis erzeugen. Die Kinder bekamen nur eine klitze-kleine Einführung, also wirklich nur, worum es im Groben geht und haben dann praktisch bauen sollen. Da war natürlich erst ein-mal die Unsicherheit: Ich habe hier eine Anleitung vor mir und

muss jetzt daraus ein funktionie-rendes, nicht gerade unkompli-ziertes Gerät bauen. Verbunden mit Elektronik, mit Sensoren, also die ganze Technik, wie sie auch in der Realität verwendet wird. Schließlich mussten dann verschiedene Aufgaben damit bewältigt werden. Versuch und Irrtum eben – das ist der Weg zur Erkenntnis!

hlz: Gilt das auch für die Leh-rer_innen?

Stefan Wilken: In gewisser Weise ja. Da ist zunächst die Idee und wir haben eine unge-fähre Zeitvorstellung. Wenn man glaubt, dass das so ähnlich läuft wie die Planung im traditionel-len Sinn, sagen wir mal für das Fach Geschichte in Klasse 6, für das tausend Hefte, Filme und anderes Material zur Verfügung stehen, kann man daraus sicher-lich ein gutes Konzept entwi-ckeln. Es gibt einen Anfang, du hast eine Mitte, du hast ein Ende und wenn du gut bist, gelingt es dir, einen Spannungsbogen her-zustellen. Alle Kinder machen in der Regel alles gleichzeitig – jede/r so ein bisschen auf seine/ihre Art. Das kannst du machen und das ist bestimmt auch nicht schlecht. Wenn du aber eine Pro-jektgeschichte größer aufbläst, dann weißt du vorher noch gar nicht, was da alles passiert. Das

Auf dem Weg zur story: Lehrereinführung – Brainstorming – mind-map

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aber ist das Reizvolle, eine wahn-sinnige Herausforderung! Das ist allerdings zunächst einmal ziem-lich arbeitsintensiv. Und es ist unsicherer. Du hast ein Konzept, du hast ungefähr eine Richtung, bleibst flexibel, weißt aber nicht, ob das morgen nach rechts oder nach links ausschert. Das heißt, du lernst im Grunde genommen ständig mit den Schüler_innen. Ich glaube, dass es das ist, was bei den meisten Schüler_innen diesen Kick auslöst. Und das ist der große Unterschied zu nor-malem, themenbasiertem Unter-richt. Der muss nicht schlecht sein, aber das andere ist viel spannender und da passieren Sachen bei den Kindern – das merkst du nur in der Situation selbst –, die du nie für möglich gehalten hättest. Also das Gan-ze funktioniert nicht so: diesen Aspekt nehme ich mit rein, ich möchte , dass alle Kinder das mitnehmen und dann kann ich das nachher mit einem Test ab-fragen, sondern da passiert plötz-lich mglw. am letzten Tag eines Projektes etwas – zum Beispiel beim Mittelalter-Markt, hier auf dem Abenteuerspielplatz –, so dass wir gemerkt haben: „Ey, die haben die Bedeutung von Geld plötzlich verstanden“. Sie haben eine bestimmte Dienst-leistung erbracht, für die sie Geld bekommen haben, mit dem

sie dann auf dem Markt Sachen einkaufen konnten. Irgendwann war das Geld weg und ihnen war klar: Ich kriege jetzt auch nicht einfach was, hier gibt es keine Bank oder so, sondern ich muss im Grunde erst wieder arbeiten, was aber nicht mehr möglich war. Sie stellten also fest, dass sie pleite waren. Was haben sie gemacht? Sie haben die Sachen wieder verkauft und von dem Erlös sich Dinge gekauft, die für sie interessanter waren. Ich mei-ne: realistischer geht es nicht! Das kannst du nicht im Klassen-zimmer anhand von Texten oder Bildern rüberbringen.

hlz: Nun stelle ich mir vor, dass am Anfang so eines Projekts viele Kinder euphorisch dabei sind, dass es aber auch Durst-strecken gibt, weil nicht immer alles so aufregend sein kann. Gibt es in solchen Projekten auch Phasen, in denen repetitiv gearbeitet werden muss, damit bestimmte Kulturtechniken ein-geübt werden können?

Stefan Wilken: Das ist von Projekt zu Projekt sehr unter-schiedlich. Es gibt Projekte, die sehr frei sind und in denen die Schüler_innen größtenteils kre-ativ, also gestalterisch arbeiten und bei denen der Schwerpunkt nicht darauf liegt, ständig Er-

gebnissicherung zu machen, also schriftlich Abzuheftendes zu produzieren, um es dann abzu-fragen. Es gibt aber andere Pro-jekte, bei denen das mehr in den Vordergrund rückt.

Ich persönlich versuche im-mer, parallel ein Skript in der Hinterhand zu haben. Das heißt, zu einem bestimmten Thema suche ich Inhalte zusammen, zu denen ich sage: Okay, das ist etwas, woran sich jetzt Kinder, die nicht so den Einstieg finden und/oder die überhaupt Struktu-ren und Vernetzungen nicht so auf die Reihe kriegen, festhalten können, also eine Art Halt, einen Leitfaden. Damit bin ich gut ge-fahren. Das machen andere an-ders, die haben vielleicht mehr Kompetenzen, so dass das gar nicht passiert, dass Kinder dann irgendwann sagen: „Ich verstehe das alles gar nicht.“ Ich verweise dann auf das Skript. „Okay, ar-beite doch erst mal ein paar Sei-ten durch und dann gucken wir einfach mal weiter.“ Damit habe ich gute Erfahrungen gemacht. Die Kinder kriegen auf diese Weise bestenfalls die Kompe-tenz, die Probleme eigenständig zu lösen.

hlz: Inwieweit korrespondiert denn diese Eigenaktivität mit an-derem Kompetenzerwerb, bspw. dem Lesen?

Stefan Wilken: Die Lern-ausgangslagenuntersuchung, gerade die letzte für die Relli, hat gezeigt, dass wir im Be-reich Lesekompetenz über dem Durchschnitt der gymnasialen Ergebnisse liegen. Das hat ganz viele Menschen verwundert. Die haben dann eine extra Sitzung einberufen, wo Petra Stumpf

hlz: …die Schulleiterin…

Stefan Wilken: … auch war und haben versucht zu analysie-ren, woran das liegen kann. Man ist dann zu dem Schluss gekom-men, dass es wohl größtenteils an Montägliche Morgenrunde: Drei Jahrgänge gemixt im munteren Plausch

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unserer Projektarbeit liegt, weil Deutsch immer ein wesentlicher Bestandteil ist. Informationen kann man sich ja nur dadurch holen, dass man jemandem zu-hört, dass man etwas fragt oder man muss Dinge lesen, entweder Dinge, die auf einem Papier ste-hen oder man forscht im Internet oder man guckt in eine online-Bibliothek oder in ein Lexikon oder in irgendwelche Sachbü-cher. Das ist ein zentrales Ele-ment. Die, die Leseschwierigkei-ten haben, merken es natürlich, weil sie nicht ausreichend vor-ankommen. Die müssen dann noch anders gefördert werden, aber die allermeisten merken gar nicht, dass sie eigentlich ständig suchen, filtern und lesen müssen – häufig eben auch am Computer – und dabei lernen.

hlz: Das setzt voraus, dass es einen entsprechenden Zugang zu den Computern gibt.

Stefan Wilken: Ja, den gibt es und dies ist Teil des Konzep-tes, dass es nicht wie an vielen anderen Schulen ein oder zwei Computerräume gibt, die du eine gewisse Zeit in der Woche zur Verfügung hast, in die du mit der ganzen Klasse reingehst und dann 45 oder 90 Minuten drin bist, sondern jeder Lerngrup-penraum ist mit mindestens vier, eher fünf oder sechs Computern ausgestattet, die im Alltag völ-lig selbstverständlich eingesetzt werden. Am Ende von Klasse 6, behaupte ich, ist es wirklich bei fast allen Kindern so, dass der Computer hier in der Schule ein alltägliches Arbeitsgerät ist.

hlz: Das hört sich ja alles toll an. Es scheint aber mit einem großen Arbeitsaufwand verbun-den zu sein. Als Gewerkschafts-zeitung interessiert uns natürlich auch das. Du hast beide Systeme jetzt kennengelernt. Bei welchem ist die Arbeitsbelastung höher?

Stefan Wilken: Im Grun-

de genommen arbeite ich noch mehr als vorher. Dabei woll-te ich eigentlich aus dem alten System raus in der Hoffnung, dass ich weniger zu tun habe. Aber der Zufriedenheitsfaktor bei dem, was ich jetzt tue, ist um ein Mehrfaches höher als vorher. Jedes Kind ist in der Lage, im re-lativen Bezug zu seinem eigenen Vermögen etwas aufzunehmen. Das heißt eben nicht, dass Me-lanie genauso viel gelernt hat wie Hans. Aber Melanie hat im Vergleich, wenn sie im anderen Schulsystem wäre – das behaup-te ich jetzt mal aus meiner Er-fahrung – mehr mitbekommen. Im Laufe der Jahre, denke ich, addiert sich das und führt ganz einfach zu mehr Zufriedenheit. Denn wenn sie merkt, dass sie ganz gut mitkommt, dann ist sie motivierter beim nächsten The-ma.

Aber noch einmal zur Belas-tung: Mal abgesehen von der Lehrerarbeitszeitverordnung, die uns ja sowieso für die einzelnen Sachen, die wir leisten, nicht unbedingt angemessen entlohnt, packen wir alle noch drauf. Und das ist hier völlig klar, das ist auch Konsens. Im Grunde ge-nommen wissen das auch Leute, die sich an dieser Schule bewer-ben. Das wird denen vielleicht nicht so direkt gesagt, aber hier kommen kaum Leute, die ins Telefonbuch geguckt haben

und sagen: „Ach, da bewerbe ich mich mal.“ Es funktioniert durch Mundpropaganda oder es kennt jemand eine(n), die/der jemanden kennt. Die Bewer-ber_innen wissen also bereits, wie das hier läuft und sie wis-sen: Wenn man das Konzept gut findet, merkt man ganz schnell, was es mit einem macht. Man ist eben auch belastbarer, wenn das, was man macht, einen zu-friedenstellt. Jeder zieht dann für sich die Grenze. Der eine etwas früher, der andere etwas später. Es passiert, dass man seine eige-ne Gesundheit oder sein eigenes Privatleben darüber ein bisschen vergisst. Dann geht es einem manchmal schlecht. Damit muss man lernen umzugehen. Auch das können einige besser, ande-re schlechter. Ich behaupte aber: Wenn man hier jeden einzelnen Kollegen oder jede Kollegin fragt, kommt unterm Strich bei allen raus: Ich arbeite hier gerne, weil ich merke, dass die Kinder im Vergleich zu den Erfahrun-gen, die ich vorher gemacht habe, viel zufriedener sind, viel mehr lachen, viel bereiter sind, sich auf Dinge einzulassen, ein-fach freier sind.

hlz: Was will man mehr! Ich

danke für das Gespräch.

Erläuterung der Arbeisaufträge - auch der Lehrervortrag gehört dazu