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Hartwich/Wewer (Hrsg.) Regieren in der Bundesrepublik n Formale und informale Komponenten des Regierens

Regieren in der Bundesrepublik II: Formale und informale Komponenten des Regierens in den Bereichen F¼hrung, Entscheidung, Personal und Organisation

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Hartwich/Wewer (Hrsg.) Regieren in der Bundesrepublik n Formale und informale Komponenten des Regierens

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Hans-Hermann Hartwich Götlrik Wewer (Hrsg.) unter Mitarbeit von Lars Kastning

Regieren in der Bundesrepublik 11 Formale und informale Komponenten des Regierens in den Bereichen Führung, Entscheidung, Personal und Organisation

Beiträge von Klaus von Beyme, earl Böhret Andreas von Bülow, Hans-Ulrich Derlien Peter Haungs, Rainer Koch Klaus König, Herfried Münkler Axel Murswieck, Wolfgang Rudzio Bernhard Vogel u.a.

Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 1991

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Eine Erstfassung der in diesem Band versammelten Beiträge konnte auf dem 2. interdisziplinären Symposium der Sektion Regierungssystem und Regieren in der Bundesrepublik Deutschland der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) vom 14. bis 16. Juni 1990 in der Hochschule für Ver­waltungswissenschaften in Speyer diskutiert werden. Das Symposium wurde dankenswerterweise von der Fritz Thyssen Stiftung gefOrdert.

ISBN 978-3-8100-0909-8 ISBN 978-3-663-11269-3 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-11269-3

© 1991 Springer Fachmedien Wiesbaden Ursprünglich erschienen bei Leske Verlag + Budrich GmbH, Opladen 1991

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außer­halb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere rur Vervielfiiltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Inhalt

I. Einführung und Begrifflichkeit .......................................... 7 Göttrik Wewer, Spielregeln, Netzwerke, Entscheidungen -auf der Suche nach der anderen Seite des Regierens ...................... 9 Klaus von Beyme, Informelle Komponenten des Regierens ............... 31 Herfried Münkler, Staat und Regieren - formales Regierungssystem und informelles Regieren in Ideengeschichte und Staatstheorie .......... 51 Lars Kastning, Informelles Regieren - Annäherung an Begrifflichkeit und Bedeutungsgehalt ........................................................... 69

11. Regieren und Führung .................................................... 79 Axel Murswieck, Führungsstile in der Politik in vergleichender Perspektive .. ........... ......... ...... ... ...... ..... ..... ........... ....... ...... 81 Bernhard Vogel, Formelle und informelle Komponenten des Regierens -Erfahrungen aus der Praxis .................................................... 97

111. Regieren und Entscheidung............................................. 111 Peter Haungs, Parteipräsidien als Entscheidungszentren der Regierungspolitik - Das Beispiel der eDU ........................ :.. 113 Wolfgang Rudzio, Informelle Entscheidungsmuster in Bonner Koalitionsregierungen ............................................................ 125 earl Böhret, Entscheidungsorientierte Regierungslehre ................... 143 Rainer Koch, Politikeinfluß im Entscheidungsverhalten höherer Verwaltungsbediensteter ............................................... 155

IV. Regieren und Personal .................................................... 169 Hans-Ulrich Derlien, Der Staatsaffinität der Exekutivpolitiker der Bundesrepublik - Zur Bedeutung der Bürokratie als Sozialisationsfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 171 Andreas von Bülow, Parlamentarische Staatssekretäre - Karrieremuster und Zufälligkeiten im Rückblick eines Politikers ........................... 179

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v. Regieren und Organisation ............................................... 191 Göttrik Wewer, Die funktionale Notwendigkeit informeller Gremien für das Regieren in der Bundesrepublik - diskutiert am Beispiel der Perso-nalrekrutierung für das Bundesverfassungsgericht ......................... 193 Klaus König, Formalisierung und Informalisierung im Regierungszentrum .......................................................... 203

Über die Autoren ................................................................ 221

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I. Einführung und Begrifflichkeit

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Spielregeln, Netzwerke, Entscheidungen -auf der Suche nach der anderen Seite des Regierens

Göftrik Wewer

1. Regelgeflecht und Regierungspraxis

Was in Bonn die Spatzen von den Dächern pfeifen, kommt beim Bürger des­wegen noch nicht unbedingt an. Nicht alles, was Journalisten vor Ort erfah­ren, kann man in den Zeitungen auch nachlesen. Langjährige Korresponden­ten wissen zwar oft besser als Wissenschaftler in Elfenbeintürmen, wie das Geschäft in praxi läuft, halten manches aber gerade deshalb für viel zu banal, um es einer Nachricht wert zu befinden. Für die mehr als 2000 Bonner Lobby­isten hat der FAZ-Korrespondent Klaus Broichhausen immerhin einen "Knigge" verfaßt, welche informellen Spielregeln neben den formalen Vor­schriften zu beachten sind: Wegen des "Wirrwarrs" der gesetzlichen und son­stigen Regelungen bringe ein instinktsicherer Lobbyist einen Partner im Parla­ment und in der Verwaltung erst gar nicht in die Verlegenheit, sich zu überle­gen, ob er ein Geschenk annehmen oder ablehnen sollte (Broichhausen 1982: 70).

Fehlt es in der Bundesrepublik Deutschland weithin an einer journalisti­schen Tradition wie jener der englischen oder amerikanischen "Government Watchers", die in langjähriger intimer Kenntnis des Apparates Veränderungen registrieren und kritisch kommentieren, so hatten auch die Plädoyers von Wil­helm Hennis, Thomas Ellwein, earl Böhret u.a., sich stärker praktischen Pro­blemen des Regierens im modernen Leistungsstaat zuzuwenden, in den sech­ziger und siebziger Jahren in der bundesdeutschen Politikwissenschaft nicht die erhoffte Resonanz (siehe dazu auch den Beitrag von earl Böhret in diesem Band). Die vergleichende Policy-Forschung, die in den vergangenen Jahr­zehnten auch hierzulande aufblühte, brachte zwar bedeutsame Kenntnisse über die materielle Staatstätigkeit in den westlichen Demokratien, aber die Regierung selbst und das Regieren an sich tauchten auch darin nur am Rande auf. Erst in jüngster Zeit zeichnet sich, forciert durch die 1988 gegründete Sektion Regierungssystem und Regieren in der Bundesrepublik Deutschland der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, eine Renaissance von Regierungsforschung und -lehre ab (vgl. Bandemer/Wewer 1989; Schmidt

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1989; Hartwich/Wewer 1990). Die folgenden Beiträge stehen in diesem Kon­text.

Was sie alle interessiert und motiviert, ist die Frage nach der anderen Seite des Regierens - jener Seite, die durch ein bloßes Studium der Verfassung, von Beamtengesetzen, Geschäftsordnungen oder Gerichtsurteilen nicht ent­hüllt werden kann. Diese andere Seite der Medaille ist bunt und schillernd und gerade deshalb relativ schwer in den Griff zu bekommen. Das zeigt auch eine ansonsten sehr verdienstvolle Bibliographie über "Regierungszentralen in Deutschland" (Sprengkamp 1989): Unter der Überschrift "Regieren als for­malisiertes Verfahren" tauchen dort nur eine Handvoll Titel zur Geschäftsord­nung der Bundesregierung auf (die zudem vielfach aus der Frühphase der Re­publik stammen). Alles andere, so könnte man folgern, zählt zum informalen, zum faktischen Regieren! Und genau darum geht es.

Das Thema gehörte - als Gegensatz von Verfassungsnorm und -wirklich­keit - in den fünfziger und sechziger Jahren zu den bevorzugten Diskussio­nen zwischen Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft. Während Juristen "informales" Handeln zunächst immer als Abweichung oder gar Verstoß ge­gen Rechtsnormen betrachteten, setzte die empirische Forschung mehr und mehr die Frage nach der Funktionalität informeller Verhaltensweisen bei der wechselseitigen Optimierung von Effizienz, Transparenz, Partizipation und Legitimität in staatlichem Handeln dagegen. Diese Debatte ist heute abge­schlossen. Die Annäherung der Standpunkte und den erreichten Kenntnis­stand - aber auch die unveränderte Relevanz der Sache selbst - zeigten zu­letzt die Studien der beiden Juristen Eberhard Bohne über den "informalen Rechtsstaat" (1981) und Helmuth Schulze-Fielitz über den "informalen Ver­fassungsstaat" (1984). Beide konnten im übrigen auf eine Untersuchung über "Funktionen und Folgen formaler Organisation" zurückgreifen, die der Oberregierungsrat Niklas Luhmann bereits 1964 als Referent des damaligen Instituts für Forschung und Information an der Hochschule für Verwaltungs­wissenschaften in Speyer erarbeitet hatte. Just dort konnten auf einem inter­disziplinären Symposium Erstfassungen der hier vorgelegten, durchweg über­arbeiteten Beiträge diskutiert werden.

Ihre Stoßrichtung weicht insofern von den erwähnten und auch von anderen einschlägigen Arbeiten ab, als alle Autoren konsequent die Regierung und das Regieren in den Blick nehmen. Eine gewisse Unschärfe in der Verwendung der Begriffspaare formal- informal bzw. formell - informell ist dagegen un­verkennbar und ließ sich auch in der Diskussion nicht ausräumen. Konsens er­gab sich jedoch darüber, daß es wenig Sinn mache, sie antithetisch zu begrei­fen: keine Praxis ist entweder rein formal, genügt also bloß einer äußerlichen Form ohne reale Konsequenzen, oder aber durchgängig informal (was immer das dann heißen mag); keine Analyse könnte überzeugen, die sich apriori festlegen würde, nur das formelle Regieren, d.h. nur die offiziellen Vorschrif-

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ten und bestimmte Umgangsformen, zu beachten und nicht auch die informel­len Gespräche, Gruppen und Abläufe innerhalb und außerhalb des Apparates. Das Leben ist bunter, all das gehört zusammen.

Statt einer vordergründigen Gegenüberstellung dürfte es analytisch frucht­barer sein, einem Vorschlag von Werner Jann zu folgen und von einem Konti­nuum an Verhaltens- und Handlungsformen auszugehen (vgl. dazu auch wrs Kastning). Dieses reicht von positivierten Festlegungen auf der einen Seite über informelle Bindungen und inoffIzielle Absprachen sowie verfestigte Er­wartungen, die aber nirgendwo fixiert sind ("Spielregeln"), und über beob­achtbare Handlungsmuster, die den Akteuren selbst nicht einmal bewußt sein müssen, bis hin zu situativen Abweichungen im Tagesgeschäft. Situatives Handeln kann von empirischer Forschung zwar durchaus erfaßt werden und mag das Verstehen des Einzelfalls fördern, fallt aber beim Bestreben, Regie­ren systematisch zu beschreiben und theoretisch zu erklären, eher unter den Tisch. Damit erstreckt sich das Bemühen, informale Komponenten des Regie­rens hierzulande deutlicher herauszuarbeiten als das bisher geschehen ist, vorrangig auf jene drei Stufen des Kontinuums unterhalb bzw. außerhalb des formalen Rahmens: informelle Festlegungen (von Ad-hoc-Absprachen bis hin zu Konventionen), regelmäßige Erwartungen (an die politischen Akteure und der Rollenträger untereinander) und beobachtbare Regelmäßigkeiten (empiri­sche Grundmuster) jenseits von Übereinkünften und Spielregeln.

Anstelle des begrifflichen Gegensatzes "formal (formell) - informal (in­formell)" dient etwa die alternative Unterscheidung "formal (formell) - ma­terial (materiell)" dazu, Modalitäten und Inhalte staatlichen Handeins vonein­ander abzugrenzen (vgl. Bohne 1980: 24 f.). Im einen Fall geht es primär um die Art und Weise, um das Wie des Regierens, im anderen stärker um das Was, um Inhalte (und Ergebnisse) von Politik. Einer solchen Trennung von Verfah­ren ("formaler Rechtsstaat") und Inhalten ("materieller Rechtsstaat") liegt im Kern eine juristische Perspektive zugrunde. Sie läßt sich aber, ohne immer schon gleich nach rechtlicher Zulässigkeit zu fragen, ohne Mühe in das empi­rische Interesse umwandeln, wie das Geschäft des Regierens, gerade wenn das vielleicht "eigentlich" so nicht vorgesehen oder auch einfach formal garnicht geregelt ist, in der Bundesrepublik Deutschland in praxi betrieben wird. Das ist das Leitmotiv für die Beiträge dieses Bandes. Ohne eine hinreichende Kenntnis auch der informalen Abläufe, so die allgemeine Hypothese, ist eine zutreffende Analyse des Regierens nicht möglich. Wie und nach welchen Maßstäben die empirischen Befunde eventuell zu bewerten sind, kann begrün­det im Grunde erst diskutiert werden, wenn genügend gesicherte Erkenntnisse vorliegen. Das ist beim gegenwärtigen Forschungsstand noch längst nicht der Fall.

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2. Rechtliche Vorschriften und politische Profession -Konventionen, Spielregeln, Rollen und Muster

Überwiegend unbekannte Aspekte des Regierens stärker ausleuchten zu wol­len, heißt zunächst, den Scheinwerfer auf die handelnden Akteure zu richten statt die Regierung als "System" und mehr oder minder homogenes Ganzes zu betrachten. Auf dem erwähnten Kontinuum stößt man unterhalb formaler Re­geln auf der nächsten Stufe zunächst auf informelle Festlegungen. Ihre Band­breite ist beachtlich. Sie reicht von protokollierten Abmachungen bis zur kur­zen mündlichen Absprache im Flur des Kanzleramtes. Manche solcher "Quasi-Verträge" werden publiziert, andere bleiben vertraulich. Wichtig ist hier, daß solche mehr oder minder stillschweigenden Übereinkünfte rechtlich nicht verbindlich sind, bei Verstößen aber mit politischen Sanktionen gerech­net werden muß. So kann etwa die Vereinbarung der Koalitionsparteien vor keinem Gericht eingeklagt werden, ihr Bruch könnte jedoch zum Sturz der Regierung führen. Informelles "Einvernehmen" setzt annähernd gleichwer­tige Partner und ein Minimum an Zustimmung und gemeinsamen Interessen voraus.

Handelt es sich um mehr als nur eine situative Absprache, wie sie tagtäglich vorkommt, sondern um Übereinkünfte mit einer gewissen Tradition, so kann man auch von politischen Konventionen sprechen. Solche "gentlemen's agreements" ohne rechtliche Grundlage und formale Absicherung findet man in Bonn zuhauf: Aufgrund eines eingespielten "Brauchs" eröffnet der Alters­präsident nicht bloß fOrmlich die konstituierende Sitzung des Bundestages, sondern richtet zugleich eine Rede an das Hohe Haus. Nur allgemeine "Übung" gewährt der stärksten Fraktion den Anspruch, den Präsidenten des Parlaments stellen zu dürfen. Ebenso informell hat sich im Laufe der Jahre die protokollarische Rangfolge der höchsten Repräsentanten unseres Staates her­ausgebildet: Platz eins nimmt danach der Bundespräsident ein, gefolgt vom Präsidenten des Deutschen Bundestages; der Kanzler und der Präsident des Bundesrates rangieren an dritter und vierter Stelle, während dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts die fünfte Position gebührt. Dann folgen schließlich die Bundesminister.

Zu den wichtigsten Konventionen, auf die sich die etablierten Parteien ver­ständigt haben, zählt die berühmt-berüchtigte Proporzregel (vgl. Schulze­Fielitz 1984: 21 ff.). Sie gilt überall dort, wo Posten oder Mittel zu vergeben sind, es aber aus rechtlichen und politischen Gründen für alle Beteiligten rat­samer ist, die Beute zu teilen, statt sich öffentlich darum zu streiten: über die Diätenerhöhung diskutiert das Parlament ebensowenig wie über die Globalzu­schüsse an Parteistiftungen. Die höheren Positionen in der Verwaltung des Bundestages und in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten werden

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ebenso nach dem Strickmuster "Einer links, einer rechts, einen fallenlassen" besetzt wie das Bundesverfassungsgericht. Es ist zwar nicht unbedingt zwin­gend, daß in der Drei-Länder-Anstalt NDR ein CDU-Intendantgehen muß, nur weil Mehrheiten in Parlamenten und Regierungen gewechselt haben -aber zum Ausgleich wird ja ein CDU-Mann jeweils Stellvertreter des neuen SPD-Intendanten. Nur im Bayerischen Rundfunk scheint die Proporzregel nicht zu funktionieren. In Hamburg dagegen - für die Union eine Diaspora - darf die auf Opposition programmierte CDU mit einem ihrer Mitglieder durchaus das eine oder andere öffentliche Unternehmen leiten. Politisch wich­tiger ist, daß etwa auch die Führungsspitzen der Nachrichtendienste und des Bundeskriminalamtes im Sinne einer "Gemeinsamkeit der Demokraten" be­setzt werden.

Diese politische Konvention ist allen Beteiligten bekannt. Rechtlich aus­drücklich vorgesehen ist ein Proporz hingegen nur in wenigen Bereichen: Nach Art. 36 Abs. 1 GG sollen zum Beispiel Bundesbeamte anteilig aus allen Bundesländern kommen, der Umsatzsteuer-Länderanteil steht diesen nach Maßgabe ihrer Einwohnerzahl zu (Art. 107 Abs. 1 Satz 4 GG). Neben diesem regionalen Proporz kennt das Grundgesetz auch den Fraktions- (Art. 53a GG) bzw. den Parteienproporz "nach den Grundsätzen der Verhältniswahl" bei der Zusammensetzung der Bundesversammlung (Art. 54 Abs. 3 GG). Bis 1982 führte üblicherweise ein Ministerpräsident, der einer anderen Partei ange­hörte als sein aus dem Bundestag kommender Stellvertreter, als Vertreter des Bundesrates den Vorsitz im Vermittlungsausschuß.

Auch bei Bildung des Kabinetts gilt der ungeschriebene Grundsatz, eine an­nähernd ausgewogene Repräsentation anzustreben: regional, konfessionell, beruflich, altersmäßig und politisch. Nachdem die frühere "Alibi-Frau" im Kabinett nicht mehr ausreicht, ist das Proporz-Puzzle noch schwieriger ge­worden - zur Not muß man dann aus einem einzigen Minsterium eben drei machen. Das Schnüren solcher Personal-Pakete fällt natürlich leichter, je mehr Posten und Pfründe zu verteilen sind. Wer noch nicht oder auch garnicht als ministrabel gilt, kann immer noch Parlamentarischer Staatssekretär wer­den. Seit 1967, als diese Institution nach dem Vorbild des britischen "Junior­ministers" von der Großen Koalition aus der Taufe gehoben wurde, stieg ihre Zahl von sieben - damals nur in den "klassischen" Ressorts - auf heute mehr als dreißig (in zwanzig Ministerien). Gab es schon 1969 in der sozial­liberalen Koalition in jedem Haus einen Parlamentarischen Staatssekretär (und natürlich beamtete!) wenig später in wichtigeren Ressorts zwei davon, so kam es unter Helmut Kohl seit 1982 zu einer regelrechten "Inflationierung" (Derlien 1990: 99). Waren es im letzten Kabinett Schmidt 19, so gehörten der ersten Regierung Kohl 24, 1987 dann ?:7 und jetzt, wie gesagt, 33 Parlamenta­rische Staatssekretäre an. Ihr Nutzen ist umstritten. Andreas von Bülow, von 1976 bis 1980 selbst in diesem Amt im Bundesministerium für Verteidigung

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und dann bis 1982 Bundesminister für Forschung und Technologie, schildert Aufgaben und Praxis.

Die nächste Stufe auf dem Weg weg von den formalen Regeln bilden regel­mäßige Erwartungen, die nicht einmal auf ausdrücklichen Festlegungen beru­hen. Während eine mündliche Absprache oder schriftliche Übereinkunft stets Partner voraussetzt, die sich verständigen, finden diejenigen, die in den Dienst der Regierung treten oder ein Ministerium übernehmen, immer schon eine Fülle von Verhaltens regeln und Verfahrensvorschriften vor. Gesetze, Ordnungen und Erlasse verleihen Halt und erleichtern die Orientierung, was man muß, was man darf und was man auf keinen Fall tun sollte. Auf der ande­ren Seite können diese formalen Normen nicht alles erfassen, und auch das übrige nicht in jedem Detail, und sie können, wie die Folgen eines "Dienst nach Vorschrift" zeigen, die Geschäfte manchmal sogar hemmen. Vor allem reichen sie nicht aus, das Geschäft zu betreiben.

In der Praxis schälen sich deshalb gewisse (interne) "Spielregeln" heraus, die die formalen Vorschriften ergänzen, abändern, teilweise ersetzen oder sonstwie modifizieren. Sie sind weder rechtlich fixiert noch informell vereinbart; sie gel­ten einfach und werden gleichsam "von außen" an die Inhaber bestimmter Posi­tionen herangetragen. Von Beamten in Ministerien wird schlicht erwartet, daß sie nicht penibel darauf achten, nur die Pflichtstunden zu absolvieren. Wer ins Kanzleramt wechselt, kann nicht erwarten, dort bis zur Pensionierung zu ver­weilen - und Beamte, die die informellen Spielregeln kennen, erwarten das auch gar nicht. Eine informale Struktur begrenzter Dienstzeit im Amt überla­gert, und zwar durchaus im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften, das Lebens­zeitprinzip des Berufsbeamtentums (Klaus König). Irritationen gibt es bisweilen, wenn es Änderungen in der Spitze gibt. Erst allmählich lernt man herauszuhö­ren, "was Herr Minister wünschen" und womit man ihm besser nicht kommt. Eine jede Profession hat ihre spezifischen Konventionen und informellen Re­geln, die lernen und bedenken muß, wer keinen unnötigen Ärger bekommen und es zu etwas bringen will. Das gilt für die Wissenschaft genauso wie für die Poli­tik. Und ein angesehener Wissenschaftler dürfte nur dann ein erfolgreicher Mi­nister werden, wenn er die Spielregeln des politischen Geschäfts beherrscht.

Wer für die Regierung arbeitet oder in das Kabinett eintritt, übernimmt mit Dienstposition oder Amt zugleich eine gewisse Rolle. Als soziale "Rolle" gilt bekanntlich das Bündel an Erwartungen und Ansprüchen, die sich in einer ge­gebenen Gesellschaft an die Inhaber von bestimmten Positionen richten. Diese Erwartungen können sich auf äußere Attribute wie Aussehen oder "Charakter" beziehen oder aber auf das konkrete Verhalten richten. Der frü­here rheinland-pfalzische Ministerpräsident Bemhard Vogel schildert in die­sem Band unter anderem, daß er sich lange gegen die Bezeichnung "Landes­vater" gewehrt habe, bis er erkennen mußte, daß dies offenbar einem verbrei­teten Bedürfnis entgegenkommt.

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Die Verbindlichkeit der Erwartungen, die sich an diejenigen richten, die uns regieren, ist verschieden. Auch für politische Rollenträger gibt es Muß-, Soll­und Kann-Erwartungen. Manche davon sind in Gesetzen festgeschrieben oder anderswo fixiert: "Äußerungen eines Bundesministers, die in der Öffentlich­keit erfolgen oder für die Öffentlichkeit bestimmt sind, müssen mit den vom Bundeskanzler gegebenen Richtlinien der Politik in Einklang stehen" (§ 12 GOBReg). Formal ist dies eine Muß-Bestimmung, in der Praxis dürfte es sich, zumal bei Ministern anderer Parteien, eher um eine Soll-Erwartung und eine Art "Notbremse" handeln. Zu den informellen Spielregeln gehört näm­lich auch, als Regierungschef so gut wie nie darauf hinzuweisen , nach Art. 65 GG würde es eigentlich einem selbst zustehen, die Richtlinien der Politik zu bestimmen. Ein Kanzler, der sich zu einem solchen förmlichen Schritt veran­laßt sieht, ist bereits geschwächt und steht praktisch schon auf Abruf.

Andere Erwartungen an politische Rollenträger sind formal nirgendwo ge­regelt und ergeben sich nur aus Sitte, Brauch oder Gewohnheit. Als Vertreter des Volkes sollte man sich nicht mit leichten Mädchen herumtreiben; als Kanzler hat man keine Freundin, sondern allenfalls langjährige Vertraute. Sich derartigen Erwartungen formal zu beugen, gehört ebenso zu den infor­mellen Spielregeln des politischen Geschäfts: Die stereotype Versicherung der Unterhändler der Koalitionsparteien, zunächst werde über "Sachfragen" gesprochen und erst, wenn alle diese Fragen geklärt wären, würden am Ende auch kurz die "Personalfragen" erledigt, ist nicht mehr als ein professionelles Reaktionsmuster auf ein idealistisches Politikverständnis unter den Fernseh­Konsumenten. Natürlich wissen alle Beteiligten ganz genau, daß es weit schwieriger gelingt, sämtlichen persönlichen Ehrgeiz und die vielfältigen Karriere-Ambitionen unter einen Hut zubringen, als sich auf ein politisches Minimalprogramm für die nächste Zeit zu einigen.

Erwartungen des Publikums richten sich im übrigen an die Inhaber von be­stimmten Positionen und an kollektive politische Akteure gleichermaßen. Weil absolute Mehrheiten einer Partei in Bonn selten sind, auf der anderen Seite die Anzahl der potentiellen Bündnispartner im Parlament geringer ist als etwa in Italien, gehört inzwischen eine eindeutige Koalitionsaussage vor der Wahl zu den selbstverständlichen Gepflogenheiten. Wegen ihrer strategisch günstigen Position betrifft das meist die FDP. Während in früheren Zeiten erst die Fraktionen nach der Wahl Koalition und Regierung aushandelten, gehört es zu den "new rules of coalition" (Gordon Smith) , schon vorab Farbe zu be­kennen. Die Wähler wollen wissen, wofür sie sich entscheiden sollen.

Das analytische Potential der Rollentheorie ist umstritten. Fest steht auf der anderen Seite, daß es bisher in bezug auf die politischen Positionen innerhalb und im Umfeld der Regierung nicht einmal annähernd ausgeschöpft wurde. Was kennzeichnet etwa die Rolle des Bundespräsidenten genau? In welchen Bandbreiten haben die bisherigen Amtsinhaber die Kanzlerschaft interpre-

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tiert? Wann ist ein Minister "untragbar", so daß er in der Bundesrepublik die Konsequenzen ziehen muß? Hier gibt es noch viele Fragen.

Die soziologische Rollentheorie bezieht sich auf Ansprüche der Gesell­schaft gegenüber Inhabern von bestimmten Positionen. Gerade die politischen Spitzenämter lassen aber einen relativ großen Spielraum für role-making, zu­mal die Fähigkeit des Publikums zu Kontrolle und Sanktion eher bescheiden ausgeprägt ist und in Bonn eine Krähe der anderen so leicht kein Auge aus­hackt. Wichtiger als diffuse Ansprüche der Leute draußen im Lande sind die Erwartungen derjenigen, die über Sanktionen verfügen: Partei, Fraktion oder auch einzelne Abgeordnete. Mangelnde Popularität und der verbreitete Ein­druck, "der kann es nicht", müssen weder Kanzler noch Ministern schaden; sich der Kampagne zu entziehen und am Mittelmeer zu golfen, während an­dere wahlkämpfen, verstößt jedoch eindeutig gegen die Spielregeln. Wird der Sprecher eines Arbeitskreises der Fraktion vom Kanzler übergangen, obwohl in seinem Fachgebiet der Minister wechselt, muß er sich automatisch gegen den Verdacht wehren, nicht für höhere Weihen zu taugen (Andreas von Bü­low). Um Risiken und Feindschaften zu vermeiden, bietet es sich an, als klei­nen Trost für solche, deren Erwartungen enttäuscht werden mußten, wenig­stens die Anzahl der Staatssekretäre auszuweiten.

Derartige Spielregeln dürften für das Geschäft des Regierens wichtiger sein als formale Kompetenzen, Gebote und Verbote. Eine ganz andere Fage ist die nach den Normen, Zielen und Werten, die die Mitglieder einer Organisation - des Parlaments, des Kabinetts, eines Ministeriums - selbst für wesentlich erachten. Dies können ganz andere sein als diejenigen des Publikums. Wel­chen Verhaltensweisen und Wertvorstellungen messen die Mitglieder der Re­gierung für sich selbst und für deren Existenz grundlegende Bedeutung zu? Die "Kultur" einer Organisation erfüllt nach allgemeiner Auffassung eine Reihe wichtiger Funktionen: Sie schafft ein gemeinsames Bezugssystem, das Wahrnehmungen filtert und Erwartungen beeinflußt, Interpretationen erleich­tert und Verständnis erzeugt, Komplexität reduziert sowie Handlungen lenkt und legitimiert. "Organisationskultur" verstärkt die Einbindung der Mitglie­der, fordert die Identifikation mit dem ganzen Unternehmen und erhöht die Motivation. Eine Identifikation der Mitglieder mit den Grundprinzipien der Organisation kann u.u. eine effizientere Koordination herbeiführen als Wei­sungen von Vorgesetzten, Richtlinien oder Planvorgaben.

Für den Deutschen Bundestag haben Renate Mayntz und Friedhelm Neid­hardt unlängst skizziert, wie dessen Mitglieder mit formellen Regeln umgehen, an welche informellen Normen sie sich gebunden fühlen, mit welchen Wert­orientierungen sie sich aufeinander einstellen. Als spezifische "Parlamentskul­tur" verstanden sie dabei jenes System von Regeln und allgemeinen Handlungs­orientierungen, mit denen die Abgeordneten ihr eigenes Verhalten steuern und das ihrer Kollegen bewerten und gegebenenfalls auch sanktionieren.

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Die soziale Integration des Bundestages ist nach dieser explorativen Studie ge­ring; zum Beispiel wird das offizielle Verbot "beleidigender" Äußerungen nicht durch eine entsprechende informelle Norm unterstützt. Auf der anderen Seite fanden sich "hochgradig bewußte informelle Normen, die sich auf das Verhalten als Fraktionsmitglied und Fraktionskollege beziehen" (Mayntzl Neidhardt 1989: J79). Informelle "Kreise" innerhalb der Fraktionen (wie die sozialdemokratischen "Kanalarbeiter" oder die freidemokratischen "Ca­nalarbeiter") sind nach Auskunft der Befragten hingegen von geringer Be­deutung (vgl. dazu aber Müller-Rommel 1982). Alles in allem sei das Par­lament ein zweckrationaler Verband, der sich nicht in Kategorien einer "Mo­ralgemeinschaft" verstehen lasse. Abweichendes Verhalten werde erst dann zu einem Thema, wenn es publik werde und die Öffentlichkeit darauf rea­giere.

Für die Regierung und das Regieren hierzulande fehlen, wenn ich richtig sehe, entsprechende Untersuchungen noch. Auch die gelegentlichen Überle­gungen, das Analysekonzept Organisationskultur (vgl. zuletzt Kenngott 1990) auf die Verwaltung zu übertragen (Prätorius 1982; Jann 1986; Sturm 1987; Feickl Jann 1988), sind bisher nur selten empirisch eingelöst worden (etwa von Jann 1983). Wie auch immer sie folglich für Kabinett, Kanzleramt und Ministerien aussehen mögen - fest steht eines: Die "politische Kultur" und corporate identity eines Kollegiums oder Hauses schafft ebenfalls Erwartun­gen, die für deren Angehörige wichtiger sein können als jene des Publikums draußen im Lande. Da wird der "Geist der Gründung" (oder eines Ludwig Erhard) beschworen, eine Tradition etabliert. Geschichten, Legenden und Mythen tragen zur Vermittlung von Überzeugungen und Verhaltensnormen bei; Rituale und Symbole kommen verstärkend hinzu (March/Simon 1984: 744; vgl. auch Edelman 1976, Edelman 1988 und Voigt 1990). Dies alles zählt ebenfalls zur anderen Seite des Regierens.

Angesichts der "großen Walzen" des Apparates (Andreas von Bülow), de­nen sich die Handvoll Personen auf der politischen Leitungsebene tagtäglich gegenübersieht, taucht immer wieder das praktische Problem auf, inwieweit ein "Primat der Politik" überhaupt durchzusetzen ist (zuletzt Böhret 1986). Angesichts eines hohen Grades an Formalisierung im Regierungsgeschäft, den auch Klaus König aus eigener Erfahrung betont, erscheint jedenfalls of­fen, ob ein Kanzler oder Minister dem ganzen Prozeß so etwas wie seine "per­sönliche Handschrift" aufzuprägen vermag. In vergleichender Perspektive führt das wiederum zu der Frage nach nationalen Politikstilen (Sturm 1985; Feickl Jann 1988) bzw. nach unterschiedlichen Führungs- oder Regierungssti­len in den westlichen Demokratien. Axel Murswieck bilanziert diese Diskus­sion und kommt zu einer eher skeptischen Einschätzung des "subjektiven Faktors": Individuelle Führungsstile müssen und können immer nur inner­halb institutioneller Rahmenbedingungen und der Einflüsse aus der Umwelt

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zur Geltung kommen. Solche Befunde mit Nachdruck zu betonen, ist auch deshalb wichtig, weil die personenorientierte Medienberichterstattung ein ganz anderes Politikbild suggeriert (Personalismus statt Formalismus).

Eine andere Stufe auf dem Kontinuum zwischen formalen Regeln auf der ei­nen Seite und situativen Abweichungen, die sich systematischer Erklärung weitgehend entziehen, auf der anderen Seite stellen schließlich empirisch be­obachtbare Regelmäßigkeiten dar, die den Akteuren selbst nicht einmal be­wußt sein müssen. Für diesem Bereich zeigt Hans-Ulrick Derlien anband von Rekrutierungsmustem und Rollenverständnis die "Staatsaffinität der Exeku­tivpolitiker" in der Bundesrepublik Deutschland. Die gängige Vermutung, Ju­ristenausbildung und Verwaltungserfahrung hätten auch ein etatistisches Be­rufsverständnis zur Folge, lasse sich keineswegs bestätigen. Sein Beitrag schlägt zugleich Brücken zwischen Regierungs-, Verwaltungs- und Elitenfor­schung.

3. Regierungsorganisation und Kommunikationsstrukturen -primäre Gruppen, informale Organisation und politische Netzwerke

Regieren heißt Organisation, heißt Verwaltung, heißt Bürokratie. Kabinett, Kanzleramt und Ministerien sind Organisationen, d.h. Zusammenschlüsse von Menschen, die für gewisse Dauer bestimmte, gemeinsame Ziele verfol­gen und deren Aktivitäten zu diesem Zweck einer formalen Ordnung unterlie­gen. Die Geschäftsordnung der Bundesregierung, Aktenpläne und Formulare, Eingangsstempel und Archiverlaß sind Ausdruck dieser Tatsache. Das Adjek­tiv "formal" dient in Verwaltungswissenschaft und Organisationstheorie als Klammer für alle jene Zielbeschreibungen und Verhaltensanforderungen, die unabhängig von bestimmten Personen bestehen und die Identität des Ganzen gegenüber seiner Umwelt begründen (Bohne 1980: 25). Handlungsinbalte sind wiederum ausgeklammert.

So wie bestehende Vorschriften durch unterschwellige "Spielregeln" er­gänzt, abgeändert oder teilweise ersetzt werden, so ähnlich bilden sich in der Praxis stets informale Strukturen "hinter" der formalen Organisation oder auch "quer" zu ihr. Die soziologische Gruppenforschung (Schäfers 1980a; Neidhardt 1983) erklärt dieses Phänomen mit menschlichen Grundbedürfnis­sen. Primäre Gruppen bieten die Möglichkeit zur Gestaltung intimer und in­tensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, in denen der Einzelne als Per­son vorausgesetzt und akzeptiert wird; sie bieten ein Gegengewicht zu gesell­schaftlichen Phänomenen wie Anonymität und Vereinzelung, Entfremdung und isolierender Rollen-Spezialisierung. Ihnen gehören die Menschen als In­dividuen an und nicht als Funktionsträger. Sie sind eine besondere Form der

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Kleingruppe, aber nicht alle Kleingruppen sind auch Primärgruppen. Bern­hard Schäfers definiert sie als solche, "denen Menschen zur Vermittlung pri­märer Sozialkontakte und zur Herausbildung ihres (sozialen) Ich angehören; sie bieten über die Phase der primären Sozialisation und sozialen Integration hinaus eine kontinuierliche Möglichkeit der Identitäts-Behauptung, der inti­men und spontanen Sozialbeziehungen und der Entlastung von den Anforde­rungen sekundärer Gruppen" (Schäfers 1980b: 72).

In dieser Fassung nähert sich das Primärgruppen-Konzept dem an, was ge­meinhin als informelle Gruppe verstanden wird. Beide Begriffe überschnei­den sich. Der wesentliche Unterschied liegt jedoch darin, daß primäre Grup­pen ("Freunde", "die Clique") auch und gerade außerhalb der Arbeitswelt zu finden sind, während der zweite Begriff ausschließlich auf persönliche Bezie­hungen zielt, die sich innerhalb von Organisationen entwickeln: Informelle Gruppen entstehen spontan aus Interaktionen von Arbeitskollegen, die im täg­lichen, direkten Kontakt miteinander stehen, sie basieren auf wandelbaren Abmachungen und eingelebten Gewohnheiten und sie orientieren sich an per­sönlichen Bedürfnissen und Erfahrungen ihrer Mitglieder. Der Begriff um­schreibt also tatsächliche Arbeits-, Kommunikations- und Herrschaftsstruktu­ren "jenseits" des formalen Aufbaus einer Organisation (Gukenbiehl 1980: 55).

Jedes Ministerium weist natürlich auch ein solches soziales Gefüge neben der Gliederung in Abteilungen, Referate usw. auf. Informelle Gruppen erin­nern daran, daß es immer zwei Formen für die Bildung von Strukturen gibt: eine systernzentrierte und funktionale einerseits und eine personenzentrierte und emotionale andererseits (Luhmann 1964: 372). Und das Wissen um solche persönlichen Bindungen und heimlichen Loyalitäten mag in der Führung eines Hauses wichtig sein. Für die Analyse des Regierens reicht das Konzept inso­fern nicht weit genug, als es zu stark auf ständige Jace-tolace relations ab­hebt, den spontanen Charakter solcher Gruppen besonders betont und die so­zialen Bedürfnisse ihrer Mitglieder. Gemeinsame politische Überzeugungen, auf denen "Seilschaften" und parteiorientierte "Betriebskampfgruppen" in den Ministerien ebenso beruhen wie "Freundeskreise" in Rundfunkräten, kommen dabei zu kurz. Solche Phänomene enstehen nicht spontan, sondern sind geplante und durchaus zweckrationale Unternehmen. Daß ihre Mitglie­der in täglichem Kontakt stehen, ist überhaupt nicht erforderlich. Wichtig zu wissen ist nur, wer zu wem gehört.

Hinzu kommt, daß den stillschweigend unterstellten Hintergrund des Kon­zepts stets eine relativ geschlossene Organisation bildet; informelle Gruppen gibt es per definitionem immer nur innerhalb einer bestimmten Organisation. Selbst wenn man die Regierung als Einheit betrachten würde und nicht jedes Ministerium einzeln, dann fielen immer noch eine Reihe von zumindest denk­baren informellen Strukturen unter den Tisch, deren Relevanz für das fakti-

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sche Regieren größer sein kann als eine informelle Gruppe von Mitarbeitern des Kanzleramtes. Beispiele wären persönliche Ratgeber, die der Regierung selbst gar nicht angehören und nicht einmal Politiker sein müssen, oder feste Drähte aus Fraktionsspitze oder Parteizentrale ins Zentrum der Macht.

Ähnliche Bedenken richten gegen sich das Konzept der informalen Organi­sation, das sich mit dem der informellen Gruppe mehr oder weniger deckt. Nach gängigem Verständnis kann man dann von einer informalen Organisa­tion sprechen, wenn sie folgende Merkmale aufweist: (a) Das Verhalten ihrer Mitglieder orientiert sich an persönlichen Wünschen und Erwartungen; (b) die Beziehungen basieren auf durch Herkunft und durch Rollen außerhalb der Organisation - hier: als Mitglied der Regierung oder Angehöriger eines Mi­nisteriums - beeinflußten Sympathien und Gemeinsamkeiten; (c) die Organi­sation entsteht spontan, d.h. sie ist kein Ergebnis bewußter Gestaltung (Grün 1980: 881).

Noch stärker als beim Konzept der informellen Gruppe ist hier der Bezug zur formalen Ordnungs struktur der Organisation. "Informal" werden solche Handlungen genannt, die sich immer schon bzw. immer noch auf die offizielle Struktur beziehen, aber die formalen Normen und Regeln ergänzen, abän­dern, teilweise ersetzen oder sonstwie modifizieren (Bohne 1980: 25). Sicher­lich können mit diesem Ansatz informale Normen, Kommunikationen ("Seil­schaften") und eine "heimliche" Führung ("Inner Circle") in der Regierung identifiziert werden.

Zu fragen ist gleichwohl, ob solche informellen Strukturen für unsere Zwecke nicht besser mit dem Konzept des sozialen bzw. politischen "Netz­werks" analytisch einzufangen sind. In der empirischen Sozialforschung meint Netzwerk allgemein "eine durch Beziehungen eines bestimmten Typs verbundene Menge von sozialen Einheiten" wie Personen, Positionen, Orga­nisationen usw. (Pappi 1987: 13; vgl. auch Knoke/Kuklinski 1982, Schenk 1983 und Scott 1988). Soll es in der Analyse nur um ganz bestimmte - etwa: politische - Beziehungen gehen, so spricht man von partiellen Netzwerken, während die Gesamtheit aller möglichen Beziehungen von sozialen Einheiten als totales "Netzwerk" gilt. Ähnlich läßt sich - je nach dem, ob man die komplexen Beziehungen zwischen mehreren Einheiten betrachtet oder sie aus der Perspektive einer bestimmten Einheit untersucht - zwischen Gesamt­netzwerk und ego-zentrierten Netzwerken unterscheiden. Sind diese wie­derum in einer Person verankert, heißen sie persönliche Netzwerke; sind die Zentren Organisationen, ist die Bezeichnung organization-set gebräuchlich.

Als Metapher ist "Netzwerk" schon alt und in politischen Analysen wie­derholt zu finden; als methodisches Instrumentarium ist das Konzept hinge­gen noch relativ jung (siehe dazu Schubert 1989: 86ff.). In die bundesdeut­sche Politikwissenschaft ist es - abgesehen von gewissen Vorläufern in der Elitenforschung (vgl. jetzt Moyser IWagstaffe 1987b: 20, und Hoffmann-Lange

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1987: 42) - im Gefolge von Hugh Heclo (1978) vor allem in die Neokorpora­tismus-Diskussion, in die Implementations- und vergleichende Politikfeld­Forschung eingezogen. Dabei wird der Begriff unterschiedlich weit ausgelegt (vgl. Jordan 1981; Sharpe 1985; Windhoff-Heritier 1985; Windhoff-Heritier 1987). Im Grunde aber umfaßt er nicht mehr als jene Akteure, die empirisch nachweisbar an Entstehung und Durchführung einer bestimmten Politik betei­ligt sind und deren Beziehungen untereinander. Ein Issue Network entsteht da­bei um ein punktuelles Problem (z.B. den § 218 StGB), während ein Policy Network ein größeres Feld umspannt (wie Gesundheit-, Sicherheits- oder Steuerpolitik). Wichtig ist dabei jedoch, daß es in diesen Studien zum einen primär auf die inhaltliche Formulierung und den konkreten Vollzug der Politik der Regierung ankommt und daß zum anderen in diesen Netzwerken nicht nur staatliche Akteure beteiligt sind. Das bekannteste Beispiel sind inzwischen die "Iron Triangles" von Kongreßausschüssen, Interessenverbänden und Exeku­tivbehörden im US-amerikanischen Regierungsprozeß (für weitere Beispiele siehe Klaus von Beyme).

Nun haben wir oben gesagt, die Suche nach informalen Aspekten des Regie­rens ziele primär auf Verfahren und nicht so sehr auflnhalte, geschweige denn auf materielle Politikergebnisse. Das Interesse, dem die Beiträge dieses Ban­des folgen, ist also enger (zu eng?) als das der skizzierten Forschungen und richtet sich zunächst einmal auf informelle Strukturen innerhalb des Appara­tes bzw. beim Regieren. Das ist fraglos eine beträchtliche Einschränkung. Sie läßt sich jedoch dadurch begründen, daß die diversen Policy-Studien (als Bi­lanzen Schmidt 1988 und Beyme/Schmidt 1990) unser Wissen um die Frag­mentierung des Regierungsprozesses und höchst unterschiedliche subgovern­ments und auch um Probleme der Steuerung und Durchsetzung von Politik zwar erheblich erweitert haben (vgl. vor allem Hanf! Scharpf 1978; Scharpf 1982; Scharpf 1987), aber das Regieren selbst - im Zentrum und im Kern­dabei vielfach eher blaß blieb. Über "The Nerves of Government" (Kar! W. Deutsch) und die informelle politische Kommunikation in und zwischen Bonn, Berlin und Brüssel wissen wir immer noch relativ wenig (vgl. hinsicht­lich der Geiselamire im Iran für die amerikanische Regierung etwa Mansfield 1990). Gerade dies sind aber informelle Strukturen, die noch der Aufarbei­tung harren. Simples Beispiel: Ohne zu ahnen, was in "Zimmer 13" passiert (Schmidhuber 1989), können die Abläufe im Bundesrat nicht hinreichend ver­standen und vermittelt werden.

In diesem Sinne liegt das Augenmerk vorrangig auf der Art und Weise des Regierens und weniger auflnhalten und Ergebnissen. Das Netzwerk-Konzept könnte bei künftigen Analysen, die an die hier versammelten anknüpfen und darauf aufbauen, gleichwohl weiter tragen als herkömmliche Ansätze aus Gruppensoziologie und Organisationstheorie (Kieser I Kubicek 1978; Scott 1986). Für Untersuchungen der Implementation politischer Programme hat

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Renate Mayntz (1980: 8) vorgeschlagen, den Terminus nur zur Kennzeichnung "organisatorischer Beziehungsgeflechte" zu verwenden, "die nicht durchge­hend hierarchisch strukturiert sind, sich aber trotzdem durch eine gewisse Dichte oder Dauerhaftigkeit der Beziehungen und durch ihre Gegenseitigkeit auszeichnen". Für unsere Zwecke erscheint es dagegen sinnvoll, persönliche Netzwerke nicht apriori auszuklammern. In dieser prinzipiellen Offenheit für verschiedene Aspekte - kollektive und individuelle Akteure sowie Misch­formen - liegt gerade die Stärke des Konzepts gegenüber den vorhandenen Alternativen.

4. Kompetenzverteilung und Entscheidungsprozesse oder: Ub liegen die Zentren der Macht?

Warum Menschen die unmittelbare, persönliche Beziehung zu anderen in pri­mären Gruppen immer wieder suchen, wissen wir aus der sozialpsychologi­schen und soziologischen Kleingruppenforschung. Damit läßt sich erklären, warum sich praktisch alle Bundeskanzler mit einer Art "Küchenkabinett" von engsten Beratern umgaben. Diese müssen, wie das Beispiel des Bankiers Ro­bert Pferdmenges unter Konrad Adenauer zeigt, nicht unbedingt selbst Mit­glied des Kabinetts oder Kanzleramtes sein. Wechselt die Mehrheit in Bonn, so finden der neue Regierungschef und seine Mitarbeiter einen Apparat vor, der überwiegend von einer anderen Partei bestückt wurde. Klaus König, von 1982 bis 1988 selbst Abteilungsleiter im Kanzleramt, schildert eindrucksvoll, was dies für das Personal, aber auch für die neue Regierung bedeutet und wie man sich aufeinander einstellt. Eine Formalorganisation wie die des Bundes­kanzleramtes sei relativ indifferent gegenüber der Person des Amtsinhabers und dessen Führungsstil. Allerdings müsse das unumgängliche Systemver­trauen, auf das die politische Leitung nicht verzichten könne, immer wieder neu durch persönliches Vertrauen und Loyalität ergänzt werden. Schon um die enorme Komplexität des politischen Geschäfts zu reduzieren, sei es unerläß­lich, formale Apparate in ein Netz informaler Beziehungen einzuspannen. Diese setzen offizielle Regeln nicht grundsätzlich außer Kraft, sondern be­deuten nur, daß weitere Kommunikationskanäle eröffnet werden, die auch die persönlichen Konfigurationen berücksichtigen.

Daß größere und komplexe Gruppen und vor allem Organisationen offenbar nur auf Dauer existieren und funktionsfähig bleiben können, wenn sie formale und informale Komponenten zu verbinden wissen, sagt uns eine interdiszipli­näre Organisationstheorie (Mayntz 1982: 113 f.; vgl. auch Prätorius 1984). Das Problem ist keineswegs neu. Herfried Münkler macht deutlich, daß es -zwar nicht in den modernen Begriffen, wohl aber der Sache nach - in der po-

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litischen Ideengeschichte von dem Augenblick an zu finden ist, da Politik re­flexiv, also als solche gedacht wird. Freilich gerät, worauf Klaus von Beyme hinweist, informales Regierungshandeln im Verfassungs- und Rechtsstaat, im rationalisierten "Anstaltsstaat" (Max Weber) unserer Tage, leicht in den Ver­dacht des Illegalen, von Rechtsbruch oder -beugung, und des Illegitimen. Ob dieser Verdacht berechtigt ist, muß sich erst noch zeigen - fest steht jeden­falls: Das Phänomen ist historisch und aktuell allgegenwärtig.

Schwieriger zu sagen ist, welche praktische Relevanz ihm jeweils zukommt. In manchen Fällen liegt sie auf der Hand und muß nicht lange begründet wer­den: Die informalen, weil im Grundgesetz nicht vorgesehenen und nirgendwo rechtlich geregelten, Konferenzen der Ministerpräsidenten der Bundesländer sind zu wichtig für das Regieren in der Bundesrepublik, als daß man sie ein­fach ignorieren könnte. Das gilt für viele andere informelle Strukturen des "kooperativen Föderalismus" und der institutionellen "Politikverflechtung" (Fritz W. Scharpt) ohne Zweifel auch (vgl. auch Lehmbruch 1987). Neben den Fachkonferenzen der Landesminister, "vertikalen Fachbruderschaften" (Frido Wagener) und "Ressortkumpanei" auf Referentenebene sowie interfö­deral abgestimmten Musterentwürfen für bestimmte Gesetze gibt es eine Fülle von ungeschriebenen Grundsätzen, die die Praxis des Regierens prägen: Vor Gesprächen mit Staatsmännern im Ausland haben sich etwa die Regierungs­chefs der Bundesländer mit Vertretern der Bundesregierung ins Benehmen zu setzen; auf der anderen Seite werden die Bevollmächtigten der Länder regel­mäßig vom Staatsminister im Kanzleramt über die Kabinettssitzungen infor­miert. Wenn die Wahl des Kanzlers ohne Aussprache erfolgt (Art. 63 Abs. 1 GG), dann fordert das einfach informelle Regelungen heraus. "Wechselnde Mehrheiten" erschweren das Regieren und sind deshalb geächtet: Statt ein Programm mit Hilfe der Opposition zu verabschieden, wird es lieber ausge­setzt. Nur in seltenen Fällen zweifelt eine Fraktion die Beschlußfähigkeit des Parlaments an, obwohl diese eigentlich nur dann gegeben ist, wenn mehr als die Hälfte der Abgeordneten anwesend ist. Zum "guten Stil" gehört es, nach dem Ausscheiden aus dem Ministeramt nicht in den Parlamentsausschuß zu­rückzukehren, der sich mit diesem Ressort befaßt (Schulze-Fielitz 1984: passim).

Anderswo ist das Phänomen zwar ebenfalls erkennbar, seine Bedeutung aber strittig. Man könne wohl plausibel vermuten, die Präsidien der regieren­den Parteien würden zu den gewichtigsten Entscheidungszentren hierzulande gehören, schreibt Peter Haungs, aber empirisch nachgewiesen sei das - von Einzelfällen abgesehen (Rentzsch 1989) - bisher noch nicht. Und es er­scheine durchaus fraglich, ob solche Gremien in erster Linie oder auch nur vorrangig Entscheidungen treffen würden. Gegenseitige Information, Bera­tung, Koordination, Integration von Partei und Politik gehören ebenfalls zu ih­ren wichtigen Funktionen.

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Wie sich die informelle Steuerung der Bonner Regierungen seit 1949 ent­wickelte und veränderte, zeigt UVlfgang Rudzio. Zu den Thesen, die er aus sei­nen Studien für die weitere Diskussion von Koalitionsausschüssen und "Ele­fantenrunden" (der Vorsitzenden der Regierungsparteien) ableitet, gehört un­ter anderem die Beobachtung eines typischen Verlaufs: Informelle Entschei­dungsgremien werden im Verlaufe einer Legislaturperiode in dem Maße wichtiger, in dem der anfängliche Vorrat an Gemeinsamkeit abnimmt und die Verankerung der Kabinettsmitglieder in Parlament und Fraktion schwächer geworden ist. Politische Führung erscheine gerade in Demokratien, in denen Entscheidungszentren ein labiles Optimum zwischen größtmöglicher Kon­sens sicherung und hoher Entscheidungsfähigkeit finden müssen, unvermeid­lich und legitimerweise stets auch als hochgradig informaler Prozeß. Dies zu sehen und darzustellen, sei notwendig für ein realistisches Verständnis par­lamentarisch-demokratischer Politik.

5. Perspektiven der Regierungsforschung

Es kann nicht oft genug betont werden: Die Suche nach informalen Kompo­nenten des Regierens zielt nicht darauf ab, eine "Hlegale" oder "illegitime" Praxis zu entlarven. Angestrebt ist hier vielmehr, genauer als bisher zu erfas­sen, wie in der Bundesrepublik Deutschland faktisch regiert wird: Welche "Spielregeln" herrschen jenseits formaler Normen und Regeln? Sind "Netz­werke" der politischen Kommunikation erkennbar, die aus keinem Organi­gramm hervorgehen? In welchen Gruppen und Zirkeln fallen letztendlich die Entscheidungen? Informales Regieren muß dabei formale Normen nicht miß­achten oder verletzen. Manchmal fehlen einfach Richtlinien, an denen man sich im konkreten Fall orientieren könnte. In anderen Fällen würde ein strikt formales Vorgehen - wie beim "Dienst nach Vorschrift" - ein schnelles und flexibles Handeln erschweren und zu unerwünschten Konsequenzen führen. Wer auf den Dienstweg pocht, legt es womöglich nur darauf an, eine be­stimmte Entscheidung bewußt zu verschleppen. Die "Kunst" des Regierens besteht in der souveränen Beherrschung formaler und informaler Instrumente (vgl. schon Luhmann 1964).

Das Geschäft des Regierens vollständig formalisieren zu wollen, wäre eine Illusion. Spielräume sind notwendig. Versuche, alles und jedes formal zu re­geln, müßten zwangsläufig scheitern und würden bloß dazu führen, daß sich an anderer Stelle erneut informelle Strukturen und Prozesse herausbilden. Neue Formalisierungen bringen unvermeidlich auch neue informale Vorge­hensweisen hervor. Das hätten eigentlich auch die GRÜNEN aus Mensch­heitsgeschichte und Organisationstheorie wissen können; so aber brachte ihre

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Ankündigung, im Gegensatz zu den "Altparteien" immer öffentlich zu tagen, nur einen beträchtlichen Kräfteverschleiß, ohne zu verhindern, daß die ent­scheidenden Absprachen dann eben hinter den Kulissen erfolgten.

In der Praxis des Regierens kann es also nicht darum gehen, formale und in­formale Instrumente gegeneinander auszuspielen, sondern immer nur darum, eine geeignete Mischung zwischen beiden Komponenten zu finden. Informa­les Regieren besitzt gegenüber formalen Verfahren eine Reihe von Vorteilen (vgl. Bohne 1980: 68ff.): Zum einen weist es den politischen Akteuren Aus­wege aus Konflikten, die sich daraus ergeben, daß sie zumeist Träger mehre­rer Rollen sind (etwa Bundesminister und Partei vorsitzender) . Informalität er­öffnet praktisch eine zweite Handlungsebene, die die formale ergänzt. Entste­hen Probleme, die sich auf formalem Wege nicht lösen lassen, können die Akteure auf die informale Ebene ausweichen oder auf beiden Ebenen gleich­zeitig agieren. Auf diese Weise lassen sich außerdem Unsicherheiten verrin­gern, die aus in der Sache begründeten Zielkonflikten, aus Konflikten zwi­schen der Regierung insgesamt und einzelnen Akteuren sowie begrenzten In­formationen herrühren, und eine Verständigung auf gemeinsame Positionen erleichtern. Eine förmliche Entscheidung, die nur ein Entweder-Oder zuläßt, ist hingegen für manche Beteiligten inakzeptabel, die ihre Interessen nicht ge­wahrt sehen und "das Gesicht verlieren" könnten, und birgt von daher Risiken für den Bestand der Regierung. Informale Absprachen erlauben Kompro­misse, ohne daß rechtliche Standpunkte offiziell aufgegeben werden müssen. Weiterhin sind informale Vorgehensweisen dann sinnvoller, wenn sich auf die­sem Wege anstehende Entscheidungen mit weniger Aufwand herbeiführen und verwirklichen lassen als durch strikt formales Handeln (Knappheit der Ressourcen und Kosten-Nutzen-Prinzip). Schließlich können formale Be­schlüsse oft nur mühsam wieder aufgehoben werden; informale Entscheidun­gen erlauben eher eine flexiblere Anpassung an veränderte Umwelten.

Auf der anderen Seite ist natürlich nicht zu übersehen, daß informales Han­deln buchstäblich die "Schattenseite" des Regierens ausmacht: Diskrete Ab­sprachen sind für Außenstehende nicht nachvollziehbar, informelle Netz­werke schwerlich transparent. Proporzregel und Patronage (vgl. Wichmann 1986) kollidieren nicht bloß mit formalen Normen (Art. 22 Abs. 2 GG), son­dern führen bisweilen zu fragwürdigen Ergebnissen. Wichtig ist ferner, daß informales Regieren meist Gegenseitigkeit voraussetzt: Wer nichts zu bieten oder zu tauschen hat, ist ohne Chance; wer über Störpotential verfügt, kann für sich einiges herausholen, was aber für das Ganze nicht unbedingt optimal oder effektiv sein muß. Die "brauchbare Illegalität", von der Luhmann mit Blick auf manches informale Handeln der Verwaltung gegenüber Klienten spricht, kann auch fragwürdig werden.

Aufgabe der Forschung bleibt es demnach, die konkrete Mischung beider Komponenten erst einmal empirisch festzustellen, um - im Spannungsfeld

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von Effizienz, Transparenz, Partizipation und Legitimität - dann gegebenen­falls Kritik anzumelden und Vorschläge für bessere Lösungen zu entwickeln. Analytisch ist es jedenfalls sinnvoll, zwischen den formal vorgesehenen, den faktischen und den injunktionaler Hinsicht optimalen Beziehungen zwischen den handelnden Akteuren und beteiligten Organisationen zu unterscheiden. Die drei Ebenen müssen nicht notwendig harmonieren, so daß ihr systemati­scher Vergleich bereits erste Hinweise auf praktische Probleme des Regierens geben kann (vgl. Mayntz 1980: 9).

Die Beiträge des Bandes benennen - zumeist für Bonn und aus den vier zentralen Bereichen Führung, Entscheidung, Personal und Organisation -eine Vielzahl von Beispielen für das hier interessierende Phänomen. Es ging und geht darum, das Terrain zu sondieren, bevor an eine systematische Inte­gration der drei Ebenen gedacht werden kann. Das Ziel ist also klar; der Weg bleibt freilich mühsam. Was nunmehr folgt, macht jedenfalls deutlich, daß vermehrte Anstrengungen lohnen.

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Informelle Komponenten des Regierens

Klaus von Beyme

l. Der Stellenwert nichtformalisierten Regierungshandelns in unterschiedlichen Rergierungssystemen

Für eine juristische Betrachtungweise scheint die Abgrenzung formalisierten und nichtformalisierten Regierungshandelns relativ leicht. Formelles Regie­rungshandeln hat eine Basis in Rechtsnormen, ist instituionalisiert und unter­liegt öffentlicher Kontrolle. Der Sozialwissenschaftier hingegen wird auch an­dere Formen regelhaften Handelns als formelles Regierungshandeln akzeptie­ren. Informelles Handeln ist für ihn nicht mit dem Ruch des Illegalen umgeben. Im Gegenteil, aus der Organisationstheorie stammt die Einsicht, daß formalisiertes Handeln durch informelles Handeln ergänzt werden muß, um optimal wirksam zu werden.

Die Regelhaftigkeit des Regierungshandelns ist daher nicht in eine schlichte Dichotomie formell / informell, zulässig / rechtswidrig zu preSSelrl.. Die Vor­stellung eines Kontinuums scheint angemessener. Das Kontinuum formell / in­formell wird zweckmäßiger ergänzt durch die Unterscheidung "regelgemiiß" (auf grund üblicher sozialer Erwartungen) oder "deviant" im Sinne der gelten­den Normen und Erwartungen, die nicht auf der gleichen Ebene liegen.

formalisiert ........ ---------------.~ nicht formalisiert

I I nonkonform deviant

Ob ein öffentliches Handeln abweichendes Verhalten darstellt oder konform genannt werden kann, läßt sich nicht in jedem Fall von vornherein festlegen, wie etwa beim Bestechungsversuch. Viele Handlungen öffentlicher Amtsträ­ger können erst durch Analyse des Kontextes klassifiziert werden. Ein Dekan ruft den zuständigen Kultusminister an, um eine Berufung zu beschleunigen. Daran ist nichts Regelwidriges. Beinhaltet diese nicht formalisierte Aktion nur, die Berufung von Platz 1 zu beschleunigen, ist sie nonkonfonn. Versucht

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der Dekan jedoch, seinen Minister - ohne Autorisierung durch die Fakultät - dazu zu beschwatzen, Platz 1 zu übergehen und Platz 2 zu berufen, so liegt "abweichendes Verhalten" vor.

Einige Systeme prämieren nichtformalisiertes Handeln, andere versuchen es einzudämmen. Kulturelle Komponenten spielen dabei eine Rolle. Wo eine stark hierarchische Kommunikation schon wegen eines komplizierten Schriftsystems wie in Japan weitgehend mündlich stattfindet, erscheint Regierungshandeln vielfach informell. Aber es wäre ein Fehler, Erwartungshaltungen nur auf grund geschriebener Normen anzunehmen. Prämodeme Systeme, etwa des Mittelal­ters, wären in ihrer festgefügten Rollenerwartung an den Herrscher in einer selbstverständlichen christlichen Ordnung sonst nicht zu verstehen. Wo ein Rechtssystem auf common law beruht, ist selbst der Umgang mit Normen infor­meller im Zuschnitt, etwa beim "plea bargaining" im Strafprozeß der USA.

Neben kulturellen und rechtlichen Grundlagen der Systeme spielen die Machtverteilung im System und ihre Rechtfertigung in den vorherrschenden politischen Theorien eine Rolle für die jeweilige Abgrenzung von Regierungs­handeln als nichtformalisiert, formalisiert, nonkonform oder abweichend.

In der prämodemen Theorie der Politik wurde Politik als Kunstlehre begrif­fen und von Wissenschaft abgesetzt. Alle Regierung schien somit informell. Elitentraining enthielt Klugheitslehren, bei denen formelles Regieren nur Rahmenbedingungen setzte und nicht als Wesen der Politik erschien. Wo die Verselbständigung des politischen Systems sich in einer Theorie des Macht­staats niederschlug, wie bei Ranke oder Treitschke, war Politik ebenfalls über­wiegend Kunstlehre, die die informelle Seite des Regierens und der Machtaus­übung betraf. Der Rechtsstaat als Gegenkonzept betonte die regelhafte und formelle Seite des Regierens. Politik wurde Rechtsregeln unterworfen, infor­melle Arcana imperii wurden nur noch in Nischen - wie bei den Geheim­diensten - geduldet. "Die Staatsräson im Verfassungsstaat" (Friedrich 1961) tat sich schwer, Bereiche des Politischen dem Regelspiel des Konstitutionalis­mus zu entziehen. Der Verfassungsstaat verband Politik mit dem repräsentati­ven System. Wahl dominierte Politik. Unterhalb der Politik wurde strikte Ver­antwortlichkeit postuliert. Die Verwaltung hatte neutral und dem Willen der gewählten Politiker unterworfen zu sein.

Die konstitutionelle Mythologie folgte dieser Unterscheidung. Die Verfas­sung von 1791 sprach der Verwaltung jeden repräsentativen Charakter ab (Ti­tre I1I, chapter IV, sect. 11, art. 2). Bis zur Verfassung der 5. Republik hielt sich die Formel, die Regierung "dispose de l'administration" (Art. 20). Die spanische Verfassung von 1978 gab das Echo, daß die Regierung die Verwal­tung "dirigiere" (Art. 97). Je anfälliger ein System für Korruption erschien, umso vollmundiger war die Reglementierung einer untergeordneten Verwal­tung, der ein "guter Geschäftsgang und Unparteilichkeit" konstitutionell vor­geschrieben wurde (Italienische Verfassung von 1947, Art. 97).

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Nur der deutsche Konstitutionalismus hat für hundert Jahre die Konsequen­zen aus dem demokratischen Repräsentativsystem aufzuhalten versucht. Die Wiener Schlußakte (Art. 57) beließ die Substanz der Macht beim Fürsten und nur die Ausübung der Macht war an die Mitwirkung von Ständen gebunden und den konstitutionellen Regeln unterworfen. Informelle Macht konnte somit das Regieren im Kernbereich fürstlicher Aktivitäten weiterbestimmen. Aber seit Hegel in der "Rechtsphilosophie" (§279) den Staat als abstraktes Kollek­tiv zur Vermittlungsinstanz zwischen Fürsten und Volk werden ließ, wurde der Machtstaatsgedanke rechtlich vorgeformt. Rein informelles Regieren wurde somit zunehmend limitiert, nicht nur durch die faktische Zunahme der Bedeu­tung der Stände, sondern auch durch den Ausbau der Gesetzesstaatlichkeit selbst im Bereich der diskretionären Fürstengewalt.

Mit Zunahme ständisch-parlamentarischer Macht formalisierte sich Macht und Verantwortlichkeit der Regierung. Der Ministerpräsident erhielt eine her­ausragende Stellung, Ministersolidarität mußte sicherstellen, daß das Kabi­nett politisch einheitlich war. Politische Verantwortlichkeit verdrängte die eher ephimärejuristische Verantwortlichkeit, die Ministern und Beamten bis dahin im Bereich informellen Regierungshandelns Grenzen gesetzt hatten. Nur im preußisch-deutschen Konstitutionalismus hielt sich die Zwitterstellung des Kabinettsrats noch eine Weile. Formell gesehen war er eine Art Protokollfüh­rer für die Sitzungen der Minister, aber als Vertrauter des Königs war er eher ein Schattenpremierminister, der die informelle Machtseite des Regierens im Namen des Königs gegen die Elemente formell-verantwortlicher Politik hoch­hielt (Hintze 1962: 289f.).

Die Aristokraten neigten zu dem preußischen Motto:

"und der König absolut, wenn er unseren Wlilen tut."

Sie hatten die Tendenz, sich zu Premierministern zu mausern. Auch in Preußen tat die Krone sich in der Reformzeit mit den großen Herren wie Har­denberg und Stein schwer. Als "Kabinettsrat" kam daher der aufgestiegene Kleinbürger earl Friedrich von Beyme weit besser in Frage. Schon Thcque­ville (1952: 109) hatte für das Ancien regime festgestellt, daß der Rat des Kö­nigs kaum von den "grand seigneurs" besetzt war, sondern eher von "Person­nen mediokrer oder gar niederer Herkunft". Sie schienen geeigneter, dem Kö­nig als Instrument für "informal government" zu dienen.

Der Staat als rationalisierter Anstaltsbetrieb neigte nach Max Weber (1958: 5m) mit Demokratisierung und Parteipolitisierung zur klaren Scheidung von Fachbeamten und politischen Beamten. Die konstitutionell gezogene Grenze begann sich jedoch zu verwischen, Politik und Verwaltung interpenetrierten einander.

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Die Prinzipien Hierarchie und Gleichheit, Einheit und Differenzierung la­gen in permanentem Konflikt. Der Dualismus ließ sich kaum säuberlich ge­trennt halten. Bei der Demokratisierung Portugals in den 70er Jahren wurde zwischen dem "Revolutionsrat" als Element informellen Regierens und der "regulären Regierung" eine Weile versucht zu balancieren (Blondel 1982: 220f.). Das ganze System ist mit konservativer Rechtsentwicklung aber. wie­der unter die Prinzipien repräsentativer Demokratie gebracht worden. Der Primat formeller Politik setzte sich de jure wieder durch.

In den repräsentativen Demokratien wurden vielfaltige Mischformen der Versöhnung widerstreitender Prinzipien wie Politik und Verwaltung, formel­les und informelles Regierungshandeln verwirklicht. Außerhalb dieser Band­breite lag das kommunistische Modell, in dem der Dualismus durch die Politi­sierung aller Funktionen und ihre Unterordnung unter die Partei unterdrückt wurde. Am anderen Ende des Spektrums liegen autoritäre Monarchien, die tendenziell auch die Regierung entpolitisieren. Wo parlamentarische Verant­wortlichkeit durchgesetzt wurde, arbeiten sie gern mit Fachleute-Ministerien ohne Parteibindung, wie es in der demokratischen Ära in den skandinavischen Ländern und der Weimarer Republik noch weithin geschah.

Zwischen diesen Extremen liegt das amerikanische Modell, das im Beute­system des 19. Jahrhunderts kaum eine Fachbürokratie ausbildete. Max Weber erschien dies als ein Anachronismus in einer universellen Bewegung zum ra­tionalen und professionellen Anstaltsbetrieb, der als Dilettantenverwaltung nur auf einer fernen Insel noch denkbar schien. Der Kuriosität halber akzep­tierte er die amerikanische Selbstrechtfertigung: "Wir haben lieber Leute als Beamte, auf die wir spucken, als wie bei euch eine Beamtenkaste, die auf uns spuckt" (Weber 1958: 529). Das amerikanische Regierungsmodell paßte schlecht in Webers Idealtyp, es hat sich ihm jedoch in den letzten hundert Jah­ren angenähert. Dennoch bleiben gewichtige Unterschiede des "govemment 01 strangers" in Washington zum Dualismus von formellen und informellen Regierungspositionen im parlamentarischen System, das in Europa domi­niert. Hier wird das Gleichgewicht zwischen Politik und Verwaltung, zwi­schen klassischen, nur an Rechtsregeln orientierten Beamten und modernen politischen Beamten, zwischen formellen und informellen Formen des Regie­rens am subtilsten zu verwirklichen versucht.

Neben dem Ansatz konstitutioneller Rechtsstaatlichkeit hat noch ein eher soziologisch orientierter Approach versucht, das Verhältnis von formellen und informellen Seiten des Regierens zu untersuchen, nämlich der Bereich der Eliten- und Führungsforschung. Elitentheorien hielten sich noch an die positionelle Orientierung der konstitutionellen Regierungslehre. Eliten hatten formelle Herrschaftspositionen inne, aber nicht alle Eliten waren auch Führer (Welsh 1979: 17). Die Verwaltungslehre hat von der Betriebswirtschaft mehr und mehr eine rationale Führungstheorie übernommen. Sie bleibt jedoch in

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beiden Bereichen relativ formalistisch, mit Ausnahme vielleicht des interak­tionistischen Ansatzes, der auch in der betriebswirtschaftlichen Führungstheo­rie eine Rolle spielte (Kieser 1987: 870). Tendenziell sollte jeder Inhaber einer Position zum Führer gemacht werden. "Elitäre" Elitentheoretiker haben dies seit Mosca (1950: 363) nicht für möglich gehalten. In Italien hat Mosca sich folgerichtig gegen den von Pareto aus dem französischen eingeführten Elitebe­griff gewehrt. Er lancierte zur Unterscheidung von Elite und Führung den noch heute dominanten Begriff der politischen Klasse und setzte ihm den Be­griff der classe dirigente gegenüber, die auch informelle Führung ohne for­melle Position mit umfaßte. In empirischen Studien zum italienischen System verengte sich jedoch der Begriff der politischen Klasse rasch auf die Parla­mentarier und ihre Verflechtung mit Partei- und Regierungseliten (Cotta 1982: 160). Sottogoverno und die Führung im Bereich von Wirtschaft und den enti pubblici kamen erst durch den Begriff der herrschenden Klasse ins Visier.

Formelle und informelle Aspekte des Regierens waren in dieser Betrach­tungsweise nicht säuberlich zu scheiden. Auch die Verwaltungselite, die Klientelbeziehungen zum interessengeleiteten Subgovemment unterhielt, hatte formelle Ermächtigung zur Einflußnahme. Die Gewaltenteilungsdoktrin war andererseits nicht so stark demokratisiert, daß jede Einflußnahme der Po­litiker auf die Verwaltung für legitim und sinnvoll erachtet wurde, obwohl sie nach der formellen Struktur her durchaus in Ordnung schien. PoXitischer Ein­fluß auf die Legislative gilt als legitim, damit sind auch informelle Beziehun­gen eingeschlossen. Politischer Einfluß auf die Justiz gilt immer noch als ille­gitim (Luhmann 1971: 81). Formelle Einflüsse von Parlament und Regierung auf die Rechtsprechung wären wohl noch schlimmer zu beurteilen als infor­melle durch interessierte Betroffene.

Auch bei den drei Stufen (vgl. Schema) des politischen Systems sind die in­formellen Seiten des Regierungshandelns je nach Kontext unterschiedlich zu bewerten. Charismatische Führung der Regierungsspitze gegenüber Parteien und Wählern wird seit Max Weber als notwendiges Korrelat des rationalen Anstaltsbetriebs akzeptiert: Einflüsse der Parteien auf Parlament und Regie­rung wurden erst in jahrzehntelangen Kämpfen durchgesetzt. Einflüsse auf die Verwaltung werden noch heute mit allen Begleiterscheinungen eines konstitu­tionellen Aberglaubens verketzert. Wo die geringe Zahl der Ämter und die Unparteilichkeit der Verwaltung geradezu konstitutionellen Rang genossen, wie in Norwegen, stieß die Ausbreitung politischer Führungsbeamter auf be­sonders starke Vorbehalte. Aber auch die Konservativen, die an einer Legali­sierung der Verschränkung von Politik und Verwaltung kein Interesse hatten, weil sie auf die natürliche informelle Verschränkung durch Attitüden und Überzeugungen bauen konnten, haben in ihren kurzen Intermezzi an der Macht nach dem Zweiten Weltkrieg von den neuen Möglichkeiten nicht weni­ger Gebrauch gemacht als die Arbeiterpartei (Olsen 1983: 97).

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Informelle Formen des Regierens müssen im Spannungsfeld von formellen und informellen Seiten untersucht werden, um für die Analyse gesamter poli­tischer Systeme relevant zu werden. Von untergeordnetem Interesse sind die

- informellen Aspekte, die in jeder formalen Organisation zur Verbesserung der Effizienz unerläßlich sind. Von der Organisationstheorie in der Sozio­logie haben die Juristen lernen müssen, daß die konstitutionelle Verketze­rung jeder informellen Handlungsform dysfunktional ist. Herbert Simon (1968: 148 f.) hat schon 1945 auf diesen Umstand hingewiesen. Wie infor­melle Strukturen als "Ausweitung" oder "Adaption" formeller Strukturen in Bürokratien funktionieren, ist, unter mehr oder weniger starker Abset­zung von Max Webers Idealtyp einer rationalen Bürokratie, zum umfang­reichen Forschungszweig geworden (Downs 1966: 63 f.). Weber - als an­geblicher "Soziologe des 19. Jahrhunderts" - wurde gelegentlich mit sei­nem rationalen Indikatorenkatalog angesichts amerikanischer Realitäten wie eine Kuriosität behandelt (Davis 1970: 71 f.). Mit Rollentheorien wur­den die formellen und informellen, die dienstlichen und privaten Aspekte von Verwaltungshandeln angegangen. Duzfreundschaften erscheinen als Enklaven im dienstlichen Verkehr, die in formellen Situationen unterbro­chen werden müssen (Luhmann 1964: 267). Die sublime Reaktion auf Symbole, die das Individuum in formalen Organisationen erkennen läßt, wann informelle Vertraulichkeiten zu unterbleiben haben, ist im Hobnob­bing-Stil der Regierungen ein wenig abhanden gekommen, wo Kohl gern das pfeifenrauchende und Sauerkraut liebende Tabakskollegium erst unter dem Druck der Antiraucherkampagne den Augen der Medien stärker ent­zogen hat. Die ungenierte Ausbreitung des Informellen hat auch Verwal­tung und Hochschule erfaßt. Nur in Prüfungen kommt das Duzen zwi­schen Studenten und Professoren signifikanterweise selten vor.

Informelles Regierungshandeln kann auch gewiß informelle Seiten der Poli­tik, die aus dem Persönlichkeitssystem gespeist werden, nicht ins Zentrum rücken, so schöne Enthüllungen es auch über Küchenkabinette amerikani­scher Präsidenten und "Speziwirtschajt" europäischer Premierminister gibt. Auch der Einfluß von Nancy Reagan oder Rosalind Carter war informelles Re­gierungshandeln. Die größere Formalisierungskapazität des parlamentari­schen Systems mag ein Klatschkolumnist daran erkennen, daß Juliane Weber - in der deutschen Presse glücklicherweise diskret etikettiert als "Intime Ver­traute des Kanzlers" - immerhin eine formelle Position bekleidet. Prioritäts­ansprüche zwischen Brunhild und Krimhild vor der Kirchentür bleiben somit durch feste Rollenzuweisungen gemildert und verhindern Nibelungentragö­dien. Alle diese Formen von informellem Regierungshandeln können jedoch allenfalls individualisierend behandelt werden und sind wenig erhellend für die Systemanalyse. Daher bleiben auch Luhmanns berühmte Gespräche von

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Politikern in der Pinkelpause als informelles Regierungshandeln hier außer Betracht.

Für die Systemanalyse als massenhaftes, nicht nur individualisierend er­forschbares Phänomen ist hingegen die schwankende Grenze zwischen Regie­rung und Politik einerseits und Verwaltung andererseits relevant. Zwei gegen­läufige Prozesse lassen sich mit zunehmender Autonomisierung der Subsy­steme feststellen: eine Politisierung der Verwaltung und eine Bürokratisierung von Regierungshandeln. Luhmann (1987: 148) unterschied drei Etagen des po­litischen Systems, die er Publikum (Wähler), Politik (vor allem die Parteien) und Verwaltung (Parlament, Regierung, Verwaltung) nannte. Sie differenzie­ren sich einerseits aus, andererseits sind sie zunehmend aufeinander angewie­sen. Gesetzgebung und Verwaltung müssen in der Politikformulierung den Wandel forcieren. Das Rechtssystem muß den politischen Prozeß von der Dauerdiskussion entlasten und Kontinuität schaffen. Selbst die einst total auf politisierten Wandel eingestellten sozialistischen Systeme haben sich dieser Entwicklung nicht mehr verschlossen und schufen eine Verwaltungs- und Ver­fassungsgerichtsbarkeit, in denen sich die Partei nicht mehr ständig einmischt.

11. Informelle Elemente in modemen Regierungssystemen

Mehrere Faktoren determinieren das Ausmaß der Wirksamkeit informeller Faktoren:

a) Die Organisation des Regierungssystems b) Rollenperzeption und Funktion der Beamten, einschließlich der Verflech­

tung der Verwaltung mit dem Parteiensystem c) Verflechtung von Bürokratie und organisierten Interessen d) Ausmaß der legislativen Contre-Bürokratie.

a) Die Organisation des Regierungssystems

Die Durchsetzungsfähigkeit informeller Einflüsse auf die Regierungsarbeit hängt von der Organisation der Regierung und ihrer Arbeit ab. Die dual struk­turierte Exekutivspitze parlamentarischer Systeme verteilt die Gewichte zwi­schen "Profis" und Amateuren bereits zwischen den beiden Spitzenämtern (BlondeI1980: 66 f.). Im monokephalen präsidentiellen System der USA wird der Präsident zum Amateur, selbst wenn er ein "Profi" gewesen sein sollte. Allerdings hatten weniger Präsidenten Verwaltungserfahrungen als parlamen­tarische Premiers, die lange als Minister gedient hatten, ehe sie ins höchste Amt einrückten. Wenige Präsidenten hatten in den USA Verwaltungserfahrun-

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gen. Allerdings haben Außenseiter wie Carter und Reagan den sonst kaum einsichtigen Bezug zur Politik für ihre Wähler durch eine Zeit als Gouverneur eines Staates hergestellt. Die amerikanische Regierung wird nie den Charak­ter einer "Wahlkampjvereinigung an der Macht" los. Rekrutierung läuft nicht nur über Kompetenz, sondern aufgrund von Unterstützung eines Kandidaten im Wahlkampf. Von ca. 700 Top-Führungsposten sind nur wenige außerhalb der professionellen Kreise Washingtons bekannt (Heclo lCJ77: 36). Die Rekru­tierung als Staatssekretär mit ca. zweijähriger Amtszeit ist nicht der Beginn ei­ner politischen Karriere, sondern in der Regel ihr Ende. Es wurde in Kauf ge­nommen, weil die Politik nur "channel opening" für profitable Karrieren in der Wirtschaft darzustellen pflegte. Die schiere Masse der Ämter stärkt infor­melle Einflüsse. Die Organisationsgewalt des Präsidenten stößt nicht nur auf gesetzgeberische Restriktionen und Usancen, die in parlamentarischen Syste­men die Zahl der Ministerien stabil hält. Weniger wäre vielleicht mehr. Der Vorschlag (R. Rose in: Rose/Suleiman 1980: 342) die Ämterzahl zu begren­zen, wird immer wieder diskutiert. Selbst ein Kennedy stöhnte, er kenne nur Wähler und wisse nicht, wie er 1200 Posten füllen solle. Die Gemeinschaft der "skilled campaigners" kann nicht zur "Crew professionalisierter Regie­render" werden, weil keine Solidarität und keine Kontinuität im Amt besteht. Die informelle eher persönliche Loyalität, die die Gefolgschaft an einen Präsi­denten bei der Amtsübernahme bindet, setzt sich nicht in Solidarität um. Im Gegenteil, die Amtsinhaber müssen sich im Gestrüpp von Subgovernments, die mit Interessen verbunden sind, und dem log rolling mit Gruppen im Kon­greß und mit anderen Ämtern behaupten. Sie beginnen als Freunde des Präsi­denten und sind bald seine geborenen Feinde. Kein Wunder, daß der Präsident ständig "feuert" oder kaltstellt. Security advisers können den Außenminister durch ihre zwar nicht informellen, aber doch für bestimmte Politikfelder in­formellen Zuständigkeiten, paralysieren (z.B. Brzezinski bei Vance). Gänz­lich informelle Küchenkabinette müssen in der Einsamkeit des Oval Office über dem Dschungelkrieg der Interessen den Streß für Präsidenten mildern helfen. Eine klare Grenze zwischen Politik und Bürokratie existiert nicht. Ein Präsident klagte: "the whole political-bureaucracy thing is all mixed up" (zit. Heclo lCJ77: 35). Manchmal kam es zu Rücktritten selbstbewußter Politiker wie bei Haig und Vance, aber es gab auch Dupierte, die ausharrten, wie Shultz, der immer wieder durch Reagans telekratische Alleingänge desavou­iert wurde, wenn er auf Konferenzen festsaß und andere informelle Ratgeber das Ohr des Präsidenten gewannen. Als Ideengeber wird der Präsident trotz seiner herausragenden Rolle bei den Insidern von nur 17 % gesehen (Rose 1988: 175).

Parlamentarische Systeme tendieren hingegen dazu, alle Einflüsse von ent­scheidender Bedeutung zu legalisieren und zu formalisieren. Im britischen System tauchen formelle Ratgeber spät auf. Wilsonbeschönigte: "in less hec-

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tic days, ministers were their own political advisers" (zit. Rose/ Suleiman 1980: 28). Informelle Einflüsse sind zudem permanent durch die Rückkopp­lung der Politikformulierung an Parteitagsbeschlüsse und Parteigremien gege­ben. Je stärker sich das System demokratisierte, je mehr die Basis sich in Par­teien organisierte, je stärker der Einfluß der Partei außerhalb des Parlaments auf die Fraktionen im Parlament wurde (sogar bei den bürgerlichen Parteien), umso stärker wurden auch Einflüsse von außerhalb des institutionalisierten Entscheidungssystems. Waren die Einflüsse noch informell? Wo Parteitagsbe­schlüsse eingeklagt wurden, waren sie es de facto nicht - allerdings de jure - aber das Gros der Einflüsse ist weniger spektakulärer Art in Form von An­rufen "aus der Baracke" im Kanzleramt.

Im parlamentarischen System ist die Erarbeitung der Gesetzesvorlagen in der Bürokratie das Normale und ist kaum "informell" zu nennen. Der ameri­kanische Präsident muß Umwegverfahren wählen und einen Abgeordneten finden, der die Vorlage einbringt. In der Regel ist das nicht schwer, aber es gab auch Fälle, in denen der Präsident keinen Abgeordneten oder Senator gefun­den hat, und nicht selten fand er den falschen (Ornstein 1981: 131). Gesetzge­bungsverfahren in parlamentarischen Regimen sind transparenter. "Vernehm­lassungsverjahren" sind vielfach formalisiert und die informellen Einflüsse werden kanalisiert. Interessengruppenvorlagen gehen den Ausschüssen nicht selten als Begleitmaterial zu. Im amerikanischen System hingegen hat der Ausschußvorsitzende weite Diskretion. Das funktionale Äquivalent des euro­päischen Ministers bei der Gesetzgebungsinitiative ist eher der Ausschußvor­sitzende im Kongreß als der "secretary of state" (Jann 1990: 311). In den USA sind Klagen über permanente Einmischungen der Kongreß-Ausschüsse in die Verwaltung so häufig wie bei uns Klagen über Bürokratie-Einflüsse im Ge­setzgebungsprozeß. Sind diese Einflüsse der Ausschußvorsitzenden im Kon­greß informell zu nennen? Parlamentarische Bräuche und Senioritätsregeln schaffen schließlich nicht weniger Berechenbarkeit als Verfassungsartikel und formelle Gesetze. Erst durch die Verquickung der Ausschußeliten mit dem Interessen-Subgovernment schlägt der informelle Einfluß zunehmend durch (vgl. Punkt 3).

Im präsidentiellen System ist das Gegengewicht gegen Interessenfilz und organisatorische Unübersichtlichkeit ein knallharter Enthüllungsjournalis­mus. In parlamentarischen Systemen Europas sind die Medien weniger re­spektvoll geworden, aber ihre Entlarvungsfunktion erscheint weniger vor­dringlich angesichts klarerer Instanzenwege und formeller Einflußkorridore.

Informelle Beratungstätigkeit im Prozeß der Politikformulierung ist im prä­sidentiellen System weit verbreitet. Sie breitet sich als extraparlamentarische zunehmend auch in parlamentarischen Systemen aus, vor allem in Schweden (Jann 1990: 400). In Großbritannien werden die Royal Commissions formell parlaments intern organisiert. Informelle Einflüsse sind dadurch jedoch nicht

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ganz auszuschließen. Councils of Economic Advisers, wie sie Amerika ent­wickelte, breiten sich aus, aber ihr Einfluß wurde in Europa auch begrenzt und kanalisiert. In der Bundesrepublik soll das Pendant keine direkten Emp­fehlungen geben. Es bleibt jedoch die Frage, ob damit die kryptischen Ein­flüsse nicht eher zunehmen, zumal viele Wirtschaftsinstitute in der Gesell­schaft sich gerne anbieten, die Advice-Function extensiver wahrzunehmen, die den "Wirtschaftsweisen" verwehrt ist.

Im präsidentiellen System gibt es keine Kabinettsdisziplin und keine klare Ämterhierarchie. Wo der Ministerrat im parlamentarischen System durch Koalitionsfraktionierung wie in Italien oder durch dorrenti innerhalb der Par­teien an Bedeutung verliert, muß die stärkste Regierungspartei vielfach Koor­dinationsfunktionen übernehmen, und dies muß wohl eher zu den informellen Aspekten des Regierungshandelns gerechnet werden. In Italien ist der Expo­nent einer Fraktion oft eher im Bilde als die gleiche Person als amtierender Minister (Cassese in: Rose/Suleiman 1980: 176).

Die Arbeitsweise parlamentarischer Regierungssysteme beeinflußt das Aus­maß informellen Regierungshandeins. Wo interministerielle Ausschüsse auf­grund der großen Zahl von Ministerien an Bedeutung gewinnen, verliert das Kabinett an formellem Einfluß. Da die Minister sich meist in ihnen von hohen Beamten vertreten lassen müssen, wächst der informelle Einfluß der Bürokra­tie auf die Regierungsarbeit besonders in Systemen mit Exekutivdominanz wie in Frankreich (Quermonne 1987: 505).

Parlamentarische Staatssekretäre wurden im Zeitalter des Eifers für Demo­kratie und Transparenz zur "Parlamentarisierung der Verwaltung" konzi­piert. Mit der Hierarchisierung von parlamentarischen Staatssekretären und Staatsministern und der Spezialisierung ihrer Aufgaben bei der Existenz meh­rerer solcher Ämter pro Ministerium, verengen sich die Aufgaben. Ihre Ab­hängigkeit von der Bürokratie wächst und ihre Funktion, Kontakte mit Grup­pen zu halten, zieht auch sie in das "Subgovemment" hinein, das vom Filz aus Verwaltung und Interessengruppen konstituiert wird (Mayntz in: Rose/ Sulei­man 1980: 168). Der gute Vorsatz, die Grenzen zwischen Verwaltung und Po­litik zujlexibilisieren und dennoch transparent zu machen, kann gelegentlich in der Stärkung der informellen Aspekte des Regierungshandelns enden, die nicht Teil des demokratischen Kredos ist.

b) Rollenperzeption und Funktion von Beamten

Max Webers klare Unterscheidung beherrscht noch immer die Typologien. Aber ihre empirische Verteilungshäufigkeit hat sich in diesem Jahrhundert ge­wandelt. Es geht auch nicht mehr um Webers Dichotomie "Dilettanten versus professionalisierte Verwaltung". Die Verwaltung ist auch in Amerika keine

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reine Beute-Verwaltung mehr. Im präsidentiellen System der USA ist die poli­tische Karriere eine Art Durchlauferhitzer für Karrieren in anderen Subsyste­men. Aber auch in relativ traditional strukturierten parlamentarischen und se­miparlamentarischen Systemen ist die horizontale Mobilität zwischen Wirt­schaft und Bürokratie groß, wie in Japan und Frankreich (Aberbach 1981: 17). "Pantouflage" wird dieser Karrierewechsel in Frankreich genannt. Abge­stützt wird er durch ein Ausbildungs- und Auslesesystem, in dem die grandes ecoles den Zugang zu allen wichtigen Elitensektoren in Politik, Verwaltung und Wirtschaft regeln (Suleiman 1978: 2'D; Granick 1972; Birnbaum 1978: 66). Das Ethos der technokratischen Verwaltung bei hohem Sinn für Politik verschmolzen in diesem Typ. Dennoch wurde auch hier zwischen "admini­stration de gestion" und "administration de mission" unterschieden. Letztere war die politisch-orientierte, erstere war das, was in Putnams Studien "klassi­sche Bürokraten" genannt wurde (Querrnonne 1987: 528). Die liberale Ten­denz, den Wettbewerb und die Meritokratie zu stärken, vor allem unter der Präsidentschaft Giscard d'Estaings, führte zur Rekrutierung von politischen Beamten und zum diskretionären Einsatz durch den Präsidenten. Diese Praxis der Politisierung der Beamtenschaft wurde als "Beutesystem a la jra1U}ise" nicht gut aufgenommen (Bodiguel/Quermonne 1983: 231). Die "Jonctionna­risation" der politischen Klasse in der gaullistischen Ära zunehmender Präsi­dentenmacht wurde von einer Politisierung der Beamtenschaft ab 1974 abge­löst. Der Machtwechsel 1981 im Präsidentenamt durch Mitteraltld hat diesen Trend noch verstärkt. Die Ministerpräsidenten kamen jedoch weiterhin über­wiegend aus der hohen Beamtenschaft. Auch die Sozialisten bevorzugten den Typ "Fabius".

In Italien hingegen wandelte sich das Bild. Nur die älteren Führer wie Co­lombo und Andreotti hatten längere Verwaltungserfahrung, ehe sie in das Amt des Ministerpräsidenten einrückten (Cassese in: Rose/Suleiman 1980: 176). Die hohe Bürokratie blieb jedoch dem Muster des klassischen Bürokraten ver­haftet, zumal ca. 70 % - wie in der Zeit Crispis im 19. Jahrhundert, der die Bürokratie zum Aufstiegsvehikel der Mittelklassen des Südens werden ließ, die in der Wirtschaft gegen den Norden wenig Chancen hatten -- noch immer im Mezzogiorno rekrutiert wurden (ebd.: 179). Eine Stärkung der informellen Einflüsse kam nicht nur durch das sottogoverno zustande, sondern auch durch die "grands commis" der Direktoren von Staatsunternehmen, Präfekten und Bankpräsidenten, die manchmal als die "reale Regierung" im Vergleich zur formellen tituliert wurden.

Trotz der legalistischen politischen Kultur, die den Deutschen in allen Civic Culture-Studien nachgesagt wurde, haben sich die deutschen Verwaltungseli­ten stark modernisiert. Der "Jawoll-Typ" nahm ab. Die deutschen Verwal­tungseliten haben politische Einflüsse in der Verwaltung zu 43 % abgelehnt. Sie lagen damit in der Mitte zwischen den Briten (9 %) und den Italienern

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(83 %). In der Akzeptanz von parteipolitischen Einflüssen lagen sie sogar noch vor den Briten, was etwa der in Deutschland festgestellten Parteibuchver­waltung entspricht (Putnam 1975: 99). Das Wachstum moderner politisch orientierter Bürokraten hat die informelle Regierungstätigkeit gestärkt, da die Bürokraten aus ihrer subalternen Rolle heraustraten und politische Wertent­scheidungen in der modernen Leistungsverwaltung zunahmen. Italien konser­vierte stärker einen altmodischen Beamtentyp, auch weil es keine alternieren­den Regierungen kannte. In Großbritannien und in der Bundesrepublik nahm nach einem Machtwechsel jeweils die Zahl der politischer denkenden Verwal­tungseliten zu. Das gilt vor allem für die SPD. Aber es kam keineswegs zu ei­ner totalen Auswechslung der Parteibuchverwaltungen. Es kam eher zu einem Mischtyp von Verwaltungsfachleuten und einem Gleichgewicht zwischen Po­litik und Verwaltung, bei dem der Politisierung enge Grenzen gesetzt wurden. Der parteipolitischen Betätigung von Verwaltungseliten wurden durch Re­striktionen und Mäßigungsklauseln in den meisten parlamentarischen Demo­kratien enge Grenzen gesetzt (von Beyme 1988). Der neue Mischtyp war un­gleich auf die Sektoren verteilt. Moderne Auffassungen überwogen in den so­zialstaatlich orientierten Ministerien. Wo wirtschaftliche Planung eine Rolle spielte, wie in Frankreich und Italien, wurde sie ganz überwiegend von mo­dernen Bürokraten getragen, weil die Politiker sich aus dem Routinegeschäft rasch zurückzogen (Cassese in: Rose/ Suleiman 1980: 191).

In den romanischen Ländern war die Bildung ministerieller Kabinette der Komprorniß zwischen Politik und Verwaltung. In Frankreich entstanden sie schon in der 3. Republik und wurden 1911 gesetzlich geregelt (Querrnonne 1987: 504). In Italien entstanden sie nach dem Kriege (Cazzola 1978: 323). In Frankreich bevorzugten die Minister bei der Rekrutierung für die cabinet mi­nisteriel Verwaltungsfachleute aus den grands ecoles. Der Dienst in diesem engen Beraterkreis schafft Gefahren der Entlassung bei Ministerwechsel, war aber im ganzen gleichwohl ein wichtiges Karrierevehikel für jüngere Kräfte, die auf diese Weise differentielle Kontakte für ihre zukünftige Karriere her­stellten (Suleiman 1978: 104). Die parteipolitische Auslese war dabei keines­wegs universal. Häufig wurden andersdenkende, innovative junge Kräfte an­geheuert, die sich erst nach einiger Zeit im Dienst auch mit der Partei ihres Dienstherren identifizierten.

Die verschiedenen Formen der Interpenetration von Politik und Verwaltung haben informelle Einflüsse von Bürokraten gestärkt, aber zugleich die politi­sche Durchsetzungsfähigkeit der politischen Führung gegenüber der Verwal­tung erhöht. Im Vergleich zur Hilflosigkeit eines amerikanischen Staatssekre­tärs gegenüber seinem Ministerium, wenn er gegen den im Haus entwickelten Konsens des subgouvernementalen Filzes verstößt, haben parlamentarische Systeme für ihre politische Steuerung vergleichsweise die effektivere Lösung gefunden. In allen parlamentarischen Systemen ist die Herausbildung des po-

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litischen Administrators im Vormarsch, der politische und administrative Ziele zu integrieren versucht und formelle und informelle Mechanismen der Gestaltungsmacht im Gleichgewicht zu halten trachtet (Campbell/Naulls 1987: 88).

c) Verflechtung von Bürokratie und organisierten Interessen (subgovemment)

Das Konzept informellen Regierungshandelns würde unzweckmäßig ausge­weitet, wenn alle Kommunikationsformen zwischen Politik und Verwaltung mit organisierten Interessen, oder gar Formen der Korruption mit einbezogen würden. Der italienische Terminus sottogovemo ist vor allem für das System der USA adaptiert worden. Subgovemment ist meist spezialisiert auf ein Poli­tikfeld, aber schließt Kommunikation mit mehreren Departments und perma­nentes Bargaining ein (Freeman / Stevens 1987). Subgovernments weisen Sta­bilität über Zeit auf und sind von außen durch die formellen Kanäle der Regie­rung - insbesondere vom Weißen Haus her - kaum zu beeinflussen. "Iron Triangles" werden die Klientelbeziehungen genannt, die für White House of­ficials schwer aufzubrechen sind. In solchen "policy communities': welche die Verwaltung tief penetriert haben, ist das informelle Regierungshandeln am weitesten ausgedehnt.

Hier liegt vermutlich der größte Unterschied zwischen dem präsidentiellen System der USA und europäischen parlamentarischen Regimen. Auch parla­mentarische haben subgovemment, aber govemment ist von ihmm nicht völlig marginalisiert (Rose 1988: 71). Jeder Minister kämpft mit seinem "Subgo­vernment", aber das Kabinett ist noch die Arena, in der die informellen An­sprüche der einzelnen Subgovernments aufeinander abgestimmt werden. Ein amerikanischer Präsident hat ein Büro für das Budget, ein parlamentarischer Premier ist jedoch in ganz anderer Weise Herr über den Staatshaushalt als der Präsident, der nur dem Congress einen Vorschlag unterbreitet, der von den Ecken des Dreiecks, die im Congress residieren, unter heftige Attacke der subgovernments zu kommen pflegt. Ein europäisches Subgovernment kann in der Regel das Veto eines Finanzministers nicht ausmanövrieren, in dem es an das Parlament appelliert. Der parlamentarische Handlungsverbund schafft weniger Druckpotential als im gewaltenteiligen Präsidentialismus. Obwohl in­formelles Regierungshandeln unter der Oberfläche der Publizität in den USA verbreiteter erscheint, bekommt es doch durch diese checks and balances zu­gleich Aspekte formellen Regierungshandeins. Sobald ein Subgovemment im Congress eine Kampagne zugunsten ihres Interesses startet, wird der infor­melle Einfluß von den Gegeninteressen aufgedeckt und formalisiert. Im parla­mentarischen System hingegen kann die Kooperation mit dem Finanzministe­rium und den zuständigen Ämtern im Vorfeld der Gesetzgebung so reibungs-

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los informell funktionieren, daß es nie im Konflikt formalisiert wird, wenn nicht gerade ein Skandal involviert ist, der dann meist von außerhalb des par­lamentarischen Handlungsverbundes aufgespießt und publik gemacht wird. Diese Form des informellen Regierungshandelns ist vor allem in Japan weit verbreitet. Das Wort "zoku" wird meist mit "policy tribes" übersetzt (Pempel 1987: 290).

Die Subgovernments sind wegen ihrer Dreiecksgestalt auch als korporati­stisch bezeichnet worden (Jordan 1981), aber dieser Sprachgebrauch ist eher irreführend. Korporatismus ist in seiner Idealform formelles Regierungshan­deln auf Initiative der Regierung. Nicht jede Klientelbeziehung, die heute Korporatismus genannt wird, ist korrekt so zu benennen, gerade weil die Ka­näle der Interpenetration eher informell sind (von Beyme 1988). Zum Korpo­ratismus gehört nicht nur eine Dreiecksbeziehung - deren eines Eck dann nicht nur eine Gruppe von Parlamentariern darstellen sollte - sondern auch formelles Regierungshandeln. Ein Kabinettsmeeting führt im parlamentari­schen System zum Ausgleich zwischen den Subgovernments. Ein amerikani­scher Präsident wird auf seinen Sitzungen allenfalls zum Adressaten von cross cutting pressures , deren er sich kaum erwehren kann. Kein Präsident benutzt sein Kabinett als Konfliktschlichtungsagentur, viele Präsidenten haben cabi­net meetings als reine Zeitverschwendung aufgefaßt (Rose 1988: 165; Cohen 1988).

Formelles Regierungshandeln ist im präsidentiellen System nicht in der Lage, informelles Regierungshandeln in die Schranken zu weisen. Nicht sel­ten haben starke Präsidenten daher ihre eigenen Agenden neu aufzubauen ver­sucht, um sich von existierenden subgovernments freizumachen. Der gesamte Policy Zyklus enthält rein theoretisch Merkmale seiner amerikanischen Gene­sis. Policy termination läßt sich in einem parlamentarischen System mit einer jahrzehntealten Ministerialstruktur und festen bürokratischen Traditionen kaum vorstellen. Aber auch der Start neuer policies ist weniger leicht als im Chaos Washingtoner Subgovernments, aber in der Regel ein wenig erfolgrei­cher, wenn eine parlamentarische Regierung einen "policy issue" aufgreift.

d) Die legislative Gegenbürokratie

Waren die ersten drei Bereiche informellen Regierungshandelns außerhalb der repräsentativen Politik loziert und wirkten auf diese ein, so ist die parlamenta­rische Gegenbürokratie häufig auf parlamentarische Initiative hin entstanden. In der Zeit der Parlamentsreform wurden zahlreiche Hoffnungen an den Aus­bau der Stäbe und der Hilfsdienste geknüpft. Wieder zeigt der Vergleich des präsidentiellen Systems in Amerika mit europäischen parlamentarischen Re­gimen, daß solche Hoffnungen sogar in ihr Gegenteil umschlagen konnten.

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In einem gewaltenteiligen System schien es logisch, für beide der wichtig­sten Gewalten die gleiche Ausstattung mit Staff zu verlangen. Dies war um so folgerichtiger, als die Initiativfunktion in ganz anderer Weise beim Parlament geblieben ist als dies in den meisten parlamentarischen Systemen der Fall sein kann. Nur im italienischen System der Gesetzgebung durch Ausschüsse ge­winnen Teile des Parlaments, die ihre Massen von "leggine" lancieren, eine ähnlich wichtige Funktion wie die Ausschüsse des amerikanischen Kongres­ses. Die Ausschüsse des Repräsentantenhauses beschäftigten in den 80er Jah­ren über 2000 Angestellte, die des Senats immerhin 1176 (Patterson 1988: 251). Die Ausschußdienste zeigen Tendenzen der Verselbständigung. Sie ma­chen Vorschläge, redigieren Entwürfe, werben für Unterstützung, gestalten Hearings und empfehlen Amendments. Die "nichtgewählten Repräsentanten" haben vielleicht die Gesetzgebung verbessert, aber sie trugen kaum dazu bei, die Informationstätigkeit der Abgeordneten selbst zu bereichern. 1965 ver­brachten die Repräsentanten des Congresses noch ca. 1 Tag in der Woche mit Gesetzgebungsvorbereitung und Lesen. lCJ77 war diese Zeit auf 11 Minuten pro Tag geschrumpft (Malbin 1980: 243). Informelles Regierungshandeln wuchs durch die Entstehung der parlamentarischen Gegenbürokratie. Die Geister, die man rief, um sich von der Bürokratie unabhängig zu machen, wurden partiell zu einer neuen beherrschenden Bürokratie.

Ill. Zusammenfassung

Informelles Regierungshandeln soll hier weder als rein interne Prozesse in Po­litik oder Verwaltung verstanden werden, noch als Einflüsse von außerhalb des politischen Systems. Hält man sich zu didaktischen Zwecken an das Par­sonsche AGIL-Schema, so sind die informellen Einflüsse aus der Wirtschaft die gewichtigsten, aber auch kulturelle Traditionen und Einflüsse aus dem Per­sönlichkeitssystem formen Regierungshandeln. Eigentlicher Fokus für die Untersuchung informellen Regierungshandelns müssen jedoch die Beziehun­gen zwischen Regierung und Verwaltung sein.

Einen allzu engen Begriff von informellen Beziehungen sollte man dabei nicht zugrundelegen. Die demokratische Ideologie bekämpfte Arcana imperii und strebte Transparenz an. Aber nicht nur bei autoritären Relikten, wie in Deutschland bis 1945 mit den justizfreien Hoheitsakten, sondern auch im Kern der Urdemokratie Amerika gab es Bereiche, in denen das "Privileg der Exekutive" erhöhte Geheimhaltung nicht nur erlaubte, sondern erforderte. Diese Doktrin kam immer nur dann unter Beschuß, wenn einzelne Präsiden­ten wie Nixon ihr Exekutivprivileg überstrapazierten und illegales Regie­rungshandeln aus dem informellen Handeln wurde (Galnoor lCJ77: 129).

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Nicht jede geheimgehaltene Regierungsaktivität ist auch schon informelles Handeln. Selbst Geheimdienste unterliegen einer parlamentarischen Kon­trolle, auch wenn die Effektivität dieser zur Verschwiegenheit verpflichteten Gremien bezweifelt werden mag. Informelles Regierungshandeln wurde nach dem demokratischen Kredo und dem konstitutionellen Formalismus des Pa­läoinstitutionalismus vielfach veketzert. Inzwischen wird die Effizienz des Systems und ihrer Outcome-Resultate nicht weniger hoch eingeschätzt als die prozedurale Korrektheit im Politics-Bereich, daher verschiebt sich das Urteil über den Stellenwert der informellen Aspekte des Regierungshandeins.

Akzeptiert man aus didaktischen Gründen das AGIL-Schema, um die infor­mellen Aspekte des Regierungshandelns graphisch zu verdeutlichen, so fällt das Urteil über diese unterschiedlich aus:

- Die Einflüsse von außerhalb des politischen Systems sind teils uner­wünscht - wie die privaten Einflüsse - teils unvermeidlich - wie die kul­turellen Wertestrukturen. Schwieriger ist das Urteil über die Einflüsse aus dem wirtschaftlichen Subsystem. Lobbyismus wird niemand verketzern und er wirkt heute als Zweiwege-Kommunikation beeinflussend nach bei­den Seiten. Korruption nimmt in entwickelten demokratischen Systemen zu, da größere staatliche Vorentscheidungen mit einer komplexer werden­den Technologie verbunden sind. Sie dehnt sich von der persönlichen Kor­ruption zur Gruppenkorruption über die Parteienfinanzierung aus (Land­fried 1990: 173 f.). Korruption bleibt dysfunktional. Nur in Entwicklungs­ländern oder in total fragmentierten Subsystemen einer sterbenden Großstadt ließ sich Banfields vielzitierter Befund halten: "Some corrup­tion is inevitable in a city like Chicago." Horizontale Mobilität (pantouflage) zwischen Wirtschaft und Verwaltung, vor allem in USA und Frankreich, kann informelle Aspekte von Regie­rungshandeln stärken und gleichwohl eher positive Resultate für das politi­sche System erbringen.

- Informelle Einflüsse innerhalb des politischen Systems sind vor allem zwi­schen den Bereichen Politik und ~rwaltung relevant. Aber auch die Justiz kann durch die Vorwirkung möglicher Urteile oder früherer Urteile infor­mell Einfluß auf Regierungshandeln nehmen. Die Interpenetration der beiden Subsysteme, Verwaltung und Politik, des politischen Systems schreitet fort. In der Regel wurde ein Gleichgewicht zwischen den Prozes­sen Bürokratisierung der Politik und Politisierung der ~rwaltung erreicht. Eine Ausnahme bildet das präsidentielle System mit seinen "triangles" des Subgovernment. Hier hat die Gewaltenteilung Kongreßgruppen einen Ein­fluß in diesen Politikfeld-Dreiecken verschafft. Die Schwäche des Präsi­dentenamts und die Inexistenz von Kabinettssolidarität verschafft den Sub­governments über die Verwaltung so viel Einfluß, daß dies weder von der

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Das soziale System und die informellen Aspekte des Regierungshandelns im politischen System

Wirtschaftssystem

Lobbyismus, Pressure

Politikberatung Korruption

Wirtschaftsplanung

Persönlic!ikeitssystem

private Einflüsse

Politische System

Verwaltung

Organisation der Regierungsarbeit

-.W"","',,\ _ Vorwirkung von Urteilen

- interministerielle Ausschüsse - schwache Integration des Kabinetts - Vorformulierung der Gesetze durch

die Verwaltung ._-.;:.

Rollenperzeption der Beamten

- horizontale Mobilität (pantounage) +-_~

- Vermehrung der pelitischen Beamten.-.;. - cabinet minis~riel ... --~

Subgovernment

Parlamentarische Gegenbürokrati,*-->

Parteien

I Parteibuchverwaltung

I I ~rnb-

Organisierte Wähler

Kulturelles System

Kulturelle Traditionen (Legalismus odcr politische Konfliktoricnticrung)

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Rationalität des outcomes noch von der Transparenz des Entscheidungs­prozesses her in der Regel wünschbar ist. In parlamentarischen Systemen hingegen ist die Regierung in der Regel keineswegs "Gefangener der Admini­stration" (Birnbaum 1982: 27:7), trotz einiger gegenteiliger reißerischer Be­hauptungen. Die Jagd nach den informellen Beziehungen des Regierungshan­delns darf nicht zu einer neuen "Einflußprüdene" führen. Eine Verketzerung der Macht der Bürokratie, wie in Amerika, hat zu einer stärkeren Politisie­rung der Bürokratie in hunderten von Spitzenposten geführt. Paradoxerweise hat dies die Macht des formellen Regierungshandelns nicht befördert, son­dern den subgovernments über die Bürokratie zusätzlich Macht verschafft.

Das einfachste organisatorische Mittel, um das Gleichgewicht von Politik und Verwaltung, von formellen und informellen Einflußmöglichkeiten zwischen ih­nen zu gewähren, schien, dem jeweils unterlegenen Teil mehr "Stafr' zuzuwei­sen. Amerikanische Erfahrungen bei der Proliferation der Ämter in einer schwa­chen Exekutive und später das overstaffing des Kongresses mit Hilfspersonal für die Kongreß-Ausschüsse hat den Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben. Auch die bestgemeinte Gegenbürokratie kann zum trojanischen Pferd der Bürokratie und ihrer Vorherrschaft werden. Der Konflikt wird in der Regel nicht auf der konstitutionellen Ebene zwischen Regierung / Parlament und Verwaltung ausge­tragen. Entscheidend ist die Macht des interessenpolitischen Unterbaus.

Selbst wo dieser mit der Verwaltung ein Klientelverhältnis herausbildet und das sottogoverno sich ausbreitet, ist dies noch kein Beweis für die Schlechtigkeit des Systems. Subgovemment ist nicht an sich verwerflich, sondern nur wenn ihm kein govemment mehr gegenübersteht, das es gelegentlich gestützt von demo­kratischen Mehrheiten in die Schranken weisen kann. Ein postmoderner Para­digmawandel, der vom Weltsystem bis zur Lokalverwaltung alles als code-ge­steuertes, kaum beeinflußbares autopoietisches Subsystem verstehen möchte, wird bei den Subsystemen des politischen Systems im engeren Sinne durch sol­che Befunde zur Vorsicht gemahnt, seine biologischen Analogien nicht zu weit zu treiben.

Vor allem lassen sich die Untersysteme des politischen Systems kaum als auto­poietische Systeme begreifen, obwohl sie in Luhmanns binären Fixierungen kaum dem gleichen Code unterliegen. Parlament und Regierung mögen ins Freund-Feind-Schema von Regierung und Opposition mit einiger Willkür ge­zwängt werden. Verwaltung im engeren Sinn unterliegt aber gerade nicht diesem Code und empfindet den Einfluß der politischen Dimension zunächst als Fremd­bestimmung. Gleichwohl ist trotz verschiedener Codes die wechselseitige Durchdringung von Regierung und Verwaltung im parlamentarischen System so weit fortgeschritten, daß die Konstruktion einer Grenze zwischen zwei autopoie­tischen, sich selbst erneuernden und steuernden System in die Irre führen würde. Die Anhänger des neuen Paradigmas kritisieren zu Recht frühere Steuerungs-

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konzepte, die als allopoietische Einwegkommunikation konzipiert waren. Aber die Interpenetration von Verwaltung und Politik, von formellem und informellem Regierungshandeln läßt sich mit den autopietischen Nichtsteuerungskonzepten erst recht nicht befriedigend darstellen.

Je stärker Studien historisch angelegt sind, und den subjektiv gemeinten Sinn von Handlungen aus der Akteursperspektive untersuchen, umso mehr wird ge­rade nach den nicht-formalisierten Seiten von Regierungshandeln gefragt. Die ältere Historiographie hatte ein Bias zugunsten nichtgedruckter Quellen öffentli­cher Ämter. Immer wieder erwiesen diese sich jedoch gerade als der Weg zur realistischen Einschätzung von Handeln, während Akten - auch friither - schon "sub specie aeternitatis" geschönt angelegt worden sind. Was Historiker, die mit überlieferten Daten und Quellen arbeiten, längst eingesehen haben, fällt den da­tengenerierenden . Sozialwissenschaften schwerer. Auch mit Interviewstudien kommt man an die nicht-formalisierten Seiten des Regierungshandelns nur schwer heran, wie viele Elitenstudien zeigten. Dennoch gibt es gute Gründe, sich weiterhin um die Erforschung der nichtformellen Seiten des Regierungshan­delns zu bemühen:

- Am gebräuchlichsten ist das bei Einflußstudien schon immer gewesen. - Zunehmend wichtiger wird die nicht-formalisierte Seite der Führungsfor-

schung, um die Enge positionaler Methoden der Elitenforschung zu über­winden.

- Der wichtigste Impetus für die Erforschung des informellen Regierungshan­delns kommt jedoch von der Policy-Forschung. Hier geht es um den Erfolg des Policy-Outcome und den Erfolg von staatlicher Steuerung über Erfolge von Maßnahmen in einzelnen Politikfeldem. Formell oder informell wird als Begriff damit sekundär. Wie in der betriebswirtschaftlichen Führungsfor­schung wird er aber zu einem gezielt eingesetzten Faktor, um das eigentliche Organisationsziel zu maximieren.

In Zeiten der ideologisierten Konfrontation wurde die Betriebslehre des Staa­tes (Regierungslehre) gegen formalisierte "Mitbestimmung" (Repräsentation) ausgespielt. Die Entdeckung der nicht-formalisierten "Mitbestimmung" bei Entscheidungen überholt die alten Antithesen.

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Staat und Regieren - formales Regierungssystem und informelles Regieren in Ideengeschichte und Staatstheorie

Herfried Münkler

I.

In der prämodernen Politiktheorie, so Klaus von Beyme (1990), sei Politik, als Kunstlehre begriffen, von der Wissenschaft abgesetzt worden. Das habe, so von Beyme weiter, zur Folge gehabt, daß allem Regieren in der Theorie ein in­formeller Charakter attestiert worden sei, während das formelle Regierungs­system nur die Rahmenbedingungen der wesentlich als praktisches Handeln begriffenen Politik angegeben habe. Politik sei somit als in ihrem Wesen infor­meller Art begriffen worden. Die theoretisch fruchtbare und empirisch ge­haltvolle Applizierbarkeit des antithetischen Begriffspaares formell-informell auf Regierungssystem und Regierungshandeln ist danach an die Entstehung ei­nes Konstitutionalismus gebunden, der erstens Politik und Verwaltung klar ge­geneinander absetzt und zweitens politische Kompetenz und Verantwortlich­keit an die Inhabe eines Amtes bindet und schließlich drittens die Vergabe die­ser Ämter strikten Regeln unterworfen hat. Erst unter diesen Bedingungen, so die Schlußfolgerung, könne von informellen Komponenten des Regierens im Rahmen eines formalen Regierungssystems die Rede sein.

Folgt man dieser prima vista durchaus überzeugenden und schlüssigen Ar­gumentation, so sind die größten Bereiche der politischen Ideengeschichte und mit ihm ihre bedeutendsten und interessantesten Vertreter für die Formalitäts-Informalitäts-Antithese bedeutungslos. Nun müßte dies nicht un­bedingt ein Unglück sein - weder für die politische Ideengeschichte noch für die vergleichende Regierungslehre. Eine Reihe politischer Problem- und Fra­gestellungen sind jüngeren Datums, so daß wir, wenn wir sie dann angehen, zu keinerlei Rekurs auf und in die politische Ideengeschichte genötigt sind. Aber Vorsicht ist doch geboten, denn es könnte sein, daß eine bestimmte Aufgaben- und Problemstellung wohl nicht dem Begriffe, aber doch der Sache nach in den Diskursen der politischen Ideengeschichte bereits verhandelt wor­den ist und daß, einmal unterstellt, dies ist der Fall, das Spannungsfeld zwi­schen aktueller Problemkonstellation und seiner variantenreichen Themati­sierung in der politischen Ideengeschichte fruchtbar gemacht werden kann -

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sowohl für die Auslotung aktueller Konstellationen als auch für ein womöglich genaueres Verständnis der politischen Ideengeschichte.

Genau dies möchte ich versuchen, und ich beginne darum mit einer These, deren schwächere Variante lautet, daß sich die Gegenüberstellung von Forma­lisierungsprozessen in der Politik und dem Verbleiben informeller Kompo­nenten als heuristische Fragestellung auch für die politische Ideengeschichte fruchtbar machen läßt bzw. , so die stärkere Variante dieser These, daß Forma­lität und Informalität im Verfassungsstaat eine spezifische Form des Verhält­nisses zwischen Formalisierung und Nicht-Formalisierung politischen Han­delns ist, wobei die sozio-politischen Rahmenbedingungen für Ausmaß und Richtung der jeweiligen Formalisierungen formbestimmend sind. Dabei wird sich, so meine Ausgangsvermutung, zeigen, daß der im Konstitutionalismus nur noch als Residualkategorie der Formalisierung politischer Prozesse gefaß­ten Informalität politischen HandeIns sowohl in der klassischen als auch in der frühneuzeitlichen Politiktheorie eine erheblich größere Bedeutung beigemes­sen worden ist, daß sie, m.a.W., nicht als unvermeidliche Restgröße, sondern als balancierender Widerpart von Formalisierungsprozessen der Politik ge­dacht worden ist. Fortbestand und Stabilität eines erreichten Formalisierungs­grades der Politik, so eine sich wie ein roter Faden durch die prämoderne Poli­tiktheorie ziehende Überzeugung, ist von nicht-formalisierbaren Vorausset­zungen abhängig, die zu bewahren, zu sichern und zu erneuern in den Aufgabenbereich des formellen Systems fällt. Man kann mithin von einer sy­stemischen Politikkonzeption avant la lettre sprechen. Anders formuliert: wenn auch als solche noch nicht begrifflich ausgezeichnet, so wird die Formalitäts-Informalitäts-Antithese der Politik in der Geschichte des politi­schen Denkens thematisch von dem Augenblick an, da Politik reflexiv, also als Politik gedacht wird, wobei hier unter dem Begriff der Informalität so hetero­gene Politikkomponenten wie etwa der Einfluß überragender Persönlichkei­ten, nicht-legale Handlungsformen oder sozio-politische Rahmenverhältnisse als Ermöglichungsbedingung von Formalisierung zusammengefaßt werden. Dabei wird sich zeigen, daß informelle Politikkomponenten ebenso als von den formalisierten Rahmenbedingungen des politischen Systems abhängend gedacht wie umgekehrt nicht-formalisierbare Politikkomponenten als Rah­menbedingungen für Prozesse von Politikformalisierung begriffen werden können. I

Dies möchte ich nachfolgend exempliftzieren erstens an dem, was man als den Anfang der Demokratietheorie bezeichnen kann, also an der Ver­fassungsdebatte bei Herodot und, insbesondere, an der Beschreibung der perikleischen Demokratie bei Thukydides, die kulminiert in dem Satz (11, 65,9): EYLYUE"r6 'tE Mycp j.tEV Öl1j.toxQaLLa, EQycp Öa oJto 'tou JtQWLOU auöQo~ aQxi].

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- dem Namen nach war es eine Demokratie, tatsächlich aber war es die Herr­schaft des Ersten Mannes.

Ich will es weiterhin zweitens exemplifizieren an der Verfassungstypologie des Aristoteles, wobei ich zeigen möchte, daß der Übergang von dem hochfor­malisierten Schema der sechs Verfassungsformen, der drei guten und der drei parekbatischen, zu den allenfalls rudimentär systematisierten Verfassungsana­lysen ab dem 3. Kapitel des IV. Buchs der "Politik" damit zu tun hat, daß Ari­stoteles sich von einer auf der Formalität der Verfassung begründeten Typolo­gie ab- und einer informelle Elemente berücksichtigenden Analyse zuwendet; dem entspricht, daß die Retypisierung der Verfassungsanalyse in der polybia­nischen Anakyklosis politeion, den Kreislauf der Verfassungsformen, einher­geht mit einer nahezu vollständigen Abstraktion von den informellen, sei es nicht-formalisierbaren oder je nicht formalisierten, Politik-Komponenten.

Abschließend will ich drittens zeigen, wie Niccolo Machiavelli bei seiner durch die tödliche Krise der Florentiner Republik inspirierten Lektüre der Rö­mischen Geschichte des Titus Livius auf die informellen Bestandsvorausset­zungen der Republik stößt und in den "Discorsi" (vor allem aber in den "Isto­rie Fiorentine", anders als im "Principe", wo er die völlige Entformalisierung politischen Handeins als Voraussetzung für dessen neuerliche Formalisierung postuliert), so etwas wie ein wechselseitiges Bedingungs- und Stützungsver­hältnis formeller und informeller Politikkomponenten skizziert, das zur Ba­sisvoraussetzung dessen wurde, was Pocock (1975) die "atlantic republican tradition" genannt hat. Beginnen wir aber mit dem Reflexiv-Werden der Volksherrschaft im Athen des Perikles.

Il.

Keine der klassischen Politiktheorien kann als pro-demokratisch bezeichnet werden, schon gar nicht die Platons, aber auch nicht die des Aristoteles; eben­sowenig wie die zumeist impliziten Überlegungen zur Demokratie bei Hero­dot und Thukydides. Durchgehender Ausgangspunkt der Demokratiekritik ist der Verweis auf die Verallgemeinerung des Zugangs zur Macht infolge der für die radikale Demokratie seit Ephialtes und Perikles charakteristischen Entfor­malisierung des Bürgerrechts sowie des Zugangs zu den politischtm Ämtern. Es war die Abschaffung der Zensusbestimmungen als formeller Vorausset­zung für die Teilnahme an Abstimmungen und / oder für die Übernahme poli­tischer Ämter sowie die Einführung von Diäten für die Teilnahme an Volks­versammlung und Volksgericht, welche die politischen Entscheidungen von den Begüterten auf die breite Masse übertrugen (vgl. Tarkiainen 1972: 91 ff.; Meier 1980: 247 ff.). 2 Nunmehr herrsche, so die aristokratische Demokratie-

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kritik, ein unerzogener, undisziplinierter Pöbel, der durch seine unbesonne­nen und törichten Entschlüsse die Stadt zugrunderichte, während der Adel, Repräsentant von Vernunft, politischer Klugheit und Selbstbeherrschung, ent­machtet und gedemütigt worden sei.

In der Demokratie, so faßt der Verfasser der im Corpus der Schriften Xeno­phons überlieferten Abhandlung "Athenaion Politeia" dieses Urteil zusam­men, geht es den Gemeinen besser als den Edlen, denn das Volk, das die Macht innehabe, gebrauche sie entschieden in seinem Interesse, etwa derart, daß es "alle Ämter ( ... ), die dazu da sind, Sold zu tragen und Nutzen ins Haus zu bringen" (I, 3), sich selbst vorbehalte und durch das Losverfahren vergebe, während es alle jene Ämter, "die der Gesamtheit des Volkes Segen bringen, wenn sie in guten Händen sind, und Gefahr, wenn in schlechten", den Reichen und Edlen überlasse und durch Wahl vergebe. Entschieden warnt der Verfas­ser der zwischen 430 und Sommer 424 entstandenen Schrift den athenischen Adel davor, seine Fähigkeiten und sein Vermögen der Volksherrschaft in der Erwartung zur Verfügung zu stellen, dadurch diese mäßigen oder gar bessern zu können: "Ich für meinen Teil behaupte somit, daß das Volk in Athen dessen bewußt ist, welche von den Bürgern zu den Edlen gehören und welche zu den Gemeinen; und in diesem Bewußtsein lieben sie ihre Anhänger und Förderer, wenn es auch gemeine Leute sind, die Edlen aber hassen sie eher; denn sie huldigen nicht der Ansicht, daß diesen die überlegene Gediegenheit zugefal­len sei, nur um sich ihrem Vorteil zu widmen, sondern vielmehr zu ihrem Un­heil; und im geraden Gegensatz zu dieser Anschauung sind einige, die in Wirklichkeit zum Volke stehen, ihrer Abkunft nach keine Volksleute" (11, 19). Gemäß seiner Überzeugung, die ,Klasseninteressen' des Volkes und der Ari­stokraten ständen einander ohne jede Vermittlung gegenüber, fährt der Verfas­ser fort: "Volksherrschaft aber halte ich für meine Person dem eigentlichen Volk zugute; denn sich selbst wohlzutun, ist jedem zugute zu halten; wer aber, ohne zum Volk zu gehören, es vorgezogen hat, in einem demokratischen Ge­meinwesen zu wohnen statt in einem oligarchischen, der hat es darauf abgese­hen, im Trüben zu fischen, und hat erkannt, daß es eher in einem demokrati­schen Gemeinwesen angeht, ganz unentdeckt ein Schurke zu sein, eher als in einem oligarchischen" (11, 20).

Für den ,alten Oligarchen', wie der Verfasser des Traktats verschiedentlich genannt wird, ist die demokratische Verfassung Athens die Form, in der sich das ,Klasseninteresse' des Volkes am besten zu äußern und durchzusetzen vermag.

"Das Volk", so behauptet er (I, 8), "hat es ja darauf abgesehen, nicht etwa in einem wohlgeordneten Staatswesen selbst geknechtet zu sein, sondern frei zu sein und zu herrschen, die Mißordnung aber kümmert es wenig; denn was du als das gerade Gegenteil eines wohlgeordneten Zustandes ansiehst, das Volk schöpft daraus seine Kraft und seine Freiheit." Das Volk wußte, was in

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seinem Interesse war, die Aristokraten kannten ihre Interessen, und beide standen einander diametral gegenüber. Ein auf der Grundlage formaler Rege­lungen zustandegekommener Interessenausgleich war für den ,Alten Oligar­chen' ebenso undenkbar wie ein im formalen System der Demokratie fortbe­stehender informeller Einfluß von Aristokraten, der die zügellose, wilde Kraft der Volksherrschaft durch Vernunft und Weitblick zu lenken und zu leiten ver­mochte.

Exakt so hat nun Thukydides die perikleische Demokratie gesehen, und ihre Darstellung, die er in seiner "Geschichte des Peloponnesischen Krieges" gibt, ist nicht nur eine unter dem Eindruck der politisch-militärischen Katastrophe verfaßte Rechtfertigung der perikleischen Kriegspolitik3, sondern zugleich auch eine Verteidigung jener Aristokraten, die sich in dieser Demokratie an herausragender Stelle engagiert hatten. Einer von ihnen war Thukydides selbst: Er hatte sich für das Jahr 424 in das Strategenkollegium wählen lassen und einen Flottenverband kommandiert, der in die Kämpfe um Amphipolis eingreifen sollte. Da die Familie des Thukydides jenen aristokratischen Krei­sen angehörte, die in Opposition zu Perikles und seiner Politik standen (vgl. Raaflaub 1988, 326), kann seine Darstellung der perikleischen Demokratie auch als Selbstrechtfertigung gegenüber diesen Kreisen gelesen werden, de­ren politische Option in der Schrift des ,Alten Oligarchen' ihren Ausdruck ge­funden hat. 4 Dem muß um so größeres Gewicht beigemessen werden, als Thukydides nach dem Fehlschlag des von ihm kommandierten Flottenunter­nehmens durch Beschluß der Volksversammlung aus Athen verbannt wurde und zwanzig Jahre im Exil leben mußte.

Thukydides' Urteil über die politische Kompetenz des athenischen Demos ist durchaus negativ, aber es unterscheidet sich in seinem kritischen Akzent doch bemerkenswert von der Demokratiekritik des ,Alten Oligarchen': Hatte dieser dem Volk durchweg die Fähigkeit attestiert, seine Interessen konse­quent und zielstrebig zu verfolgen, und seine antidemokratische Haltung unter Verweis auf den ,Klassengegensatz' begründet, so meldet Thukydides erheb­liche Bedenken an der politischen Selbstmächtigkeit des Volkes an. Unbestän­dig und für Augenblicksstimmungen anfällig, ist es schwerlich in der Lage, seine ,objektiven' Interessen langfristig zu verfolgen. Dramatisch zugespitzt, hat Thukydides dies in seiner Darstellung der Volksversammlungsentschei­dungen über die Zukunft des abgefallenen Mytilene sowie über die siziliani­sche Expedition vorgeführt. Dieser Demos bedürfe der politischen Führung, und als dem demokratischen Wankelmut entgegengesetzten Staatsmann hat Thukydides den von ihm zutiefst bewunderten Perikles dargestellt: "Mächtig durch sein Ansehn und seine Einsicht und in Gelddingen makellos unbe­schenkbar", habe er die Masse in Freiheit gebändigt, "selber führend, nicht von ihr geführt, weil er nicht, um mit unsachlichen Mitteln die Macht zu er-

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werben, ihr zu Gefallen redete, sondern genug Ansehen hatte, ihr wohl auch im Zorn zu widersprechen. Sooft er wenigstens bemerkte, daß sie zur Unzeit in leichtfertiger Zuversicht sich überhoben, traf er sie mit seiner Rede so, daß sie ängstlich wurden, und aus unbegründeter Furcht hob er sie wiederum auf und machte ihnen Mut. Es war dem Namen nach eine Volksherrschaft, in Wirklichkeit eine Herrschaft des Ersten Mannes" (II , 65). 5 Sehen wir uns zunächst kurz an, was Athen, Thukydides zufolge, dem Namen nach zumin­dest war: eine Volksherrschaft, eine Demokratie.

In seinem schon unter dem Eindruck der perikleischen Demokratie verfaß­ten Geschichtswerk hat Herodot sieben persische Adlige nach dem Tod des Kambyses und dem Sturz des falschen Smerdis eine fiktive Verfassungsdebatte führen lassen. Dabei plädiert Otanes mit folgenden Argumenten für die Ein­führung der Demokratie, d.h. dafür, die Macht in die Hände des Volkes zu le­gen: "Die Volksherrschaft jedoch führt fürs erste den allerschönsten Namen, nämlich Isonomie, durchs Los verteilt sie die Ämterverwaltung, für die Ausü­bung der Regierung besteht Rechenschaftspflicht, alle Anträge bringen sie vor die versammelte Bürgerschaft" (lI , 80). Otanes' institutionalistische Argu­mentation ist gegen die Alleinherrschaft eines Mannes gerichtet, von der er sagt, sie verderbe durch die Fülle der unkontrolliert verfügbaren Macht auch den Wohlgesonnensten und Anständigsten. "Wie könnte auch die Alleinherr­schaft einen wohlgeordneten Zustand darstellen, bei der es doch möglich ist, ohne jede Verantwortlichkeit zu tun, was man will. Auch den allerbesten Mann, der diese Regierungsform übernimmt, würde sie aus der Bahn seiner gewohnten Gesinnung werfen" (ebd.). Es ist also die Formalisierung von Machtvergabe und Machtkontrolle, die in Otanes' Stellungnahme das Haupt­argument für Demokratie darstellt, und es ist die völlige Informalität der Machtausübung, welche die Alleinherrschaft als die schlechteste nur denk­bare Regierungsform qualifIZiert.

Ist Perikles im Rahmen dieses formellen Machtvergabe-Systems der De­mokratie zu jenem Einfluß gekommen, der Thukydides davon sprechen läßt, Athen sei nur dem Namen nach eine Demokratie, in Wirklichkeit aber die Herrschaft des Ersten Mannes, TOÜ JtQo:>tOlJ alJöQo~ aQXYj, gewesen? Wir wissen, daß Perikles mehrmals hintereinander, einmal wahrscheinlich vier­zehnmal, das Strategenamt innehatte (Tarkiainen 1972, 133), also eines je­ner Ämter, die nicht durch Los, sondern durch Wahl besetzt wurden und von denen der ,Alte Oligarch' sagt, der Demos überlasse sie gerne den Reichen und Vornehmen, weil sie ein großes politisches Risiko bürgen. Aber als Feld­herr hat sich Perikles - im Unterschied zu Themistokles oder Kimon - ei­gentlich nicht hervorgetan, so daß kaum anzunehmen ist, sein informeller Einfluß sei aus seiner formalen Kompetenz als athenischer Stratege, zumal er nur einer von zehn war, erwachsen. Eher wird man - und damit folgt man dem Urteil des Thukydides, der auf die formale Machtlagerung einzugehen

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nicht für wert befand - sagen können, das Strategenamt des Perildes sei die nachträgliche Formalisierung eines davon unabhängigen informellen Einflus­ses gewesen. Woraus nun hat dieser informelle Einfluß resultiert? Thukydi­des' Antwort ist eindeutig: aus Perikles' Redekunst, mit der er das Volk lenkte, es einschüchterte, wenn es übermütig zu werden drohte, und es ermu­tigte, wenn es verängstigt war. Diese Redekunst aber war etwas, was sich der Formalisierung der Machtverteilung und Machtkontrolle, wie sie von Otanes zugunsten der Demokratie vorgebracht worden war, prinzipiell entzog, und der mit rhetorischen Mitteln erworbene Einfluß wird zum Schlüssel der De­mokratiedebatte im ausgehenden 5. und beginnenden 4. Jahrhundert. Gegen die von Herodot dem Otanes in den Mund gelegte Verteidigung der Demokra­tie durch Verweis auf ihren im Vergleich mit der Alleinherrschaft, der Monar­chie, ungleich höheren Grad der Formalisierung von Machterwerb und Machtverteilung, insbesondere aber Machtkontrolle, wird von den aristokra­tischen Kritikern der Demokratie nunmehr eingewandt, die formelle Struktur der Demokratie sei bloße Fassade und der eigentliche Machtkern sei informel­ler Art.

Rhetorik, so der Sophist Gorgias (Platon, Gorgias, 452d-453a), eröffne die Möglichkeit der Freiheit wie die Möglichkeit der Herrschaft; mit den Mit­teln der Rhetorik umgehen zu können, heiße, "daß man imstande ist, mit Wor­ten zu überzeugen, vor Gericht die Richter, im Rat die Ratsherren, in der Volksversammlung die versammelten Bürger und so bei jeder anderen Zusam­menkunft, wo es eine politische Versammlung geben mag". Dabei stand für Gorgias außer Frage, daß die Kunst der Rhetorik im Dienste der Gerechtigkeit zu stehen habe. Was aber, wenn nicht? Am Beispiel des Thrasymachos und des Kallikles hat Platon die politisch verheerenden Folgen der Reduzierung von Rhetorik auf bloße Machttechnik erörtert, wobei er die Rhetorik den sie so Gebrauchenden zu entziehen versuchte, indem er sie unter der Forderung nach Selbstreflexivität in immer neue Aporien trieb. So weit ist Thukydides nicht gegangen: Prinzipiell im Bannkreis sophistischer Machttheorien ver­bleibend, hat er die von einem ethisch ungehemmten Gebrauch rhetorischer Mittel ausgehenden Gefahren gesehen und gerade daraus die entscheidende Rechtfertigung für Perikles' Politik, auch für dessen Beteiligung an der De­mokratie gewonnen. Weil der Demos nun einmal so war, wie er ihn beschrie­ben hat, unbeständig und emotional anfällig, kam alles darauf an, daß einer da war, dessen Vernunft und Weitblick das Schwanken des Volkes auszubalancie­ren vermochten. In der Rede des Diodotos, mit der es diesem gelang, den er­sten Beschluß der athenischen Volksversammlung über das Schicksal Mytile­nes zu revidieren, heißt es an zentraler Stelle (I1I, 42): "Wer das Reden be­kämpft, als sei es nicht die Schule für das Tun, ist unverständig oder hat ein eigenes Interesse: unverständig, wenn er meint, es gebe irgendeinen anderen Weg, sich über Künftiges und nicht Augenfälliges zu verständigen, und ein In-

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teresse, wenn er etwas Schändliches durchsetzen möchte und sich's nicht zu­traut, über unschöne Dinge recht zu reden, dafür aber mit rechter Verleum­dung zum voraus einzuschüchtern. Am ärgsten aber ist es, eine Darlegung vorweg zu verdächtigen, sie sei gekauft." Der rhetorische Kampf in der Volks­versammlung ist also, soll er im Sinne von Diodotos und wohl auch Thukydi­des der Königsweg zur Ermittlung der richtigen Politik sein, an gewisse for­melle Voraussetzungen gebunden, und dazu gehört an erster Stelle, daß jedes Argument als solches akzeptiert und bedacht und nicht durch Verweis auf wo­möglich dahinterstehende Interessen ausgehebelt werden darf. Die Rationali­tät des Arguments darf nicht durch den Verdacht, es handele sich dabei um eine Rationalisierung von Interessen, gefährdet werden. Also führt Diodotos fort: "Der gute Bürger aber soll seine Widersacher nicht einschüchtern, son­dern gleich zu gleich sich mit den besseren Gründen durchsetzen." Bezogen auf die hier zugrundegelegte Frage nach der Verwendung der Formalitäts­Informalitäts-Antithese heißt das: Welche Argumente in der Volksversamm­lung von wem mit welchem rhetorischen Geschick vorgebracht werden, ist nicht formalisierbar, aber formal hat zu gelten, daß jedes Argument als Argu­ment ernstzunehmen ist. 6

Thukydides ist so weit gegangen, über dieser Sicht der Dinge dem formalen System der Machtverteilung und Machtkontrolle in der athenischen Demo­kratie keine weitere Beachtung zu schenken und sich ganz auf das zu konzen­trieren, was er die informelle Position des Ersten Mannes genannt hat (vgl. Münkler 1990). So spielen auch in seiner Pathologie der Demokratie nicht formelle Änderungen des demokratischen Systems, institutionelle Neuerun­gen oder dergleichen die entscheidende Rolle, sondern die sukzessive politisch-ethische Korruption derer, die Perikles in dessen informeller Macht­position, nun nicht mehr als Erster Mann, sondern als Demagoge bezeichnet, nachfolgten: zunächst Kleon, dann Alkibiades. Hochtalentiert und ehrgeizig war der, so Thukydides' Urteil, im Unterschied zu Perikles nicht bereit, sich gänzlich in den Dienst der Stadt zu stellen, sondern suchte im Gegenteil die Ressourcen der Stadt einzusetzen, um für sich Geld und Ruhm zu gewinnen. Das Portrait, das Thukydides von Alkibiades gezeichnet hat, ist das Gegenbild des Perikles: "Hoch angesehen in der Stadt, frönte er großen Leidenschaften über sein Vermögen mit den Pferden, die er hielt, und sonstigem Aufwand. Und gerade das wurde einer der Hauptgründe für den Untergang Athens. Denn da die Menge erschrak vor dem Übermaß seiner persönlichen, ganz überbürgerlichen Lebensführung wie auch vor dem geistigen Schwung, womit er jedes einzelne vorkommende Geschäft betrieb, so wurden sie, als wolle er Tyrann werden, seine Feinde, und während er in seinem Amt für den Krieg die besten Anordnungen traf, stießen sich die einzelnen Bürger an seinem Ge­habe, gaben die Vollmachten anderen und rissen gar bald damit die Stadt zu Boden" (VI, 15). Ein Wechselspiel von formellen und informellen Kompo-

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nenten der Machtlagerung war es, welches, Thukydides zufolge, das demo­kratische Athen in die Niederlage hineingerissen hat.

Kommen wir noch einmal kurz zurück zu Perikles: Die informelle Macht, die ihm infolge seines Auftretens in der Volksversammlung zuwuchs, resul­tierte weniger aus einem speziellen rhetorischen Raffinement, sondern viel­mehr aus der Idee einer athenischen Kulturmission, eines Programms politi­scher Beförderung von Aufklärung, für welches er den Demos zu begeistern vermochte, und darüberhinaus Intellektuelle und Künstler aus ganz Griechen­land, die sich um ihn scharten: den Musiktheoretiker Damon und den Philoso­phen Anaxagoras, den Dichter Sophokles und den Bildhauer Phidias, den Ar­chitekten Hippodamos und den Historiker Herodot, den Sophisten Protagoras und die Hetäre Aspasia, mit der Perikles zusammenlebte, nachdem er sich von seiner attischen Gemahlin getrennt hatte. Die panhellenische Ausstrahlung des um Perikles gescharten Kreises wurde zur kulturellen Absicherung des politischen Hegemonialanspruchs von Athen. Nirgends kommt dies deutli­cher zum Ausdruck als in dem von Thukydides berichteten Epitaph des Peri­kles auf die Gefallenen des ersten Kriegsjahres (11,35-46).

Es gehört zum Themenkomplex von formalem Regierungssystem und infor­mellem Regieren, daß der Komödiendichter Aristophanes in seinen "Achar­nern" in diesem im formalen System der attischen Demokratie nicht vorgese­henen Freundeskreis des darin formal ebenfalls nichts vorgesehenen "Ersten Mannes" des Staates die eigentliche Ursache des Peloponnesischen Krieges gesehen hat: Einige Leute aus Megara, so Aristophanes, hätten zwei Prostitu­ierte der Aspasia entführt, die habe sich darüber bei Perikles beklagt, und der wiederum habe aus Eitelkeit und übersteigertem Geltungsbedürfnis die athe­nische Volksversammlung veraniaßt, über Megara eine Handelsblockade zu verhängen. Megara habe daraufhin in Sparta, der zweiten Führungsrnacht Griechenlands, um Hilfe nachgesucht und diese auch prompt erhalten. Spar­tas ultimative Forderung nach Aufhebung der Handelsblockade und die -wiederum von Perikles bewirkte - Weigerung der athenischen Volksver­sammlung, dieser Forderung nachzukommen, haben schließlich zum Krieg geführt, zu einem Krieg, der, darin dem Ersten Weltkrieg in unserem Jahrhun­dert vergleichbar, den politischen wie kulturellen Niedergang der griechi­schen Stadtstaaten eingeleitet hat - "um dreier Prostituierten willen", wie Aristophanes erläutert.

III.

Man kann die von Platon sowohl im 5. Buch der "Politeia" als auch im 7. Brief formulierte Erwartung, daß das Elend nicht nur in den Städten, sondern für

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das menschliche Geschlecht überhaupt erst dann ein Ende haben werden, "wenn nicht entweder die Philosophen Könige werden in den Städten ( ... ) oder die, die man heute Könige oder Machthaber nennt, echte und gründliche Philosophen werden, und wenn dies nicht in eines zusammenfällt: die Macht in der Stadt und die Philosophie" (473d), auch als eine radikale Antwort auf die Formalisierungslücken im Machtverteilungssystem aller bislang existie­renden Verfassungen lesen. Eine ebenso systematische Züchtung wie Erzie­hung der Wächter und Philosophenkönige sowie die durch die Güter- und Frauengemeinschaft hergestellte Abschottung der Machthaber gegen alle aus dem häuslichen, nicht genuin politischen Bereich kommenden Einflüsse sol­len die informellen, d.h. im paradigmatischen Staatsentwurf nicht vorgesehe­nen, Politikkomponenten ausschalten. Platons "Politeia" ist - unter anderem - ein Entwurf zur völligen Formalisierung politischen Handeins, wenn denn darunter nicht nur bürokratische Regelmäßigkeit und juristische Regelförmig­keit, sondern auch philosophische Gerechtigkeitsverwirklichung verstanden werden darf, oder prägnanter: sie perspektiviert, in anachronistischer Be­grifflichkeit, die völlige Überführung von Politik in Verwaltung. Diese war freilich nur dann und solange sicher gestellt, wie die qua eugenische Selektion und exakt reglementierte Erziehung erzeugte Mentalität der "politischen Klasse" gesichert blieb. Die formell nicht faßbare Gemeinwohlorientierung der Herrschenden wurde sichergestellt durch eine strikte Formalisierung eu­genischer Auswahl und pädagogischer Lenkung.

Platons Schüler Aristoteles hat nicht nur bezweifelt, daß dies möglich, son­dern auch die Frage aufgeworfen, ob dies überhaupt wünschbar sei, als er Pla­ton vorhielt, er wolle die Polis in einen Oikos verwandeln. Dagegen hat Ari­stoteles, folgenreich vielleicht weniger für die Antike, sondern vor allem für das alteuropäische Politikverständnis vom 12. bis zum 18. Jahrhundert, zwi­schen oikos und polis unterschieden, ohne jedoch zwischen Politik und Ver­waltung, Politik und Rechtsprechung eine grundsätzliche Trennlinie zu zie­hen. Leitbegriff der aristotelischen Politikanalyse ist die Verfassung, die von ihm definiert wird als die "Ordnung des Staates hinsichtlich der Fragen, wie die Regierung aufgeteilt ist, welche Instanz über die Verfassung entscheidet und was das Ziel jeder einzelnen Gemeinschaft ist" (Politik 1289 a 15 ff.). In dieser Definition ist der institutionelle mit dem ethischen Aspekt verbunden, wobei die Innehabung der obersten Gewalt durch einen Einzelnen, einige We­nige oder die Vielen den quantitativen und die jeweilige Orientierung am Ge­meinwohl den qualitativen Parameter bildet (Politik, 1289 a 26ff.). So stehen dem Königtum die Tyrannis, der Aristokratie die Oligarchie und der Politie die Demokratie gegenüber, erstere am Wohl der ganzen Stadt, letztere dage­gen nur am Vorteil der je die Macht Innehabenden orientiert. Diese Verfas­sungstypologie präzisiert Aristoteles nun dahingehend, daß er die Abwei­chung der Demokratie von der Politie als die geringfügigste bezeichnet, da

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hier die Anzahl derer, deren Wohlergehen der Regierung als Staatszweck vor­gegeben ist, am wenigsten voneinander abweicht, insofern der Demos die zah­lenmäßig größte Gruppe in der Polis darstellt, während die Abweichung der Tyrannis von der Monarchie am größten und schwerwiegendsten ist. Darum auch ist die Tyrannis von den schlechten Verfassungsformen die schlechteste, während die Demokratie die relativ beste der schlechten Verfassungen dar­stellt.

Tragen wir nun die Formalitäts-Informalitäts-Antithese an die aristotelische Verfassungstypologie heran, so stellt sich sehr schnell heraus, daß der quanti­tative Parameter, also die Bestimmung der Anzahl derer, welche die oberste Gewalt im Staate in Händen haben, auch den formellen Aspekt der aristoteli­schen Verfassungstypologie abbildet, während der qualitative Parameter, also die Orientierung der je Herrschenden am Gemeinwohl, notgedrungen infor­mell bleibt. Allenfalls wird man sagen_können, die niedrigstufige Qualitätsdif­ferenz zwischen Politie und Demokratie indiziere, daß hier der informell-qua­litative Aspekt der Orientierung der Regierung am Gemeinwohl durch die bei­den Verfassungen eigene Form der Machtlagerung und Machtverteilung den größtmöglichen Grad an Formalität erreicht hat, während im Fall von Monar­chie und Tyrannis die formale Machtlagerung relativ wenig aussagt bezüglich der Frage, ob die Macht im Interesse des Gemeinwesens oder des Herrschen­den gebraucht werde, was heißt, daß hier die Formalisierung des Staatszwecks am wenigsten fortgeschritten ist und die Beurteilung nicht an der formalen, sondern an der informellen Verfassungskomponente hängt.

Aristoteles hat daraus die Konsequenz gezogen, die Politie als die relativ be­ste Verfassungsform anzusehen, aber er hat dies nicht im Kontext der hier vor­gestellten, rational konstruierten Typologie der drei guten und der drei parek­batischen Verfassungsformen getan, sondern in der daran anschließenden stär­ker empirisch ausgelegten Verfassungsanalytik, in der er Demokratie und Oligarchie kontrastiert, erstere verstanden als die Herrschaft der Freien und Unbemittelten, welche die Mehrheit in der Polis bilden, letztere begriffen als Herrschaft der Reichen und Vornehmen, die in der Minderheit sind (1290b 17f.). Das hatte zur Folge, daß Aristoteles die Vorzüge der Politie im Ver­gleich mit anderen Verfassungsformen hier zunächst weniger unter dem Aspekt der größtmöglichen Formalisierung der Gemeinwohlorientierung ent­wickelt hat, sondern stärker unter Verweis auf ihren sozialen Träger, die mitt­leren Schichten: "Offensichtlich ist also die auf diese Mitte aufgebaute staatli­che Gemeinschaft die beste, und solche Staaten haben eine gute Verfassung, in denen die Mitte stark und den beiden Extremen überlegen ist, oder doch wenigstens dem einen Extrem" (1295b 35ff.). Und: "Daß also die Mitte am besten ist, ist klar. Denn sie allein führt zu keinen Revolutionen, und wo die Mittleren zahlreich sind, da gibt es bei den Bürgern am wenigsten Aufstände und Streitigkeiten" (1296 a 7ff.). Immerhin: Aristoteies hat es bei dem Ver-

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weis auf die soziale Trägerschaft der Politie nicht belassen, sondern mit eini­ger Sorgfalt mögliche Formalisierungen des politischen Übergewichts der mittleren Schichten erörtert. Ausgehend von dem Gegensatz Oligarchie­Demokratie schreibt er (1294 b 37ff.): "In den Oligarchien werden die Wohl­habenden bestraft, wenn sie nicht mit zu Gericht sitzen, aber die Armen erhal­ten keinen Sold; bei den Demokratien erhalten umgekehrt die Armen einen Sold, aber die Reichen keine Strafe. Das Gemeinsame und Mittlere ist die Kombination von beiden, und das ist die Eigenart der Politie. Eine zweite Art der Kombination ist es, wenn man die Mitte von dem nimmt, was beide anord­nen. So knüpfen die einen die Beteiligung an der Volksversammlung an gar keine oder nur eine minimale Steuere in sc hätzung, die anderen dagegen an eine große; das Gemeinsame ist, ( ... ) die Mitte zwischen den beiden Einschät­zungen zu wählen. Eine dritte Mischungsart besteht in der Zusammensetzung eines oligarchischen mit einem demokratischen Gesetz. So scheint es etwa de­mokratisch zu sein, daß die Amtsstellen ausgelost werden, oligarchisch, daß dies durch Wahl geschieht; demokratisch, daß dies ohne Rücksicht auf die Steuereinschätzung geschieht, oligarchisch, daß dies mit einer solchen Rück­sicht geschieht. Im Sinne ( ... ) der Politie ist es also, aus beiden etwas zu neh­men, aus der Oligarchie, daß die Beamten zu wählen sind, aus der Demokra­tie, daß die Steuereinschätzung keine Rolle spielt."

Auf der Suche nach der dauerhaftesten und stabilsten Verfassung - wobei Stabilität hier tendenziell an die Stelle der kaum zu formalisierenden Gemein­wohlorientierung tritt - hat Aristoteies die formellen Grundprinzipien von Demokratie und Oligarchie, Herrschaft der Vielen und Herrschaft der Weni­gen, so miteinander zu kombinieren versucht, daß dadurch die nicht­formalisierbaren Randzonen beider Verfassungstypen wechselweise in Schach gehalten wurden. Im Unterschied zu Thukydides, der gerade im informellen Einfluß des Ersten Mannes das Wesensmerkmal der gut eingerichteten Demo­kratie gesehen hat, hat er auf formelle Regeln vertraut, die den politischen Einfluß von Leuten wie Perikles sicherstellen sollten, ohne daß diese gezwun­gen waren, in die Rolle des Volksführers, des Demagogen zu schlüpfen.

Was Aristoteles hier vorträgt, ist das Vorspiel zu jenen an der Idee der ge­mischten Verfassung orientierten Konstruktionen (vgl. Nippel 1980), etwa bei Polybios oder Cicero, die allesamt das Ziel verfolgen, informelle Politikkom­ponenten so weit wie möglich zu formalisieren, d.h. in den Aufbau der Verfas­sung zu integrieren. Will man die antiken und frühneuzeitlichen Mischverfas­sungskonstruktionen auf einen Nenner bringen, so ist es mithin der, alle denk­baren informellen Politikkomponenten zu lokalisieren und zu formalisieren.

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Iv.

Auch bei Niccolo Machiavelli finden sich, zumeist im Anschluß an Polybios, Reflexionen über die Vorzüge einer gemischten Verfassung, wobei er die pro­spektive Stabilität einer Verfassung mit dem Grad der Formalisierung politi­schen Einflusses in Beziehung setzt (vgl. Münkler 1982, 369ff.). Doch nicht diese für den Gesamthorizont der Machiavellischen Theorie eher marginalen Verfassungsspekulationen sollen mich'hier - abschließend - interessieren, sondern vielmehr der ganz zentrale Aspekt einer regenerativen Erneuerung der formalisierten politischen Ordnung durch informelle, auch nicht formali­sierbare politische Prozesse. Zu nennen ist hier vor allem Machiavellis Erwar­tung, der latente Konflikt der Faktionen, also die permanente Drohung des Bürgerkrieges, hindere eine politische Gemeinschaft daran, sich Müßiggang, Luxus und Wohlleben zu überantworten und sich so zugrundezurichten. Ma­chiavelli hat diesen im Proemio des 5. Buches seiner "Istorie Fiorentine" breit entfalteten Gedanken an der ihm durch Polybios wie Titus Livius vermittelten Geschichte der römischen Republik ablesen zu können geglaubt. Gute Ge­setze, so erläutert er, entstünden nicht durch Harmonie und Ordnung im In­nern, sondern vielmehr durch Parteienkämpfe und inneren Streit: "Man könnte", so Machiavelli (Discorsi 1,4), "zwar einwenden, es seien ganz au­ßerordentliche, ja furchtbare Wege zum Guten gewesen, wenn das zusammen­gerottete Volk gegen den Senat, der Senat gegen das Volk schrie, wenn alles lärmend durch die Straßen rannte, wenn die Kaufläden geschlossen wurden, wenn das ganze Volk aus Rom auszog, ( ... ) allein jede Stadt muß auf ihre ei­gene Art die Möglichkeit haben, dem Ehrgeiz des Volkes Luft zu machen; be­sonders aber die Staaten, welche sich in wichtigen Angelegenheiten des Vol­kes bedienen wollen. Rom hatte die Art, daß das Volk, wenn es ein Gesetz durchsetzen wollte, entweder eines der angeführten Dinge tat oder sich in den Krieg zu ziehen weigerte, so daß man, um es zu besänftigen,. in einigen Stücken nachgeben mußte." Machiavelli hat daraus geschlußfolgert, daß die inneren Unruhen in der Frühzeit der römischen Republik nicht Tadel, sondern "das größte Lob" verdienen, insofern sie zur Einsetzung des Volkstribunats geführt hätten, welches zum wichtigsten Amt bei der Sicherung der römi­schen Freiheit geworden sei. Der durch seditio oder secessio geltend ge­machte Einfluß ist im Volkstribunat formalisiert, d.h. geregelt und verstetigt worden. Machiavelli hat also die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzun­gen im republikanischen Rom historisch gerechtfertigt, indem er sie als Vor­aussetzung für die Etablierung eines formellen Einflusses des Volkes auf die Regierung der Republik dargestellt, also die Informalität der Einflußnahme geschichtstheoretisch als Beginn der Einflußformalisierung begriffen hat, wo­bei verfassungsmäßige Formalität Ziel und Abschluß des Prozesses ist.

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Diese hier von der Informalität zur Formalität fortschreitende, in der Insti­tution des Volkstribunats gleichsam finalisierte Entwicklung ist von Machia­velli etwa zehn Jahre später im Proemio des 5. Buches seiner "Istorie Fioren­tine" kompliziert und entfmalisiert worden. "Die Länder", so schreibt er hier (Politische Schriften: 318), "pflegen zumeist bei ihren Veränderungen von der Ordnung zur Unordnung zu kommen, um dann von neuem von'der Unord­nung zur Ordnung überzugehen." Identifiziert man in Anlehnung an die Über­legungen aus den "Discorsi" Ordnung mit formalisiertem und Unordnung mit entformalisiertem politischen Einfluß, so lösen hier Formalisierungs- und Entformalisierungsprozesse einander ab. Dieses Wechselspiel nun wird von Machiavelli in einer Pendelbewegung versinnbildlicht, wobei das Erreichen des Formalisierungsoptimums notwendig eine politische Entwicklung zum Formalisierungspessimum einleitet und umgekehrt. In Machiavellis eigenen Worten lautet das so (a.a.o.): "Es ist von der Natur den menschlichen Dingen nicht gestattet, still zu stehen. Sobald sie ihre höchste Vollkommenheit er­reicht haben, und nicht mehr steigen können, müssen sie daher sinken; ebenso, wenn sie gesunken sind, durch die Unordnung zur tiefsten Niedrigkeit herabgekommen und also nicht mehr sinken können, müssen sie notwendig steigen. So sinkt man stets vom Guten zum Übel und steigt vom Übel zum Guten."

Aus diesem "Geschichtsgesetz" hat Machiavelli politische Konsequenzen gezogen, indem er die Politiker davor gewarnt hat, den Zustand größtmögli­chen Ordnung, also äußerster Formalisierung politischen Einflusses, anzu­streben, sondern vielmehr alles daran zu setzen, daß der von ihnen gelenkte Staat in einem suboptimalen Zustand verbleibe, d.h. eine erkennbare Größe informellen Einflusses auf die Politik verfügbar sei, die als Moment der Un­ruhe und Irritation jene regenerativen Kräfte freisetze, die den Staat vor dem gefährlichen Umschlagspunkt des Ordnungs- und Formalisierungsoptimums bewahrten. Wollte man es schablonisieren, so würde Machiavellis Devise in dieser Frage wohl lauten: Soviel Formalisierung wie nötig, soviel Informalität wie möglich.

Fassen wir zusammen: die drei von mir herausgegriffenen Autoren exem­plifizieren unterschiedliche Formen, in denen die Formalitäts-Informalitäts­Antithese der Sache nach, nicht dem Begriff nach in der politischen Ideenge­schichte zu finden ist, wobei die Relation zwischen formellen und informellen Politikkomponenten ganz unterschiedlich gedacht worden ist. Ich vermute, daß jedes der von mir angezogenen Beispiele seine eigene Rezeptionsge­schichte besitzt, in der das angeschlagene Thema in vielfiiltigen Variationen wiederholt worden ist, Thukydides etwa in der Feststellung, die der Historiker Prokop über den Gotenkönig Theoderich getroffen hat: Dem Namen nach war er ein Tyrann, in Wirklichkeit aber ein wahrer König (AOY<fl !-tEv 't6Qavvo~, EQY<fl OE ßa(JAEu~ &AEOij~). Aristoteies in der langwierigen Debatte der

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langwierigen Debatte der sogenannten Reichspublizistik über die Frage, wel­ches die Staatsform des Deutschen Reiches sei, eine Aristokratie oder eine Monarchie, und Machiavelli bzw. der mit ihm teilweise zusammengedachte Tacitus schließlich in der für den Arkanismus zentralen Unterscheidung zwi­schen den arcana und den simulacra imperii, aber auch in der für die bürger­humanistische Politikkonzeption in England und Amerika zentrale Vorstel­lung der Regenerierung formaler Macht durch nichtformalisierbare Formen von Konfliktaustragung.

Ich habe anzudeuten versucht, wo hier, zu suchen wäre.

Anmerkungen

I Die begriffliche Gegenüberstellung formell-informell suggeriert eine antithetische Eindeutig­keit, die nur auf der Ebene des Begriffs, kaum jedoch in der politischen Realität zu finden ist, wo die Übergänge fließender sind als dies das antithetische Begriffspaar auszudrücken ver­mag. Im Verlaufe des Symposions hat Werner Jann vorgeschlagen, die Antithese formell­informell in ein Kontinuum fließender Übergänge zu transformieren, in dem fünf Etappen zu unterscheiden wären: formell festgelegt - informell festgelegt - regelmäßig erwartet - re­gelmäßig beobachtet - situative Abweichung. Die Antithese formell-informell wird nachfol­gend so verwandt, daß unter Formalität vor allem formell festgelegt verstanden wird, während unter Informalität alle nachfolgenden vier Etappen des Kontinuums subsummjert werden.

2 Daß Prozesse der Entformalisierung oftmals zum auslösenden Moment fiir Prozesse der For­malisierung werden, zeigt sich auch an der Frage des Zugangs zur athenischen Volksver­sammlung und den politischen Ämtern in Athen: In dem Maße, wie Zensusbestimmungen hinfällig wurden, also der Zugang zu politischen Ämtern jedem athenischen Bürger unabhän­gig von seinem jeweiligen Steueraufkommen offenstand, wuchs der Erteilung des Bürger­rechts eine politische Bedeutung zu, die ihr vordem nicht zugekommen war - mit der Folge, daß die Erteilung des Bürgerrechts formalisiert wurde: Bei ihrer Eintragung in die Bürgerliste mußten die jungen Athener den Nachweis erbringen, daß beide Elternteile Athener waren. Das richtete sich einerseits gegen den überregional versippten Adel, andererseits aber auch gegen "Einwanderer", die in den Genuß der regelmäßigen Diätenzahlungen fiir die Teilnahme an Volksversammlung und Volksgericht gelangen wollten (vgl. zum Bürgerrecht im allgemei­nen Ehrenberg 1965: 47 ff., speziell zu Athen Tarkianinen 1972: 209 ff.).

3 Unter diesem Aspekt ist Thukydides vor allem von deutschen Historikern nach dem Ersten Weltkrieg gelesen worden, etwa von Max Pohlenz (1919) und Eduard Schwarz (1919); kritisch dazu Hans-Peter Stahl (1966: 20 ff.).

4 Was Thukydides im Falle des Perikles implizit zustimmend vorträgt, hat er Alkibiades, den Neffen des Perikles, explizieren lassen - und zwar in dessen vor den Spartanern vorgetrage­ner Rechtfertigung der prodemokratischen Haltung seiner Familie (VI, 89): "Gegen die herr­schende Zuchtlosigkeit versuchten wir aber, den Staat besonnener zu lenken; es waren an­dere, in den früheren Zeiten und jetzt, die den Haufen zu Unmaß und Schlechtigkeit verleite­ten, die haben auch mich vertrieben. Aber wir waren Führer des Gesamtvolks und bestrebt, das Maß an der Größe und an Freiheit, das die Stadt jeweils erreicht hatte, wie es jeder über­nommen, so bewahren zu helfen - denn die Herrschaft des Volkes durchschauten wir alle, wer etwas Einsicht hatte, und ich selbst so gut wie einer, da ich ja auch mehr Anlaß habe, sie zu schelten." - Bedeutsam ist hier Alkibiades' Anspruch, die in der Demokratie engagierten Politiker seiner Familie hätten immer im Interesse des gesamten Volkes, nicht allein im Sinn des niederen Volkes, wie etwa der ,Alte Oligarch' behauptet hätte, gehandelt.

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5 Thukydides' Bild des Perikles ist parteiisch - ebenso wie das bei Platon zu findende Gegen­bild parteiisch ist; Joseph Vogt (1956: 249 ff.) hatte alle Anklagepunkte gegen Perikles zusam­mengestellt: Er sei kein Staatsmann, sondern ein Demagoge gewesen; durch sein ausschließ­lich an Machtfragen orientiertes Denken und Handeln habe er die von Athen zunächst vertre­tene Idee der Freiheit verraten; seine Politik sei sehr stark durch sein Interesse an seiner persönlichen Machtstellung bestimmt, und schließlich sei das Kalkül seines Kriegsplanes kei­neswegs fehlerfrei gewesen.

6 Bewgen auf das in Anm. I genannte Kontinuum heißt dies, daß die Formalität des rhetori­schen Streits hier als "informell festgelegt" verstanden wird, d.h. daß hier kein hoher Forma­Iisierungsgrad behauptet werden kann. Gegner der thukydideischen Verteidigung des rhetori­schen Wettstreits würden wohl geltend machen, daß hier von keinerlei Formalität die Rede sein könne, sondern daß das von Diodotos geltend Gemachte selbst ein Mittel im rhetorischen Duell, keineswegs Element von dessen Regelhaftigkeit sei.

7 Politischer Hintergrund dieser Erörterung ist für Machiavelli die Disc. I, 5 gestellte Frage, "wem man mit mehr Sicherheit den Schutz der Freiheit anvertraut: dem Volke oder den Gro­ßen, und wer größeres Interesse daran hat, Unruhen zu erregen: der, welcher erwerben, oder der, welcher erhalten will"? Beispiele für eine Verfassung, die den Schutz der Freiheit in die Hände von Adel und Patriziat gelegt haben, sind für Machiavelli Sparta und Venedig, Beispiel für eine Verfassung, die den Schutz der Freiheit dem Volk anvertraute, ist Rom. Machiavelli entscheidet sich - im Unterschied zu seinem Zeitgenossen Francesco Guicciardini (vgl. Gil­bert 1965: 75 ff.) - für Rom, für das Volk, was damit gleichbedeutend war, daß er ein höheres Maß an Informalität im Regierungssystem zu akzeptieren bereit war.

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hrsg. von Herfried Münkler, Frankfurt/M. 1990. Platon: Der Staat. Eingeleitet von OIof Gigon, übertragen von Rudolf Rufener, Zürich / München

Im (2. Aufl). Der pseudoxenophontische Athenaion Politeia. Einleitung, Übersetzung, Erklärung von Ernst

Kalinka, Leipzig / Berlin 1913. Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges, hrsg. und übertragen von Georg Peter

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b) Sekundärliteratur

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249-266.

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Informelles Regieren - Annäherungen an Begrifflichkeit und Bedeutungsgehalt

Lars Kastning

I. Zur BegrifJlichkeit

So verbreitet der Gebrauch der Begriffe "informell" oder "informal" auch ist, so wenig läßt sich direkt aus einschlägigen Handbüchern, Lexika, Einführungs- oder Überblickswerken zur Politikwissenschaft und speziell zur Regierungslehre über die Begrifflichkeit entnehmen. Es handelt sich hier wie bei den Pendants "formal" und "formell" offensichtlich mehr um der Alltags­sprache entlehnte Begriffe als um analytische Kategorien, die wissenschaft­lich präzise definiert wären. Diese mangelnde begriffliche Klarheit bedeutet allerdings nicht, daß in der einschlägigen Literatur nicht Hinweise auf ent­sprechende Phänome zu finden wären.

Nähert man sich den Begriffen zunächst pragmatisch über deren (alltags-) sprachliche Verwendungen und nicht sogleich über den Gegenstandsbereich, so bietet etwa der Fremdwörterduden folgende Definitionen an. Unter dem Adjektiv "formal" wird dort verstanden:

,,1. die äußere Form, die Anlage o.ä. von etwas bezüglich. nur der Form nach (vorhanden), ohne eigentliche Entsprechung in der Wirklichkeit."

Als "formell" wird definiert:

"La) dem Gesetz oder der Vorschrift nach, offiziell; b) bestimmten gesellschaftlichen Formen, den Regeln der Höflichkeit ent­

sprechend. 2.a) auf Grund festgelegter Ordnung, aber nur äußerlich, ohne eigentlichen

Wert, um dem Anschein zu genügen; b) auf Distanz haltend, engeren persönlichen Kontakt meidend u. sich nur

auf eine unverbindliche Umgangsform beschränkend."

Während der Duden die Umkehrung des Begriffes "formal" nicht kennt, heißt es unter "informell":

"I. (selten) a) informatorisch; b) in der Absicht, sich zu informieren.

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11. ohne (formalen) Auftrag; ohne Formalitäten, nicht offiziell; ( ... ) informelle Gruppe: sich spontan bildende Gruppe innerhalb einer festen Organisation."

Schließlich wird noch "formalisieren" umschrieben als "etwas in bestimmte (strenge) Formen bringen; sich an gegebene Formen halten" und "zur bloßen bzw. festen, verbindlichen Form machen".

Über den Sinn eines solchen "unwissenschaftlichen" Zugangs mag man streiten; er macht zumindest bereits deutlich, daß mit den angesprochenen Be­griffen sehr verschiedene Bedeutungsinhalte verbunden sein können. Ein ge­wisser Kern liegt aber offensichtlich in einem zweifachen Bezug, nämlich auf (rechtlichen) Normen und Vorschriften sowie auf Anforderungen der äußeren Form.

So kann zumindest nicht von einer einfachen Dichotomie im Sinne von "formell (formal) versus informell (informal)" gesprochen werden; eher von einem Kontinuum zwischen den Extremen von rechtlich vollständig determi­nierten Formen und Inhalten sozialen und politischen Handelns und des infor­mellen Handeins ohne Regelhaftigkeit, auf dem dann etwa in den hier disku­tierten Bereichen Führung, Personal, Organisation und Entscheidung unter­schiedliche Grade formalen oder informalen Handeins festgemacht werden könnten. Politisches und soziales Handeln kann sich etwa nicht nur auf recht­liche Kriterien, sondern auch auf Konventionen beziehen, die sich aus kultu­rellen Erwartungshaltungen oder tradierten "Erfahrungen" speisen. Gleich­wohl erscheint die Unterscheidung zwischen im rechtlichen Sinne Formalem und den neben, unter oder auch gegen rechtliche Fixierungen verlaufenden Prozessen des Regierens für die Regierungsforschung die wichtigere Unter­scheidung zu sein. Wenig Sinn macht es allerdings, die Differenzierung zwi­schen formal und formell allzu weit zu treiben. Sie wird auch in der Literatur nicht stringent durchgehalten (vgl. z.B. die informellen und informalen Ent­scheidungszentren bei Rudzio 1987: 268 ff.).

Dagegen sind die Kriterien der Regelhaftigkeit, der Verbindlichkeit und der materiellen oder funktionalen Bedeutung m.E. geeignet, sinnvolle Differen­zierungen herzustellen. Ziel einer solchen Differenzierung ist es schließlich nicht, lediglich Formalitätsgrade des Regierens abzustecken, sondern die funktionale Bedeutung formaler und informaler Komponenten des Regie­rungshandelns herauszuarbeiten. In diesem Sinne ließen sich dann Kompo­nenten des Regierens, die rein formal zwar regelmäßig beachtet werden müs­sen und verbindlich sind, aber keine materielle Bedeutung für Inhalt und Er­gebnis von Regierungshandeln haben, von solchen Elementen unterscheiden, deren Formalisierungsgrad gering ist, die gleichwohl aber zum regelmäßigen Regierungsgeschäft gehören, einen gewissen Grad an sozialer oder politischer Verbindlichkeit aufweisen und von hoher funktionaler Bedeutung sind.

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Abb. 1: Beurteilungskriterien informaler Komponenten des Regierens

Formalisierungs­grad

Regelhaftigkeit

Verbindlichkeit

Funktionale Bedeutung

Informell (Voluntarismus) (soziale Konventionen)

Formell (rechtliche Forma­

lisierung)

Die für eine Regierungsforschung vorrangigen Fragen im Spannungsfeld for­maler und informaler Komponenten müßten dann sein:

- Welche funktionale Bedeutung haben formale Vorschriften für das Regieren; in welchem Maße wird Regierungshandeln durch diese determiniert?

- Welche informalen Komponenten und "Regeln" des Regierens lassen sich feststellen; wie verbindlich sind diese und inwieweit sind sie funktional?

- Und schließlich: In welchem Verhältnis stehen informale zu formalen Kom­ponenten? Entwickeln sich etwa die ersten unabhängig von den letzteren, oder werden diese erst eigentlich durch das Vorhandensein formaler Regeln und deren funktionale Mängel erklärlich?

In Ergänzung und Kombination zu dieser Herangehensweise wäre aber auch eine zweite Differenzierung sinnvoll, die ebenfalls zwischen verschiedenen Gra­den von Formalität bzw. "Informalität" unterscheidet (Abb. 2). Nach diesem Vorschlag, der von Wemer Jann stammt, kann unterschieden werden zwischen

- dem formal (rechtlich in unterschiedlichen Stufen) Festgelegten des Regie-rungshandeins;

- der in diesem Rahmen "informell festgelegten" Praxis, die in unterschiedli­chem Ausmaß Z.B. durch die Etablierung besonderer Institutionen "formali­siert" ist;

- der "regelmäßig erwarteten" Praxis, d.h. verfestigten Handlungsformen, die zwar nirgends festgelegt sind, die aber zur "ungeschriebenen Verfassung" gehören und deren Verletzung in aller Regel Sanktionen nach sich ziehen würde ("Konventionen");

- "regelmäßig beobachteter" Praxis, deren Geltung den meisten Akteuren kaum bewußt ist, die aber für die Beschreibung und Erklärung des Zusam­menwirkens der Akteure von großer Bedeutung sein kann wie etwa Faktoren der politischen Kultur.

Abb. 2: Varianten politischen Handeins und Verhaltens

formal festgelegt

KONTINUUM

informell festgelegt

regelmäßig erwartet

regelmäßig beobachtet

situative Abweichung

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II. Bedeutung in den Akteursbeziehungen

Informelle Komponenten im Sinne von (verfassungs-)rechtlich nicht fixierten Strukturen und Verhaltensweisen gehören, wenn auch kaum als solche be­zeichnet, zum Kern der politikwissenschaftlichen Analyse, bereits wenn es sich um Aussagen auf der Ebene von politischen Systemen handelt. So läßt sich die Verfassungswirklichkeit moderner westlicher Demokratien nicht an­gemessen erfassen, wenn nur staatsrechtliche Fixpunkte analysiert werden. Dieses muß ergänzt werden durch die "ungeschriebenen Regeln" der politi­schen Systeme, die sich - im Rahmen der Verfassungsregeln, aber im Zusam­menspiel mit politischen und sozialen Entwicklungen - im Laufe der Verfas­sungsentwicklung herausgebildet haben. Bereits die einfache Gegenüberstel­lung des parlamentarischen und des präsidentiellen Regierungssystems kommt ohne die Berücksichtigung informeller Komponenten des Regierungs­systems nicht aus (vgl. Steffani 1979).

Die etwa im Vergleich der Bundesrepublik mit Großbritannien ähnliche Verklammerung von Mehrheitsfraktion(en) im Parlament und Regierung be­ruht jenseits der staatsrechtlichen, formalen "Beschreibung" des Systems auf den informellen Komponenten der "wohlfahrtsverpflichteten" Massendemo­kratie und der Parteienstaatlichkeit. Dabei sind jenseits der Charakterisierung eines politischen Systems als "parlamentarisch" oder anderes die Ausprägun­gen formaler und informaler systemprägender Elemente recht unterschied­lich. Eine Beschreibung und Analyse des britischen Regierungssystems auf al­leiniger Grundlage formaler Charakterisierungen würde so zu einer völligen Fehldeutung führen; die Bundesrepublik kann im Vergleich zu den relativ weitgehend "formalisierten" Regierungssystemen gezählt werden - ein­schließlich von Tendenzen, ursprünglich nicht verfassungsrechtlich fixierte Beziehungen zwischen den Verfassungsorganen nachträglich zu formalisie­ren, wie es etwa mit der Einführung der Gemeinschaftsaufgaben 1969 gesche­hen ist. Diese verfassungsrechtliche Formalisierung des Informellen ist im übrigen ein prägnantes Beispiel dafür, wie sich die Formalisierung informel­ler Praxis auf die Voraussetzungen des Regierens verändernd auswirkt, indem vorher mögliche informelle Verhaltensweisen nun -- etwa durch den Grund­satz der Gleichbehandlung - nicht mehr möglich sind (Scharpf 1976).

Bereits auf der Ebene der politikwissenschaftlichen Systemanalyse ist also eine Differenzierung formaler und informaler Komponenten und deren Bezie­hungen unerläßlich, auch hier ist eine Unterscheidung zwischen formal oder in­formal festgelegten Akteursbeziehungen, regelmäßig erwarteten und beobachte­ten Verhaltensweisen und schließlich situativen Abweichungen nützlich. Ähnli­che Funktionsweisen von politischen Systemen können dabei durchaus auf unter­schiedlichen Kombinationen formaler und informeller Komponenten beruhen.

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Hans-Ulrich Derlien hat zu Recht unter Bezug auf Arbeiten zur Regierungs­lehre der sechziger und siebziger Jahre auf die nach wie vor bestehende Unsi­cherheit darüber hingewiesen, was denn eigentlich unter "Regieren" zu ver­stehen sei (Derlien 1990; vgl. Ellwein 1976; Hennis 1965). Diese Diskussion soll und braucht hier nicht aufgegriffen werden. Es sei lediglich festgestellt, daß sich unter "Regieren" offensichtlich Handlungen der mit dieser Tätigkeit Beauftragten im öffentlichen Gemeinwesen subsumieren lassen, die in drei Kategorien gebündelt werden können:

- Handlungen des politischen Führens, - Handlungen des politische Gestaltens, - sowie Handlungen des politischen Legitimierens.

Die von Derlien unterschiedenen Aktivitäten (Steuerung, Kontrolle, Koor­dination, Konfliktregelung, Informationsbeschaffung und -verarbeitung, Au­ßendarstellung, Legitimationsbeschaffung und Repräsentation) lassen sich m.E. in diesen Punkten fassen. Wichtig ist im Zusammenhang mit formalen und informalen Komponenten lediglich folgendes: Betrachtet man das Ge­schäft des Regierens aus der Warte der politischen Spitze, evtl. auch persona­lisiert aus der Sicht eines Bundeskanzlers, so gelten unter den Bedingungen der pluralistischen und wohlfahrtsstaatlichen Demokratie verkürzt und zuge­spitzt drei Handlungszwänge: Um zu regieren, d.h. in engster Definition um den Amtserhalt zu sichern, muß er gegenüber anderen Akteuren politisch füh­ren, er muß zugleich - in welchem konkreten Maß auch immer - politisch gestalten und er muß vor allem sein Handeln öffentlich legitimieren, d.h. poli­tische Gestaltung und politische Führung als sein Handeln und seine Erfolge geltend machen. Abgewandelt gilt dies ebenso für die ihn tragende Partei.

Bei der Umsetzung dieser "Systemimperative" ist der Kanzler, oder auch die Regierung, immer darauf angewiesen, mit in unterschiedlichem Ausmaß autonomen Akteuren innerhalb und außerhalb des Regierungssystems umzu­gehen, Positionen und Politik durchzusetzen, zu koordinieren oder lediglich Störmanöver zu vermeiden - dies im übrigen unabhängig davon, ob man stär­ker der Vorstellung einer Kanzler- oder einer Koordinationsdemokratie an­hängt, die hier letzlich graduelle Unterschiede ausmachen (vgl. Murswieck 1990; Niclauß 1988). Zu diesen Akteuren und Akteurspositionen, die gewis­sermaßen den institutionellen Datenkranz des Regierens bilden, gehören: das Kabinett, die Parteien, die Fraktionen, die Verwaltung, insbesondere die Mi­nisterialbürokratie, die Bundesländer, die Bundesbank, das Bundesverfas­sungsgericht, Interessengruppen und die Medien (vgl. Ellwein/Hesse 1987; von Beyme 1981).

Diese Akteurspositionen sind in unterschiedlichem Maß formal abgesichert oder lediglich informell festgelegt. Für den Umgang mit ihnen sind formale Grenzziehungen und Beziehungen relevant, das Potential des Regierens ge-

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genüber diesen Positionen stützt sich jedoch in vielen Fällen auf informelle Wege. Betrachtet man die relevanten Akteure im Vergleich, so fällt die Breite der unterschiedlichen Beziehungen und vor allem des Stellenwertes informa­ler Komponenten auf (vgl. Abb.3).

Abb. 3: Formelle und informelle Beziehungen zwischen Akteuren des Regierungssystems und seiner Umwelt

Kabinett

Fraktionen

Parteien

Verwaltung

Bundesländer

formell informeJl

Kabinetts- u. Ressortprinzip Informelle Organisation, Vorklärung und Ver­klammerung durch informelle Entscheidungs­zentren (Koalitionsausschüsse, "Elefantenrun­den", etc.)

Politikausführung und -vorbereitung

Gesetzgebungs- u. Verwal­tungskompetenzen nach GG, Mitwirkung an der Gesetzge­bung des Bundes (Bundesrat)

Politik"fiihrung" durch Information, Selek­tion, interner und externer Vorabstimmung, parteipolitische Personalbesetzung

Politikkoordination nach A- und B-Ländern, Parteipräsidien, MP- und Ministerkonferenzen

Bundesverfas- Normenkontrolle nach GG und Informeller Modus der Richterwahl, Antizipa­sungsgericht BVerfG, richterliche Unabhän- tion von Urteilen

gigkeit

Bundesbank Bundesbankgesetz, geldpoliti- Informelle Politikkoordination, Politikantizipa-

Interessen­verbände

Medien

sche Autonomie tion, informelle Modi der Präsidiumsbesetzung

Anhörung nach GGO

Pressefreiheit, Medienrecht, Organisation und rechtlicher Rahmen der Öffentlichkeits­arbeit

Subgovernments, Policy-Netze, Lobbyismus, Antizipation von Adressatenreaktionen, Perso­nelle Interessenberücksichtigung, politische u. administrative "Interessenfiihrung"

Politikvermittlung, informelle Beziehungen und Orientierungen, selektive Information, Personalbesetzung

Wertstrukturen, Politik-, Führungsstile, Macht, Tausch

Nur beispielhaft soll hier kurz auf drei der aufgeführten Punkte aus dem enge­ren Bereich des Regierungssystems eingegangen werden. Die Fülle der mögli­chen Beziehungen und deren im einzelnen weiter aufzufüllende funktionale Bedeutung macht jedoch deutlich, daß unter dem Fokus der informellen Kom­ponenten des Regierens nicht nur die Beziehungen zur Verwaltung relevant sind (so von Beyme 1990: 10).

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Für die Beziehungen zwischen Kabinett, Fraktionen und Parteien hat Wolf­gang Rudzio auf "informale" oder auch "informelle" Entscheidungszentren und zugleich auf deren funktionale Bedeutung und Vorteile hingewiesen (Rud­zio 1988: 268 ff.). Für Rudzio ergibt sich aus den Schwächen des Kabinetts in Bonn als politischem Führungsorgan, das es aus rechtlich-formaler Sicht ei­gentlich darstellt, immer wieder die Tendenz, "den Ort politisch brisanter Entscheidung aus dem Kabinett hinaus in informelle Gremien zu verlegen" (ebd.: 268). Diese erweisen sich als effektiver als das Kabinett, "da sie

- keinen Zustandigkeitsregelungen unterliegen, sich somit nicht mit Zweit­rangigem beschäftigen müssen;

- ohne Geschäftsordnung und Protokollierung arbeiten und so unge­zwungere Verhandlungen ermöglichen;

- keinen Vorschriften gewaltenteilender Art unterworfen sind, welche eine optimale Sammlung der tatsächlich einflußreichsten Politiker des Regie­rungslagers - gleichgültig ob aus Regierung, Fraktion, Parteiorganisation oder Bundesländern - ausschließen" (ebd.: 270).

In der eingangs angeführten Terminologie handelt es sich hierbei um infor­melle Regierungspraxis mit teilweiser Formalisierung, die sich unterhalb des verfassungsrechtlich normierten formalen Rahmens des Regierens herausge­bildet hat. Entscheidungs- und Durchsetzungsfähigkeit sind die zentralen An­forderungen an diese informalen Entscheidungsgremien. Die von Rudzio her­vorgehobenen Funktionen der faktisch verbindlichen Entscheidung bei kon­fliktträchtigen zentralen Fragen, der Beilegung von Konflikten innerhalb des Regierungslagers und in der Regierungsbildung sowie der politischen Festle­gung auf Gesetzgebungsprogramme verbessern damit die Voraussetzungen erfolgreichen Regierens, indem Einheitlichkeit und Konsens hergestellt, poli­tische Führung und Gestaltung erleichtert und zugleich ein wichtiges Krite­rium öffentlicher Legitimation erfüllt wird.

Läßt sich zwischen Kabinett, Regierungsparteien und -fraktionen und auch den Bundesländern eine Politikkoordination über informelle Beziehungen er­reichen, die Konsens und einheitliches Handeln sichert, so gilt dies gegenüber den Akteuren Bundesbank und Bundesverfassungsgericht nicht. Bei der Un­abhängigkeit, die sich aus dem Mißtrauen gegen Machtmißbrauch speist, gründet auf formalen rechtlichen Festlegungen ihrer Autonomie, den daraus folgenden Machtpotentialen sowie auf Erfolg und dessen Anerkennung in der öffentlichen Meinung und unter den politischen Eliten. Formale Festlegungen mit hohem funktionalem Bedeutungsgehalt plus informelle Praxis und Aner­kennung bilden somit die Grundlage der für Regierungshandeln relevanten Positionen beider Akteure.

Auf das Bundesverfassungsgericht vermag keine Bundesregierung infor­mell Einfluß zu nehmen, eine Verklammerung verbietet sich aus dem Grund-

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satz der Gewaltentrennung und dem verfassungsrechtlichen Auftrag (vgl. zum folgenden Landfried 1984; Landfried 1990; Wewer 1990). Substantielle Ein­griffe sind nur auf formalem Wege, durch eine Änderungen des rechtlichen Rahmens, möglich - soweit es sich um das Gesetz über das Bundesverfas­sungsgericht handelt, durch die Regierungsmehrheit, ansonsten nur mit Mit­wirkung der Opposition. Die informellen Modi und Konventionen der Rich­terwahl sind kein Instrument, um ein "regierungskonformes" Verhalten zu gewährleisten. Dagegen gehen beispielsweise informelle Wirkungen von der Tätigkeit der Verfassungsrichter aus, wenn deren mögliche Bedenken gegen ein Gesetz bereits im Prozeß der Gesetzesvorbereitung antizipiert werden. Der Einfluß des Gerichts geht damit sicher über den Aspekt eines formalen Richterspruchs hinaus, ohne daß dieser auch empirisch exakt zu belegen wäre, er bemißt sich z.B. auch danach, wie extensiv der formale Rahmen der Nor­menkontrolle vom Gericht selbst ausgelegt wird.

Für die Bundesbank gilt, daß auch hier die Möglichkeiten der Personalbe­setzung durch die Bundesregierung nicht zu einer informellen Verklamme­rung der Akteure zu einer Handlungseinheit führen. Die Zusammensetzung des Direktoriums wird de facto von der Bundesregierung bestimmt und die personelle Unabhängigkeit der Bundesbank ist auch de jure weit geringer als ihre materielle, aber regelmäßig entwickelt ihre Führungsspitze "eine bank­spezifische Identität, die auch bei Konflikten mit Parteifreunden in der Regie­rung nicht aufgegeben wurde" (Sturm 1990: 263). Die formalrechtliche Aus­gestaltung ihrer Position führt in Zusammenwirken mit informellen Faktoren der Kontinuität, des Erfolges und der öffentlichen Anerkennung in einem Kernbereich exekutiver Zuständigkeit zu einer "Nebenregierung" der Bun­desbank, deren Beachtung weit über die formalen Zuständigkeiten hinaus­geht. So mußte auch im Falle der Einführung der Währungsunion mit der DDR die Bundesregierung die Position der Bundesbank zumindest politisch in Rechnung stellen, wenngleich diese formal (d.h. rechtlich) diese Entschei­dung der Bundesregierung auf dem Feld der Währungspolitik akzeptieren mußte und sich in dieser politisch kontroversen und brisanten, in jeder Hin­sicht außergewöhnlichen Frage mit ihren Bedenken nicht durchsetzen konnte.

So machen bereits die wenigen, hier nur im Überblick angesprochenen Bei­spiele die Bandbreite informeller Faktoren des Regierens deutlich. Besonders in Beziehung zu formalen Regelungen und Strukturen fallen deren funktionale Bedeutung und die Möglichkeiten ihrer instrumentellen Verwendung unter­schiedlich aus - Differenzen, die bei der Analyse unterschiedlicher Bereiche - etwa Verwaltung, Parteien, Medien - zu beachten sind. Die Verallgemei­nerungsfähigkeit von Aussagen stößt hier relativ schnell an Grenzen.

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III. Thesen zur Diskussion

1. Die Begriffspaare formell und informell oder formal und informal können der politologischen Regierungsforschung als sinnvolle analytische Katego­rien dienen. Unterhalb dieser Dichotomie sollten allerdings verschiedene Ausprägungen formellen und informellen Handeins unterschieden wer­den, damit deren Bedeutung für Regierungshandeln deutlich wird, etwa in­formelle Gremien von Konventionen und Prägungen durch Führungs- oder Politikstile.

2. Trotz begrifflicher Unklarheiten kann Regieren als Prozeß des politischen Führens, der Gestaltung und der Legitimation Von Regierungshandeln ver­standen werden. In diesem Sinne ist Regieren immer im besonderen Maße ein von informellen Komponenten geprägtes Handeln, immer in hohem Maße "informelles Regieren". Informelle Komponenten können dabei zu­gleich Handlungsspielräume begrenzende Einflußfaktoren als auch diese erweiternde Mittel des Regierens darstellen.

3. Funktional ist Regieren auf informelle Komponenten als Voraussetzung koordinierten, konsensualen und durchsetzungsfahigen Handeins in ho­hem Maße angewiesen. Informelle Komponenten stellen vor allem die not­wendigen Beziehungen zwischen formal getrennten und mit eigenen Durchsetzungspotentialen versehenen Akteuren des politischen Systems her. Eine besondere Rolle als Medium spielen dabei die Parteien.

4. Jenseits der funktionalen Betrachtung für den Regierungsprozeß sind in­formelle Komponenten des Regierens immer auch normativ zu werten. Funktionalität im Sinne von politischer Gestaltung ist dabei nur ein Krite­rium neben anderen wie Transparenz, Offenheit oder verfassungsrechtli­cher Zulässigkeit.

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ll. Regieren und Führung

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Führungsstile in der Politik in vergleichender Perspektive

Axel Murswieck

I. Einleitung

Die Beschäftigung mit Führungsstilen oder "Leadership Styles" von nationa­len Regierungschefs versucht mit dem Problem umzugehen, wie sich die Per­sönlichkeitsqualitäten eines Führers auf den politischen Gestaltungs- und Ent­scheidungsprozeß auswirken.

Diese Formulierung markiert bereits eine Erweiterung der klassischen Per­spektive, da in ihr bereits die "impact" -Orientierung der modernen politisch­psychologischen Führungsforschung zum Ausdruck kommt. Die Vertreter der "impact-Schule" (vgl. insbesondere Greenstein 1975; vor allem Burke/Green­stein 1989) weisen eine "reduktionistische" Betrachtungsweise zurück, die entweder in den Persönlichkeitsqualitäten, den historisch-sozioölconomischen Umweltfaktoren oder dem institutionalisierten Rollenverhalten von Führern jeweils den alleinigen, wichtigsten Erklärungsfaktor sehen.

Die "impact-Schule" reagierte damit einerseits auf die klassische "great­man-theory", nach der außergewöhnliche Führer den Lauf der Geschichte be­stimmen und stark vom aristotelischen und macchiavellistischen Denken ge­prägt war (vgl. dazu auch Bell 1950: 396), sowie andererseits auf die psycho­logische "traits and attributes" -Schule, die in immer verfeinerten methodolo­gischen Zugriffen die Bedeutung von Persönlichkeitsmerkmalen hervorhob (zur Übersicht Gibb 1968; Greenstein 1975; Stuart 1983).

Der multifaktorielle Ansatz der "impact-Schule" korrespondiert am ehe­sten mit dem politikwissenschaftlichen Interesse an der Einordnung der Rele­vanz von politischen Führungsstilen. Gleichwohl gibt es Vorbehalte gegen­über einer interdisziplinären Integration, denn trotz der Zurückweisung mo­nokausaler Interpretationen zugunsten der Persönlichkeitskomponente, läßt sich der latente bias auf die Konzentration von "Personality" nicht verhehlen. Hinzu kommt, daß der Ansatz, nicht unwesentlich durch die Quellenerschlie­ßung bedingt, auf empirische Fallanalysen beschränkt bleibt (Vgl. hierzu die Fallanalysen von Berrington 1989; Burke/Greenstein 1989). Jeder Vorstoß über die Bestätigung der These von "Personality matters" hinaus, im Sinne präskriptiver Aussagen über optimale Führungsstile, bleibt fragwürdig.

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Immerhin markiert die "impact-Schule" der politischen Psychologie einen Fortschritt gegenüber den unzähligen heroisch-beschreibenden "Leadership" -Studien, da sie eine differenzierte Analyse der Einflußgrößen auf das Ent­scheidungsverhalten von Führern zum Durchbruch verholfen hat. Ihr Analy­sekonzept mit den drei Hauptvariablen "Personality", "Institutions" und "Environment" wurde schließlich als Analyseraster von der Politikwissen­schaft übernommen (Blondel 1987: 5 und 80ff.), wobei ebenfalls die Frage nach dem "impact ofleaders" im Vordergrund steht. Aber auch Blondeis Stu­die bleibt, wie der Untertitel bereits verheißt ("Towards a General Analysis"), ein Prolegomenon mit dem Hinweis auf weiteren Forschungsbedarf, um "po­litical will and skill" als unterbelichtete Variable in der vergleichenden Policy­Forschung faßbarer zu machen (Schmidt 1988: 24; so auch schon Dah11969: 157). Es ist ja nicht kontrovers, daß die "Persönlichkeit" und der damit ver­bundene "Politische Führungsstil" einen Unterschied machen, nur sollte da­von ausgegangen werden, daß es sich, solange die Persönlichkeitskomponente ins Spiel kommt, um jenen personenbezogenen, informellen Verhaltens- und Handlungsbereich handelt, über den normativ freizügig gestritten werden kann, der sich aber einer empirisch generalisierenden Betrachtungsweise ent­zieht. Es kann immer ganz anders sein. Beim Politischen Führungsstil verhält es sich ähnlich wie beim Problem politischer Führung allgemein: "There is no leadership for all seasons" (Kellermann 1986).

Die Analyse persönlicher Führungsstile ist biographisch attraktiv, bleibt aber ein Glatteis, das die Politikwissenschaft am ehesten vermeidet, wenn sie auf dem Umweg über die Untersuchung der institutionellen und der histo­risch-umweltorientierten Komponente sich des Themas annimmt. Dann ist Führungsstil oder Regierungsstil "eine vorwiegend beschreibende Kategorie, die es erlaubt, innerhalb eines Regierungssystems persönlich bedingte Eigen­tümlichkeiten vor dem Hintergrund objektiver Gegebenheiten darzustellen, was nicht ausschließt, daß mit der Darstellung dann Bewertungen verbunden sind ... " (Ellwein 1965: 313).

Uns geht es um den Hintergrund. Zum einen fragen wir nach Konstanten und Veränderungen der institutionellen Gegebenheiten und zum anderen nach Konstanten und Veränderungen umweltbezogener Einflüsse.

II. Imperative des Amts und Führungsstil

"Government is an organization, not a person" (Rose 1987: 2). Diese Feststel­lung gilt sowohl hinsichtlich der organisatorischen und personellen Ausgestal­tung und Ausstattung des Regierungsapparates als auch hinsichtlich der Füh­rung und der Gestaltung der Regierungspolitik. Es ist also jeweils auseinan-

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derzuhalten, was durch die Person des Regierungschefs geprägt ist, also ver­gänglich ist, und was personenungebunden auf die besonderen Imperative des Amtes zurückzuführen ist. Wir schließen uns der Annahme an, daß die Merk­male des Amtes mehr als die jeweiligen Persönlichkeitsmerkmale den Füh­rungsstil des jeweiligen Regierungschefs determinieren und das tatsächliche Verhalten für ein "symbolic and effective Leadership" (Hargrove 1967: 2(J7) markieren.

Die Trennung von Amt und Person findet seinen Ausdruck in der begriffli­chen Kennzeichnung von "The Presidency" in den USA, "The Prime Mini­ster" in Großbritannien, "La Presidence" in Frankreich und "Der Bundes­kanzler" als Amt in der Bundesrepublik. Unsere erste Frage beschäftigt sich mit den Imperativen dieser Ämter im Kontext des politischen Institutionenge­flechts, ehe dann anschließend auf die äußeren, umweltbezogenen Bedingun­gen einzugehen ist.

Die Inhaber des amerikanischen Präsidentenamtes wurden als "chief, with­out an executive" bezeichnet (Rose 1988: 162). Diese Formulierung erstaunt auf den ersten Blick, nicht nur weil sie die entsprechende Verfassungsbestim­mung bezweifelt, sondern weil sie auch den enormen organisatorischen und personellen Ausbau des Präsidentenamtes und der Verwaltung insgesamt zu übergehen scheint. Dennoch trifft sie den Kern bezüglich dessen, was ein Prä­sident mit seinem Amt machen kann und was nicht. Zwar hat der Präsident im Vergleich zu anderen westlichen Führern den größten Spielraum, das Amt nach seinen Vorstellungen organisatorisch und personell zu gestalten, aber diese weitgehend durch Konventionen bedingte Prärogative geht nicht einher mit den realen Einflußmöglichkeiten für eine koordinierende und richtlinien­bezogene Führung des Regierungsapparates. Die Faktoren für diese Konstel­lation sind bekannt (vgl. zum Folgenden auch Murswieck 1989).

Das Fehlen beständiger Parteiorganisationen führt dazu, daß ein Präsident nicht mit einer parteipolitisch vorselektierten Regierungsmannschaft sein Amt antritt. Auch steht ihm kein Reservoir an langjährigen Mitarbeitern zur Verfügung. Für den Präsidenten selbst, wie für seine Mitarbeiter, gibt es kein vorgezeichnetes Rekrutierungsmuster, das an parteipolitische oder parlamen­tarische Karrieren gebunden ist. Ungleich den französischen Präsidenten, die Regierungs- und Verwaltungserfahrung mitbringen, sowie den britischen Pre­mierministern und den deutschen Bundeskanzlern, die normalerweise Regierungs-, Partei- und Wahlkampf erfahrung vorweisen können, sind ameri­kanische Präsidenten vor allem professionelle Wahlkämpfer, ohne eine karrie­regebundene Vorbereitung für das Regierungsamt. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß "Amateure" ins Amt gelangen (Rose 1988: 115). Des weiteren hat der Präsident mit einer Karrierebürokratie auszukommen, die eine gespaltene Loyalität aufweist. Sie soll die Politik des Präsidenten mittragen und unterstüt­zen, unterliegt aber gleichzeitig den Anforderungen, die sich aus ihrer Mit-

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gliedschaft in den jeweiligen "issue networks" ergeben, die sich in ihrem Tä­tigkeitsfeld herausbilden.

Schließlich, und damit zusammenhängend, durchkreuzt über kurz oder lang ein politisch fragmentierter Kongreß präsidiale Versuche, seinen programmatisch-legislativen Führungsanspruch durchzusetzen (zum Kongreß vgl. Jann 1989: 152ff.). Es ist immer noch richtig, daß gegenüber der Eigen­dynamik des Kongresses eher die Erfolge denn die Mißerfolge eines Präsiden­ten einer Erklärung bedürfen (Shell 1975: 116).

Die aus der politischen Verflechtung der Institutionen, der Eigendynamik von "separeted institutions charing powers" (Neustadt 1961: 39) resultierende Schwächung des Präsidentenamtes, läßt sich als Konstante in der Entwicklung der "modernen Präsidentschaft" seit Roosevelt ausmachen. Jeder Präsident, und davon zeugen die vielen biographischen "Leadership" -Studien, hat ver­sucht, diese Imperative des Amtes auf seine Art und Weise zu bewältigen. Die normativen, typisierenden Charakterisierungen schwanken zwischen einem Präsidenten als "Leader" (Roosevelt), als "Careful Guardian" (Eisenhower), als "imperial" (Nixon) und als "imperiled" (Ford) (vgl. dazu auch Rose 1988: 48 ff.; ferner auch Greenstein 1988). Derartige Charakterisierungen sind letzlieh nur Ausdruck der möglichen Varianten von Führungsstilen, um sich mit den um "die Verfassungsstruktur rankenden Konventionen und Rück­sichtnahmen" (Shelll975: 148) zu arrangieren. Ein autoritativer Führungsstil bleibt systemfremd (ebenda: U3). Mit welchen methodischen Spitzfindigkei­ten und biographischen Details auch immer, alle "Leadership" -Studien las­sen sich auf das "Bargaining-Persuasion" -Modell von Neustadt zurückführen (Neustadt 1961; ferner u.a. auch Burns 1978: 385ff.). Funktional entspricht das der "Leadership-Style" -Variante eines "political brokers", eines "mana­gers of interests and builder of coalitions" (Seligman 1968: 1m).

Das Amt im politischen Institutionengeflecht der USA macht den Präsiden­ten eher zu einem "Chief of a clan" im altirischen Sinne (Rose 1988: 162). Mit seinem persönlichen Stab im White House Office (dazu auch Wayne 1987; Murswieck 1989), der bekanntlich kaum die Chance hat, eine Amtsperiode zu überdauern, wird jeder Präsident durch "bargaining and persuasion" versu­chen, seinen Regierungsapparat zu steuern und zusammenzuhalten. Vielleicht mehr als in anderen westlichen Regierungszentralen spielen hierbei infor­melle Kommunikations-, Informations- und Verfahrensprozesse eine Rolle, die zwar "strategische Unbestimmtheit" (Luhmann 1964: 151) produzieren, aber gerade diese Wirkung ist im amerikanischen Kontext positiv-funktional hinsichtlich der notwendigen Flexibilität und der innovatorischen Adaption zu sehen. Immer geht es darum, zumindest symbolisch, im "bargaining-Kon­zert" vertreten zu sein. Das ist es, was vom Präsidentenamt erwartet wird, und nicht, daß er als "Chief executive" die Politik- und Gesetzgebungsmaschinerie dominiert. Die Bandbreite der möglichen Führungsstile im Präsidentenamt

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kommt erneut zum Ausdruck, wenn die vorläufige Charakterisierung der Bush-Administration dahingehend ausfällt, daß sie markiert ist" ... by a prefe­rence for competence, not ideology (like Jimmy Carter, not Ronald Reagan). The President's style was one of reactive problem solving, not strategic vision (like Carter, but not Reagan). His approach to Congress (despite the Tower no­mination) was one of compromise, not confrontation (unlike Nixon or Rea­gan). His approach to policy disagreements was personal communication and diplomacy rather than ,going public' to bring pressure to bear (not like Rea­gan)" (Pfiffner 1989: Tl). Die Rahmenbedingungen des Amtes erlauben die Nutzung der Führungsinstrumente zwischen "Presiding or Leading" (The Economist, April 21, 1990: 39), zwischen einem "reaktiven" oder "aktiv­strategischen" Führungsstil.

Sehr viel eindeutiger erscheinen demgegenüber die Führungserwartungen beim britischen Premierminister. Das Amt des Prime Minister hat alle Zuta­ten, um seinem Inhaber eine dominierende politisch-strategische Rolle im po­litischen Institutionengeflecht zuzuweisen. Im Vergleich zum amerikanischen Präsidenten "the British prime minister is inevitably pushed to playamayor public role" (Kavanagh 1987: 201). Um die Führungsrolle des Amtes wahrzu­nehmen, stehen ihm zahlreiche Ressourcen zur Verfügung. Vergleichsweise gering zum amerikanischen Präsidenten fällt der persönliche Beraterstab aus, der im "Private Office", dem "Press and Information Office" und der "Policy Unit" etabliert ist. Von den ca. 80 Personen sind ca. 60 mit technisch­administrativen Tätigkeiten befaßt (zum Überblick der Entwicklung vgl. Jo­nes 1987; ferner Rose 1980). Oberstes Gebot des Stabes ist politische Loyali­tät, ob im Gewande persönlicher, parteipolitischer oder ideologischer Bin­dung. Diese Stabseinheiten, auch als "The Prime Minister's Office" bezeich­net, bilden ein informales flexibles Netzwerk an Helfern, das von jedem Premierminister nach seinen Vorstellungen gestaltet werden kann, und eine politische Unterstützungsbasis, die zur Nutzung der Führungsaufgaben im Regierungsapparat dient. Diesen Spielraum zu erhalten ist einer der Gründe, warum sich der Vorschlag zur Errichtung eines eigenständigen "Prime Mini­ster's Department" bislang nicht durchsetzen konnte (vgl. auch Jones 1987: 62ft).

Als weitere Machtressourcen sind das Recht zur Ernennung und Entlassung der Minister und die damit gegebene Möglichkeit von Regierungsumbildun­gen, sowie die Einflußmöglichkeiten bei der Ernennung von Spitzenpositio­nen in der Verwaltung ("Senior civil servants") zu nennen. Schließlich hat der Premierminister ein nahezu uneingeschränktes Initiativ- und Entscheidungs­recht bei der Organisation der Ministerien, das an keine formalen Prozeduren gebunden ist, sondern im Gegenteil auf informelle Weise in einem "closed circle" lediglich in Abstimmung mit dem" Head of the Civil Service" vonstat -ten geht (vgl. Pollitt 1984: 125ff. und 165; ferner Setzer 1990: 356f.).

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Das eigentliche Machtpotential des Premierministers ergibt sich jedoch aus seiner Stellung als "Chairman of the Cabinet" und als Parteiführer der Partei im Parlament. Obwohl das Kabinett als kollektives Entscheidungsorgan im Mittelpunkt steht, ist der Premierminister mehr als primus inter pares. Neben seinen bereits angedeuteten Patronagemöglichkeiten bei den Ministerernen­nungen, ist sein Einfluß bezüglich der Festlegung der Tagesordnung, der Bil­dung von Kabinettsausschüssen und der Informationspolitik im Kabinett zu erwähnen. Um der Erwartung nach einer kohärenten Regierungspolitik zu entsprechen, muß sich der Premierminister gegenüber den "Whitehall­Departments" durchsetzen, die als nahezu unabhängige "fiefdoms" über ei­gene politische Netzwerke verfügen (Kavanagh 1987: 192).

Als Parteiführer muß er sich die Loyalität der Mehrheitsfraktion sichern, was wiederum vor allem durch das Patronageinstrument sichergestellt wird, indem ca. ein Drittel bis ein Viertel der Mitglieder der Mehrheitsfraktion der Regierung angehören, zuzüglich der Inhaber der wichtigsten Fraktionsposten (vgl. Jann 1989: 172f.; Rose 1980: 5f.). Damit ist die wichtigste Grundlage zur Kontrolle der Mehrheitsfraktion gegeben.

Die skizzierten Ressourcen und ihre Verortung im politischen Institutionen­geflecht legen den Grundstein für das beträchtliche Machtpotential eines Pre­mierministers zur Durchsetzung seines Führungsanspruchs im Sinne der Er­wartung der Sicherstellung einer kohärenten Regierungspolitik und eines er­folgreichen Parteimanagements. Dieser Führungsanspruch soll aber, unab­hängig von der Person, durch eine parteigebundene, kollektive Kabinetts­politik eingelöst werden. Das "cabinet government" als Regierungsstil.

Mit Margaret Thatcher ist die alte Debatte von "cabinet governrnent" ver­sus "prime ministerial government" erneut aufgebrochen, wobei letztere Be­zeichnung mit der These von einem neuen Regierungsstil verbunden war. Un­abhängig von den materiellen Auswirkungen der Politikentscheidungen unter der Regierung Thatcher (vgl. dazu etwa Abromeit 1990) und unabhängig von der durchgehend einmütigen Einschätzung der besonderen persönlichen Füh­rungsflihigkeiten ("political will and skill"), kann aber die These vertreten werden, daß Margaret Thatcher lediglich das vorgegebene Potential ihres Am­tes genutzt hat. Bei ihrem Umgang mit dem Kabinett hat sie auf die klassi­schen Hilfsmittel eines Premierministers zur Beherrschung des Kabinetts zu­rückgegriffen. Als Parteimanager hat sie sich erfolgreich um die "back­bencher" gekümmert, da sie wohlweislich nicht vergessen hat, wie sie selbst zur Parteiführerin wurde. Ihr personenbezogener "mobilizing style of lea­dership" hatte auch Vorläufer unter anderen Premierministern, nur anders als diese, hat sie den Spielraum des Amtes "within the established political insti­tutions of Parliament and party" ausgenutzt (Kavanagh 1987: 202; ferner ähn­lich Burch 1983; Setzer 1990: 355). Sie hat durch ihren persönlichen Füh­rungsstil, begünstigt durch "circumstances" und "luck" (Kavanagh 1987:

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203), die Spannweite eines durch den Premienninister dominierten, kollekti­ven Regierungsstils sichtbar gemacht.

Der französische Präsident in der IV. Republik "inaugurait les chrysanthe­mes", so eine berühmte Bemerkung de Gaulles. Die Inhaber des Präsidenten­amtes in der V. Republik sind die "heimlichen" Regierungschefs. Das Macht­potential des Präsidenten beruht neben der Direktwahl zum einen auf seinen verfassungsrechtlichen Befugnissen: Ernennung des Premienninisters, der Mi­nister und von hohen Spitzenbeamten, Auflösung der Nationalversammlung, Vorsitz im "Conseil des ministres" als einzigem offIziellen, kollegialen Regie­rungsorgan (vgl. im einzelnen Quennonne 1980: 145 ff.) , sowie den im Art. 5 der Verfassung zugewiesenen Funktionen eines "gardien", "arbitre" und "ga­rant", deren bis heute unter Verfassungsjuristen umstrittene Bedeutung insbe­sondere die Verfassungspraxis bestimmt haben (vgl. dazu Ardant 1987).

Die organisatorische und personelle Ausstattung des Amtes bezieht sich auf das "Secretariat General de la Presidence" und das "Cabinet du President". Seine engsten persönlichen Berater sind auf beide Institutionen verteilt. Das "Secretariat General" hat im Unterschied zu demjenigen des Premiermini­sters vor allem politisch-administrative Koordinierungs-, Informations- und Kontrollaufgaben gegenüber dem Regierungsapparat. Gleichwohl es nicht in der Lage ist, die Regierungsarbeit umfassend zu überwachen, ist es doch das entscheidende Instrument des Präsidenten, seinen Einfluß gegenüber dem Premierminister und der Regierungsarbeit geltend zu machen (vgl. Cohen 1982: l04ff.). Ungleich zum amerikanischen Präsidenten ist das Personal des französischen Präsidenten mit der Regierungsarbeit vertraut, denn die Rekru­tierung erfolgt mehrheitlich aus dem Regierungsapparat selbst. Die Besonder­heiten der französischen Verwaltungselite garantieren, daß keine Loyalitäts­probleme auftauchen. Mitterand war der erste Präsident, der im größeren Umfang eine parteipolitische Rekrutierung vornahm. Aber ebenso wie beim "cabinet" des Premierministers ist zwischenzeitlich wieder mehr auf das tra­ditionelle Beamtenreservoir zurückgegriffen worden (vgl. auch Gaboritl Mounier 1987). Dieses Rekrutierungsmuster für die "entourage" des Präsi­dentenist ein wesentlicher Faktor für die Wirksamkeit der Einflußnahme des "Secretariat General". Die Macht des Präsidentenamtes hat sich vor allem auch durch begünstigende politische und parlamentarische Konstellationen ergeben. Dazu gehören die zumindest bis 1981 vorhandene Übereinstimmung von präsidentieller und parlamentarischer Mehrheit, sowie die Akzeptanz der Führungsrolle des Präsidenten durch den Premierminister und die Parla­mentsmehrheit, wobei letztere weitgehend darauf verzichtet hat, wesentlichen personellen und inhaltlichen Einfluß auf die Politikgestaltung zu nehmen (vgl. auch KimmeI1983). Damit ist eine potentielle Grenze der Führungsmacht des Präsidenten angesprochen, wie sie insbesondere in der "cohabitation" -Phase sichtbar wurde.

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Der Präsident ist auch immer Parteipräsident, der faktisch auf eine ihn län­gerfristig unterstützende politische Mehrheit im Parlament angewiesen ist. Ein zu starker Gebrauch seiner Disziplinierungsmittel (Ernennung eines neuen Premierministers; Auflösung der Nationalversammlung) würde seine Führungsautorität schwächen. Es ist nicht zu vergessen, daß alle Präsidenten (mit Ausnahme der Zeit von 1984-86) mit Parteikoalitionen regiert haben und ab 1988 der Einfluß der Parteien im Parlament und außerhalb des Parlaments zugenommen hat. Obwohl es verfrüht erscheint, von einer Parteienherrschaft gegenüber dem Präsidialregime zu sprechen, haben die kontrollierenden Ge­gengewalten (neben Parlament und Parteien auch der Verfassungsrat und die Gebietskörperschaften) ihre Bedeutung verstärkt.

Im Unterschied zum amerikanischen Präsidenten und dem britischen Pre­mierminister ist aber der französische Präsident nicht gezwungen und wird sich auch nicht darauf einlassen, sich persönlich um stabile Parteikoalitionen zu kümmern. Diese Aufgabe überträgt er seinem Premierminister, der auch inhaltlich für (eventuell auch wechselnde) Gesetzgebungsmehrheiten zu sor­gen hat. Diese Rückzugsmöglichkeit aus der Verantwortung, die "irresponsa­bilite presidentielle" (vgl. Emeri 1987), wird damit eine wesentliche Res­source zum Erhalt seines Führungsanspruchs und berührt gleichzeitig den Kern des Regierungsstils des Präsidentenamtes. Seinen Anspruch, letztend­lich die politischen Richtungsentscheidungen der Regierungspolitik zu be­stimmen, den alle Präsidenten bis Mitterand geteilt haben, kann er nur auf­rechterhalten, wenn er als "tuteur" (Ardant 1987: 48) und "arbitre" durch strategische Interventionen das politische Institutionengeflecht ausbalanciert. Es wird vom Präsidenten erwartet, daß er seine autonome Führungsfähigkeit in Unabhängigkeit vom politischen Kräftefeld, aber auch in Unabhängigkeit von seinen persönlichen Beratern demonstriert (Gaborit/Mounier 1987: 96).

Zwar obliegt nach den verfassungs rechtlichen Bestimmungen dem Premier­minister als Regierungschef die Richtlinienkompetenz, aber solange die Ab­hängigkeit des Premiers vom Präsidenten im System der Dyarchie besteht und solange eine Kohäsion zwischen präsidentieller und parlamentarischer Mehr­heit sichergestellt werden kann, ergibt sich die Rolle des Präsidenten als kom­plementärer Richtliniengeber von selbst. Nach Belieben kann er seine "pou­voir d'inspiration des decisions" (Prevost 1987: 1) einsetzen oder zurückhal­ten, wobei es der Regierung zufällt, die inhaltliche Ausgestaltung vorzuneh­men ("determine"). Wie er seine strategischen Interventionen, seine "inspi­rations", gestaltet, hängt von den unterschiedlichen persönlichen präsidentiel­len Führungsstilen ab. Einen heroischen Anstrich haben die persönlichen Führungsstile nahezu immer, aber mit der präsidialen Führung ist es wie mit dem französischen klassischen Theater: "it never ceases being dramatic, yet the drama must follow rules" (Hoffmann 1967: 154). Die Regeln des Füh­rungsstils sind weniger durch "checks and balances" in der Art des amerika-

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nischen Systems, denn durch "political checks" im politischen Kräftefeld vor­gegeben (Suleiman 1980).

Die deutschen Bundeskanzler haben ein vergleichsweise ebenso ansehnli­ches Machtpotential (zum Folgenden mit Nachweisen Murswieck 1990). Zu nennen sind vor allem die Wahl des Kanzlers durch den Bundestag, die ihm für seine Stellung in der Regierung eine klare und eindeutige Legitimationsgrund­lage schafft, aber auch gleichzeitig verdeutlicht, daß Parlament und Regie­rung gemeinsam die politische Führung innehaben. Ferner diejenigen Bestim­mungen, die sein Kabinettsbildungsrecht konkretisieren, insbesondere seine Organisationsbefugnis im Bereich der Regierung und das Ernennungs- und Entlassungsrecht der Bundesminister und schließlich vor allem seine Richtli­nienkompetenz. Dieses vom Verfassungstext, der Geschäftsordnung der Bun­desregierung und Konventionen vorgegebene institutionelle Kompetenz- und Regelwerk bildet den Rahmen, in dem sich die Regierungspraxis unter der Führung des Bundeskanzlers zu realisieren hat.

Zur Durchsetzung seines Führungsanspruchs steht ihm das Bundeskanzler­amt in seiner Doppelrolle als Beratungsorgan des Kanzlers und als Koordina­tionsinstanz der Regierungsarbeit zur Verfügung. Es hat einen fest etablierten organisatorischen Unterbau mit einem personellen Sockel an Berufsbeamten und wenigen politisch zu besetzenden Stellen. Hinsichtlich seiner politischen Koordinations- und Einflußfunktion gegenüber dem Regierungsapparat ist es gegenüber dem französischen Äquivalent als schwächer, aber gegenüber dem amerikanischen Äquivalent als stärker einzuschätzen. In Annäherung ähnelt es eher dem britischen "Prime Minister's Office".

Alle Kanzler haben sich nicht auf die alleinige Nutzung des Amtes be­schränkt, sondern wie der britische Premier auf externe Berater aus dem partei­politischen und gesellschaftlichen Bereich zurückgegriffen. Insgesamt ist aber das durch die Organisations- und Personalprärogative vorgegebene Führungs­potential des Kanzlers weniger weitreichend als dasjenige des britischen Pre­mierministers. Die parteipolitische Rückbindung, zumal beim Normalfall von Koalitionsregierungen, wirkt sich restringierender aus und erklärt den Unter­schied. Sowohl bei der Regierungsbildung als auch bei der Regierungsführung ergibt sich eine Machtkonzentration zugunsten des Bundeskanzlers, mithin zur Ausübung seiner Richtlinienkompetenz, nur auf der Grundlage eines vorab stattgefundenen Machtteilungsprozesses unter den Koalitionspartnern. Der Kanzler ist ferner weniger als der britische Premierminister Führer der Partei im Parlament. Das "party management" in der Parlamentsfraktion delegiert er an seine parteipolitischen Mitarbeiter. Weniger die Pflege der Parlamentsfrak­tion, auch wenn es hier Grenzen der Vernachlässigung gibt, denn die SichersteI­lung seiner Führungsposition in der Partei außerhalb des Parlaments ist gefragt.

Ungleich zum amerikanischen und französischen Fall ist das Kabinett ein zentrales Koordinationsinstrument, das durch vorgelagerte Entscheidungsgre-

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mien ergänzt wird. Aber auch das Kabinett läßt sich ohne die parteipolitische Komponente und die ressortbezogene Gewichtung der Ministerpositionen nicht denken, was den Kanzler tendenziell in die Rolle eines primus inter pa­res verweist, die ihm die dominierende Stellung garantiert (vgl. auch Edinger IfJ77).

Die interessenmediatisierende Rolle der Parteien in der Regierungspolitik und im Regierungsapparat bleibt die Grundlage für die Durchsetzung des Führungsanspruchs des Bundeskanzlers. Seine Richtlinienkompetenz wirkt in diesem Bezugsfeld. Die ambivalente Dynamik zwischen Tendenzen der Machtkonzentration und Tendenzen der Machtstreuung ist der Funktionsme­chanismus, der die Möglichkeiten und Grenzen politischer Führung setzt (vgl. auch Mayntz 1980). Diese wechselseitige Dynamik virtualisiert die ver­fassungsrechtlich hervorgehobene Rolle des Kanzlers als Impulsgeber, Mode­rator und Koordinator für die regierungspolitische Aktionseinheit und prägt den Regierungsstil des Amtes. Der Führungsstil verlangt die Rolle des "bro­kers", des "negotiators", auch wenn der Kanzler dabei den Eindruck er­wecken muß, die dominierende Rolle im "Koordinationskonzert" zu spielen, d.h. die kompetente Nutzung seines Machtpotentials zu dokumentieren versu­chen muß (vgl. auch Johnson 1982: 155ff.).

Bezieht man schließlich noch die Struktur der vor allem f6deralistischen Gegengewalten ein, dann ist das Amt des Bundeskanzlers sehr viel schwerer zu führen als das englische und französische Regierungsamt, jedoch leichter als das amerikanische Präsidentenamt. Der Bundeskanzler ist nicht nur dem bundesrepublikanischen System von "checks and balances" zwischen den po­litischen Institutionen, sondern noch zusätzlich den "political checks" (Sulei­man) der Parteiendemokratie ausgesetzt. Anders als der amerikanische Präsi­dent hat er kein "personal mandate", sondern ein parteipolitisches Mandat, und anders als der französische Präsident kann er sich von diesem im Amt nicht distanzieren. Ähnlich wie der britische Premier muß er das parteipoliti­sche Mandat gegenüber dem institutionalisierten Mandat als Kabinettsführer in Ausgleich bringen, mit dem Unterschied der Variante als Koalitionskanzler.

III. Die Imperative der Umwelt: Vision und Performanz

Unsere bisherige Behandlung von Regierungsämtern hat versucht, durch die Auslotung der institutionellen Anforderungen und Erwartungen sich der Skiz­zierung von unterschiedlichen amtsbezogenen politischen Führungsstilen als Regierungsstile zu nähern. Der Blick blieb beschränkt auf den engeren Regie­rungsbereich und die innenpolitische Dimension. Der außenpolitische Aspekt politischer Führung blieb außer Betracht, obwohl er zur Kennzeichnung von

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persönlichen Führungsstilen einen favorisierten Platz einnimmt. Das hängt einmal damit zusammen, daß jeder politische Führer bessere Chancen hat, durch den "flight into foreign affairs" (Blondel 1987: 74) seinen Führungsan­spruch zu stilisieren und von Schwächen innenpolitischer Führung abzulen­ken, und zum anderen, daß die außenpolitischen Befugnisse und Handlungs­spielräume von Regierungschefs großzügiger bemessen sind und weniger institutionellen Restriktionen des Amtes unterliegen. Das gilt in der Reihen­folge der Nennung insbesondere für den amerikanischen und französischen Präsidenten und weniger für den britischen Premier und den deutschen Bun­deskanzler, die hierbei ebenfalls stärker parlamentarisch-parteipolitischen Begrenzungen unterliegen.

Außenpolitische Krisensituationen, substantielle internationale Verände­rungen, sowie Transitionsphasen bei Regimewechseln stellen sicherlich be­sondere Anforderungen an die politische Führung, aber die dabei sichtbar werdenden situationsabhängigen Führungsstile, die dann oft einer heroisie­renden Analyse unterzogen werden, lassen sich nicht zu normalen Führungs­stilen verallgemeinern. Das "warrior" -Bild politischer Führer taugt nicht für normale Zeiten. Ähnliches gilt bei extremen innenpolitischen Problemlagen. Es sind abweichende Fälle bei der Ermittlung "normaler" Führungsstile in "normalen" Zeiten.

Allgemein geht es darum, welche Anforderungen umweltbedingte Fakto­ren, ob außenpolitische Ereignisse oder sozioökonomische Problemlagen, an die politische Führung stellen und wie sie eingelöst werden. Lassen sich hier­bei besondere Auswirkungen auf den politischen Führungs- bzw. Regierungs­stil ermitteln? Ist politischer Zuspruch und Unterstützung gegenüber der poli­tischen Führung bezüglich ihrer Problembewältigung an eine Beurteilung ei­nes bestimmten Regierungsstils gebunden?

Sichtet man zu diesen Fragen die Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Einstellungsforschung, dann ist nach unserer Kenntnis eine explizite Behand­lung der Dimension Regierungsstil nicht vorhanden. Vielmehr geht es allge­mein um "Legitimation" und "Vertrauen" gegenüber dem politischen Institu­tionensystem oder den jeweils amtierenden Regierungen (vgl. zu den Ansät­zenund Ergebnissen Gabriel 1986: 234ff.).

Die moderne Version der traditionellen Fragestellung der Beziehung von "Leaders" und "followers" (vgl. auch Tannenbaum 1968: 100ff.) ist das Kon­zept der Regierungspopularität (vgl. auch Schimek 1985). Eine Regierung ist populär, wenn man mit ihren Leistungen zufrieden ist. Die Performanzorien­tierung ist das wichtigste Beurteilungskriterium gegenüber der jeweiligen Re­gierungspolitik. Solange alles gutgeht, haben "ordinary people" nur ein be­grenztes Interesse daran, wie regiert wird (Rose 1989: 179). Politische Füh­rung "muß aktiv sein und sich derart im Tun legitimieren" (Ellwein 1966: 160).

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Von daher ist es auch nicht verwunderlich, daß die Fluktuationen in der Po­pularität von Regierungen durch politische Ereignisse signifikant erklärt wer­den können (vgl. dazu Rose 1988: 267ff.). Die Bedeutung von Visionen, von zukunftsbezogenen Orientierungen scheint dabei zweitrangig zu sein. Insge­samt ist der Nachweis von politischer Kompetenz zur Problembewältigung ohne Visionen vorteilhafter als Visionen ohne Politikkompetenz.

Fragt man nach dem Beitrag der einzelnen Regierungschefs zur Herstellung politischer Unterstützung, dann lassen sich grob folgende Unterschiede be­nennen, die sich aus der Rolle des Meinungsführers ergeben.

Vom amerikanischen Präsidenten wird nicht nur erwartet, sondern es ist gleichzeitig eine wesentliche Ressource für seine Machtstellung, daß er ver­sucht, "to lead public opinion" (Hargrove 1967: 195). Ähnliches gilt für den französischen Präsidenten. Gelingt es ihm nicht, wie derzeit unter Mitterand, durch seine strategischen "inspirations" die Meinungsführerschaft zu doku­mentieren, sinkt sein Ansehen und sein Einfluß (vgl. auch Cotteret 1987). Ein wesentlicher Grund für die Notwendigkeit, persönlich politische Unterstüt­zung zu sichern, liegt beim amerikanischen Präsidenten in dem Umstand, daß er kein Parteipräsident ist und beim französichen Präsidenten in dem Um­stand, selbst kein Parteiführer mehr sein zu können.

Im Gegensatz dazu versuchen zwar auch der britische Premierminister und der deutsche Bundeskanzler populär zu sein, nur besteht der strukturelle Unter­schied zum amerikanischen und französischen Fall darin, daß dies keine not­wendige Bedingung für den politischen Führungsanspruch sein muß. Die partei­politische Unterstützung bleibt die wesentliche Machtressource. Gelingt die Re­gierungspolitik nicht, wendet sich die öffentliche Meinung gegen die Regie­rungsparteien (vgl. dazu auch Rose 1988: 269ff.). Das "going public" (KerneIl 1986) als zentrales Element politischer Führung zur politischen Unterstützung erfahrt in diesem Sinne eine unterschiedliche Gewichtung in den einzelnen Sy­stemen. Vor allem lassen sich amerikanische Strategien öffentlicher Kommuni­kation nicht ohne weiteres in ihrer Wirkung verallgemeinern. Wie das Beispiel von Magaret Thatcher zeigte, muß eine Strategie des "going public" in der Art von "conviction politics" nicht unbedingt an Regierungspopularität ausgerichtet sein. Die in den Kriterien von Performanz und Kompetenz sich ausdrückende Konvergenz bei der Beurteilung von Regierungspolitiken geht nicht einher, so läßt sich bilanzieren, mit einer Konvergenz von politischen Führungsstilen.

Wir haben versucht, die.Frage nach politischen Führungsstilen von Regie­rungschefs mit einem Analysekonzept zu behandeln, das in den institutionel­len Merkmalen des Amtes den entscheidenden Bestimmungsfaktor sieht. Wir haben damit sowohl die Bedeutung persönlicher Führungsstile als auch die Annahme von der Existenz unterschiedlicher Führungsstile für den Innenbe­reich und den Umweltbereich relativiert, sowie auf die Kontinuität von Füh­rungsstilen unabhängig von wechselnden Politikantorderungen hingewiesen.

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Mehr die Unterschiede, denn die Gemeinsamkeiten standen im Vorder­grund. Die Analyse ist im Ergebnis mehr ein vorläufiges Angebot, denn ein reifes Untersuchungsdesign zur Ergänzung von vergleichenden Policy­Studien, die nach nationalen Politik-Stilen allgemein fragen (vgl. Feick/Jann 1988) oder an Erklärungen unterschiedlicher Politikergebnisse interessiert sind, ohne jeweils politische Führungsstile als besondere Komponente einzu­beziehen.

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Formelle und informelle Komponenten des Regierens -Erfahrungen aus der Praxis

Bernhard Vogel

Hier im Wahlkreis Neustadt-Speyer bin ich 1965 in den Deutschen Bundestag gewählt worden, 1967 bin ich als Kultusminister in das Kabinett von Peter Alt­meier, ein Koalitionskabinett aus CDU und FDP, eingetreten, das ab 1969 von Helmut Kohl geführt wurde. Als er nach den Bundestagswahlen von 1976 als Oppositionsführer nach Bonn ging, wurde ich vom Landtag zum Ministerprä­sidenten gewählt und habe mein erstes Kabinett gebildet. Nach der Landtags­wahl von 1979, die der CDU von Rheinland-Pfalz erneut die absolute Mehrheit brachte, habe ich das Kabinett nicht verändert, es aber zwei Jahre später im Zusammenhang mit der Wahl Richard von Weizsäckers zum Regierenden Bürgermeister von Berlin und dem Überwechseln von Frau Laurien dorthin umgebildet.

In den Landtagswahlen von 1983 konnte die absolute Mehrheit weiter ge­steigert werden. Bei der Landtagswahl von 1987 verlor die CDU zwar die ab­solute Mehrheit, da aber SPD und FDP zusammen über keine Mehrheit ver­fügten und eine "Ampelkoalition" nicht zur Debatte stand, behielt die CDU die strategische Mehrheit; es war nur eine CDU/FDP-Koalition möglich.

1976/77 und 1987 / 88 war ich turnusgemäß Bundesratspräsident, 1981/82 Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz.

In den neuneinhalb Jahren meiner Tätigkeit als Kultusminister war mir die Mitgliedschaft in der Kultusministerkonferenz (1970 Vorsitzender), im Wis­senschaftsrat und im Bildungsrat sowie in der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung bedeutsam, in den zwölf Jahren als Ministerpräsident vor allem der Vorsitz in der Rundfunkkommission der Ministerpräsidenten, dem einzigen Ausschuß, den die Ministerpräsidenten­konferenz bisher gebildet hat, und der Vorsitz im Verwaltungsrat des ZDF, den ich auch heute noch innehabe.

Außerhalb meiner Regierungsverantwortung und meiner Verankerung in meiner Partei habe ich neben Aktivitäten in bezug auf Israel und Polen auf meine Einbindung in die Laienorganisation meiner, der katholischen Kirche

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Wert gelegt. Ich war von 1972 bis zu meiner Wahl zum Ministerpräsidenten Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, bis heute bin ich Mitglied des Geschäftsführenden Ausschusses.

1974 bin ich in einer Kampfabstimmung gegen Heiner Geißler zum Landes­vorsitzenden der CDU in Rheinland-Pfalz gewählt worden, und seit 1975 bin ich gewähltes Vorstandsmitglied der Bundespartei. Als Ministerpräsident habe ich dem Präsidium der Partei angehört.

Auf dem Landesparteitag im November 1988 bin ich bei meiner Wiederkan­didatur für den Landesvorsitz unterlegen und habe die vorher angekündigte Konsequenz gezogen, vom Amt des Ministerpräsidenten zurückzutreten. Da­bei hat mich die Überzeugung geleitet, daß ein Ministerpräsident nicht nur das Vertrauen der Wähler und der Landtagsmehrheit, sondern auch das Vertrauen seiner Partei besitzen muß.

Eine Trennung der Ämter des Ministerpräsidenten und des Parteivorsitzen­den ist in Deutschland aus gutem Grunde unüblich. Es ist möglich, wenn es einvernehmlich dazu kommt. Die Entwicklung in Rheinland-Pfalz seit dem November 1988 bestätigt mich in meiner Auffassung, daß Macht nicht jeden Preis lohnt.

Wie regiert man ein Bundesland? Eine berechtigte Frage an jemanden, der 21 Jahre einem Landeskabinett angehört hat, zwölf Jahre davon als dessen Vorsitzender. Gleichwohl, ich habe zwar eine gewisse Vorstellung davon, aber so ganz sicher bin ich mir nicht, ob ich darauf eine einigermaßen befriedi­gende Antwort geben kann.

Konkret: Wie regiert man eines der elf Bundesländer? Noch konkreter: Wie regiert man Rheinland-Pfalz? Ein Land, vor 43 Jahren nach dem Willen der französischen Besatzungsmacht durch Dekret eines OffIziers, nicht durch den Willen seiner Bevölkerung, gebildet. Mit knapp 4 Millionen Einwohnern, heute in drei Regierungsbezirke eingeteilt, mit zwölf kreisfreien Städten und 24 Landkreisen, mit heute 9 Ministerien, 44 Oberbürgermeistern und Landrä­ten, 100 Abgeordneten im Parlament, in 4 Fraktionen. Mit 25 000 kommuna­len Mandatsträgern in den Städten und Gemeinden, mit etwa 80 000 Landes­bediensteten, mit einem jährlichen Haushalt von über 15 Milliarden Mark und etwas mehr als einem jährlichen Haushaltsvolumen an Schulden.

Ein Land mit einem "Unternehmensimage", das insbesondere für ausländi­sche Beobachter mitgeprägt ist von den Begriffen Wein, Wälder, Burgen, Dome, römische Vergangenheit. Wobei bekanntlich das Image nicht immer vom Wichtigsten geprägt wird. Der Wein beispielsweise ist fraglos besonders imageprägend für Rheinland-Pfalz, aber der Wirtschaftsfaktor Wein ist ver­gleichsweise unerheblich.

Von erheblicher Bedeutung sind dagegen die chemische Industrie und die Autoindustrie. Jeder vierte Arbeitsplatz hängt direkt oder indirekt mit der Produktion von Autos zusammen. Die Exportquote liegt weit über und die Ar-

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beitslosenquote weit unter dem Bundesdurchschnitt. Rheinland-Pfalz hat die höchste Exportquote aller Flächenländer, was unter anderem damit zusam­menhängt, daß das Land an der Grenze zu Frankreich, Luxemburg und Bel­gien liegt. Es liegt inmitten von fünf großen Wirtschaftsräumen: Rhein-Ruhr im Norden; das belgische Industrierevier und Saar-Lothringen; Mainz und Rheinhessen gehören zum Rhein-Main-Gebiet; der Ballungsraum Ludwigs­hafen/Frankenthal und das angrenzende Gebiet zum Rhein-Neckar-Raum. Im Umkreis des Landes wohnen vierzig Millionen Menschen.

Wie führt man ein solches Land? Führen heißt Zielfindung und Zielbestim­mung, heißt Überzeugungsarbeit, heißt Richtlinienentscheidung; heißt auch, den festen Willen und die Entschlossenheit zu haben, die gestellten Aufgaben zu meistern.

Politische Führungsverantwortung in einem Land bedeutet nach der Verfas­sungslage: Verantwortung für ein eigenständiges Staatswesen (Art. 24 der Landesverfassung: "Rheinland-Pfalz ist ein demokratischer und sozialer Gliedstaat Deutschlands"). Es bedeutet die politische Letztverantwortung für die vielfaltigen Rahmenbedingungen (Art. 101: "Der Ministerpräsident ver­tritt das Land Rheinland-Pfalz"). Da sind zunächst die staatlichen Rahmenbe­dingungen im engeren Sinne: die Gesetze und die Organisation der staatlichen Gewalt. Ebenso wichtig ist heute die staatliche Mitverantwortung für die na­türlichen, kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen.

Ich neige nicht dazu, die Gestaltungsmöglichkeiten von Staat und Politik zu überschätzen oder eine ausgedehnte staatliche Zuständigkeit anzustreben. Aber trotz aller Bemühungen, die staatliche Aufgabenfülle sinnvoll zurückzu­führen: Die Erwartungen an die Leistungsfahigkeit des Staates, auch an seine Fähigkeit zum Vorausdenken und zur politischen Gesamtschau sind gestie­gen. Ich nenne als Stichworte für viele nur wenige: Umwelt, Folgen der demo­graphischen Entwicklung, Alterspflegeversicherung, Gentechnologie. Der Beifall, den man bekommt, wenn man sich für eine Reduzierung staatlicher Kompetenzen ausspricht, korrespondiert nicht mit dem Beifall, den man nach wenigen Minuten hören kann, wenn jemand fordert, dieses oder jenes Pro­blem müsse schleunigst vom Staat gelöst werden.

Der oberste Leitgedanke politischer Führung ist dem Regierungschef und den Ministern durch den Amtseid vorgegeben. Artikel 100 der Landesverfas­sung lautet: "Ich schwöre ... , daß ich mein Amt unparteiisch, getreu der Ver­fassung und den Gesetzen zum Wohle des Volkes führen werde ... " Er enthält zwei Vorgaben: das alle Staatlichkeit prägende Legalitätsprinzip und die Aus­richtung am Gemeinwohl.

Josef Isensee hat zum Legalitätsprinzip deutlich gemacht: "Die Legalität gibt der Staatsverwaltung eine spezifische Qualität, die sie von Privatunter­nehmen unterscheidet - trotz aller gemeinsamen Züge wie der Rationalität, der Zweckverfolgung und der büromäßigen Organisation. Für das Privatun-

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ternehmen bedeutet das Gesetz nur Schranke, für die Staatsverwaltung dage­gen auch Form, Inhalt und Grund des Handeins. Der rechts staatliche Sonder­charakter des Staates wird daher vernachlässigt, wenn man ihn lediglich als Dienstleistungsunternehmen der Art nach gleich denen der Privatwirtschaft betrachtet ... " ("Öffentlicher Dienst", in: Handbuch des Verfassungsrechts, hrsg. von Ernst Benda u.a., Berlin/New York 1983, S. 1157).

Gemeinwohl läßt sich nicht ein für allemal definieren. Im Grunde ist es ein Auftrag, der nie abgeschlossen ist. Es wird - schon gar nicht innerhalb einer Wahlperiode - keinen Endzustand geben, in dem das Wohl des Volkes er­reicht ist, in dem nicht dringende Probleme blieben oder neue aufträten.

Politische Führung bedeutet, politische Entscheidungen herbeizuführen oder zu treffen - vor dem Hintergrund verfassungsrechtlicher und politischer Grundsätze, in möglichst gerechter Interessenabwägung, in einem sorgfalti­gen und fairen Entscheidungsverfahren.

Verantwortung für das Gemeinwohl bedeutet nicht nur Leistungs-, sondern auch Ordnungsverwaltung - bis hin zu der Aufgabe, Steuern einzufordern und bestimmte Handlungen mit der Autorität und den Machtmitteln des Staa­tes zu verbieten oder durchzusetzen.

Ein besonders markantes Beispiel: die Volkszählung. Im Sommer 1987 ging es nicht mehr allein um die Notwendigkeit, aktuelle exakte Daten etwa für den Wohnungsbau zu ermitteln, sondern auch um die Frage, ob der Staat in der Lage sei, ein einwandfrei zustande gekommenes Gesetz auch durchzusetzen, oder ob seine Befolgung der Beliebigkeit einzelner Gruppen überlassen bliebe.

Auch "Neinsagen" ist Führungsleistung. Politische Führung wird sich sol­ches Neinsagen um so eher leisten können, als es ihr gelingt, ein umfassendes Konzept ihrer Politik für die Zukunft deutlich zu machen. Politische Führung heißt, eine Botschaft zu entwickeln und für sie zu werben.

Es ist ein Irrtum zu glauben, Politik sei am erfolgreichsten, wenn es ihr ge­lingt, eine breite Addition vielfaltiger, in der Summe unbezahlbarer und oft gegenläufiger Wünsche und Interessen vorzunehmen. Politische Führung zeigt sich darin, ein Gesamtkonzept vorzulegen, das nicht unbedingt in allen Einzelpunkten, wohl aber im Ergebnis als überzeugend und glaubwürdig empfunden wird.

Niemand ist in der Lage, alles aus eigener Sachkunde zu beurteilen. Gerade ein demokratisches Regierungssystem setzt daher Vertrauen voraus,

- das Vertrauen der Politik in die Objektivität wissenschaftlicher Beratung, - das Vertrauen der Bürger in Staat und Parteien.

Jedes Kind weiß, daß beides im Schwinden begriffen ist. Viele sind der An­sicht, daß sich nahezu für jede politische Meinung ein wissenschaftliches Gut­achten beschaffen läßt. Ich habe gleichwohl auf wissenschaftliche Beratung großen Wert gelegt.

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Zwei Beispiele:

- Die Gründung der Universitäten Kaiserslautern und Trier, die 1969/70 in ungewöhnlich kurzer Zeit vorgenommen wurde, war begleitet von einer bundesweit zusammengesetzten wissenschaftlichen Kommission, einem Strukturausschuß, der entscheidenden Einfluß auf Grundkonzept und Erstberufungen nahm.

- Als die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Anfang der achtziger Jahre im­mer größer wurden und die Arbeitsmarktprobleme zunahmen, habe ich 1983 eine Sachverständigenkommission "Wettbewerb und Beschäftigung" berufen, die vom früheren Präsidenten der Universität Kaiserslautern ge­leitet wurde und ihren Bericht 1985 vorgelegt hat. Er hatte, etwa in der Nutzbarmachung neuer Technologien, unmittelbaren Einfluß auf die Lan­despolitik und die folgenden Landeshaushalte.

Das Vertrauen in Staat und Parteien ist durch eine Fülle von Ereignissen der letzten Jahre beschädigt. Der Fall Barschel ist ein extremes Beispiel. Aber die Versicherung Mompers, auf keinen Fall nach der Wahl mit der Alternativen Liste zu koalieren, die Empfehlung Lafontaines, im Bundestag gegen und im Bundesrat für den Staatsvertrag zu stimmen, sind fast alltägliche Beispiele.

Je mehr das Vertrauen belastet wird, um so geringer wird die Bereitschaft, um eines glaubwürdigen Gesamtkonzeptes willen eigene Interessen zurückzu­stellen. Um so schwieriger werden Integrationsleistung und politische Führung.

Der lauter werdende Ruf, plebiszitäre Elemente in das Verfassungssystem einzufügen, hat etwas mit der schwindenden Glaubwürdigkeit von Parteien und Politikern zu tun.

Politische Führung verlangt Festlegung auf Schwerpunkte. Dadurch ent­steht politisches Profil. Auch solche "Konzentration" steht unter dem Gebot der "Maximierung des Gemeinwohls". Sie darf - schon nach der Verfas­sungslage - nicht identisch sein mit der Ausrichtung an bestimmten Interes­sengruppen, sie darf allerdings wohl Wertungen vornehmen und Prioritäten setzen, das ermöglicht erst den politischen Wettbewerb.

Gerade unter diesem Gesichtspunkt halte ich die innere Ausgleichs- und Bündelungsfunktion von Volksparteien für bedeutsam - soweit es gelingt, nicht nur Wünsche zu addieren, sondern wirklich mit einer zukunftsweisen­den und integrierenden "Botschaft" zu führen und Vertrauen zu gewinnen.

Für Rheinland-Pfalz lassen sich für die letzten vierzig Jahre drei solcher Botschaften nennen:

- aus durch den Willen der Besatzungsmacht zusammengefügten Provinzen ein Land machen (Amtszeit Peter Altmeier),

- dem Land ein modernes Gesicht geben (Amtszeit Helmut Kohl), - dem Land unter den Bundesländern Gewicht verleihen (Amtszeit Bernhard

Vogel).

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Ich habe in meiner Amtszeit immer wieder Initiativen zur Stärkung des Landesbewußtseins ergriffen, zum Beispiel durch den Ausbau des Hamba­cher Schlosses als einer der nationalen Gedenkstätten der deutschen Verfas­sungsgeschichte. Heute schließt das ZDF sein Tagesprogramm mit der Natio­nalhymne und im Wechsel mit Bildern von der Paulskirche, dem Berliner Reichstag oder dem Hambacher Schloß.

Lange habe ich gezögert, dem hessischen, also damals sozialdemokrati­schen Beispiel zu folgen und einen Rheinland-Pfalz-Tag zu veranstalten. In­zwischen ist er zu einem starken Integrationsfaktor des Landes geworden. Auch meine über hundert Kreisbereisungen, die jeweils mit einem großen Bürgerempfang abschlossen, hatten neben anderem das Ziel, das Land vor Ort präsent zu machen.

Gegen die Bezeichnung "Landesvater" habe ich mich lange gesträubt, aber schließlich eingesehen, daß in den Ländern ein starkes Bedürfnis nach solcher Personifizierung besteht.

Politische Führung liegt vor allem in der Verknüpfung unterschiedlicher Führungsfunktionen .

Es geht

1. um die Führung einer Regierungsmannschaft sehr unterschiedlicher Per­sönlichkeiten - zumal in einer Koalition;

2. um die politische Letztverantwortlichkeit für Leistungen und Fehlleistun­gen von 80000 Landesbediensteten;

3. um die kontinuierliche Unterstützung der Regierung durch die parlamenta­rische Mehrheit;

4. um die Verankerung des Ministerpräsidenten in Führungsfunktionen sei­ner Partei.

Es ist mir wichtig, die Vielfalt der Führungsfunktionen deutlich zu machen; sie sind eng verknüpft, aber nach sehr unterschiedlichen Kriterien zu leisten:

- Im Blick auf das Land steht Integration im Mittelpunkt. - Als Chef einer Landesregierung geht es um zügige und effiziente Umset-

zung des Regierungsprogrammes in der Balance zwischen Richtlinien­kompetenz und Ressortverantwortung.

- Die Funktion des "Dienstherren" der Verwaltung steht zwischen politi­scher Letztverantwortung und Delegation.

- Der Parteivorsitzende steht im Tagesgeschäft des politischen Wettbewerbs, eingebunden in vielerlei regionale und andere Proporze.

Ein konkretes Beispiel: Der Ministerpräsident trifft die Auswahl der Mit­glieder des Landeskabinetts (Art. 98: " ... Der Ministerpräsident ernennt und entläßt die Minister"), zumal konkret die rheinland-pfälzische Landesverfas-

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sung keine Einzelabstimmung im Landtag vorsieht, sondern nur eine globale Bestätigung durch den Landtag in offener Abstimmung.

Der einzelne Minister muß in der Lage sein, sein Ressort zu führen, was meines Erachtens Führungserfahrung, nicht aber spezielle Sachkunde voraus­setzt. Er muß in die Kabinettsmannschaft passen, seine Loyalität gegenüber den Regierungschefs muß außer Frage stehen. Er sollte in der Partei, für die er dem Kabinett angehört, Mitglied sein.

Darüber hinaus hat der Ministerpräsident darauf zu achten, daß sich die verschiedenen Regionen eines Landes, das keine historisch gewachsene Ein­heit darstellt, sondern dessen Provinzen erst zusammenfinden, im Kabinett wiederfinden. Das ist sinnvoll. Zu unsinnigem Proporzdenken wird es erst, wenn solche Überlegungen Vorrang vor der Qualifikation haben.

Im Unterschied etwa zu Bayern, wo die Kabinettsmitglieder in der Regel selbstverständlich in München wohnen, habe ich stets darauf geachtet, daß die rheinland-pfälzischen Kabinettsmitglieder in der Region, aus denen sie stammten, ihren Lebensmittelpunkt behielten. Zeitweise wohnte kein einziges rheinland-pfälzisches Kabinettsmitglied in der Landeshauptstadt.

Für eine Weile war es modern, Kabinettsmitglieder nicht nur aus der Frak­tion, sondern auch von außerhalb des Landes zu berufen. "Frisches Blut" hieß die Devise, und ich habe vielfach davon Gebrauch gemacht: Hanna­Renate Laurien, die Oberstudiendirektorin aus Köln, Klaus Töpfer, den Pro­fessor für Raumordnung aus Hannover, Hanns-Eberhard Schleyer, den An­walt einer Stuttgarter Kanzlei.

In den letzten Jahren wurde der Widerstand gegen solche Importe, die dem Land zweifellos gut getan haben, immer stärker. Die Forderung, verdiente Parlamentarier mit einem Ministeramt zu belohnen, wurde nachdrücklicher. Die zur Zeit des Fraktionsvorsitzenden Helmut Kohl eingeführte Regel, in der Fraktion vor der Ernennung eines Ministers über ihn intern geheim abzustim­men - damals als Machtmittel des Fraktionsvorsitzenden gegen Peter Alt­meier durchgesetzt und im Falle der Berufung von Heiner Geißler und mir selbst in das Kabinett Altmeier zugunsten der "Importlösung" gebraucht -erwies sich nun für solche Lösungen als eher hinderlich. Stärker wurde im Laufe der Jahre die Notwendigkeit, Frauen zu berücksichtigen und auf das Durchschnittsalter des Kabinetts zu achten.

Die Besonderheit der rheinland-pfälzischen Verfassung, daß der Minister­präsident ein Kabinettsmitglied gegen seinen Willen nicht entlassen kann, sondern dazu die Zustimmung des Landtages braucht (Art. 98), wurde zu meiner Amtszeit nicht relevant. Das Ausscheiden einzelner Kabinettsmitglie­der vollzog sich stets in gegenseitigem Einvernehmen; es war mitunter Jahre zuvor abgesprochen.

Ein Beispiel für die Letztverantwortlichkeit des Regierungschefs: Der Mi­nisterpräsident hat das Begnadigungsrecht (Art. 103). Es ist weitgehend auf

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den Minister der Justiz (bei Verurteilung durch die ordentlichen Gerichte) und auf die einzelnen Minister übertragen.

Bei zu lebenslänglichen Haftstrafen Verurteilten, also bei Mördern, lag es bei mir. Ich habe diesem Recht große Aufmerksamkeit gewidmet und unter anderem jährlich die Justizvollzugsanstalt Diez besucht und mit zur Begnadi­gung anstehenden Häftlingen gesprochen.

Besonders intensiv haben mich die Fälle Jünschke und Grashoff beschäf­tigt, die sich vom Terrorismus abgewandt hatten. Auch mit ihnen habe ich aus­führlich gesprochen und sie nach vorausgegangenen Kontakten mit dem Bun­despräsidenten, dem Bundeskanzler und den vier Bundestagsfraktionen schließlich begnadigt - zwei der Fälle, wo niemand dem Regierungschef die Verantwortlichkeit abnehmen kann.

Schließlich eine Bemerkung zur Verankerung in der Partei: Neben den sat­zungsmäßigen Gremien der Partei - Landesvorstand, Landesausschuß, Par­teitag - kam den regelmäßigen Beratungen mit den Bezirksvorsitzenden und dem Fraktionsvorsitzenden Bedeutung zu. Man kann dieses informelle Gre­mium in etwa mit dem Präsidium auf Bundesebene vergleichen. Wir trafen uns nicht regelmäßig, aber häufig. Schwierige Entscheidungen wurden dort erörtert.

Alle drei Bezirksvorsitzende waren zugleich Kabinettsmitglieder. Der Frak­tionsvorsitzende wurde zu den Kabinettssitzungen eingeladen. In der Zeit der Koalition war es üblich, daß ich eine Stunde vor dem Kabinett mit dem FDP­Vorsitzenden, der ebenfalls zugleich Kabinettsmitglied war, zusammentraf.

Der Koalitionsausschuß, der im Koalitionsvertrag vereinbart worden war, trat nur selten zusammen und dann mehr aus spektakulären Gründen, wenn ein Partner es in der öffentlichen Diskussion gefordert hatte. Er bestand aus zweimal drei Mitgliedern, darunter den beiden Parteivorsitzenden und den beiden Fraktionsvorsitzenden .

Ein "Küchenkabinett" gab es nicht. In der Staatskanzlei waren meine wich­tigsten Berater der Chef der Staatskanzlei, der Pressesprecher und der persön­liche Referent.

Ist die erwähnte Rollenvielfalt der Führungsaufgabe zu bewältigen? Es exi­stiert dazu kein Lehrbuch. Man muß sie in der eigenen Person erfahren und ausbalancieren. In allen Rollen unter ständig wachsamer Aufmerksamkeit der Opposition, der Medien und der politischen Freunde.

Politische Führung ist untrennbar von ständig begleitender Kontrolle:

- durch parlamentarische Anfragen - durch tägliche Nachfragen der vielfaltigsten Medien - durch Tausende von Zuschriften.

Politische Führung ist aber auch von aktiver eigener Öffentlichkeitsarbeit be­gleitet.

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Man muß öffentlich antworten auf eine Vielzahl von Fragen, man muß aber auch deutlich machen, wohin man will und wie man es will. Politische Füh­rung ist eine sehr transparente öffentliche Veranstaltung - in beiden Richtun­gen. Dies ist von der Verfassung so gewollt, und dazu braucht man Medien.

Aber es ist nicht von der Verfassung gewollt, in welchem Ausmaß einzelne Medien und ihre Repräsentanten nicht mehr Mittler, sondern Herrscher sind. Keine Frage: Einzelne Mitglieder der Landespressekonferenz stellten zu be­stimmten Zeiten eine beachtliche "informelle Komponente des Regierens" dar.

Das eigene Handeln, zum Beispiel die Schnelligkeit und Vertraulichkeit be­stimmter Sach- und Personalentscheidungen, ist mitbeinflußt von befürchte­ten oder veröffentlichten Meldungen und Kommentaren: Es war nicht gleich­gültig, ob eine am Dienstag im Kabinett getroffene Entscheidung am Mitt­woch der Fraktion von mir vorgetragen wurde oder ob sie am frühen Morgen bereits als Meldung im Südwestfunk den Abgeordneten zur Kenntnis kam.

Der erwähnten Rollenvielfalt, dem vielfältigen Geflecht von Verantwortung gerecht zu werden, verlangt wohl - um diesen Abschnitt zusammenzufassen - die Kunst, trotz aller Abhängigkeiten Unabhängigkeit und Integrität zu be­wahren. Ist das nicht mehr möglich, muß man meines Erachtens die Konse­quenz ziehen.

Grundlage der Regierungsarbeit für eine Legislaturperiode ist die Regie­rungserklärung des Ministerpräsidenten. Wichtige Vorgaben dafür sind die Programmaussagen der Regierungspartei( -en); dies entspricht dem Wähler­auftrag. Auch wenn ich skeptisch bin, wie groß die Wirkung solcher Pro­gramme für das Wählerverhalten tatsächlich ist. Daneben gibt es vorhabens­orientierte, sich teilweise auch widersprechende Arbeitspapiere der Fachres­sorts und Vorschläge der Staatskanzlei .

Integrationsprobleme zusätzlicher Art entstehen in einer Koalitionsregie­rung. Zwei Konkurrenten müssen eine tragfähige Basis finden (Koalitionsver­einbarung). Sie sollen beide die Chance haben, ihre Vorstellungen über den besten Weg zum Gemeinwohl einzubringen und wiederzufinden und auch am gemeinsamen Erfolg teilzuhaben.

Zum Schluß entsteht ein viel zu langer Entwurf, der schließlich in der Nacht vor der Fertigstellung vom Ministerpräsidenten und seinen engsten Mitarbei­tern Satz für Satz durchkorrigiert werden muß.

In den letzten Jahren war es üblich geworden, in der Staatskanzlei für jede programmatische Aussage der Regierungserklärung und der Koalitionsverein­barung ein Datenblatt anzulegen. Es enthält EDV-gespeicherte Angaben zur Umsetzung. Eine Art Projektabstimmung und politische ProjektbuchhaItung, die in einer Koalition zusätzliches Gewicht erhält. Sie ist die Grundlage der politischen Rechenschaftsberichte, die in der Öffentlichkeit vom Regierungs­chef und den Kabinettsmitgliedern erwartet werden.

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Dabei möchte ich offenlassen, wie sich solche Leistungsbilanzen - ich hatte die Gewohnheit, zur Halbzeit der Legislaturperiode eine Regierungser­klärung vor dem Landtag abzugeben und natürlich zum Ende der Legislatur­periode eine Schlußbilanz zu ziehen - bei den Wahlen niederschlagen. Si­cherlich fließt diese Art, Rechenschaft zu geben, zu welchem Prozentsatz auch immer in die Wählerentscheidung ein.

Insgesamt scheint mir für die Wählerentscheidung die Grundstimmung, die im Wahljahr im Lande herrscht, wichtig zu sein. Die Geschlossenheit der Re­gierungspartei, wobei die personelle Komponente weit bedeutsamer ist als die programmliche, das Erscheinungsbild in der Presse, die Verfassung der Op­position. Sie litt in Rheinland-Pfalz in der Zeit meiner Verantwortung darun­ter, von Wahl zu Wahl mit wechselnden Spitzenkandidaten anzutreten. Als ich Parteivorsitzender wurde, führte Wilhelm Dröscher, "der gute Mann von Kirn", die SPD. Bei der Landtagswahl 1979 war Klaus von Dohnanyi mein Kontrahent, 1983 Hugo Brandt, 1987 Rudolf Scharping.

Bedeutsam war ferner die Verfassung der Union auf Bundesebene. 1979 machte mir ein Memorandum zu schaffen, das Kurt Biedenkopf mit Wissen von Heinrich Köppler über die Weihnachtstage versandt hatte und in dem er mit Blick auf Helmut Kohl die Trennung der Ämter des Partei- und des Frak­tionsvorsitzenden forderte. 1983 begünstigte die Tatsache, daß am gleichen Tag der Deutsche Bundestag und der Landtag von Rheinland-Pfalz gewählt wurden, meine Wahlkampfführung. 1987 führte die Debatte um die Raketen­stationierung in den letzten 14 Tagen vor der Wahl fraglos zu einer Stärkung der FDP und zu einer Schwächung der CDU, zumal die FDP sich eindeutig auf eine Koalition mit der CDU und auf mich als Ministerpräsidenten festge­legt hatte.

Letztlich aber erscheint die Wahlentscheidung vor allem als eine Art Ver­trauensvorschuß in die Führungskraft von Partei und Person, ihre Kompetenz zur Lösung künftiger Aufgaben.

Weil die Bindung der Wählerschaft an die Parteien heute lockerer geworden ist, wie zahlreiche Studien eindeutig belegen, wird der eigentliche Wahlkampf wichtiger, und Pendelschläge werden häufiger. Es bleibt politische Führungs­aufgabe, diese Pendelschläge so gut wie möglich abzufangen, aber unabhän­gig davon weiter zu planen, zu entscheiden und diese Entscheidungen durch­zusetzen.

In der Politik wird gerne von "Pflicht" und "Dienen" gesprochen. Der Be­zug zu diesen Begriffen mag je nach Veranlagung unterschiedlich ausfallen. Ich halte sie in der Praxis für unverzichtbar, aber ich sage im gleichen Atem­zug auch: Bei allem Ernst muß die übernommene Aufgabe auch Spaß ma­chen, sonst würde man die Dauerbelastung nicht überstehen.

Führung in einem Bundesland verlangt Freude an der Aufgabe, die der Un­ternehmer Stärkung der "corporate identity" nennt. Vermittlung von Zusam-

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mengehörigkeit, Landesbewußtsein, Geborgenheit und Identitätsgefühl spie­len eine große Rolle. Sie konkurrieren nicht mit nationalem und europäischem Bewußtsein. Sie sind vielmehr sehr konkret unmittelbar erlebte Integrations­formen. So gesehen bedeutet Föderalismus nicht nur Gewaltenteilung, son­dern auch Stärkung unserer gesamtstaatlichen Ordnung in gewachsenen und überschaubaren Strukturen. "Corporate identity" gilt nach innen, aber si­cherlich als Wettbewerbsfaktor auch zwischen den Ländern.

Natürlich gibt es harten Wettstreit zwischen den Ländern, etwa um die An­siedlung neuer Betriebe. Die heftige Auseinandersetzung um die Neuordnung der deutschen Luft- und Raumfahrt zwischen Bremen, Niedersachsen, Bayern und Rheinland-Pfalz war ein Beispiel aus jüngerer Zeit dafür. Und natürlich gibt es konkurrierende Bemühungen um Bundesinstitutionen und um Bundes­mittel; zum Beispiel im Forschungsbereich oder im Kampf um den Struktur­fonds, den Ernst Albrecht ausgelöst hat. Aber die Wettbewerbssituation wird doch von außen eher überschätzt.

Im Alltag spielen Zusammenarbeit und Koordination eine weit größere Rolle. Den Staatskanzleien, und insbesondere den Chefs der Staatskanzleien, kommt hier eine entscheidende Rolle zu, auch bei der Schlichtung von Kon­flikten in und zwischen den Fachministerkonferenzen. Lange Zeit bereitete die Kultusministerkonferenz die größten Probleme, später die Konferenz der Umweltminister. Zwischen den Fachministerkonferenzen spielten die Kon­flikte der Fachkonferenzen mit der Finanzministerkonferenz die dominie­rende Rolle.

Die Tatsache, daß den Finanzministern ein Vetorecht zusteht -- ich erinnere mich allerdings nicht, daß es in den fast 21 Jahren meiner Kabinettszugehörig­keit je formell dazu kam - , wirkte sich auch hier, zumindest indirekt zugun­sten der Finanzministerkonferenz aus.

Informell kam dabei einigen wenigen Chefs der Staatskanzleien, etwa dem bayerischen und dem nordrhein-westfalischen, zeitweise auch dem hessi­sehen, eine Führungsrolle zu. Ich selbst habe stets darauf geachtet, daß Rheinland-Pfalz seiner Mittlerrolle als einem Land mit sicherer Unionsmehr­heit und als einem Land, das größer als fünf andere und kleiner als fünf andere Länder ist, auch dann gerecht wurde, wenn es selbst in einem konkreten Streitpunkt nicht involviert war.

Meinen beiden Staatssekretären - Waldemar Schreckenberger und Hanns­Eberhard Schleyer - hat man gelegentlich nachgesagt, daß sie nicht sonder­lich stark in das Parteiengefüge der rheinland-pfalzischen CDU eingebunden waren. Entscheidend für die Rolle des Landes im Verhältnis zu den anderen Ländern und zum Bund war, daß sie fachlich anerkannte und persönlich hoch­geschätzte Kollegen im Kreis der Chefs der Staatskanzleien waren.

Was die Staatskanzleien selbst betrifft: Sie sind sehr unterschit:dlich organi­siert und verfügen über unterschiedliche Zuständigkeiten und Führungsinstru-

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mente. Nicht von ungefähr heißt etwa die Stuttgarter Staatskanzlei Staatsmini­sterium. Ich habe es für zweckmäßig gehalten, den Apparat so klein wie mög­lich zu führen und - die Landesplanung und die Medienfragen ausgenommen - alle Zuständigkeiten an die Fachressorts zu geben.

Ohne Frage ist das politische Klima zwischen den Parteien und insbeson­dere der Ton im Bundestag in den Jahren nach dem Ende der Großen Koalition in Bonn rauher und härter geworden. Um so bedeutsamer erscheint es mir, daß in der Ministerpräsidentenkonferenz über alle Jahre hinweg ein ausge­sprochen kooperativer Geist herrschte. Die Bedeutung dieses Gremiums kann man meines Erachtens für die politische Verfassung der Bundesrepublik nicht hoch genug einschätzen.

Die jeweilige politische Letztverantwortlichkeit ihrer Mitglieder in den elf Ländern führte - von ganz wenigen, die Regel bestätigenden Ausnahmen ab­gesehen - zu einem sehr hohen Maß von Kollegialität und zum Bemühen, Konflikte zu lösen oder gar nicht aufkommen zu lassen. Mir ist das vor allem aus der Zeit heftigster Auseinandersetzungen um eine neue Medienordnung für die Bundesrepublik in Erinnerung. Daß man sich trotz erheblicher Kontro­versen schließlich darauf einigen konnte, vier Kabelpilotprojekte zu planen und in einem, dem rheinland-pfälzischen, auch die Beteiligung privater An­bieter zuzulassen, ist nur daraus zu erklären.

Vielfach ist aus dieser Konferenz heraus auch auf die jeweilige Bunderegie­rung eingewirkt worden, Konflikte im Bundestag nicht auf die Spitze zu treiben.

Die Ministerpräsidentenkonferenz trifft sich einmal im Jahr im Herbst in ei­nem Land mit umfangreicher Tagesordnung. Bei dieser Gelegenheit wechselt auch turnusmäßig der Vorsitzende. Je nach Bedarf finden daneben dreimal im Jahr oder auch häufiger in Bonn reine Arbeitssitzungen statt.

Zwei- bis dreimal im Jahr - in Zeiten unterschiedlicher Mehrheiten im Bundestag und Bundesrat häufiger, in Zeiten übereinstimmender Mehrheiten seltener - finden Treffen der Regierungschefs im Kanzleramt statt.

Wir erschienen, wenn wir von Helmut Schmidt gebeten wurden, als die Duodezfürsten - auch Adenauer hatte ja bekanntlich schon während der Rit­tersturzkonferenz, als er im Hause Süsterhenn warten mußte, von den Zaun­königen gesprochen -, die den Weltökonomen mehr am Regieren zu hindern als ihn hierin zu unterstützen schienen. Das hat sich im letzten Jahrzehnt deut­lich geändert. Wieder, wie zuvor bei Brandt und Kiesinger, ist ein früherer Ministerpräsident Bundeskanzler. Der Eindruck zu stören ist gewichen. Man wird sogar im Rahmen der Konferenz der Regierungschefs zum Essen einge­laden.

Was den Bundesrat betrifft, gilt zwar die Vereinbarung, Themen, die dort auf der Tagesordnung stehen, nicht in der Ministerpräsidentenkonferenz zu beraten. Aber in den sogenannten Kamingesprächen, die seit Ende der siebzi-

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ger Jahre üblich wurden und an denen ausschließlich die elf Länderchefs und der Chef der Staatskanzlei des vorsitz führenden Landes teilnahmen, wurden immer wieder auch Streitpunkte aus dem Bundesrat erörtert.

Die Frage, ob der Chef der Staatskanzlei oder der Bundesratsminister oder beide den Ministerpräsidenten in die Ministerpräsidentenkonferenz begleiten, wurde von Land zu Land verschieden gehandhabt und hing in den einzelnen Ländern von der jeweiligen personellen Besetzung und auch von Koalitions­rücksichten ab, seit CDU/FDP-Koalitionen in den Ländern wieder häufiger wurden, auch vom Bestreben - etwa in Niedersachsen und Hessen - der FDP, den Bundesratsminister zu stellen.

Für die Entscheidung im Bundesrat waren die wöchentliche Zusammen­kunft der Landesvertreter, eine Fülle von Vorgesprächen am Donnerstag abend oder in der Nacht zum Freitag vor Bundesratssitzungen und die gele­gentliche Zusammenkunft im Zimmer 13 des Bundesrates am Morgen des Plenartags sehr bedeutsam.

Die einzelnen Ministerpräsidenten nutzen das Plenum des Bundesrates in sehr unterschiedlicher Weise. Ich hatte es mir zur Regel gemacht, so gut wie an jeder Bundesratssitzung teilzunehmen und häufig auch zu sprechen. Das gleiche galt etwa für Lothar Späth und, ein wenig abgeschwächt, auch für Ernst Albrecht, die beide sehr häufig zu vielen Tagesordnungspunkten spra­chen.

Ganz anders Franz Josef Strauß, der fast nie erschien und noch seltener sprach - die Zeit seiner Präsidentschaft ausgenommen. Oder auch Johannes Rau, der zwar stets zu Beginn für eine knappe Stunde erschien, seine Zeitun­gen durchsah und wieder ging, aber die Auseinandersetzung sehr häufig sei­nem getreuen Finanzminister Posser überließ.

Die von der Verfassung gewollte Einbeziehung der politischen Mitverant­wortung und der breiten Verwaltungserfahrung der elf Landesregierungen hat sich ohne Frage als Glücksfall für die Bundesrepublik Deutschland erwiesen. Zu keiner Zeit war eine der großen politischen Parteien ganz aus der politi­schen Verantwortung entlassen. Im Gegenteil, stets begann mit der Über­nahme der Regierungsverantwortung in Bonn durch eine Volkspartei der Auf­stieg der anderen Volkspartei in den Ländern.

Edzard Reuter hat - in seinem Buch "Vom Geist der Wirtschaft" - einen interessanten Satz geschrieben: "Man kann ein Unternehmen nicht christlich oder sozialdemokratisch, sondern nur gut oder schlecht führen."

Ungeachtet allen demokratischen Grundkonsenses der Parteien kommt es meiner Ansicht nach sehr wohl darauf an, ob ein Land sozialdemokratisch oder christlich-demokratisch geführt wird, auch wenn das in meiner Darstel­lung nicht die entscheidende Rolle gespielt hat. Aber grundsätzlich kommt es natürlich vor allem darauf an, daß ein Land gut geführt wird, unabhängig da­von, ob sozialdemokratisch oder christlich-demokratisch.

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Vor diesem Hintergrund wage ich den Schlußsatz: lieber gut sozialdemo­kratisch als schlecht christlich-demokratisch geführt, am besten aber gut christlich-demokratisch.

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111. Regieren und Entscheidung

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Parteipräsidien als Entscheidungszentren der Regierungspolitik - das Beispiel der CDU

Peter Haungs

1. Einleitung

Zwischen der (meist recht pauschalen) Kennzeichnung des politischen Sy­stems der Bundesrepublik als "Parteienstaat" und unseren Kenntnissen über Parteistrukturen besteht eine bemerkenswerte Diskrepanz. Dies gilt im Hin­blick auf die Führungsgremien der Parteien in besonderem Maße. Sowohl in der wissenschaftlichen Literatur als auch in Memoiren oder anderen Publika­tionen von Politikern ist darüber kaum etwas zu finden. Im neuen, von Alf Mintzel und Heinrich Oberreuter herausgegebenen Sammelband über "Par­teien in der Bundesrepublik Deutschland" beispielsweise kommen die Füh­rungsgremien der Parteien überhaupt nicht vor (auch in meinem Beitrag über die eDU finden sich nur einige knappe Bemerkungen). Dagegen erfahren wir viel über die Mitglieder und Wähler der Parteien, auch über ihre Organisa­tion. So wichtig diese Aspekte sind, die leichte Zugänglichkeit zU! Daten sollte eigentlich nicht so weitgehend darüber bestimmen, was thematisiert wird und was nicht.

Angesichts dieser Literaturlage ist eine wissenschaftlich fundierte Behand­lung der Thematik nicht möglich. Dafür wären aufwendige Forschungen er­forderlich. Möglich ist aber vielleicht eine - auf Insider-Informationen ge­stützte - Einschätzung der politischen Bedeutung der Parteipräsidien unter Plausibilitätsgesichtspunkten. Ich werde mich dabei im wesentlichen auf die eDU in der Ära Kohl beschränken, ergänzt durch einige Vergleiche mit der Ära Adenauer und wenige Seitenblicke auf die SPD.

Die Beschränkung auf das CDU-Präsidum während der 80er Jahre ist auch noch aus einem anderen Grund sinnvoll. In den 60er Jahren gab es zwar J0r­formen eines funktionsfähigen Parteipräsidiums , doch entwickelte sich eine handlungsfähige Bundespartei erst mit der Satzungsänderung von 1967, die auch das Amt eines Generalsekretärs vorsah, also erst gegen Ende der ersten Regierungsphase der Unionsparteien auf Bundesebene.

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2. Das CDU-Präsidium in der Ara Kohl

Da das Parteipräsidium gegenüber dem Bundesvorstand das kleinere Gre­mium ist, ist schon deshalb anzunehmen, daß es häufiger zusammentritt. Das ist auch tatsächlich der Fall, doch gibt es bemerkenswerte Unterschiede. Un­ter Kohl als Parteivorsitzendem ging die Sitzungsfolge des Präsidums, vergli­chen mit derjenigen in der Amtszeit seiner Vorgänger Kiesinger und Barzel, zurück, und vor allem trat der Bundesvorstand häufiger zusammen: Mitte der 70er Jahre praktisch jeden Monat (mit Ausnahme der Ferienzeit). Ende der 70er Jahre tagte der Bundesvorstand genau so häufig wie das Parteipräsidium. Nach Ansicht Schönbohms war für Kohl der Bundesvorstand "das eigentliche Koordinations- und Entscheidungsorgan, mit dem er als Parteivorsitzender ar­beitete, zumal er im Bundesvorstand immer eine deutliche Mehrheit besaß" (Schönbohm 1985, 156).

In der Oppositionsphase der CD U seien "alle wichtigen Fragen personeller, organisatorischer und inhaltlicher Art, auch der Zusammenarbeit mit der CSU, im Bundesvorstand eingehend besprochen" worden. Die große Zahl der Sitzungen des erweiterten Bundesvorstands ab 1976 (nach dem Parteistatut gibt es diese Institution gar nicht: eingeladen wurden auch diejenigen Landes- und Vereinigungsvorsitzenden sowie Ministerpräsidenten der CDU-regierten Län­der, die nicht gewählte Vorstandsmitglieder waren, was allerdings nur auf etwa ein halbes Dutzend Personen zutraf) zeigen nach Schönbohms Ansicht "das Bemühen Kohls als Parteivorsitzendem, jenseits der formalen Satzungsvor­schriften möglichst alle Amts-, Mandats- und Funktionsträger mit Einfluß in der Partei in den Willensbildungsprozeß einzubinden" (Schönbohm 1985, 156).

Nach 1982 verändert sich die Relation zugunsten des Parteipräsidiums, doch tagt der Vorstand auch in den 80er Jahren recht häufig: Nunmehr kom­men aber auf eine Sitzung des Bundesvorstands zwei Präsidiumssitzungen, in denen die wichtigsten strittigen Fragen besprochen werden. Die Unterschei­dung zwischen gewählten und zusätzlichen Mitgliedern ist für den Ablauf der Sitzungen ohne Bedeutung. Insgesamt gehören dazu etwa 20 Personen: der Parteivorsitzende, der Generalsekretär, die sieben stellvertretenden Vorsitzen­den, der Bundesschatzmeister, der Bundesgeschäftsführer und der Presse­sprecher, der Bundestagspräsident und der Vorsitzende der Bundestagsfrak­tion der CDU / CSU, der Vorsitzende der EVP-Fraktion im Europäischen Par­lament (Klepsch), die CDU-Ministerpräsidenten, die nicht fürs Präsidium kandidiert haben - etwa Barschei, Diepgen, Vogel, Zeyer; Ministerpräsident Späth macht nach seinem Mißerfolg auf dem Bremer Parteitag (1989) von sei­nem Teilnahmerecht keinen Gebrauch (die ständige Teilnahme der der CDU angehörenden Ministerpräsidenten an Sitzungen des Führungsgremiums hat

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eine lange Tradition: bereits am 15.12.1952 faßte der Bundesvorstand einen entsprechenden Beschluß!) - und zeitweilig Rainer Barzel als "ständiger Gast" (später als Bundestagspräsident). Außerdem wurde Wolfgang Schäuble (und dann auch sein Nachfolger Rudolf Seiters) als Kanzleramtsminister vom Parteivorsitzenden und Bundeskanzler ins Parteipräsidium einbezogen.

Während Präsidiumssitzungen ohne nachfolgende Bundesvorstandssitzung gelegentlich verlegt werden oder ausfallen, fanden auch zusätzliche Sitzungen statt, häufig am Abend und in kleinerer Besetzung: beispielsweise mit Kohl, Stoltenberg, Schäuble und den CDU-Ministerpräsidenten.

Auch sonst hatten die Präsidiums sitzungen einen wenig formellen Charak­ter: die Tagesordnung wird vom Generalsekretär im Einvernehmen mit dem Parteivorsitzenden aufgestellt, ist aber für den tatsächlichen Sitzungsverlauf ziemlich bedeutungslos. Die Sitzung wird immer durch einen "Lagebericht" des Vorsitzenden eingeleitet, der dadurch ihren Ablauf erheblich beeinflussen kann und von dieser Möglichkeit auch Gebrauch macht: indem er beispiels­weise durch die Mitteilung von Aktualitäten oder überraschende Ausführun­gen über bestimmte Themen von der Erörterung der eigentlich erwarteten Themen ablenkt bzw. deren Bedeutung relativiert. Danach findet (innerhalb eines begrenzten zeitlichen Rahmens von 2-4 Stunden) eine Aussprache über Punkte statt, die von den Sitzungsteilnehmern für wichtig gehalten werden.

Die Tradition einführender Lageberichte wurde in der CDU durch Ade­nauer begründet, der diese "gezielt nutzte, um 'Herrschaftswissen' auszubrei­ten, aktuelle Probleme zur Diskussion zu stellen und einen möglichst breiten Konsens herbeizuführen"(Buchstab 1986, XX). Der Herausgeber der Proto­kolle des CDU-Bundesvorstands in der Ära Adenauer, Günter Buchstab, for­muliert: "Je mehr sich das Organ Bundesvorstand an der Parteispitze festigte, desto gezielter setzte er diese internen Ansprachen ein: Mit genauer Informa­tion und differenzierter Beurteilung innen- wie außenpolitischer Vorgänge, mit präzisen Analysen, eingebettet in historische Perspektiven, mit humorvol­len Einlagen oder bissigen Seitenhieben, hin und wieder auch mit Behauptun­gen, die ... der Wahrheit wohl nicht so ganz entsprachen, beeinl1ußte er den Gang der anschließenden Aussprache" (Buchstab 1986, XXII f.). Adenauer hat seine Ausführungen vor dem Parteivorstand übrigens "in kleineren Ge­sprächskreisen sorgfältig vorbereitet und abgestimmt, zunächst mit Personen aus seiner unmittelbaren Umgebung, sodann mit denjenigen, die im Zu stim­mungsprozeß der Partei eine wichtige Rolle spielten". Erst wenn er sich "einer breiten Zustimmung weitgehend sicher sein konnte, trat er damit vor das Verbreitungs- und Integrationsgremium des Bundesvorstands"(XXIII).

Während Adenauer die Besprechung außenpolitischer Fragen dominierte, wurden innenpolitische Fragen durchaus auch kontrovers erörtert. Doch faßte der Bundesvorstand selbst dann nach seinen eingehenden Diskussionen "kei­nerlei Beschlüsse, die für die Bundesregierung, die Bundestagsfraktion oder

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die Länderregierungen bindend gewesen wären". Er war nach dem Drteil von Buchstab "das Gremium, in dem politische Entscheidungen durch Informa­tionsaustausch und Meinungsbildung reiften und sich durchsetzten" (XXIV). Formelle Abstimmungen finden auch in der Ära Kohl kaum jemals statt, allen­falls (wie etwa bei Nominierungen) aus demonstrativen Gründen. Strittige Fragen werden nicht durch Abstimmungen entschieden - im Präsidium der eDD ebenso wenig wie im Präsidium der SPD, wie Willy Brandt bekundet hat: Als Berliner Bürgermeister und als Parteivorsitzender habe er "nur in ganz seltenen Fällen abstimmen lassen"; es sei "nahezu immer fruchtbarer, eine Übereinstimmung im Führungsgremium herbeizuführen" (Brandt 1976, 303).

Von Zeit zu Zeit widmen sich Präsidiumssitzungen einer zuvor festgelegten Thematik, etwa der Steuerreform. Gerade in solchen Fällen wurden in der Sit­zung auch Vorlagen verteilt - dagegen ist die vorherige Verschickung von Pa­pieren (meist schon aus Zeitgründen) generell unüblich.

Manchmal endet die Erörterung einer Thematik damit, daß Präsidiumsmit­glieder den Auftrag übernehmen, sich um eine bestimmte Angelegenheit zu kümmern; solche Aufträge können sich aber auch .- durch neue Prioritäten etwa - erledigen. Fixierte "Ressorts" gibt es im Präsidium zwar nicht, doch durchaus Zuständigkeitsschwerpunkte, die sich aus den Ämtern oder den poli­tischen Schwerpunkten der Mitglieder ergeben; also etwa: Finanzpolitik (Stoltenberg), Wirtschaftspolitik (Späth), Sozial- und Familienpolitik (Geiß­ler, Blüm), Kultur- und Bildungspolitik, Medien, Kirchen (Vogel).

Gelegentliche Versuche, zu einer stärkeren Formalisierung der Beratungen im Parteipräsidium zu gelangen, waren schon deshalb chancenlos, weil solche Anregungen von Kurt Biedenkopf ausgingen. Deshalb unternahmen auch an­dere Präsidiums mitglieder keine entsprechenden Vorstöße. Diese Problema­tik wurde zuletzt im Sommer und Herbst 1989 im Zusammenhang mit dem Vorgehen Kohls bei seiner Trennung von Geißler als Generalsekretär auf dem Bremer eDD-Parteitag heftig diskutiert. Mehrere Präsidiumsmitglieder (Geißler, Späth, Frau Süßmuth) machten ihre Bereitschaft zur weiteren Mitar­beit in diesem Gremium von einer "veränderten Führungsstruktur" abhängig (Karl Feldmeyer: Der Streit über das künftige Gesicht der eDD ist noch lange nicht beendet, in: FAZ, 30.8. 1989, S. 3). Zu dieser ist es freilich nicht gekom­men: es wäre auch erstaunlich gewesen, wenn eine stärkere Formalisierung der Aufgabenverteilung, die kaum in einem Kreisvorstand funktioniert, sich im Parteipräsidium hätte realisieren lassen.

Der neue Generalsekretär Rühe argumentierte nach dem Parteitag, das eDD-Präsidium sei kein Kabinett, und deshalb sei eine Ressortaufteilung wie innerhalb der Regierung nicht angezeigt (Rühe: Das eDD-Präsidium ist kein Kabinett, in: FAZ, 9. 10. 1989, S.6). In diesem Sinne wurden in der Präsidi­umssitzung vom 25. 10. 1989 nach Rühes Darstellung folgende Aufgaben zu-

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gewiesen: internationale Parteibeziehungen, die katholische Kirche und Sport an Geißler, die evangelische Kirche an Stoltenberg, Verbindungen zu Frauen und Kulturorganisationen sowie zur Bundeswehr an Frau Süßmuth, Gewerk­schaftskontakte an Blüm, die Verbindung zu den Wirtschaftsverbänden an Frau Thoben und die Familienpolitik an den rheinland-pfalzischen Minister­präsidenten Wagner. Rühe erläuterte, daß eine "eigenständige publizistische Selbstdarstellung der Präsidiumsmitglieder mit besonderen Aufgaben nicht erwünscht" sei. Die Außenpolitik habe als "domaine reservee" des Parteivor­sitzenden zu gelten, dessen "Gesamtverantwortung und -zuständigkeit" durch die erwähnte Aufgabenzuweisung im übrigen nicht eingeschränkt werde. Die Ministerpräsidenten Albrecht und Wallmann übernahmen keine besonderen Aufgaben dieser Art.

Die Darstellung Rühes wurde von Geißler und Frau Süßmuth bestritten; eine solche Aufgabenverteilung könne man "gleich ganz lassen". Präsidiumsmitglie­der seien keine "Grüß-Gott-Onkel oder Kontaktstellen im vorpolitischen Raum" (Geißler kritisiert Verteilung der Aufgaben. Dissens in der CDU über die neuen Zuständigkeiten im Parteipräsidium", in: FAZ, 30.10.1989).

So berechtigt diese Kommentierung ist, es hat nicht den Anschein, als ob sich die Führungsstruktur der CDU nach dem Bremer Parteitag verändert habe. Abgesehen davon, daß Helmut Kohl schon von seinem Naturell her ei­ner stärker formalisierten Struktur wenig abgewinnen und sie auch für über­flüssig halten dürfte, gibt es wohl auch kein Beispiel für eine erfolgreich prak­tizierte Ressortstruktur in einem Parteiführungsgremium.

Die Beratungsgegenstände des Parteipräsidiums sind vielfältig und kaum zu systematisieren. Die in den Parteitagsberichten der Bundesgeschäftsstelle ent­haltenen Themenlisten sind nicht vollständig, weil sie heikle Fragen auslas­sen; damit wäre freilich auch bei einem Rückgriff auf die Sitzungsprotokolle zu rechnen, die bisher lediglich für die Bundesvorstandssitzungen der 50er Jahre gedruckt vorliegen (Buchstab 1986 und 1990).

Zunächst einmal wird im Parteipräsidium - namentlich durch den Vorsit­zenden - über vielerlei berichtet, über manches nur deshalb, damit hinterher mitgeteilt werden kann, daß berichtet wurde. Das Präsidium beschäftigt sich als Führungsgremium der Partei natürlich mit Parteiangelegenheiten, mit Ort und Termin eines Parteitags etwa, mit seiner Tagesordnung oder Entwürfen für programmatische Verlautbarungen und regelmäßig mit Wahlergebnissen. Über viele Fragen findet ein Meinungsaustausch statt, beispielsweise über das vermutete Verhalten der Koalitionspartner oder der Opposition. Dieser ver­dichtet sich häufig in der Weise, daß die Marschroute der Partei im Hinblick auf bevorstehende Beratungen in Regierungen, Parlamenten oder Gremien des kooperativen Föderalismus festgelegt wird.

Das Parteipräsidium trifft aber auch Entscheidungen über inhaltliche Posi­tionen der Partei - in den letzten Jahren etwa in der Familienpolitik (Kinder-

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geld, Erziehungsjahr, Arbeitsplatz für die Mutter) oder in der Steuerpolitik (Steuerreform, Strukturhilfe für die Bundesländer), wobei in den letzten bei­den Fällen das Präsidium oft nur noch die Ergebnisse von Arbeitsgruppen zur Kenntnis nahm.

Daß das Parteipräsidium Entscheidungen über Politikinhalte trifft, ist also keine Frage. Ich sehe mich jedoch nicht in der Lage, die Tragweite dieser Ent­scheidungen einigermaßen präzis zu bestimmen. Wünschenswert wären Aus­sagen wie: in folgenden Angelegenheiten fielen folgende Entscheidungen im CDU-Präsidium, bei denen es im weiteren Entscheidungsprozeß (im wesentli­chen) blieb. Oder: in folgenden Angelegenheiten traf das CDU-Präsidium fol­gende Entscheidungen, die endgültige Regelung sah aber folgendermaßen aus, wobei CSU oder FDP sich durchsetzen konnten oder in Koalitionsgesprä­chen ein Kompromiß gefunden wurde. Der für solche Aussagen erforderliche detaillierte Überblick fehlt mir jedoch.

Die erwähnte CDU-Diskussion vor und nach dem Bremer Parteitag im Sep­tember 1989 sollte allerdings vor einer Überschätzung der Parteipräsidien warnen, zumal die apostrophierten Defizite auch in anderen Parteien anzutref­fen sein dürften. So nützlich und notwendig die in den Parteiführungsgremien mögliche Abstimmung ist, Steuerungszentralen der Regierungspolitik in ei­nem umfassenden Sinne sind sie dennoch nicht.

Die Bedeutung des Parteipräsidiums als Führungs- und Koordinationsgre­mium hat sich durch den Wechsel der CDU aus der Opposition an die Regie­rung auf Bundesebene im Herbst 1982 nicht grundlegend verändert. Innerhalb des Gremiums kam es zu einer gewissen Gewichtsverschiebung zulasten der Ministerpräsidenten, die während der Oppositionsperiode im Hinblick auf die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat, auf den Vermittlungsausschuß und die Unterstützung der Oppositionspolitik im Bundestag durch Landesbeamte eine sehr starke Stellung hatten. Allerdings war die Bundesregierung auch nach 1982 auf die Zustimmung der Länder zu ihren Reformvorhaben angewiesen, zumal seit 1985 nach dem Regierungswechsel im Saarland - abgesehen von dem Jahr zwischen dem hessischen Regierungswechsel von 1987 und demjeni­gen in Schleswig-Holstein von 1988 - die Mehrheit der Unionsparteien im Bundesrat von jeder einzelnen von CDU oder CSU geführten Landesregie­rung abhing.

Bundeskanzler Kohl verfolgte zudem die Strategie, auf die Anrufung des Vermittlungsausschusses zu verzichten und erforderliche Kompromisse mit der "eigenen" Bundesratsmehrheit zustandezubringen. So wurden etwa die Änderungen am Finanzausgleichsgesetz vom Herbst 1982 in "Beratungen der Spitzen der christlich-liberalen Bundesregierung mit den Ministerpräsidenten der CDU- und CSU-geführten Landesregierungen" festgelegt (Renzsch 1989, 333). Im Sommer 1987 wurde bei der neuerlichen Novellierung des Finanz­ausgleichsgesetzes, die durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom

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24. Juni 1986 erforderlich geworden war, ebenso verfahren, wobei die nieder­sächsische Landesregierung diese Neuregelung mit ihrer Zustimmung zur ge­planten Steuerreform verknüpfte. Der dabei gefundene unionsinterne Kom­promiß erfüllte in erster Linie die Wünsche der von CDU und CSU regierten Länder.

Schließlich kam es zu Beginn des Jahres 1988 zur sog. "Albrecht-Initia­tive", deren Ziel es war, die starke Belastung der nord- und westdeutschen Länder mit Sozialhilfekosten durch eine Bundesbeteiligung zu mildern. Wäh­rend diese Initiative von zwei CDU-Ländern (Niedersachsen und Berlin) und vier von der SPD geführten Ländern unterstützt wurde, lehnten sie die Regie­rungschefs von Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und Rheinland-Pfalz ab. In mehreren Gesprächsrunden der Unionsführung verständigte man sich schließlich auf eine Halbierung des ursprünglich geforderten Finanztransfers und auf eine andere Verteilung, so daß auch Bayern und Rheinland-Pfalz Zah­lungen erhielten. Niedersachsen hatte gegenüber den ursprünglichen Forde­rungen die geringsten und Nordrhein-Westfalen die größten Verluste zu ver­zeichnen. Eine entsprechende Regierungsvorlage wurde im parlamentari­schen Verfahren inhaltlich nicht mehr verändert (Renzsch 1989, 343).

Auch in personeller Hinsicht herrscht Kontinuität vor: so ist Stoltenberg für lange Jahre der zweite Mann, zunächst als Ministerpräsident, dann als Bun­desfinanzminister, der als solcher auch von Albrecht anerkannt wird; dies gilt später aber nicht für Späth. Es gibt meist schweigsame Mitglieder (wie Dreg­ger, Jenninger, Klepsch, Frau Laurien, Zeyer) und solche, die sich ständig an den Beratungen beteiligen (wie Geißler, Späth, Biedenkopf, Blüm und Frau Süßmuth). Obwohl mit Stoltenberg oder später Albrecht und Späth Kohls "Kronprinzen" oder auch Gegner wie Biedenkopf im Parteipräsidium saßen, verfügte Kohl immer über eine sichere Mehrheit.

3. Parteipräsidien und andere "Entscheidungszentren" der Regierungspolitik

Das CDU-Präsidium ist nur ein Entscheidungszentrum der Regierungspoli­tik. Da bisher alle Bundesregierungen Koalitionsregierungen waren, spielen mehrere Parteipräsidien als "Entscheidungszentren der Regierungspolitik" eine Rolle. Schon dadurch relativiert sich die Bedeutung auch des Parteipräsi­diums . der Hauptregierungspartei . Bekanntlich war vor allem das Verhältnis der Unionsparteien zu Lebzeiten von Franz Josef Strauß keineswegs als har­monisch zu bezeichnen. Den heftigen Konflikten über den richtigen Opposi­tionskurs in den Jahren 1969 bis 1982 folgten nach dem Regierungswechsel andere Auseinandersetzungen, die primär aus der Frustration von Franz Josef

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Strauß darüber resultierten, daß er - entgegen dem Anciennitätsprinzip, das nach seinem Tod sich positiv auf das Verhältnis von Kohl und Waigel auswirkt - nicht Bundeskanzler oder Außenminister werden konnte.

Gerade wenn es Differenzen zwischen den Unionsparteien gab, nahm die Bedeutung der gemeinsamen Bundestagsfraktion zu, ist diese doch die wich­tigste institutionelle Klammer zwischen den Parteien. So konnte sich etwa das CDU-Parteipräsidium 1979 in der Frage der Kanzlerkandidatur nicht gegen die Bundestagsfraktion durchsetzen, die sich mehrheitlich für Franz losef Strauß und damit gegen Ernst Albrecht, den vom Präsidium unterstützten Kandidaten Helmut Kohls, entschied. Bemerkenswert ist auch, daß es im März 1989 zu einer Revolte der CDU / CSU-Bundestagsfraktion kam, die sich weigerte, von der Koalitionsspitze verabredeten familienpolitischen Vorhaben zuzustimmen, und Korrekturen erzwang. In der Fraktion herrschte der Ein­druck vor, daß die Führung der CDU die "Bodenhaftung" verloren hatte (Karl Feldmeyer: Die Unionsfraktion ist zufrieden mit ihrem neugefundenen Selbstwertgefühl, in: FAZ, 18. 3. 1989, S. 3).

Neben den Parteipräsidien haben die Koalitionsgremien als bedeutsame "Entscheidungszentren" zu gelten: sie haben immer wieder einen Ausgleich zwischen den Koalitionspartnern zu finden, während die Parteipräsidien um Klärung dessen bemüht sein müssen, was innerhalb der Parteien strittig ist.

Wichtig sind außerdem Besprechungen der Ministerpräsidenten, die der SPD oder den Unionsparteien angehören: vor Ministerpräsidentenkonferenzen, Bun­desratssitzungen oder bei besonderen Anlässen, z.B. dem Medienstaatsvertrag.

Im Bundeskabinett dagegen werden kaum strittige Fragen von politischem Gewicht erörtert, vielmehr dominiert dort die formale Abwicklung der Regie­rungsgeschäfte.

Es versteht sich, daß nur ein Teil der ständig zu treffenden politischen Ent­scheidungen in den genannten Gremien erörtert wird. Die wichtigsten gehören in der Regel wohl dazu, während viele weitere Entscheidungen durch die Ver­waltung - in Kooperation mit den jeweiligen Interessenverbänden - getroffen werden und lediglich einer potentiellen Kontrolle unterliegen.

4. Abschließende Bemerkungen

Man kann wohl annehmen, daß die Parteipräsidien zu den wichtigsten Ent­scheidungszentren der Regierungspolitik gehören, ohne daß diese Bedeutung hier am Beispiel der CDU detailliert hätte nachgewiesen werden können. Es scheint mir jedoch fraglich zu sein, ob Parteipräsidien in erster Linie oder vor­rangig Entscheidungsgremien sind. Information, Beratung, Koordination, In­tegration gehören gewiß ebenfalls zu ihren wichtigen Funktionen.

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Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit scheint mir die Tatsache zu markieren, daß die Fixierung von Zuständigkeiten allenfalls rudimentär möglich sein dürfte, weil sie dem Charakter solcher politischen Führungsgremien letztlich widerspricht. Selbst sinnvolle Vorschläge können durch persönliche Rivalitä­ten blockiert werden, wie die erwähnten chancenlosen Formalisierungsbemü­hungen Biedenkopfs dokumentieren.

Wenn die persönlichen und politischen Gegensätze so dominieren wie im SPD-Präsidium in den 70er Jahren, ist ein gedeihliches Arbeits- und Bera­tungsklima schwer vorstellbar. Im Dezember 1973 hielt der SPD-Politiker Bruno Friedrich in einer Denkschrift fest: "Laufende Personenkonflikte in­nerhalb der SPD-Führung müssen den Eindruck vermitteln, die SPD-Spitze sei unfähig geworden, sich innerhalb ihrer Führungsorgane auf eine gemein­sam vertretene Parteilinie zu verständigen" (Spiegel Nr. 50/1973, Zl).

Zu fragen ist auch, welches Interesse ein Regierungschef daran haben kann, daß die Parteiführungsgremien auf Bundesebene einen eigenständigen politi­schen Faktor darstellen. Es gilt als ausgemacht, daß Adenauer ein solches In­teresse nicht hatte. Größe, Zusammensetzung und Sitzungsfolge der Partei­führungsgremien waren dementsprechend "eher zur Verhinderung als zur Verabschiedung politischer Entscheidungen geeignet" (Schönbohm 1985, 37).

Ist Kohls Interessenlage anders als die Adenauers? Das heutige Parteipräsi­dium der CDU weist zwar günstigere Voraussetzungen als der Parteivorstand in der Ära Adenauer auf - ist es aber deshalb ein Entscheidungszentrum? Am ehesten gilt dies im Hinblick auf die Einbindung der Landesverbände, deren starke Stellung ein Kontinuitätselement der CDU-Parteistruktur darstellt (vgl. dazu vor allem Schmid 1990). Wenn es Anfang der 60er Jahre - in der Schlußphase der Ära Adenauer - als dringlich angesehen wurde, daß der Bundesvorstand seine politische Führungsaufgabe wahrnahm, "um eine poli­tische Koordination zwischen den Vertretern der Länder, der Bundesregie­rung, der Bundestagsfraktion und den Landesparteien der Union zu errei­chen" (Schönbohm 1985, 59), so ist diese Zielsetzung auch heute aktuell. Aufgrund der damaligen Konstruktion der Parteiführung galt die Bundespar­tei als dazu nicht in der Lage. In den 70er Jahren entwickelte sich das CDU­Präsidium - so jedenfalls Schönbohm - "zur zentralen Koordinationsin­stanz, das alle wichtigen Gesetzesvorhaben auf Bundesebene sowohl unter in­haltlichen wie auch strategisch-taktischen Gesichtspunkten erörterte und -häufig mit den Ministerpräsidenten oder den jeweils zuständigen Fachmini­stern der Länder - die politische Linie festlegte. Dieselbe Funktion nahm das Präsidium gegenüber der CDU /CSU-Bundestagsfraktion wahr, de:ren Vorsit­zender regelmäßig im Präsidium über Gesetzesinitiativen, Große Anfragen etc. der Bundestagsfraktion berichtete, so daß eine Abstimmung der Auffas­sungen zwischen Partei und Fraktion möglich wurde" (Schönbohm 1985, 136).

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Schönbohm ist der Ansicht, die Parteiorganisation der CDU habe sich seit 1976 als "Instrument zur politischen Diskussion und Entscheidungsfindung" (Schönbohm 1985, 77) entwickelt. Ist das aber wirklich der Fall, und blieb sie es nach der Rückkehr an die Regierung im Herbst 1982? Die Aussagekraft der von Schönbohm angeführten Beispiele - Ausarbeitung des Berliner Partei­programms (S. 77 ff.) sowie die Kooperation bei der Führung von Wahlkämp­fen (S. 136f.) - ist jedenfalls begrenzt. Auch die Dauerspannung zwischen Kohl und seinen Generalsekretären Biedenkopf und Geißler im Hinblick auf das Selbstverständnis der Partei - bereits während der Oppositionsphase der CDU und erst recht nach ihrer Rückkehr an die Regierung - berechtigt zu Zweifeln, war sie doch nicht nur Resultat einer ämterbedingten Arbeitstei­lung". Daß es in der Oppositionszeit zu einer Intensivierung der innerparteili­chen Konsultationsintensität kam (Schönbohm 1985, 159), entkräftet diese Einwände nicht, zumal die politische Bedeutung solcher Konsultationsergeb­nisse nach 1982 gewiß nicht zugenommen hat. Im Gegenteil: Ende der 80er Jahre war in den lokalen Parteiverbänden Kritik an der Politik der Bundesre­gierung und ohnmächtiges Mißtrauen gegenüber der Parteiführung sehr ver­breitet.

Die Handlungsfahigkeit von Gremien mit starken inneren Gegensätzen ist begrenzt. Aber auch wenn diese weniger ausgeprägt wären, als sie es häufig sind, scheint es mir fraglich zu sein, ob Vorstellungen, wie sie etwa Geißler, Blüm und Frau Süßmuth im Herbst 1989 im Hinblick auf das CDU-Präsidium entwickelten, realisierbar sind: das Parteipräsidium müsse bei allen wichtigen Personalfragen der CDU und zur Vorbereitung personeller Entscheidungen in der Bundesregierung, der Bundestagsfraktion und der EG ,rechtzeitig' betei­ligt werden. Vor wichtigen Entscheidungen der Regierung und der Koalition sei eine Meinungsbildung im Präsidium herbeizuführen, soweit nicht der Bundesvorstand damit befaßt werde (Rühe: Das CDU-Präsidium ist kein Ka­binett, in: FAZ, 9. 10. 1989, S. 6).

Ob das Präsidium in seiner relativ kurzen Sitzungszeit alle diese Funktionen wahrnehmen könnte, selbst wenn es noch häufiger zusammenträte und seine Mitglieder sich ihren Parteiführungsaufgaben stärker widmen könnten (was eher unwahrscheinlich sein dürfte), scheint mir fraglich zu sein. Und wäre es überhaupt wünschenswert? Die "parteienstaatlichen" Strukturen in der Bun­desrepublik sind gewiß nicht unterentwickelt und werden in zunehmendem Maße von staatsrechtlicher (vgl. etwa von Arnim 1990) und politikwissen­schaftlicher Seite (vgl. zuletzt Wildenmann 1989) kritisiert. Wenn auch kon­struktive Alternativen mit Realisierungschancen weitgehend fehlen, so sollte doch wenigstens vermieden werden, eine problematische Entwicklungsrich­tung noch zu forcieren.

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Literatur

von Amim, Hans Herbert, 1990: Entmündigen die Parteien das Volk? Parteienherrschaft und Volkssouveränität, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 21/90.

Brandt, WiIly, 1976: Begegnungen und Einsichten, Hamburg. Buchstab, Günter (Bearb.), 1986: Adenauer: "Es muß alles neu gemacht werden." Die Protokolle

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ter (Hrsg.): Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, 158-198. Mintzel, AlflHeinrich Oberreuter (Hrsg.), 1990: Parteien in der Bundesrepublik Deutschland,

Bonn. Renzsch, Wolfgang, 1989: Föderale Finanzbeziehungen im Parteienstaat. Eine Fallstudie zum

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sation und Apparat 1950-1980, Stuttgart. Wildenmann, Rudolf, 1989: Volksparteien. Ratlose Riesen? Baden-Baden.

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Informelle Entscheidungsmuster in Bonner Koalitionsregierungen

Wolfgang Rudzio

Wo fallen politisch brisante Entscheidungen tatsächlich? In einem parlamenta­rischen Regierungssystem wie dem der Bundesrepublik Deutschland könnte man ein politisches Entscheidungszentrum zunächst vor allem im Kabinett bzw. beim Bundeskanzler als den von der Verfassung intendierten politischen Steuerungsinstanzen vermuten.

Die Selbstverständlichkeit dieser Antwort verliert sich jedoch, wenn man unter dem Begriff "Entscheidung" nicht notwendigerweise den formlich­rechtsverbindlichen Beschluß durch ein zuständiges Verfassungsorgan, son­dern auch eine informelle Entscheidung versteht, sofern sich diese dann nur durchsetzt und zu entsprechenden, rechtlich verbindlichen Beschlüssen zu­ständiger Verfassungsorgane führt. Entscheidung meint also den Vorgang, bei dem sich politische Akteure auf eine bestimmte Problemlösung einigen, die daraufhin auch von Kabinett, Bundestag und Bundesrat übernommen wird.

Dies impliziert zugleich eine Eingrenzung auf den Abschluß des tatsächli­chen Willensbildungsprozesses. Vorangehende Entscheidungsprozesse bei einzelnen, auch bedeutenden Akteuren wie etwa der Fraktionsführung der Kanzlerpartei, bleiben außer Betracht; denn ihr Ergebnis stellt im Falle von Koalitionsregierungen normalerweise nur einen Beitrag zum Gesamtwillens­bildungsprozeß, nicht aber dessen Ende dar. Eine zweite Einschränkung der Thematik ergibt sich daraus, daß hier nur nach "brisanten" Entscheidungen gefragt wird. Als solche sollen pragmatisch die gelten, bei denen der Fortbe­stand einer Regierung auf dem Spiele steht oder zumindest ihr Zusammenhalt erheblich belastet werden kann. Außerhalb des Blickfeldes bleiben also regie­rungsintern unumstrittene und zweitrangige Entscheidungen.

Unter diesen Prämissen betrachtet, entspricht der Ort politischer Entschei­dung in der Bundesrepublik zumindest häufig nicht der eingangs formulierten Erwartung. Was das Bundeskabinett betrifft, hat kürzlich Müller-Rommel zu­sammenfassend festgestellt: "Decisions are approved, rather than made, by the cabinett" (Müller-RommeI1988: 166). Ebensowenig sucht die neuere Li-

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teratur zur "Kanzlerdemokratie" (Haungs 1986, Haungs 1989, Jäger 1988, Küpper 1985, Niclauß 1988, Schwarz 1989 u.a.) mit diesem Begriff den Typus der einsamen Kanzlerentscheidung zu postulieren oder zu beschreiben -selbst wenn Hans-Peter Schwarz zu dem Ergebnis kommt, daß Adenauer doch bis 1961 "jene Entscheidungsprozesse dominiert hat, die er für wichtig hielt und dominieren wollte" (Schwarz 1989: 16f.).

Wo also wird tatsächlich entschieden, wer ist beteiligt? Bei dem Bemühen um eine Antwort stößt man auf eine allgemein magere, für manche Abschnitte der Geschichte der Bundesrepublik auch unzureichende Informationslage. Dies spiegelt sich auch in der folgenden Darstellung wieder, die für die Zeit bis 1979 auf Literatur - unter Einschluß eigener Arbeiten - basiert, für die Folgezeit bis 1989 auf einer eigenen laufenden Untersuchung, die sich jedoch noch in den Anfangen befindet und bisher noch auf eine Auswertung von pu­blizistischem Material und wissenschaftlicher Literatur beschränkt ist. Un­schärfen und ergänzungsbedürftige Lücken erklären sich von daher. Dennoch - für weite Abschnitte der Entwicklung lassen sich doch die wichtigsten Ent­scheidungsträger benennen und Entscheidungsstrukturen in Umrissen nach­zeichnen.

Dies gilt zunächst für die frühen Koalitionsregierungen unter Adenauer: die knappe Mehrheitskoalition von eDU / esu, FDP und DP während der Ersten Legislaturperiode, dann die um den BHE erweiterte übergroße Koalition von 1953, schließlich die eDU / eSU-DP-Koalition von 1957, die im Zeichen der absoluten Mehrheit der Union stand. Die Literatur über jene Zeit, insbeson­dere die materialreiche Untersuchung von Küpper, arbeitet allerdings nicht immer die hier interessierenden Aspekte heraus.

Informelle koalitionsinterne Kommunikations- und partiell Entscheidungs­strukturen bildeten sich, bezeichnenderweise auf Drängen der im Kabinett schwächer vertretenen kleineren Koalitionspartner, bereits ab Ende 1949 her­aus. Im wesentlichen kann man für die Jahre 1949 -57 drei informelle Kom­munikationsebenen unterscheiden, die über Zwiegespräche hinausreichten:

1. "Üblich" war, wie Erich Mende in Übereinstimmung mit anderen Ge­währspersonen berichtet, während der beiden ersten Wahlperioden die Teilnahme von Vertretern der Koalitionsfraktionen an wichtigen Kabinetts­sitzungen (Küpper 1985: 154). Küpper weist pro Jahr bis zu 13 derartiger Fälle (so für 1950) nach. Diese gemeinsamen Sitzungen von Kabinett und Fraktionsspitze vereinigten zwar nahezu alle einflußreichen Koalitions­partner, stellten jedoch wegen ihrer übergroßen Teilnehmerzahl kaum ent­scheidungsfähige Treffen dar, welche ohne Vorentscheidungen zu Lösun­gen hätten gelangen können.

2. Daneben fanden wöchentlich Treffen der Fraktionsspitzen statt. Übliche Teilnehmer an diesem sogenannten "Koalitionsausschuß" waren während

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der 1. Wahlperiode: von Brentano, Krone, Schröder, Gerstenrnaier (CDU), Strauß (CSU), Schäfer, Preusker, Mende, Euler (FDP), Mühlen­feld und von Merkatz (DP). Der Koalitionsausschuß, der kaum publizisti­sches Interesse erweckte, fungierte als "Abstimmungsinstrument zwi­schen den Mehrheitsfraktionen" für die parlamentarische Arbeit (Küpper 1985: 151 ff.). Eine Funktion als politisches Entscheidungszentrum konnte er schon wegen der fehlenden Beteiligung von Regierungsmitgliedern nicht ausüben.

3. Hiervon lassen sich zusammenfassend Koalitionsgespräche unterscheiden, an denen sowohl Kabinettsmitglieder als auch Mitglieder der Fraktionsfüh­rungen teilnahmen. Allerdings deutet eine nähere Betrachtung dahin, daß es sich dabei offenbar größtenteils um Besprechungen des Bundeskanzlers allein mit den Fraktionsspitzen handelte, daneben um Verhandlungen des Bundeskanzlers mit den Fraktionsspitzen (gelegentlich ergänzt um thema­tisch engagierte sonstige Koalitionsabgeordnete) unter Beteiligung "the­matisch betroffener Minister". Derartige, unregelmäßig stattfindende Koa­litionsgespräche dienten nach Küpper dazu, auch "Konflikte" und "wich­tige Fragen der Regierungspolitik" zu behandeln (Küpper 1985: 156), d.h. Themen wie Finanzen, Steuern, Kriegsopferversorgung, Wehr- und Au­ßenpolitik.

An diesem Adenauerschen Koalitionsmanagement fällt auf, daß es in ihm keine entscheidungsfähige Gruppe der einflußreichsten Koalitionspolitiker gab. Politisch gewichtige Minister sahen sich von den Fraktionsspitzen getrennt, wenn man von den gemeinsamen Sitzungen des Gesamtkabinetts mit Fraktions­vertretern absieht. Bemerkenswert ist ferner die nahezu marginale Rolle der Vorsitzenden der Koalitionsparteien der CDU, die sich teils im Kabinett wie Fachminister behandelt (so Blücher und zunächst Hellwege) wiederfanden, teils als Landespolitiker im informellen Koalitonssystem gänzlich unberück­sichtigt bleiben (so Ehard, Seidel, später auch Hellwege), teils als bloße Frak­tionsvertreter (so Dehler) fungieren durften. Kraft (BHE) schließlich übernahm die mißliche Rolle eines Sonderministers. Alles in allem tritt so eine Schlüssel­stellung des Bundeskanzlers im informellen Koalitionssystem zutage.

Das Kabinett andererseits, ohnehin zahlenmäßig eher zu groß und mit poli­tisch Ungleichgewichtigen besetzt, von Adenauer eher als "Ansammlung von Experten" betrachtet (Lederer 1967: 102), kam als diskutierendes Kollegium unter ihm kaum zur Entfaltung (Domes 1964: 172; Schöne 1968: 165); es bil­dete nicht das Entscheidungszentrum der Koalition. Dieses hat man vielmehr in der Person des Bundeskanzlers sowie - partiell - in den Koalitionsgesprä­chen zu sehen.

Bereits mit dem Wahlergebnis von 1953, vollends dann mit der absoluten CDU / CSU-Mehrheit von 1957 verringerte sich der koalitionsinterne Eini-

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gungsdruck für die Union. Immer weniger waren daher von Koalitionsgre­mien Einschränkungen des Handlungsspielraumes von Kanzler und Kabinett zu erwarten, sondern aus der Union selbst. Tatsächlich hat Domes in seiner Untersuchung über "Bundesregierung und Mehrheitsfraktion" einen infor­mellen Kreis von 6-7 Kabinettsmitgliedern und 7 -10 sonstigen Fraktionsmit­gliedern der Union ausgemacht, den er als das "bedeutsamste politische Ent­scheidungszentrum" der Jahre 1953-61 bezeichnet; zumindest 118 Sitzungen dieses Kreises ließen sich feststellen (Domes 1964: 162ff.).

Ein neuer Abschnitt der Koalitionspolitik setzte 1961 mit Bildung der eDU / eSU-FDP-Koalition ein. Diese Koalition stand, nach den Koalitions­konflikten von 1956 und dem Versuch der FDP, Adenauer 1961 aus dem Kanz­leramt zu drängen, von Anbeginn an unter psychologischen Belastungen. Zu­dem hing die Regierungsmehrheit von jeder der beiden Koalitionsfraktionen ab, und seit 1956 hatte die FDP nachgewiesen, daß sie auch in der Opposition zu überleben vermochte. Kühles Bargaining war angesagt.

Während man 1949 und 1953 Koalitionsvereinbarungen durch Briefwechsel der Parteivorsitzenden und anscheinend ohne besondere Detailfestlegungen getroffen hatte (Küpper 1985: 79, 242), setzte demgemäß 1961 die FDP einen förmlichen Koalitionsvertrag durch. Dieser enthielt auch Regelungen zum Koalitionsmanagement: Nach ihm waren alle Gesetzentwürfe einem Koali­tionsmanagement "zuzuleiten", bevor sie im Kabin€:tt bzw. im Bundestag ein­gebracht würden. Darüber hinaus wurde der Koalitionsausschuß als Ort be­zeichnet, wo man bei koalitionsinternen Differenzen "einen für beide Teile gangbaren Weg zu finden" habe (Wortlaut in FAZ: 4.11. 61). Auch wenn die FDP mit einer weitgehenden Forderung nach einer expliziten Beerdigung al­ler Gesetzentwürfe, die der Koalitionsausschuß ablehne, nicht durchdrang und man dessen Rolle bei der Union herunterzuspielen suchte,. wird damit die zumindest von der FDP dem Koalitionsausschuß zugedachte Rolle als koali­tionsinternes Entscheidungszentrum sichtbar.

Dahinter stand nicht allein das Interesse der FDP als des kleineren Koali­tionspartners, der im Kabinett nicht überstimmt werden wollte, sondern auch die besondere Lage des eigentlichen Wahlsiegers von 1961, des FDP­Parteivorsitzenden Mende, der nicht gemeinsam mit Adenauer auf der Regie­rungsbank sitzen wollte und sich daher über den Koalitionsausschuß eine Mit­entscheidung versprochen haben dürfte. Auch der Text der Koalitionsverein­barung deutete, wenn man eine gewisse Zurückhaltung der Formulierungen angesichts der zu jener Zeit bereits virulenten verfassungsrechtlichen Kritik am Koalitionsausschuß-Regime unter der Großen Koalition in Österreich in Rechnung stellt (vgl. Rudzio 1970: 214ff.), eher in die gleiche Richtung.

Allerdings entsprach die Zusammensetzung des Koalitionsausschusses der­artigen Erwartungen oder Absichten nicht. Denn mit den Fraktionsvorsitzen­den, deren Stellvertretern und Parlamentarischen Geschäftsführern allein als

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Mitgliedern vereinigte er zu wenig politisches Durchsetzungspotential - man denke nur an Adenauer, Schröder, Erhard und Strauß, die als Regierungsmit­glieder ihm nicht angehörten. Insofern stellte der Ausschuß nur einen Nach­folger seines gleichnamigen Vorgängers aus der Frühzeit der Bundesrepublik dar. Das Fehlen eines effektiven koalitionsinternen Schlichtungs- und Ent­scheidungsgremiums, das zumindest Adenauer, Mende und Strauß - neben anderen - hätte umfassen müssen, machte sich bald in divergent.em Abstim­mungsverhalten der Koalitionspartner bemerkbar, so in den Fällen Röhrenem­bargo (18. 3. 62), Autozölle (18.5.62) und Fibag-Gericht (26.6.62).

Die zunehmende Misere der Koalition führte daher im Juli 1962 zu einer größeren "Friedenskonferenz" der Koalitionspartner im Palais Schaumburg, an der unter Vorsitz des Bundeskanzlers eine Reihe Kabinettsmitglieder, Frak­tionsvertreter sowie CDU-Geschäftsführer Dufhues teilnahmen., insgesamt etwa sechzehn Personen. Auf ihr zog man strukturelle Konsequenzen für das Koalitionsmanagement. Man vereinbarte, zusätzlich zum interfraktionellen Koalitionsausschuß etwa alle 14 Tage in "Koalitionsgesprächen" zusammen­zukommen, an denen Kabinettsmitglieder und Fraktionsvertreter teilnehmen sollten. Dem Koalitionsausschuß wies man die Aufgabe zu, Gesetzentwürfe zwischen den Koalitionsfraktionen laufend abzustimmen. "Grundsatzent­scheidungen", so hieß es jedoch bezeichnenderweise in einem Bericht der Deutschen Zeitung, "und andere politische Fragen - beispielsweise die Fibag-Affare - sollen aber von Anfang an auf der höheren Ebene vorbereitet und behandelt werden" (DZ: 13.7.62; Welt: 12.7.62)

Unverkennbar war in den neu geschaffenen "Koalitionsgesprächen" genü­gend politische Autorität vereinigt. Das auf diese Weise veränderte Koali­tionssystem erhielt sich über den Kanzlerwechsel von Adenauer zu Erhard. Unter letzterem scheint lediglich das Kabinett, dem nun auch Mende ange­hörte, ein etwas stärkeres Eigengewicht gewonnen zu haben. Die FDP be­harrte jedoch auch unter Erhards Kanzlerschaft mehrfach auf einer Behand­lung von Themen in den Koalitionsgesprächen statt im Kabinett. Über die Kabinetts- und Fraktionsebene hinaus nahmen an Koalitionsgesprächen der Folgejahre auch Parteirepräsentanten wie Landesinnenminister Weyer und Bundesgeschäftsführer Dufhues teil. Das Fernbleiben Adenauers und die Zu­rückhaltung von Strauß fielen angesichts deren politischer Lage weniger ins Gewicht. Die eigentliche Problematik der Gespräche bestand vor allem in ei­ner Tendenz zur Übergröße. Gerade in krisenhaften Situationen scheint sich der Teilnehmerkreis bedenklich aufgebläht zu haben - so etwa bei jenem letzten fruchtlosen Koalitionsgespräch, mit dem die Koalition 1966 endete: Nicht weniger als vierzehn Unionsvertreter und acht FDP-Vertreter saßen da­mals einander gegenüber (FAZ u. SZ: 26.10.66).

Bei Bildung der Großen Koalition 1966 kamen die Verhandlungskommis­sionen überein, die künftige Bundesregierung "zugleich auch als Koalitions-

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beschluß fungieren" zu lassen, wie man in der Presse zusammenfaßte (Saarbr. Z.: 29. 11.66). Koalitionsinterne Konflikte sollten im Kabinett selbst gelöst, brisante Entscheidungen dort getroffen werden. Den Fraktionsführungen blieb danach nur die Aufgabe, den Absichten der Regierung im Parlament Un­terstützung zu geben (SZ: 29. 11. u. 1. 12.66; Augs. Allg.: 29. 11.66). Günstige Bedingungen für dieses Konzept schienen:

- die annähernde Parität der Koalitionspartner im Kabinett, - die stärkere Entwicklung von Kabinettsausschüssen, - schließlich der Versuch, möglichst alle einflußreichen Politiker der Koali-

tionsparteien in die Regierung einzubeziehen (Saarbr. Z: 29. 11.66), in ihr eine "Titanenmannschaft" zu sammeln (zit. nach Niethammer 1968: 55).

Dieses kabinettzentrierte Entscheidungssystem erwies sich jedoch nur bis zum Sommer 1967 als funktionstüchtig. Der kritische Punkt, von dem aus sein Zerfall einsetzte, bestand in der den Fraktionsführungen zugedachten bloß exekutiven Rolle. Das politische Gewicht der Fraktionsvorsitzenden ver­stärkte sich in dem Maße, in dem die Regierungsmitglieder, absorbiert durch Regierungsgeschäfte, die Kommunikation zu den Fraktionen nicht mehr in optimalem Umfang aufrechterhalten konnten und die Folgebereitschaft der Abgeordneten nachließ. Spätestens bei der beabsichtigten Kürzung der Ren­tenversicherungszuschüsse, als sich die sozialdemokratische Fraktionsfüh­rung auf die Seite rebellierender Abgeordneter schlug und dies eine klare Ab­stimmungsniederlage der Regierung zur Folge hatte (HB: 14.6.67; Spiegel: 26.6.67), wurde ein Scheitern jenes Entscheidungssystems absehbar.

Die Lösung, die daraufhin bei einem Treffen am 29. August 1967 in Kreß­bronn gefunden wurde, bestand in der Etablierung des inzwischen legendären "Kreßbronner Kreises". Dieser bestand aus einflußreichen Mitgliedern von Regierung und Fraktionsführungen, anfanglich Kiesinger, Brandt, Wehner, Heck, Barzel, Schmidt und Stücklen, dann, nach vorübergehender Autblä­hung und Krise des Kreises, ab Februar 1969 aus vier Kabinettsmitgliedern (Kiesinger, Strauß, Brandt, Wehner) und vier Fraktionsrepräsentanten (Bar­zel, Stücklen, Schmidt, Möller). Abgesehen von einer Phase der Aufblähung und Formalisierung (Protokollierung, Teilnahme von Staatssekretären) des Kreises im Jahre 1968 stellte er damit eine günstige Ausbalancierung zwi­schen der Entscheidungsfahigkeit eines kleinen Gremiums und akkumulierter politischer Autorität dar.

Der Kreis fungierte tatsächlich als Entscheidungszentrum: Er bereinigte koalitionsinterne Konflikte, wurde bei politisch brisanten Gesetzgebungsma­terien dem Kabinett vorgeschaltet und behandelte die gesetzgeberischen Pla­nungen. Die in ihm erreichten Einigungsformeln besaßen einen hohen Grad faktischer Verbindlichkeit gegenüber Kabinett und Fraktionsführungen sowie - über letztere vermittelt - Koalitionsfraktionen. Sein wöchentlicher Ta-

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gungsrhythmus deutet zudem auf eine laufende Einschaltung in Gesetzgebung und Tagespolitik (Rudzio 1972: 356ff.).

Nach dem intensiven Koalitionsausschuß-Regime während der Großen Koalition ist offenbar die sozialliberale Koalition in ihren Anfangen mit gerin­geren Verlagerungen auf informelle Gremien ausgekommen. Nach Wewer ha­ben die sozialdemokratischen Kanzler Brandt und Schmidt die Abstimmung mit dem kleineren Koalitionspartner ohne feste Koalitionsgremien praktiziert (Wewer 1990: 147). Allerdings erlauben die eher sporadischen Einzelhinweise in der Literatur (insbesondere bei Brauswetter 1976) derzeit kaum weiterge­hende Aussagen. Für die Spätphase jener Koalition jedoch - vom Jahre 1979 an -läßt sich ein informelles Entscheidungssystem der Koalition nachweisen. Es bestand aus vier Ebenen:

1. Die interfraktionelle Ebene: Diese manifestierte sich in wöchentlichen Treffen der Fraktionsvorsitzenden Wehner und Mischnick zusammen mit weiteren Mitgliedern der Fraktionsspitzen. Soweit erkennbar, wurden bei diesen Besprechungen im wesentlichen Fragen des parlamentarischen Vor­gehens sowie Probleme behandelt, die für den Koalitionszusammenhalt se­kundär waren (PPP: 7.5.79; SZ: 15.9.82).

2. Auf der Parteiebene fanden unregelmäßig und mit größeren Abständen Ge­spräche zwischen den Parteivorsitzenden Brandt und Genscher statt. Sie dienten, von Ausnahmen abgesehen, nicht der Entscheidung über konkrete Punkte, sondern eher einer Annäherung in manchen Fragen (wie Nachrü­stung oder Haushalt) und vor allem der atmosphärischen Konfliktbereini­gung in der Koalition. Gerade angesichts der zunehmenden Belastung des sozialliberalen Bündnisses durch die rezessive wirtschaftliche Entwick­lung, auch in Anbetracht der Abkühlungen des menschlichen Verhältnisses zwischen Kanzler und Vizekanzler kam diesen Gesprächen zuweilen ein koalitionskittender Charakter zu (StN: 4.6.80; Welt: 5.9.81; Spiegel: 3.8.81). Dem verzweifelten Versuch, einen Vorrat an Gemeinsamkeiten aufzuspüren und damit neue Perspektiven für die Koalition zu finden, dienten schließlich 1982 einige Gespräche zwischen den Bundesgeschäfts­führern der Koalitionsparteien, Glotz und Verheugen (HAZ: 8.5.82; FR: 11.8.82).

3. Innerhalb der Bundesregierung fanden selbstverständlich Gespräche zwi­schen Kanzler und Vizekanzler statt, nach den bisher gesammelten Unter­lagen von einiger Bedeutung bei Personalfragen, doch eher selten zu Eini­gungen bei relevanten Differenzen führend. Besonders bemerkenswert ist die fehlende Regelmäßigkeit und geringe Häufigkeit dieser Gespräche. Be­zeichnenderweise besaß bereits der einzelne Gesprächstermin einen Nach­richtenwert (WK: 6.5.82). - Daneben wurde in einzelnen Fällen die Ka­binettsitzung durch Teilnahme von Mitgliedern der Fraktionsführungen

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und einzelner, thematisch engagierter Abgeordneter erweitert (Zeit: 23.2.79).

4. Das informelle Entscheidungszentrum der Koalition wurde jedoch durch das "Koalitionsgespräch" gebildet. Es firmierte in der Presse nicht selten auch als "Koalitionsrunde". An ihm nahmen Spitzenpolitiker aus dem Ka­binett, den Fraktionsführungen und den Parteiorganisationen teil: Schmidt und Genscher als Kanzler und Vizekanzler, Wehner und Mischnick als Fraktionsvorsitzende, Matthöfer (bzw. in der Endphase Lahnstein) und Lambsdorff als Bundesminister, Brandt als Parteivorsitzender sowie Bahr (bzw. dann Glotz) und Verheugen als Bundesgeschäftsführer der Koali­tionsparteien. Hinzu traten je nach Verhandlungsthema weitere betroffene Minister wie Westphal, Huber, Ehrenberg oder Baum; ebenso Haushalts­oder Sozialexperten der Bundestagsfraktionen. Die Fraktionsvorsitzenden sind gelegentlich durch den Stellvertretenden SPD-Fraktionsvorsitzenden Löffler bzw. die Parlamentarischen Geschäftsführer Linde (SPD) und Gärtner (FDP) vertreten worden. Andererseits konnte der Kreis auch auf eine engere Kerngruppe zusammenschrumpfen, zu der nur Schmidt, Brandt, Wehner, Genscher und Mischnick gehörten (u.a. SZ: 14.4.80; SZ: 2.9.81; Spiegel: 7.9.81; StZ: 7.5.82; WK: 8. 6.82; GA: 1. 7.82; Westf. R.: 26.8.82).

Der Gegenstand der Verhandlungen reichte von außenpolitischen Fragen wie dem Olympiaboykott, der Nato-Nachrüstung und Wirtschaftssanktionen gegen Iran über die Aufarbeitung öffentlicher koalitionsinterner Kontroversen bis zu den die Koalition ab Ende 1980 immer mehr in Anspruch nehmenden Problemen der Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie des Haushaltsausgleichs. Da die FDP Steuererhöhungen und massiveren Schuldenaufnahmen entge­genstand, wurden Kürzungen zum zentralen Dauerthema in der Endphase der Koalition: Kürzungen des Arbeitslosengeldes, Karenztage bei der Lohnfort­zahlung, Ergänzungsabgabe für Besserverdienende, Einkommensgrenzen beim Kindergeld, Krankenversicherungsbeitrag der Rentner und Möglichkei­ten einer aktiven Beschäftigungspolitik gehörten daher zu den umstrittenen Themen jener Jahre. Relativ stark setzten sich bei ihnen die Freien Demokra­ten durch, die im Unterschied zu den Sozialdemokraten geschlossener auftra­ten (z.B. Spiegel: 7.9.81) und einen alternativen Koalitionspartner zur Verfü­gung hatten.

Das Koalitionsgespräch fungierte dabei als maßgebliche informelle Ent­scheidungsinstanz. Deutlich wurde dies vor allem darin, daß es üblicherweise montags bzw. später zu unterschiedlichen Terminen dienstags oder mittwochs im Kanzlerbungalow oder Kleinen Kabinettsaal vor Kabinettsitzungen statt­fand und seine Entscheidungen dann vom Kabinett bzw. betroffenen Ministe­rien übernommen wurden. "Kabinettsvorlagen sind in der Regel entschei-

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dungsreif', resümierte "Die Zeit" und meinte damit, daß sie im Kabinett nicht mehr umzustoßen seien (Zeit: 23.2.79). Bei krisenhaften Koalitionsge­sprächen 1981 und 1982 verschob man gelegentlich bereits anberaumte Kabi­nettsitzungen, da die Koalitionsrunde noch zu keinem Komprorniß gelangt war; wartende Minister wie Apel mochten sich dann im Park mit Kollegen über die Freuden des Segelns unterhalten.

Alles in allem: Die Bundesregierung exekutierte die Entscheidungen des Koalitionsgesprächs, ebenso wie die Koalitionsfraktionen die dort gefundenen Kompromisse mittrugen - im Falle der SPD-Fraktion gelegentlich zähne­knirschend und mit Gegenstimmen in der Fraktion (DE: 12.9.81).

Die ausschlaggebende Rolle des Koalitionsgesprächs wird noch dadurch unterstrichen, daß seine personelle Zusammensetzung exakt der Zusammen­setzung der Verhandlungskommissionen entsprach, welche die Koalitionsver­einbarungen von 1980 aushandelten; wenn anstelle von Lambsdorff damals der FDP-Abgeordnete Hoppe teilgenommen hat, dürfte er dabei den ersteren vertreten haben, so wie bei einer weiteren Koalitionsverhandlung Brandt durch Wischnewski vertreten wurde (FR u. SZ: 7. / 10. 80; StZ: 28. 10.80). Die gleiche Personengruppe, welche 1980 die Neuauflage der sozialliberalen Re­gierung geschaffen hatte, übte somit weiterhin eine politische Vormund­schaftsrolle über sie aus. Bundeskanzler Schmidt erscheint in diesem Rahmen entgegen einem teilweise in der Öffentlichkeit vermittelten Bild keineswegs als die führende Figur, sondern als ein in informelle kollektive Entscheidun­gen voll eingebundener Koalitionskanzler. Einflußreicher und aktiver als viel­fach wahrgenommen wirkt hingegen der SPD-Vorsitzende Brandt dank seiner Rolle im informellen Entscheidungsprozeß.

Im Vergleich zur sozialliberalen Entscheidungspraxis weist das informelle Entscheidungssystem der christlich-liberalen Bundesregierung ab 1982 mehr Unklarheiten auf, wirkt diffiziler auch infolge der größeren Zahl der Koali­tionspartner und der Schwierigkeiten bei der Integration des CSU­Vorsitzenden Strauß in den Entscheidungsprozeß. Auch sind die Untersuchun­gen noch nicht weit genug fortgeschritten, um alle Veränderungen im Zeitab­lauf präzise zu benennen. Ungeachtet dessen ließen sich auch in der neuen Ko­alition bald mehrere Ebenen informeller Entscheidungspraxis ausmachen:

1. Innerhalb der Regierung lassen sich zumindest für die frühen Jahre relativ häufige Gespräche zwischen Kanzler Kohl und Außenminister Genscher feststellen, die bis 1985 zugleich auch Vorsitzende von zwei der drei Koali­tionsparteien waren. Wie es scheint, sind in diesen Gesprächen Einzelfra­gen entschieden oder vorgeklärt worden; zentrale, koalitionsintern um­strittene Angelegenheiten aber sind im Hinblick auf die CSU auf diese Weise nicht abschließend zu entscheiden gewesen. Eine gelegentliche Be­teiligung von Vertretern der Fraktionsführungen an Kabinettsitzungen ist

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zu vermuten, ohne daß dieses Verfahren eine zentrale Bedeutung für den koalitionsinternen Entscheidungsprozeß gehabt haben kann.

2. Neuartig waren zunächst die meist als "Koalitionsgespräche" (zuweilen als "Koalitionsrunde") bezeichneten Treffen, wie sie mit der Kanzlerschaft Kohls einsetzten. Sie stellten nämlich im Ausgangspunkt nur eine Fortfüh­rung der um Kanzler und Vizekanzler erweiterten traditionellen interfrak­tionellen Kommunikation dar. Mitte 1983 konnte man daher neben Kohl und Genscher zu diesem Kreis zählen: Die Fraktions- bzw. Landesgrup­penvorsitzenden Dregger, Mischnick und Waigel sowie die Parlamentari­schen Geschäftsführer Schäuble (CDU), Wolfgramm (FDP) und Bötsch (CSU) (FAZ: 22.6.83). Üblich wurde es, daß der Bundeskanzler darüber hinaus wechselnd weitere Politiker hinzuzog (SZ: 1. 10.84), so Blüm, Stol­tenberg und Lambsdorff (StZ: 6.6.84). Später, 1987, traten hier auch die Minister Zimmermann und Haussmann in Erscheinung (WW: 4.9.87; FAZ: 16.9.87; StZ: 1. 10.87). Wenngleich dies wohl nicht für jede Sitzung galt, so herrschte beim Ver­gleich mit dem Koalitionsgespräch der ausgehenden sozialliberalen Ära zunächst der Eindruck vor, der Koalitionskreis habe "an Bedeutung verlo­ren" (Westdt. Allg.: 16.7. 83), abgewickelt werde dort häufig nur "das po­litische Tages-, respektive Wochengeschäft" (StZ: 6.6.84). Doch anderer­seits zeigen Berichte, daß auf dieser Ebene immer wieder auch zentrale po­litische Fragen wie die Steuer- oder die Gesundheitsreform 1987 / 88 behandelt wurden und eine Einigung über sie gesucht wurde. Insbesondere galt dies, wenn man als kleine Koalitionsrunde ohne Parlamentarische Ge­schäftsführer zusammentrat, so beispielsweise im Frühjahr 1988 in der Zu­sammensetzung Kohl, Kanzleramtsminister Schäuble, Stoltenberg, Zim­mermann, Tandler, Bangemann, Mischnick und Lambsdorff zum Thema Steuerreform (Vorwärts: 26.3.88). Das entscheidende Manko, unter dem derartige Gespräche freilich litten, war das Fehlen des CSU-Vorsitzenden Strauß. Immerhin - in vielen Fällen mochte aber das Wort der beteiligten und durch einen regelmäßigen "Jour fixe" mit Strauß rückgekoppelten CSU-Vertreter hinreichen, in Sachen Steuerreform erschien auch Strauß selbst im Bonner Koalitionsgespräch (FR: 22.2.84; SZ: 3.4.84, 12.12.84, 4.11.87). Bei Beteiligung politisch gewichtiger Minister bzw. des CSU-Vorsitzenden fungierte somit das Koalitionsgespräch durchaus als politisches Entscheidungszentrum.

3. Den von Strauß favorisierten Einflußkanal bildete jedoch von Anfang an die zwischenparteiliche Kommunikation. Eine Rolle spielten hier unregel­mäßige, im Abstand von vierzehn Tagen bis zu mehreren Monaten stattfin­dende Aussprachen zwischen Kohl und Strauß, ferner ab 1985 einige Tref­fen von fünf- bis sechsköpfigen Delegationen von CDU und CSU, auf de­nen man um eine gemeinsame allgemeine Marschroute in der Regierungs-

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politik rang. Letztlich konnten aber auf dieser Ebene, ohne den Koalitions­partner FDP, keine verbindlichen Entscheidungen getroffen werden; selbst unions intern trugen die Treffen mehr den Charakter von Aussprachen und allgemeinen Perspektivendiskussionen als den konkreter Beschlußfassung (FR: 8.6.85; FAZ: 11. 9.85 u. 15.11.85; Welt: 3.10.87; SZ: 28.2.89).

Strauß drang daher von Anfang an auf Dreier-Gespräche der Parteivorsit­zenden Kohl, Genseher und Strauß. Von den Vorsitzenden erwartete er bei der Regierungsbildung von 1983, sie "werden in Zukunft alle wesentlichen bun­despolitischen Fragen besprechen und abstimmen" (zit. nach Welt: 28.3.83). Angesichts, wie die Presse meinte, geringer Neigung hierzu bei Kohl wie der FDP kam es jedoch erst am 1.6.1983 zum ersten "Dreier-Gipfel" (RuhrN: 2.6.83), erst nach einem weiteren Jahr am 14.6.84 zum zweiten, wieder ei­nem dreiviertel Jahr später zu einem dritten Gipfel. Manche dieser Treffen blieben atmosphärisch reinigende Aussprachen, nicht zuletzt über Strauß be­sonders am Herzen liegende außenpolitische Fragen, mit mehr oder minder globalen Einigungsbekundungen als Ergebnis, manche "Elefantenrunden" (HB: 13.4.88) sind aber auch zu abschließenden konkreten Entscheidungen gelangt - so beispielsweise im Sommer 1985 über das Ausländer- und das Demonstrationsrecht (SZ: 14.6.85), so im Dezember 1987 über Einsparungen im Gesundheitswesen (HB: 4.12.87). Vielfach sah man daher im Regierungs­lager in diesen Treffen "die letzte Instanz, weil die dort gefaßten Beschlüsse kaum noch umzustoßen sind" (Tagessp.: 6.3.85).

Dieser Verbindlichkeitsgrad dürfte sich aber mit dem FDP-Vorsitz Bange­manns ab 1985 abgeschwächt haben, zumal Bangemann anscheinend auch mit unzureichender Rückkoppelung in seiner Partei operierte (Spiegel: 1.8.88). Das "Ende der Elefantenrunde" (Friedrich Karl Fromme) sah man dann je­denfalls mit dem Tode von Strauß heraufziehen (FAZ: 18.10.88); die vorlie­genden Daten erlauben jedoch noch kein Urteil in dieser Hinsicht.

Eine gewisse Effizienz wies dieses nicht ganz eindeutige Entscheidungssy­stem dennoch auf. Dies zeigt die Bewältigung solch umstrittener und komple­xer Fragen wie der Steuer- und der Gesundheitsreform, der Rechtspolitik, aber auch der Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes. Zu danken war dies der Einschaltung parteipolitisch gemischter kleiner Expertengruppen aus Ministern und Abgeordneten bzw. aus Staatssekretären, welche die Materie zu leicht abstimmbaren Optionsmöglichkeiten verarbeiteten (FR: 6. 10. 87; SZ: 21. 5. 85).

Im übrigen scheinen gerade der nicht stets eindeutige Charakter der Koali­tionsgespräche und die begrenzte Frequenz der "Elefantenrunden" Bundes­kanzler Kohl häufig einen eigenen Spielraum belassen zu haben. Bei aller not­wendigen Rücksichtnahme auf seine Koalitionspartner suchte er nicht in das Zwangskorsett eines effektiven und festen Entscheidungszentrum nach Art des

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Kreßbronner Kreises oder der Koalitionsgespräche der ausgehenden Ära Schmidt zu geraten. Verholfen hat ihm hierzu einmal, daß er die von ihm selbst bei der Regierungsbildung 1983 erweckte Erwartung nicht einlöste, der Kreis der damaligen zwölfköpfigen Verhandlungskommissionen, zu dem die Partei­vorsitzenden, Fraktionsvorsitzenden, Generalsekretäre der Koalitionspartner sowie Stoltenberg, Lambsdorff und Zimmermann gehörten, werde jeweils bei auftretenden Differenzen über die Regierungsolitik zusammengerufen werden (FR: 24.3.83). Kohls Spielraum wurde zudem durch seine Neigung vergrößert, vieles in Zwiegesprächen und in jeweils ad hoc unterschiedlich zusammenge­setzten Treffen zu verhandeln. Schließlich kam ihm die Entfernung zwischen München und Bonn zugute, nicht zuletzt die schwächer gewordene Repräsen­tanz der FDP durch Bangemann und Haussmann.

Dennoch bleibt ein großes Gewicht informeller Entscheidungszirkel auch in dieser Koalition festzustellen. "Fragt man", so berichtete Rolf Zundel im Ja­nuar 1989, "erfahrene Bonner Politiker nach den wichtigsten politischen Gre­mien, so rangieren bei allen die Koalitionsrunden auf Platz eins. Dort wird über den Inhalt der Regierungserklärung und über die strittigen Punkte der Gesetzgebung entschieden" (Zeit: 6.1. 89). Dieses Zitat mag als Ersatzbeleg für Interviews mit politischen Akteuren gelten. Darüber hinaus deuten die Tat­sache, daß die Bonner Koalitionsrunden meist vor Kabinettsitzungen stattfin­den und deren Beschlüsse "vorbereiten" (um nicht zu sagen: vorbestimmen) (Welt: 7.4.88), ebenso wie Klagen und Mißstimmungen bei Zurückgesetzten in die gleiche Richtung: Nach Jahren der neuen Koalition, nachdem die Bean­spruchung durch die Regierungstätigkeit eine Distanz zwischen führenden Entscheidungsträgern und Koalitionsabgeordneten hatte wachsen lassen, wur­den 1988 Rufe aus der eDU / eSU-Fraktion nach mehr Berücksichtigung laut, verbunden mit heftiger Kritik an der Rolle von Entscheidungszirkeln (Ta­gessp.: 12.7.88; FAZ: 16.7.88; NZZ: 22.9.88). Ähnlich fühlten sich auch Mitglieder des Kabinetts überfahren (FAZ: 16.7.88).

Im Ergebnis läßt sich zusammenfassend feststellen: Während der unter­suchten Zeiträume haben informale Strukturen das Kabinett, den Bundes­kanzler und die Regierungsfraktionen als Entscheidungsträger ergänzt. In mehr oder minder erheblichem Umfange verlagerte sich der tatsächliche Ort, wo brisante politische Fragen entschieden wurden, auf informelle Gremien, die sich angesichts des Koalitionscharakters der Bundesregierungen im weite­sten Sinne als Koalitionsausschüsse bezeichnen lassen. Neben Phasen, da Bundeskanzler (so Adenauer in Phasen vor 1961, vielleicht Kohl in seinen er­sten Jahren) oder Bundeskabinett (z.B. während der Anfange der Großen Koa­lition 1966-67) die Rolle eines Entscheidungszentrums ausfüllten, standen Zeiten dominanter informeller Entscheidungspraxis.

Im einzelnen können auf der Grundlage des präsentierten Materials fol­gende Thesen formuliert werden, deren Allgemeingültigkeit anhand empiri-

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scher Untersuchungen der Regierungspraxis in den Bundesländern und in an­deren westlichen Demokratien zu überprüfen wäre; die Verbreitung parla­mentarischer Regierungssysteme, kombiniert mit Verhältniswahlrecht und Koalitionsregierungen, vor allem in Europa, läßt ähnliche Koalitionsprakti­ken wie in der Bundesrepublik wahrscheinlich erscheinen (so beispielsweise in Österreich bis 1966: Rudzio 1971) und ermöglicht eine derartige Prüfung:

1. Als typisches Grundmuster informeller Entscheidungspraxis kann ein Ne­beneinander von

a) routinemäßiger interfraktioneller Koordinierung, b) mehr oder minder relevanten Treffen der Spitzen der Koalitionsparteien

und schließlich c) Koalitionsausschüssen (oder Koalitionsgesprächen) gelten, an denen so­

wohl führende Kabinettsmitglieder als auch Spitzenrepräsentanten der Ko­alitionsfraktionen und der Regierungsparteien teilnehmen. Bilden sich Gremien dieser Art voll aus, so fungieren sie als faktische Entscheidungs­zentren.

2. Die Entwicklung informeller Entscheidungsmuster in Regiemngskoalitio­nen tendiert in einem Lernprozeß nach anfänglich andersartigen Experimen­ten bei Beginn einer neuen Koalition dann zur Herausbildung eines dominie­renden und effektiven Koalitionsausschusses als Entscheidungszentrum. Diese typische Entwicklung dürfte sich auch daraus erklären, daß bei Koali­tionsbeginn ein größerer Vorrat an Gemeinsamkeiten und eine stärkere par­lamentarische Basis der Kabinettsmitglieder existiert und somit weniger Be­dürfnisse nach informellen Entscheidungsgremien bestehen.

3. Das primäre Interesse an der Etablierung informeller Entscheidungsin­stanzen liegt bei den kleineren Koalitionspartnern, die sich im Kabinett der Übermacht der führenden Partei gegenübersehen.

4. In der langfristigen Tendenz ist eine stärkere Berücksichtigung der Partei­organisationen im informellen Entscheidungsprozeß von Koalitionen zu beobachten.

5. Im Falle ausgebildeter informeller Entscheidungszentren wird dort - un­ter Beteiligung des Bundeskanzlers - über die Richtlinien der Politik ent­schieden, die dann von ihm übernommen und verkündet werden; ebenso fallen dort die Entscheidungen über politisch relevante Gesetzesvorhaben, während Kabinett und Koalitionsfraktionen eine exekutierende Rolle spie­len. Unbestritten seien jedoch Rückkoppelungen und antizipierende Reak­tionen auf die politische Basis. Bezeichnend für eine derartige, sich immer wieder herausbildende Verfassungswirklichkeit ist, daß sowohl Bundes­kanzler Schmidt als auch sein Nachfolger Kohl Rücktrittsdrohungen in und gegenüber informellen Entscheidungszirkeln ausgesprochen haben (Allg. Z: 3.2.82; Vorwärts: 26.3.88).

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Daß sich brisante Entscheidungen in dem dargestellten Umfange auf infor­melle Entscheidungszirkel verlagern, kann im übrigen kaum überraschen, wenn man die Anforderungen betrachtet, denen ein politisches Entschei­dungszentrum zu genügen hat.

Es muß zunächst in der Lage sein, Information aufzunehmen und zu verar­beiten. Dabei geht es nicht allein um sachliche Information, sondern vor allem auch um die auf den "sozialen" Aspekt einer Entscheidung bezogene Informa­tion (Robinson/Majak 1967: 181), d.h. hier solche über Interessenlagen, poli­tische Einstellungen und Kräfteverhältnisse. Erst diese Information ermög­licht es abzuschätzen, was politisch durchsetzbar ist und was nicht.

Die Entscheidungen müssen, wenn das Entscheidungszentrum seine Funk­tion ausüben soll, eine faktische Verbindlichkeit aufweisen. Eine hohe Chance sollte bestehen, daß sie sich anschließend auch in formell verbindliche Be­schlüsse der zuständigen Verfassungsorgane umsetzen. Damit eine entspre­chende Folgebereitschaft entsteht, ist es erforderlich, im Entscheidungsgre­mium ein hinreichendes Durchsetzungspotential, hinreichend politische Au­torität zu sammeln. Die Vorstellung, politische Entscheidungen lediglich als Resultanten von Kräfteparallelogrammen zu verstehen, die sich dann quasi selbsttätig durchsetzen, erscheint nämlich verfehlt; gegen sie spricht nicht al­lein die bewußte Gestaltungsintention politischer Akteure (die sich eben viel­fach nicht mit der Rolle des Wetterhahns zufriedengeben wollen, der nur die Windrichtung anzeigt), sondern auch die stets mehr oder minder unvollkom­mene sachliche und politische Informationslage, unter der Entscheidungen zu treffen sind (vgl. allgemein Mayntz 1963: 14Of.).

Schließlich muß ein politisches Entscheidungszentrum in begrenzter Zeit zu Entscheidungen über nicht selten komplexe Probleme gelangen. Dies erfor­dert intensive innere Kommunikation und spricht für einen möglichst kleinen Kreis von Beteiligten. Organisationssoziologische Betrachtungen, die diesen Gesichtspunkt ebenso wie den Aspekt der Durchsetzungsfähigkeit und Inter­essenrepräsentanz berücksichtigen, konvergieren daher dahin, die optimale Größe eines Entscheidungsgremiums allgemein bei sechs bis acht Personen anzusetzen (Bleicher 1969).

Legt man diese Anforderungen zugrunde, so fehlt es dem Bundeskanzler als Einzelperson in einem pluralistischen System normalerweise an hinreichen­der politischer Autorität für die Rolle des Alleinentscheiders. Trotz der Zuar­beit des Bundeskanzleramtes (König 1989) kann es ihm auch an hinreichender politischer Information, etwa über Stimmungen in Regierungsfraktionen und Koalitionsparteien mangeln. Die Bundesregierung als Kollektiv hingegen krankt daran, daß ihr auch politisch weniger Einflußreiche angehören, wäh­rend andererseits politische Gewichte wie die Vorsitzenden der Mehrheits­fraktionen und immer wieder auch Vorsitzende von Regierungsparteien (so z.B. Brandt 1974-82, Strauß 1962-66 und 1982-88, Mende 1961-63, Graf

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Lambsdorff gegenwärtig) vor ihren Türen stehen. Hinzu kommen ihre Über­größe, die Belastung ihrer Mitglieder durch Ressortangelegenheiten und des Kabinetts als solchem auch mit politisch sekundären Fragen. Alles dies läßt das Kabinett für die von der Verfassung nahegelegte Rolle als politisches Ent­scheidungszentrum recht ungeeignet erscheinen (Rudzio 1970: 2m ff.).

Eine Lösung des Problems kann kaum in einer Kabinettsreform, etwa im Sinne britischer Kabinettspraxis durch Institutionalisierung eines inneren Ka­binetts oder im Sinne älterer britischer Überlegungen durch Etablierung von Überministern ohne Ressort, bestehen. Nicht zuletzt zeigen dies die in der britischen Diskussion hervorgetretenen Argumentationen (Morkel 1970: 8 ff.; Amery 1953: 90f.; Morrison 1956: 131ff.). Vor allem aber behalten gegen­über allen institutionellen Regelungen informale Entscheidungsstrukturen den Vorzug gerade ihrer Informalität: Flexibel in der personellen Zusammenset­zung ermöglichen sie die Anpassung an jeweilige Machtverteilungen und In­formationsbedürfnisse, unbelastet durch Zuständigkeitsregelungen können sie sich den brisant erscheinenden Themen allein zuwenden, ohne fixierte Verhandlungsformen unbefangene Kompromißsuche erleichtern. Gewiß sind Formalisierungstendenzen auch bei Koalitionsgremien zu beobachten - so die vorherrschende ex officio-Teilnahme (von Fraktionsvorsitzenden, Partei­vorsitzenden, Generalsekretären, gelegentlich auch Stellvertretungen) unab­hängig vom tatsächlichen persönlichen Einfluß, so Protokollierungen von Er­gebnissen, so die Regelmäßigkeit von Sitzungen und die Heranziehung um­fangreicher Materialien, nicht zuletzt der im Laufe der Zeit zunehmend umfangreicheren und formalisierteren Koalitionsvereinbarungen. Dennoch bestehen die genannten Vorteile weitgehender Informalität fort.

Die Verlagerung des politischen Entscheidungsprozesses auf informale Koalitionsgremien ist vor allem am Beispiel des' Koalitionsausschusses von 1961 und des "Kreßbronner Kreises" von 1967 -69 auf verfassungspolitische Kritik gestoßen. Gegen sie wurde vorgetragen, die von ihnen ausgehende Au­ßensteuerung von Verfassungsorganen wie Bundeskanzler, Bundesregierung und Bundestag stelle einen "Rechtsverstoß" dar, da Grundgesetz und Ge­schäftsordnungen das Gesetzgebungsverfahren "rechtlich erschöpfend" re­gelten (Schüle 1964: 124ff.); zumindest werde "die Entscheidungstätigkeit in ein der Verfassung unbekanntes und unverantwortliches Kollegium" verlagert (Junker 1965: 63).

Dem steht jedoch das Bedürfnis nach einem politischen Entscheidungszen­trum gegenüber, welches - strukturell bedingt - im Rahmen einer parlamen­tarischen Koalitionsregierung eher nur im Ausnahmefall von Kabinett oder Bundeskanzler befriedigt werden kann. Auch liegt eine Integration von füh­renden Kabinettsmitgliedern, Spitzen der Koalitionsfraktionen und -parteien durchaus in der Logik parlamentarischer Regierung mit ihrer Konfrontierung von Mehrheit und Opposition. Im übrigen kennt das Grundgesetz keine Vor-

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schriften zum "inneren WiIlensbildungsprozeß der einzelnen Funktionsträ­ger", schirmt sie nicht vor politischem Einfluß ab (Kewenig 1965: 183f. und 198). Politische Führung gerade in Demokratien, in denen Entscheidungszen­tren ein labiles Optimum zwischen größtmöglicher Konsenssicherung und ho­her Entscheidungsfähigkeit finden müssen, scheint unvermeidlich und legiti­merweise stets auch ein hochgradig informaler Prozeß. Dies zu sehen und dar­zustellen, ist notwendig für ein realistisches Verständnis parlamentarisch-de­mokratischer Politik.

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Entscheidungsorientierte Regierungslehre

earl Böhret

I. Vorbemerkung

"Es ist eine sehr deprimierende Erfahrung, wenn man bemerkt, daß ein Gedanke, den man gerade wunderschön und deutlich for­muliert, schon Jahre vorher von einem selbst veröffentlicht wor­den ist." (8. F. Skinner)

Das genau war meine eigene Erfahrung, als ich einen Beitrag für die Speye­rer Sektionstagung 1990 verfassen wollte und eher zufällig in dem gerade 20 Jahre alt gewordenen Buch "Entscheidungshilfen für die Regierung" nach ei­ner bibliografischen Angabe suchte.

Vieles von dem, was wir heute für die Regierungslehre wiederentdecken, wurde offensichtlich in ersten Skizzen schon gegen Ende der 60er Jahre (vor-) formuliert. In den Turbulenzenjener Jahre ging es für die politikwissenschaft­liche Wahrnehmung verloren. Vorübergehend nur, wie die Renaissance der Regierungslehre nun erfreulicherweise zeigt. Gewiß, in den 20 Jahren bis heute haben wir dazugelernt und sind weniger euphorisch, was die praktische Umsetzbarkeit "an sich" guter Ideen anbelangt. Dennoch könnte man einiges noch (fast) so denken und schreiben wie damals. Während der Speyerer Sek­tionstagung (Juni 1990) wurde dann sogar mehrfach auf einige Aussagen des 1970 veröffentlichten Bandes hingewiesen und einige Passagen zitiert. Das Buch ist längst vergriffen, deshalb schien es zweckmäßig, ein paar Auszüge daraus als eine Art Rückblende mit Aktualitätsbezug abzudrucken.

Ich freue mich über die Rückkehr der Reflexionen über Regierung und Re­gieren in die Politikwissenschaft. Es ist ihr zentrales Gebiet!

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II. "Entscheidungshilfen für die Regierung" (Auszüge)*

A. Aus der Einleitung

Die Notwendigkeit, sich auf zukünftig mögliche Situationen vorzubereiten, Zufällen nicht hilflos gegenüberzustehen und die Konsequenzen von Entschei­dungen abzuwägen, I erfordert von der Regierung immer mehr wohlinfor­mierte, systematische und planvolle Entscheidungen. Der Schwierigkeitsgrad politisch rationalen Entscheidens scheint sich im Vergleich zu den für die Pro­blemlösung qualifizierten Instrumenten und Mitteln immer mehr zu erhö­hen. 2 Da Politik aber eine Aufgabe ist, " ... die eine Kombination von perma­nenter Information und detailliertem Sachverstand mit intellektueller Redlich­keit und der politischen Kraft zu klaren Entscheidungen fordert", 3 sollte jene ungünstige Relation verbessert werden, damit die Regierung wirklich und nicht nur scheinbar aktionsfähig bleibt. Das kann geschehen, indem für den Entscheidungsträger problemadäquate Hilfen entwickelt und angewendet werden, die das zunehmende Spannungsverhältnis zwischen Entscheidungs­unsicherheit und Verantwortungsdruck zu reduzieren vermögen. Obwohl die politischen Entscheidungsträger wissenschaftlichen Beistand und Rat bei der Entscheidungsvorbereitung und zur Entscheidungserleichterung wünschen, hat die deutsche Politologie bislang nur indirekte Hilfe geboten. Das lag nicht zuletzt daran, daß auch auf fast allen anderen Forschungsgebieten - wie der Institutionen- und Ideenlehre - ein erheblicher Nachholbedarf vorlag. So war die wissenschaftliche Lehre vom Regieren in Vergessenheit geraten, ob­wohl sie eigentlich einen zentralen Gegenstand politologischer Forschung ausmacht, indem sie zu erfassen sucht, " ... welche Art von Tätigkeit denn die Regierungen auszuüben haben; wie sie ihre Tätigkeit ausüben und auf was hin sie das tun und welcher Mittel sie sich bedienen."4 Vor allem Wilhelm Hen­nis und Thomas Ellwein haben auf die Mangelerscheinungen in der deutschen Politologie hingewiesen und selbst Beiträge zur Entwicklung einer Regie­rungslehre geliefert. Eine solche Regierungslehre soll - ohne eine bloße Technologie der Politik zu liefern - Möglichkeiten und Wege zeigen, auf de­ren Grundlage die wachsenden staatlichen Aufgaben besser erfüllt werden können. 5 Die Politologie darf sich also nicht länger allein mit der Erfor­schung des "Wesens der Politik" und mit institutionellen Konstruktionen be­gnügen. Sie hat darüber hinaus eine unmittelbare "praktische Aufgabe" zu er­füllen; sie soll und kann Entscheidungshilfen bieten. 6 Es wird hier davon aus­gegangen, daß es möglich und zulässig ist, auch eine praxisorientierte Polito­logie zu betreiben; denn "nur auf dem Boden eines Wissenschaftsbegriffs, für den die Praxis wissenschaftswürdig und -fahig bleibt, ist Zugang für eine Wis­senschaft vom Regieren zu finden."?

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Politische Planung und Entscheidung sind wichtige Voraussetzungen zur Bewältigung dieser Aufgabe. Die Entwicklung und adäquate Anwendung von Entscheidungshilfen für die Regierung und Verwaltung werden daher zu ei­nem wichtigen Bestandteil der Regierungslehre. Die Herausbildung einer "policy science" in den USA auf der Grundlage interdisziplinärer For­schung8 entspringt nicht zuletzt dem wachsenden Bedürfnis, Wege und Mu­ster für die Verbesserung des Regierens angesichts des immer komplexer wer­denden Entscheidungsfeldes anzubieten. Mit der Realisierung dieses Projek­tes dürfte der erste umfassende Ansatz gefunden sein, viele einzelne Instrumente und Erkenntnisse zusammenzubringen und damit die Grundlage zu einer umfassenden Entscheidungslehre zu schaffen, die einen wichtigen Teilbereich der Regierungslehre überhaupt deckt. ...

Schließlich schien es politologisch besonders interessant zu untersuchen, welche Schwierigkeiten möglicherweise auftreten, wenn Entscheidungshilfen für die Regierung in eine bestehende administrative und politische Struktur eingeführt werden (S. 11 ff.) .**

B. Aus den "Konzepten"

1. Führungs- und Entscheidungsfunktion der Regierung

Politik als autoritative Zuteilung von Werten (David Easton) muß noch mehr als bisher die Zeitdimension berücksichtigen;2 die aktuellen Probleme dürfen nicht die langfristige Perspektive verdrängen: politische Planung tut not, Ent­scheidungen sollen als Ergebnis systematischer Analyse fallen; das Problem der verantwortlichen Führung ist dabei stets neu zu lösen. Die Regierung muß die ihr eigentümlichen Funktionen der Führung, Planung und Koordination auch quantitativ ausweiten. Diese Führungsleistung kann nur über fortwäh­rendes zielorientiertes Abwägen und Entscheiden erbracht werden. Robert E. Lane glaubt hier feststellen zu können, daß sich tendenziell das ideologisch und dogmatisch geprägte Regierungshandeln wegen wachsender Kenntnisse über die Menschen und ihre Gesellschaft vermindert. Die durch Einfluß, Macht und Wahlvorteile gestützten Entscheidungen der traditionellen Politik werden zunehmend ersetzt durch rationales Regieren, "where decisions are determined by calculations of how to implement agreed-upon values with ra­tionality and efficiency,"3 wobei immer neue Werte artikuliert werden. Die Regierung der modernen Staaten wird zum von der politischen Gesellschaft beauftragten Zentrum der systematischen Entscheidungsvorbereitung und Planung.

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Aber das Regieren war selten einfach und risikolos. In den hochentwickel­ten Staaten nimmt der Verantwortungsdruck auf die obersten Entscheidungs­träger heute immer mehr zu. Ausweichen in intuitives Verhalten, in subjektive Erfahrung oder das Umgehen und Hinausschieben wichtiger Entscheidungen ist häufig Folge der wachsenden Interdependenz gesellschaftlicher Ereig­nisse. Das scheint der von R. Lane festgestellten Tendenz zu widersprechen. Tatsächlich aber führt der bewußt gewordene Entscheidungsdruck immer mehr zu der Erkenntnis, daß bei aller politischen Leidenschaft "mit dem Kopf' regiert werden muß, daß bei aller Zurückhaltung Führungsentschei­dungen gefällt werden müssen. Indifferenz gegenüber vielfältig vorgetragenen Ansprüchen macht das Regieren jedoch zur "nachgeordneten Tätigkeit",4 die immer nur einen Ausweg nach dem anderen sucht. Die wichtigste Aufgabe der Regierung ist aber das ziel- und problemorientierte Entscheiden als Ausdruck ihrer Führungsfunktion. Rationales Regieren bedeutet deshalb, zukunfts­orientierte Entscheidungen nach Abwägen der relevanten Alternativen unter Beachtung des jeweiligen Wertsystems der organisierten Gesellschaft mit Au­genmaß zu treffen. 5 "Im weiten und wirklich vollen Sinne des Wortes ist Re­gieren die Kunst, die Geschicke einer Gesellschaft zu lenken ... alles der na­türlichen Notwendigkeit zu entziehen, was ihr entzogen werden kann, um es der Kontrolle des menschlichen Willens untertan zu machen ... die soziale Materie weitgehendst zu humanisieren", 6 also die Vereinigung von Tatkraft und Sachwissen zu erzielen.

Da die Entscheidungssituationen komplex sind und der Informationsstand oft ungenügend ist, wird zumeist nur eine begrenzte Anzahl von alternativen Handlungsmöglichkeiten beachtet. Eine demokratische Gesellschaft sollte nun zwar einige Ineffizienz und mangelhafte Planung vertragen können, denn das ist der Preis für die durch sie gewährleistete Freiheit und politische Ent­scheidungsbeteiligung aller Bürger. Aber auch ein demokratisches Staatswe­sen darf nicht prinzipiell die effiziente Aufgabenerfüllung mißachten 7 • Es liegt nämlich im Interesse der Bürger, daß ihre steigenden Beiträge zur Funk­tionserhaltung des Staatsapparates so günstig wie möglich verwendet werden und die durch rationale Entscheidungen definierten öffentlichen Leistungen ("output") in ihren Augen nützlich bleiben. Eben weil der Bürger des moder­nen Gemeinwesens output-orientiert ist und sein soll, muß die Regierung "führen", und das bedeutet in erster Linie: rationale Entscheidungen hinsicht­lich effizienter Aufgabenerfüllung legitimiert zu treffen. Die Entscheidungs­vorbereitung kann sich vom Ziel eines effizienten Funktionierens des politi­schen Systems leiten lassen, ohne daß damit das politische Handeln schon Ra­tionalisierungszwängen unterworfen und der Bürger schließlich nur noch verwaltet wird. Bestrebungen, zu einer problemorientierten Entscheidungsra­tionalisierung zu gelangen, sind nicht unausweichlich der Weg zur technokra­tischen Herrschaft, wenngleich diese Gefahr zweifelsohne besteht. 8 Da der

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Entscheidungsträger bei der finalen Entscheidung auf sich allein gestellt ist und trotz der Hilfestellungen auch bleibt, kann bei der Regierung ein subjekti­ver Widerwille gegen die stetige Risikoübernahme entstehen, während Oppo­nenten und Interessenten wegen der nur indirekten Verantwortung das mit ih­ren Empfehlungen und Forderungen verbundene Risiko sogar bevorzugen. Trotz verschiedener gesellschaftlicher Interessen müssen aber Entscheidun­gen herbeigeführt werden, die Vor- und Nachteile für die Betroffenen bringen. In der optimalen Verbindung situationsbezogener Interessen bzw. Ziele mit dem gesellschaftlichen Wertsystem liegt für die aktive Regierung die Chance, die Beweislast für die partikularistischen Ansprüche auf die Interessenten zu verschieben.

Einer solchen Betrachtung des Regierens als Führungs- und Entscheidungs­handeln in komplexer Umwelt steht die "elitäre" Begründung des Regierens als "Kunst" entgegen. Hierbei werden "Staatskunst" und "Staatsmann" in ei­ner Verbindung gesehen, die auf "Begnadung des Meisters" hinweist. Dessen "einsame Entschlüsse" entsprechen im Grunde aber weder dem tatsächlichen Lebensstil der modernen Leistungsgesellschaft noch dem Wesen des moder­nen demokratischen Rechtsstaates und seinem Sog zur Systematisierung und Rationalisierung. 9 Das "persönliche Regiment" Konrad Adenauers erweist sich daher eher als situations begünstigter Rückfall in den Regierungsstil des 19. Jahrhunderts. J.F. Kennedy ist dagegen ein Beispiel für rationales Führen ohne Verzicht auf persönliche Ausstrahlung. Spürsinn, Phantasie, feste Hal­tung, Geduld und Mut zum Handeln als gepriesene Eigenschaften des "Staats­mannes" 10 werden nämlich immer fragwürdiger, wenn sie nicht durch syste­matische Analyse der Entscheidungssituation ergänzt werden. Die "Kraft schneller, ja oft kühner Entscheidung" (H. Brüning) aus Intuition und Erfah­rung muß zunehmend durch den "klugen Gebrauch fachkundiger Hilfe" er­gänzt werden. Diese darf aber nicht schon im voraus die zu erwartenden Ent­scheidungen des Staatsmannes als dem verantwortlichen Führer zur Grund­lage nehmen, wie Brüning meint, weil sie sonst kaum neuartige Alternativen zu entdecken und keine kreative Entscheidungshilfe zu bieten vermag. Es wird nicht bestritten, daß die Führungsfunktion der obersten Entscheidungsträger notwendig ist. Es gilt nur, diese wichtige Funktion von der Mystik persönlich­keitsbezogener, transrationaler Qualitäten zu befreien und als das zu definie­ren, was sie sein kann: als die wünschenswerte Eigenschaft, aus der Verbin­dung von politischer Situation und gesellschaftlichem Wertsystem unter An­wendung von problemadäquaten Hilfen eine risikobewußte und begründete Entscheidung zwischen mehreren Möglichkeiten zu fällen. Der "entzauberte Staatsmann" ist auch in der Demokratie nicht als rechtlich gebundener und politisch verantwortlicher Leiter des Gemeinwesens zu ersetzen, wohl aber ist er austauschbar. Die Frage "wie wird regiert" wird prinzipiell so wichtig wie die Frage "wer regiert". Die Führungs- und Entscheidungsfunktion kann si-

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cherlich nicht von jedem "öffentlichen Manager" oder von einem routinierten Administrator ausgeübt werden; denn common sense, Erfahrung und Intuition sind für die Formulierung und Verfolgung der politischen Richtlinien in der komplexen Umwelt unentbehrlich. Das "Großunternehmen Staat" läßt sich aber immer weniger ohne entscheidungsvorbereitende Techniken und Inter­pretationshilfen leiten. Die zur Führung auf Zeit bestellte Regierung muß die verfügbaren Instrumente zur Analyse des Entscheidungsfeldes und zur Steige­rung ihrer Kreativität einsetzen: zur "Kunst" gesellt sich die "Technik", aus vielen "Entwürfen" soll ein möglichst perfektes Bild werden, das die Mehr­zahl der Regierten überzeugt.

2. Ohne hier auf entscheidungstheoretische Probleme näher eingehen zu können, II sollen einige Grundannahmen des rationalen Entscheidens erörtert werden, wobei die genaue Bestimmung dessen, was in der Politik als "ratio­nal" bezeichnet wird, erst weiter unten erfolgen kann. Vorab nur so viel: So­weit eine Wahl zwischen möglichen Aktionen bewußt und überlegt vorgenom­men wird, ist sie "rational" und wird in der allgemeinen Handlungstheorie als "Entscheidung" bezeichnet. 12 Eine begriffliche Trennung in Entscheiden als dem Akt der Wahl zwischen Möglichkeiten, unter denen eine Auswahl getrof­fen werden muß,13 und in Entscheidung als dem unmittelbaren Ergebnis der Wahl wird als wenig fruchtbar angesehen. Eine Entscheidung liegt auch dann vor, wenn keine Wahl unter mehreren Möglichkeiten getroffen wird, vielmehr der jetzige Zustand weiter gelten soll. Wenn nur eine einzige Möglichkeit ge­geben ist oder sich eine bestimmte Lösung von selbst und unmittelbar auf­drängt, kann man zwar im weitesten Sinne noch von Entscheidung spre­chen,I4 doch entfällt dann das "Abwägen" als Kriterium rationalen Vorge­hens ....

. .. Entscheidend ist also überlegtes Wählen zwischen alternativen Möglich­keiten mit dem Ziel, die als am günstigsten erscheinende Alternative herauszu­finden und zur Grundlage des Handeins zu machen. Die Beurteilung der mit unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit eintreffenden Konsequenzen der rele­vanten Alternativen erfolgt in einer Entscheidungssituation durch den Aktor (Entscheidungsträger) mittels eines Entscheidungskriteriums (Beurteilungs­maßstabs). 17 Die Auswahl der optimalen Strategie erfordert dabei ein Abwä­gen zwischen hinzunehmendem Risiko und maximaler Zielerreichung. Unsi­cherheit kennzeichnet fast alle politischen Entscheidungssituationen. Beste­hen beim Entscheidungsträger keinerlei Vorstellungen über das Eintreffen von "Erwartungen", dann ist die Situation objektiv ungewiß; bestehen Vorstellun­gen über die Wahrscheinlichkeit des Eintreffens bestimmter Konstellationen, dann ist eine subjektiv ungewisse Entscheidungssituation gegeben. 18 Die Ent­scheidung ist also kein punktueller Akt, sondern ein komplizierter, zumeist multipersonaler und instrumentaler Arbeitsablauf. Die Finalentscheidung ba­siert häufig auf einer Kette von Teilentschlüssen, sie wird "vorbereitet" und

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verläuft als komplexer Prozeß, der oft organisatorische Schwierigkeiten bringt. 19

3. Die Entscheidung als Reaktionsform der Regierung auf eine "multiva­lente, d.h. also mehrere Möglichkeiten enthaltende und in mehrfacher Rich­tung auffordernde Situation,,20 sollte die Verwendung von Hilfsmitteln, mit deren Unterstützung die "Reaktion" mehr oder weniger geregelt vonstatten gehen mag, begünstigen. Es wird dabei nach einer möglichst rationalen Fun­dierung des politischen Handeins, also nach Wegen und Verfahren gesucht, mit denen sich ein intensives Vordenken der politischen Entscheidungen und Handlungen ermöglichen läßt. Sicherlich sind Entscheidungen schon immer auch ohne Kenntnis und Anwendung spezieller Techniken gefällt worden. Wenn das Wissen und die analytische Fähigkeit, aus welchen Gründen auch immer, unzureichend waren, haben Geschicklichkeit und Erfahrung weiterge­holfen. So wurden Brücken schon gebaut, lange bevor die Statik entwickelt worden war. Mit ihrer Hilfe, neuen Techniken und Materialien wurden dann aber kühnere und bessere Bauwerke errichtet .... (S. 14ff.)

4. Der obigen Definition rationalen Entscheidens entsprechend erweist sich die Auswahl der optimalen Strategie letztlich als ein technischer Vorgang. Die politische Entscheidung wird aber auch von institutionellen Gegebenhei­ten beeinflußt: von den die Entscheidungsinstrumente anbietenden und inhalt­liche Vorschläge unterbreitenden Entscheidungshelfern (internen und exter­nen Beratern)21 und den finalen Entscheidungsträgern (Wählern und deren Repräsentationsorganen), die Kontrollfunktionen ausüben. Die Bedeutung dieser "Entscheidungsstruktur" (funktionale Rationalität) für rationales Ent­scheiden (substantielle Rationalität) ist nicht zu unterschätzen: je rationaler eine Entscheidungsstruktur ist, um so rationaler sind die in ihr erzeugten Ent­scheidungen (Diesing). 22 Die Entscheidungsstruktur ist durch Differenzie­rung und Vereinheitlichung zugleich gekennzeichnet: eine Vielzahl von Infor­mationen, Werten und Alternativen muß "organisatorisch" sichtbar gemacht und zur Entscheidung bereitgestellt werden. Soweit erforderlich, ist auch der Ausgleich von zentraler Autorität und sektoraler Autonomie herbeizuführen. Entscheidungsstruktur und Entscheidungstechnik - als Anwendung von Ver­fahren und Instrumenten - bestimmen den Entscheidungsspielraum. ... (S.18)

5. Die Führungs- und Entscheidungsfunktion der Regierung besteht also in dem ständigen Versuch, eine "rationale" Lösung der Entscheidungssituation mittels Verwendung problemadäquater Entscheidungshilfen unter Beachtung der Einflüsse aus der Entscheidungsstruktur zu finden. Auf diese Weise bleibt " ... die Möglichkeit einer wissensmäßigen und logischen Klärung der Bedin­gungen, Alternativen und Ziele des politischen Handeins nicht aus. Obgleich das politische Handeln immer unbekannte Faktoren und daher stets ein Risiko enthält, ist die Zukunft nicht in allem verhüllt' ... ,,24

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Jede Entscheidungshilfe, die das Handlungswissen vergrößert, kann den Bereich der Ungewißheit und damit das Risiko vermindern. Rationale Ent­scheidungen zu treffen, wird deshalb immer mehr zur wichtigsten Funktion der modernen Regierung ... (S. 18 f.)

III. Modelle politischer Entscheidungsrationalität

Dem Anspruch dieser Untersuchung, Entscheidungshilfen für die Regierung zu suchen und zu prüfen, liegt die Vorstellung zugrunde, daß damit eine Ver­besserung der Regierungstätigkeit im Hinblick auf einen höheren Erfüllungs­grad der Führungs- und Entscheidungsfunktion und damit eine Zunahme der als wünschenswert angesehenen "politischen Rationalität" zu erreichen sei. In­wieweit ist aber die sozialtechnische Unterstützung des Entscheidens "ratio­nal"? Gibt es eine Spezifikation politischer Rationalität, die von einem mehr technisch verstandenen Rationalitätsbegriff abweicht? Hier stehen sich zwei Auffassungen gegenüber, die noch eingehender untersucht werden müssen:

(1) Entscheidungshilfen - insbesondere in instrumenteller Form - können einen Beitrag zur weiteren "Rationalisierung" des Regierens liefern, weil da­mit der Umfang des nichtrationalen Verhaltens verringert werden kann. Ob­wohl die Politik mehr als andere soziale Bereiche, wie z.B. die "Wirtschaft", von Nichtrationalem beeinflußt, ja manchmal bestimmt wird, läßt sich der Rationalitätsgrad durch die Verwendung von Entscheidungshilfen erhöhen. Es gibt einen homo politicus, der in vielen Fällen rational zu handeln vermag.

(2) Die Erstellung und Anwendung von Entscheidungshilfen in der Politik ist ohne Realitätsbezug, weil die emotionalen, intuitiven (persönlichkeitsbezoge­nen) Kräfte und Einflüsse die vorhandenen "rationalen Ansätze" dauernd über­spielen und im Bereich der politischen Entscheidurigen und Handlungen somit das "Irrationale" eindeutig überwiegt. Die Beschäftigung mit Entscheidungs­hilfen ist zwar nicht sinnlos, da sie Teilerkenntnisse liefert und in unbedeutende­ren Einzelfällen auch einmal anwendbar sein mag. Prinzipiell aber ist das wenig von Nutzen, weil sich die praktische Verwertbarkeit als gering erweist. Denn der homo politicus bleibt unberechenbar, seine Handlungsweise ist auch im Kollektiv nicht annähernd vorhersehbar. Der Bereich der politischen Entschei­dung und Aktion ist deshalb nicht rational zu erfassen und zu gestalten. Politik bleibt reine "Kunst" - letztlich dem "Staatsmann" vorbehalten. Eben die Möglichkeit des wechselhaften, freibestimmten Handeins der Menschen, wel­che das Rückgrat des freiheitlich-demokratischen Systems bildet, macht es un­möglich, ein praktisches System rationaler Politik zu gewinnen. Politik als ra­tionale Sozialtechnik ist aber auch nicht erstrebenswert, weil schon jede Ten­denz zur Entscheidungsdetermination abzulehnen ist. .. , (S. 25f.)

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5. Würdigung

Die skizzierten Modelle unterscheiden sich in der Betonung bzw. Vernachläs­sigung bestimmter Elemente des Entscheidungsvorgangs. Das Rationalmodell kombiniert analytische Schritte nach bestimmten Regeln, um damit in einer Situation (nahezu) vollständiger Information die beste Alternative zur Errei­chung eines vorgegebenen Zieles zu ermitteln. Die Analyse beginnt immer von vorn und ist umfassend, d.h. alle relevant erscheinenden Möglichkeiten werden systematisch erarbeitet, ohne daß dabei strukturelle und persönlich­keitsbezogene Entscheidungshemmungen zu berücksichtigen wären. Im nicht­rationalen Modell steht die Persönlichkeit des sich auf Erfahrung, Intuition und Tradition beziehenden Entscheidungsträgers im Mittelpunkt. Regeln und Wege zur Entscheidung ergeben sich erst aus dem Handeln selbst. Urteile tre­ten an die Stelle umfassender Information und systematischer, alle relevanten Alternativen beachtender Analyse. Die Ergebnisse des Prozesses sind letztlich nicht kalkulierbar.

Durch die verschiedenartige Kombination rationaler und nichtrationaler Elemente und durch das Hinzufügen weiterer Faktoren ergeben sich Misch­modelle, die - wie beispielsweise das incrementale Modell*** - typische gegenwärtige Formen der Entscheidungsfindung, oder - wie das normative Optimum-Modell- einen erst erstrebenswerten umfassenden Entscheidungs­weg beschreiben. Die verstärkte Berücksichtigung der Zielbestimmung und der Entscheidungsstruktur sind wichtige Fortschritte auf ein die Besonderhei­ten der "Politik" berücksichtigendes Entscheidungsmodell.

Es ist nicht zu übersehen, daß die Entscheidungsträger häufig uneinsichtig und emotional reagieren, daß aber auch aus den Mißerfolgen nicht selten eine Überprüfung des nichtrationalen Vorgehens erfolgt und so der Bereich des ra­tionalen Verhaltens über einen Lernprozeß ausgedehnt wird. H.R.G. Greaves möchte diesen oft beschwerlichen Vorgang verkürzt wissen und fordert des­halb, ... "daß die Menschen sich der Politik, die ihre Handlungen kontrolliert und lenkt, als eines rationalen, uneigennützigen Vorgangs bewußt sind, an dem sie je nach Funktion und Fähigkeit teilhaben. Sie müssen fühlen, daß ihr durch diese Politik geleitetes Handeln eine Anwendung ihres eigenen Bewußt­seins darstellt".102 Der oberste Entscheidungsträger braucht deshalb eine Leitlinie, die ihm die Bedingungen optimalen Entscheidens aufzeigt und so ein politisch rationales Vorgehen ermöglicht. Auf der Grundlage eines sol­chen Orientierungsmodells läßt sich dann auch die Entwicklung und der Ein­satz von Entscheidungsinstrumenten als politisch abgesicherten Sozialtechni­ken planvoll vorantreiben. Wie aus den besprochenen Modellansätzen folgt, können solche Hilfen für die Regierung jedoch nur dann der Komplexität des Entscheidungsfeldes angemessen sein, wenn sie nicht bloß sozialtechnische Maßnahmenhilfe liefern, sondern auch die Zielproblematik und die entschei-

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dungsstrukturellen Schwierigkeiten berücksichtigen. Jedes Modell politi­schen Entscheidens muß deshalb diese politisch wichtigen Faktoren einbezie­hen .... (S. 39)

4. Auf die gegenwärtige Realität politischen Entscheidens trifft noch weit­gehend das "incremental policy" -Modell zu. Am effektvollsten wäre sicher­lich ein Vorgehen nach dem reinen Rationalmodell, das allerdings wegen der Nichtberücksichtigung politischer Rahmenbedingungen zu wirklichkeits­fremd ist. So läßt sich wohl am ehesten noch das politologische Rationalmo­dell der Entscheidung (oder ein ähnlicher Entwurf) als Leitfaden für eine all­mähliche, begrenzte Reform von Exekutive und Legislative im Hinblick auf erhöhte politische Entscheidungsrationalität heranziehen. Eine solche Reform verändert das demokratische System nicht in seinen Wesenszügen, paßt es aber den heutigen Erfordernissen an. Das Entscheidungsniveau wird geho­ben, ohne daß die Kontrollfähigkeit leidet. Wenn Verständnis für die gewan­delte Funktion und Verhaltensweise der Regierung geschaffen werden kann, läßt sich auch wieder rationale Kontrolle bei effizienten Entscheidungen er­möglichen. Trotz vieler Schwierigkeiten und Widerstände werden von der Re­gierung Entscheidungshilfen zunehmend angewendet werden, weil sie die An­forderungen der immer komplizierter werdenden technisch-wissenschaft­lichen Umwelt erfüllen helfen. Die politischen Entscheidungen können zwar auch weiterhin nicht ohne Intuition und Urteilskraft gefällt werden, aber sie beruhen nicht mehr allein auf diesen, sondern auf einer Mischung von syste­matischer Analyse und geschärftem politischen Verstand. Der auf seine Er­fahrung vertrauende traditionelle "Staatsmann", der auf Entscheidungshilfen verzichtet, ist mindestens insoweit ein schlechter Demokrat, als er die Vielfalt von Alternativen von vornherein nicht entdecken und überdenken will, die ihm häufig erst durch die Entscheidungshilfen rechtzeitig zugänglich werden. (S. 274)

Anmerkungen

* Aus: Carl Böhret: Entscheidungshilfen für die Regierung. Modelle, Instrumente, Probleme, Opladen 1970 (351 S.).

A. Zur Einleitung

1 Machiavelli hat hierzu viele treffende Aussagen gemacht: "Gegen ungewöhnliche Zufälle gibt es keine Mittel. Aber man muß Berechnungen anstellen, was alles für Zufalle eintreten könn­ten, um dann ihnen gegenüber um Abhilfe besorgt zu sein" (Discorsi III).

2 Vgl. auch Yehezkel Dror: Futures in Government (= The Rand Corporation, P - 3909), Santa Monica 1968, S. 7.

3 Karl Schiller: Reden zur Wirtschaftspolitik 1 (= BMW I Texte) Bonn 1967, S. 107. 4 Carlo Schmid: Politik und Geist, Stuttgart 1961, S. 140.

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5 Vgl. Wilhelm Hennis: Aufgaben einer modernen Regierungslehre, in: Politische Vierteljah­resschrift (PVS) VII4f65, S. 430ff. und passim; Thomas Ellwein: Einführung in die Regierungs- und VerwaItungslehre, Stuttgart u.a. 1966; Emil Guilleaume: Regierungslehre, in: Der Staat, 4. Bd, Heft 211965, S. 187.

6 Vgl. Franz Lang: Systembegriffe in Soziologie, Politischer Wissenschaft und Verwaltungs­wissenschaft in den USA. Hilfe für eine Funktionenteilung zwischen Wissenschaft, Politik und Verwaltung in Deutschland?, in: Zeitschrift für Politik, 15. Jg, Heft 1 f 1968, S. 94.

7 Wilhelm Hennis: Aufgaben ... , S. 426. 8 "Main foci of concern for policy sciences include, for instance: (1) Policy analysis ... (2) po-

licy strategies ... (3) evaluation and feedback ... (4) interface between scientists and political power centers ... (5) policymaking-system improvement ... " Approaches to Policy Sciences. Annual Meeting of the American Association for the Advancement of Science, Boston 1969 (vervielfältigte Kurzbeschreibung, S. 3).

** Modisch heißt das heute "Implementation".

B. Zum Teil "KJJnzepte"

2 Als "Entscheidungsträger" wird hier generell die "Regierung" in ihrer Führungsfunktion be­zeichnet, wobei der Regierungschef als "oberster" Entscheidungsträger gilt. Als "finaler" Entscheidungsträger werden die Wähler angesehen. Vgl. dazu auch James MacGregor Bums: Presidential Government, New York 1965 und Emil Guilleaume: Regierungslehre, in: Der Staat, 4. Bd, Heft 211965, S. 177 ff.

3 Robert E. Lane: The Decline of Politics and Ideologie in a Knowledgeable Society, in: Ame­rican Sociological Review, Vol. 31, No. 5 f 1966, S. 658 und passim sowie Norton E. Long: Public Policy and Administration: The Goals ofRationality and Responsibility, in: Public Ad­ministration Review, Vol. XIV, No. 1 f 1954, S. 22 fff.

4 Das wird von Oakeshott als die eigentliche Regierungstätigkeit gefordert. Vgl. Michael Oa­keshott: Rationalismus in der Politik (Politica, Bd 25), Neuwied und Berlin 1966, S. 202.

5 Selznick sieht die Führungsaufgabe darin " ... to choose key values and to create a social structure that embodies them." Philip Selznick: Leadership in Administration, Evanston, III. 1957, S. 60.

6 Emile Callot: Gesellschaftslenkung und Politik, Tübingen 1950, S. 90. 7 Vgl. zum Effizienz f Demokratie-Problem auch Carl Böhret: Effizienz der Exekutive als Ar­

gument gegen Demokratisierung? Manuskript, vorgelegt auf dem Wissenschaftlichen Kon­greß der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (erscheint in Sonderheft 1 f 1970 der Politischen Vierteljahresschrift).

8 Vgl. Hermann Lübbe: Zur politischen Theorie der Technokratie, in: Der Staat, 1. Bd. f 1962, S. 19 ff. und Dieter Senghaas: Sozialkybernetik und Herrschaft, in: atomzeitalter, Heft 7 f 8 1968, S. 386 ff.

9 Vgl. Emil Guilleaume: Regierungslehre ... , S. 177. 10 Zum Begriff des Staatsmannes vor allem Rene Marcic: Der Staatsmann in der Demokratie (=

Salzburger Universitätsreden, Heft 25) Salzburg und München 1966; Heinrich Brüning: Der Staatsmann, in PVSfVIf3f 1965, S. 325ff. und Otto Heinrich von der Gablentz: Was ist poli­tische Realität? in: PVS f VII f 1 f 1966, S. 55 ff.

11 Vgl. Gerard Gäfgen: Theorie der wirtschaftlichen Entscheidung, Tübingen 1963, S. 26, 42 f. und passim sowie die dort genannte Literatur. Ferner Horst Rittel: Überlegungen zur wissen­schaftlichen und politischen Bedeutung der Entscheidungstheorie (= Studiengruppe für Sy­stemforschung), Heidelberg 1963.

12 Vgl. Günter Hartfiel: Wirtschaftliche und soziale Rationalität. Untersuchungen zum Men­schenbild in Ökonomie und Soziologie (Habilitationsschrift, Manuskript) Berlin 1967, S. 67.

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13 Vgl. Erwin Metzke: Handlexikon der Philosophie, 2.Aufl., Heidelberg 1949, S. 89. 17 In der Entscheidungstheorie ist Rationalität gegeben, wenn nach einer vom Aktorwertsystem

abgeleiteten Maxime die beste Handlungsweise aus einer Mehrzahl möglicher Alternativen überlegt ausgewählt wird. Ein Aktor handelt aber auch dann rational, wenn er nicht dem Ma­ximierungsprinzip folgt, sondern nur eine gute oder befriedigende (ja "genügsame") Wahl trifft bzw. sich nur einem bestimmten Zielzustand annähern will.

18 Vgl. Helmut Koch: Betriebliche Planung, Wiesbaden 1961 und C. West Churchman: Unge­wißheit, Wahrscheinlichkeit und Risiko (= RIAS Funkuniversität, 55. Vortragsfolge) Berlin 1966

19 Vgl. auch Eberhard Witte: Mikroskopie einer unternehm(:rischen Entscheidung, in: IBM Nachrichten, 19. Jg., Heft 193/1969, S. 490ff.

20 Hans Thomae: Der Mensch in der Entscheidung, München 1960, S. 18. 21 Interne Berater bzw. Experten: Mitglieder von Stäben und Spezialabteilungen, sowie zur Ent­

scheidungshilfe ad hoc herangezogene Mitarbeiter. Externe Berater: Experten aus Universitä­ten, Forschungsinstituten, Auftragsorganisationen etc.

22 Vgl. Paul Diesing: Reason in Society. Five Types of Decisions and their Social Conditions. Urbana 1962, S. 237 f.

24 Dieter Oberndörfer: Politik als praktische Wissenschaft, in: Ders. (Hrsg.): Wissenschaftliche Politik, Freiburg 1962, S. 50, vgl. ferner S. 37.

*** Frühe Diskussion des Lindblom'schen Modells des "Muddling Through". 102 H. R.G. Greaves: Grundlagen der politischen Theorie (= Politica Bd. 2), Neuwied und Berlin

198.

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Politikeinfluß im Entscheidungsverhalten höherer Verwaltungsbediensteter

Ein Beitrag der empirischen Entscheidungsforschung zum Verhältnis von Politik und Verwaltung

Rainer Koch

1. Einleitung

Unter den Bedingungen einer parlamentarischen Regierungs/orm wird das Verhältnis von Politik und Verwaltung gewissermaßen zwangsläufig zum Ge­genstand öffentlicher und wissenschaftlicher Auseinandersetzungen.

Dabei geht es aus politik- und verwaltungswissenschaftlicher Sicht auch im­mer um die bereits klassische Frage einer Politisierung der Verwaltung bzw. umgekehrt betrachtet um die einer Bürokratisierung der Politik. Und in weite­rer Differenzierung dieser generellen Fragestellung geht es auch wieder um das Problem, inwieweit von einer hinreichenden politischen Steuerung öffent­licher Verwaltungen ausgegangen werden kann oder in dieser Hinsicht funk­tional oder normativ bedenkliche Selbststeuerungen durch den Verwaltungs­apparat zu unterstellen sind (vgl. Mayntz 1978: 64ff.).

Diesen Gesichtspunkten ist schon einmal aus der Sicht verfassungsrechtli­cher Betrachtungen oder von Programrnentwicklungs- und / oder Implementa­tionsstudien nachgegangen worden. Hier soll hingegen der Versuch gemacht werden, die Frage nach der Steuerung öffentlicher Verwaltung auf der Basis der Wahrnehmungen und Einstellungen bzw. des Entscheidungsverhaltens hö­herer und höchster Verwaltungsbediensteter zu bearbeiten. Aus einer funktio­nalen Sicht der Dinge geht es dabei vorrangig darum zu prüfen, ob und inwie­weit über die bekannten Schnittstellen von Politik und Verwaltung hinweg der Politikeinfluß - gewissermaßen neben den bekannten weiteren Instru­menten, wie Recht, Finanzen etc. - als Handlungs- und Steuerungsressource für eine sachgerechte Erledigung von Aufgaben eingesetzt und ak1:iviert wird (Mayntz 1978: 220 ff.). In etwas stärker operationalisierter Weise stellt sich damit die Frage, ob - und wenn ja - unter welchen Bedingungen man bereit ist, zum Zweck der Aufgabenerledigung auf die speziellen bewußtseins- und verhaltens-prägenden Wirkungen eines Politikeinsatzes zurückzugreifen. Den augenblicklichen Forschungsbemühungen entsprechend soll dabei insbeson­dere geprüft werden, welche Rolle in diesem Zusammenhang die grundlegen­den Managementstile der Verwaltungsbediensteten spielen - handle es sich

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dabei eher um professionelle oder expertenhafte bürokratische Problemlö­sungsmuster (vgl. Aberbach u.a. 1990: 3ff.; Kods 1990: Iff.).

2. Konzeptionelle Erwägungen

Es gibt bereits eine größere Anzahl von Ansätzen, mit denen die Frage einer politischen Steuerung von Verwaltungen im Zusammenhang mit oder gar bei besonderer Zuspitzung auf den Einfluß des Personenfaktors erörtert wird. Ei­nen besonderen Aspekt bildet dabei immer wieder, ob bzw. inwieweit auf­grund dieses Einflusses - und zwar auch entgegen dem erklärten Zweck struktureller Regelungen - Tendenzen einer Verselbständigung etc. festzu­stellen sind.

Diesen Fragen wird nun schon - in allerdings eher genereller Art und Weise - von dem jüngeren interpretativen Paradigma/kognitiven Ansatz der Organisationsforschung nachgegangen. In deutlichem Gegensatz zu einigen kontingenztheoretischen Ansätzen wird hier ja auch unterstellt, daß nicht schon die Einflüsse von "außen" als solche, sondern erst ihre Interpretationen im Lichte jeweiliger Organisationsphilosophien über die Entwicklung von Leistungs- und Produktionsprogrammen entscheiden. Des weiteren ist hier auch nur an Konzepte der Organisationssoziologie zu erinnern, mit denen (ne­ben den Problemen einer gewissermaßen natürlichen Zielabweichung forma­ler Systeme) aufgezeigt wird, daß sich etwa sog. Professionelle ganz im Ge­gensatz zu den sog. Cosmopolitans - und zwar aufgrund ihrer vergleichs­weise stärkeren Verpflichtung aufberufsspezifische Leistungsstandards - nur recht schwer in die Autoritäts- und Kontrollstrukturen formalisierter Organi­sationen einbinden lassen. Und in diesem Zusammenhang ist wiederum an Ansätze der Politik- und Verwaltungswissenschaft zu erinnern, die nun spe­ziell mit Blick auf das berufliche Selbstverständnis von Experten/Professio­nellen deutlich machen können, daß sich im Verhalten öffentlicher Bedienste­ter auch vehement technokratische Einstellungen und in dieser Weise ableh­nende Reaktionen gegenüber dem Politikeinfluß durchzusetzen vermögen. Nicht zu vergessen sind allerdings ebenfalls Studien, die nun auch mit einer quantitativen Analyse von "Personalfluktuationen" in Spitzenpositionen zu prüfen versuchen, wie und ob es der "Politik" gelingt, den Verwaltungsappa­rat unter Kontrolle zu bringen.

In Erweiterung dieser Ansätze wollen wir hier den gestellten Fragen mit ei­ner Untersuchung des Entscheidungsverhaltens höherer Verwaltungsbedien­steter nachgehen. Entsprechend den (kognitions- und/oder neo-behavioristi­schen) konzeptionellen Prämissen einer empirischen Entscheidungsforschung (vgl. Brandstätter/Gahlen 1975; Briver/Bowe 1979: 141ff.) wird dabei auch

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davon ausgegangen, daß eben nicht schon der Kontext von Arbeitssituationen allein - in diesem Fall also die Aufgaben als solche und das Regelwerk bzw. die Programme ihrer Durchführung, sondern auch und gerade die subjektive Wahrnehmung und somit die subjektive Rekonstruktion der Entscheidungssi­tuation (Definition der Situation/ des Problems) über die Art der Informa­tionsverarbeitung und somit die Art der Aufgabenerledigung entscheidet. In­dem hier die moderierende, ggf. auch konterkarierende Wirkung subjektiver Rekonstruktionen ins Spiel gebracht wird, läßt sich dann auch in theoretisch plausibler Weise fragen, wie denn diese Spielräume genutzt werden - ge­nauer: welche Art an beruflichen Selbstkonzepten oder Managementstilen bei diesen Rekonstruktionen zum Zuge kommen. Diese Art der Konzipierung von Entscheidungsverhältnissen erlaubt es schließlich, auch danach zu fragen, ob und wie jeweilige Managementstile darüber bestimmen, daß der "Politikein­fluß" zu einer Handlungsressource gemacht wird. Den augenblicklichen For­schungsbemühungen entsprechend wollen wir hier auch auf die unterschiedli­che Stile von Experten / Professionellen und Bürokraten / Generalisten ab­stellen. I

Fragen nach Steuerungsdefiziten oder Risiken einer Selbststeuerung lassen sich dabei allerdings nur schlüssig beantworten, soweit zugleich auf weitere Aspekte der Arbeitssituation - etwa den Typus der Aufgabenstellung und den Grad der Programmierung - abgestellt wird.

3. Methode: Untersuchungsobjekt, Erhebungsinstrument, Prüfvorgang

Die hier zu präsentierenden Daten basieren auf einer Befragung von Abtei­lungsleitern, Dezernatsleitern und Dezernenten - also höchsten und höheren Funktionsträgern - eines Regierungspräsidiums. Entsprechend der gegebe­nen Größe der Stichprobe von n = 119 ist auch davon auszugehen, daß es sich auf diese Gruppe von Bediensteten bezogen nahezu um eine Vol/erhebung han­delt.

Von der Zugehörigkeit zu einem Regierungspräsidium her kann sich eine solche Befragung schon insoweit als passend bzw. durchaus interessant erwei­sen, als es sich dabei bekanntlich um eine Verwaltungsebene handelt, bei der ein denkbar breites Spektrum unterschiedlichster AufgabensteIlung anfällt -und darüber hinaus aufs Ganze gesehen auch eine politisch besonders rele­vante Bündelungsfunktion. Zum anderen ist freilich zu bedenken, daß wir mit der Befragung von Abteilungsleitern, Dezernatsleitern etc. doch Bedienstete mit überwiegenden "Leitungsfunktionen" befragt haben. Aufgrund dieser Stichprobenzusammensetzung bzw. eines entsprechenden "Stichprobenef­fekts" kann es also von vornherein fraglich werden, inwieweit "allgemeine

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Funktionserfordernisse" von Leitungspositionen überhaupt Spielräume für die Anwendung stärker berufsspezijisch geprägter Management- und Ent­scheidungsstile lassen - ob bzw. inwieweit hier nicht ein solcher Effekt durch den Effekt der Funktionszugehörigkeit überlagert wird.

Vom Erhebungsinstrument her gesehen haben wir mit einem vollständig strukturierten Fragebogen gearbeitet. Demgemäß behandeln wir auch Fragen zum Managementstil, zum Informationsverarbeitungsverhalten, zu den Zu­friedenheitsmaßen und den Reformbedarfen durchweg als kognititv-evaluative Größen - also auch als Untersuchungsgrößen, die einer bewußten bzw. ver­zerrungsfreien Selbsteinschätzung und Bewertung zugänglich sind. Allerdings muß hier einschränkend gesehen werden, daß wir auch sogenannte Kontext­merkmale - z.B. Aufgabenkomplexität - als Wahrnehmungsdatum erhoben haben, in diesem Fall also in entsprechender Art und Weise Erhebungs- und Analyseeinheit unserer Untersuchung auseinanderfallen. Und genauso bedeu­tungsvoll scheint, daß wir entsprechend unserem Erhebungsinstrument den für unsere Argumentation wohl zentral bedeutsamen Managementstil - ein­schließlich seiner Implikationen für den Politikeinfluß - vorrangig wohl doch nur als kognitive Größe bzw. als eine situationsspezijisch erforderliche bzw. angepaßte Technik der Aufgabenerledigung erhoben haben. Fraglich muß also daher - anders betrachtet - bleiben, inwieweit in diesen Managementstilen auch persönlich verpflichtend wirkende Haltungen und insoweit stabile eva­luative Größen gesehen werden können. Aufgrund dieser Art der Operationa­lisierung und Datenerhebung ist vermutlich von vornherein damit zu rechnen, daß diese "Größe" gewissermaßen in Umkehrung erwartbarer Verhältnisse vergleichsweise "schärfer" auf Wahrnehmungsvariablen und vergleichsweise "schwächer" auf weitere Fragen der Selbsteinschätzung und Selbstbewertung reagiert.

Von der Prüfanordnung her haben wir dann eigentlich in einem dreidimen­sionalen Verhältnis zu prüfen, wie sich Kontextmerkmale - insbesondere Aufgabenkomplexität bzw. Grad der Programmierung - und Management­stile auf die Aufgabenerledigung und verschiedene Folgezusammenhänge, wie etwa Zufriedenheit und Anmeldung von Reformbedarfen, auswirken. In kritischer Weise geht es dabei zunächst einmal darum, gewissermaßen durch Konstanthalten weiterer Einflüsse das relative Gewicht des Managementstils für die Aufgabenerledigung und somit auch für den Einsatz der Politik als Handlungsressource und weiterer Folgegrößen zu ermitteln. Und nach "Her­auspartialisierung" dieser weiteren Einflüsse sollte dann auch im einzelnen aufgezeigt werden, mit welcher verbleibenden "Schärfe" dann die Manage­mentstile selbst - also die Unterscheidung von Experten und Bürokraten -auf die Aufgabenerledigung Einfluß nimmt. Da und insoweit wir gerade bei dreidimensionalen Aufschlüsselungen unserer Daten auf das Problem zu klein werdender Teilmengen von Daten stoßen, lassen sich diese Prüfungen aller-

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dings nicht schon jeweils im Sinne vollständiger Zusammenhänge, sondern bestenfalls von Tendenzaussagen vornehmen.

Die für unsere Beweisführung ausschlaggebenden kritischen Prüfgrößen er­geben sich aus der bekannten Methodik der Tabellenanalyse und - soweit möglich - aus dem klassischen Modell des Signifikanztestes.

4. Daten der Untersuchung

4.1. Managementstile und ihre Bedingungen

Wie gewissermaßen zu erwarten, lassen sich zunächst - und zwar mit Hilfe eines einfachen dichotomen Maßes deutlich unterschiedliche Management­stile - hier ein stärker professioneller (43,8 %), dort ein stärker bürokrati­scher (56,3 %) Stil - feststellen.

Bei näherer Verarbeitung der Daten und weiterer Berücksichtigung theore~ tischer Zusammenhänge ist aufs Ganze gesehen davon auszugehen, daß der Managementstil sich erkennbar aus dem kombinierten Einfluß (der interde­pendenten Wirkung) von Ausbildung / Hochschulstudium, Komplexität der Aufgabenstellung und ggfs. auch abhängig vom Ausmaß der beruflichen Er­fahrung oder der Beschäftigungsdauer - und damit auch verbunden mit den verschiedenen Stadien der beruflichen Karriere - bildet. Der vergleichsweise stärker professionelle Managementstil bildet sich dabei im Zusammenhang mit zunehmender Komplexität der AufgabensteIlung (68,8 % /54,8 % für hohe Aufgabenkomplexität), einem insbesondere juristischen Hochschulstudium (60,9 % /39,1 %) - also im Gegensatz zu einem ingenieur- und wirtschafts­wissenschaftlichen Studium (36,3 % ; 63,7 %) - und den eher mittleren Jahren der eigenen beruflichen Entwicklung.

Entsprechend den Unterschieden in den Managementstilen legt man dann auch das Schwergewicht bei der Problembearbeitung (abgefragt im Sinne ei­ner persönlichen Neigung oder Vorliebe) entweder eher auf die Informations­suche und die Anwendung von Techniken oder auf eine geregelte Arbeitstei­lung und Abstimmung unter den beteiligten Einheiten. Mit Hilfe einiger weite­rer (bi-variater) Zusammenhänge kann dabei auch gezeigt werden, daß im ersten Fall eher die fachlich beste Entscheidung, im zweiten Fall jedoch eher die sozialen Begleitumstände - Fragen der angemessenen Prozeßsteuerung und der Einhaltung von Gesetzen, Vorschriften und Richtlinien - im Vorder­grund stehen.

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Tabelle 1: Managementstile und Zusammenhänge

Hochschulstudium

Berufliches Engagement

(+)

Aufgabenkomplexitäl Managemlmls!il

(+)

(+)

Beschäfligungsdauer

4.2. Aujgabenerledigung und ihre Bedingungen

Bedingt durch den stark differierenden Aufgabenbestand von Regierungsprä­sidien - so etwa den unterschiedlichen Aufgaben von Hochbau, gesundheits­medizinischer Kontrolle und Kulturförderung oder Naturschutz - haben wir es auch mit durchaus stark variierenden Formen der Aufgabenerledigung zu tun. So wird hier schon einmal den Aufgabenbereichen selbst eine starke di­vergierende Bedeutung für den allgemeinen Auftrag des Regierungspräsidi­ums eingeräumt. Oder sodann ist feststellbar, daß diese AufgabensteIlungen auch zu stark unterschiedlich komplexen Injormationsverarbeitungen anhal­ten - und somit offensichtlich in unterschiedlicher Weise vollständige persön­liche Rekonstruktionen von Entscheidungsverhältnissen bedingen (vom Er­kennen von Handlungsanlässen und der aktiven Suche nach Informationen bis hin zum "Ausprobieren" passender Maßnahmen). Und für unsere eigenen Überlegungen ist schließlich von zentraler Bedeutung, daß man die antizipier­ten bzw. faktischen Reaktionen der politischen Spitze in unterschiedlicher Weise zu einer normativen Prämisse des eigenen Entscheidungsverhaltens macht.

Dabei ist nun zunächst einmal recht gut erkennbar, daß die Ausprägung die­ser Aspekte mit dem Managementstil variieren. Unter der Bedingung einer vergleichsweise stärkeren Orientierung an einem professionellen Stil läßt sich daher auch ermitteln, daß man der eigenen AufgabensteIlung eine vergleichs­weise größere Bedeutung für den allgemeinen Auftrag des Präsidiums (51 % zu 38 %) unterstellt, ein deutlich komplexeres Maß an Informationsverarbei­tung zeigt (38 % zu 21 %) - und der Tendenz nach auch eher bereit ist, den Po-

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litikeinfluß als Kriterium und als Handlungsressource für den Aufgabenvoll­zug (31,3 % /'rJ % bei Korrelation mit Einzelvariable; 28,6 % / 16,7 % bei Kor­relation mit Index MS) zu akzeptieren. Läßt man einmal Fragen der Operatio­nalisierung und des Erhebungsinstrumentariums außer acht, so läßt sich hier ganz im Gegensatz zu ersteren Erwartungen gerade für die Professionel­len/Experten eine ausgesprochen starke Sensibilität für die politischen Be­gleitumstände der Aufgabenerledigung unterstellen. In dieses Bild fügt sich im übrigen auch, daß sie eher als die Bürokraten bereit sind, auch die voraus­sichtliche Reaktion der weiteren Öffentlichkeit in ihrem Entscheidungsverhal­ten zu kalkulieren (68,2 % / 16,7 % bei Korrelation mit Index Management­stile). Wenn daher an dieser Stelle überhaupt von einer Tendenz zur Selbst­steuerung gesprochen werden kann, gilt dies entsprechend unseren Erhebun­gen und Daten zu allererst für den Bürokraten.

Doch zum anderen muß hier - entsprechend der von uns entwickelten Un­tersuchungsanordnung - gesehen werden, daß diese Form der Aufgabenerle­digung in einem vergleichsweise engeren Verhältnis zum Kontext der Aufga­bensituation - also zur Aufgabenkomplexität steht. Mit einer multivariaten Analyse läßt sich zwar noch feststellen, daß die Informationsverarbeitung ver­gleichsweise stärker von den jeweiligen Managementstilen geprägt wird. Stellt man dabei allerdings auf den Politikeinfluß ab, so zeigt sich recht deut­lich, daß hier in der Aufgabenkomplexität der eigentlich dominierende Faktor zu sehen ist - und im Managementstillediglich ein zusätzlich inltervenieren­der (vermutlich aber selbständiger) Faktor. Die dreidimensionale Analyse zeigt in diesem Punkt denn auch, daß erst hohe Aufgabenkomplexität die an­fiinglichen Orientierungen zugunsten einer Berücksichtigung des politischen Faktors umkehren.

Tabelle 2: Bedingungen und Folgen der Aufgabenstellung

MS ~ Politische Unterstützung

~::T7~~~-'·r~-AufgabenkomplexHät I Komplexität der Infor· 1 PolItikeinfluß 1-+1 Leistung

1 ______ ;.ationsver~r~~t~n~ _____ L+~ ! • keine Spezifikation durch • positive Spezifika-Aufgabenkomplexität tlon durch Aufgk.

• Negative Spezifika­tion durch Aufgk.

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Demgemäß haben wir es dann einerseits mit den gewissermaßen paradoxen Verhaltensweisen eines politischen oder doch zumindest aufgeklärten Exper­ten/Professionellen zu tun. Nach Lage der feststellbaren Daten bzw. der Zu­sammenhänge wird dieses Verhalten bzw. dieser Stil allerdings ganz wesent­lich aus Einsicht in die Notwendigkeit bzw. aus funktionalen Motiven heraus entwickelt, weil eben - so läßt sich vermuten - die Politikressource zumin­dest als notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Durchführung wir­kungsbezogener AufgabensteIlungen angesehen wird. Wie sich anhand der be­gleitend durchgeführten Fallstudien zeigen läßt, setzt hier eine angemessene Aufgabenerledigung im Regelfall voraus, daß - wie etwa für den Fall von Wirtschaftsförderungsprogrammen, sog. nachträglichen Anordnungen im Umweltschutz und auch der Einrichtung von Naturschutzgebieten - nach "außen" hin orientierte Durchsetzungsprobleme zu lösen sind.

Offen muß allerdings an dieser Stelle noch die Frage bleiben, ob bzw. in­wieweit dieser Disposition auf seiten höherer und höchster Funktionsträger nun auch durch eine angemesssen starke politische (oder mit einer hinreichen­den) Unterstützung entsprochen wird.

4.3. Persönliche Zufriedenheit und ihre Bedingungen

Auf das erreichte Maß der Zufriedenheit und die demgemäß auch kompensa­torisch angemeldeten Reformbedarfe sollten nun erwartungsgemäß nicht so sehr die Kontextbedingungen der Aufgabenerledigung, als vielmehr Fragen der Selbsteinschätzung und insoweit wiederum die Managementstile durch­schlagen. So ist dann auch zu vermuten, daß sich das Maß persönlich erreich­barer Zufriedenheit aus der jeweiligen handlungspraktischen sowie psycholo­gischen Vordringlichkeit von Leistungsnormen - und ablaufmäßig aus einem "Vergleich" eigener Ansprüche mit den gegebenen Verhältnissen ergibt.

Dabei ist dann zunächst auch aufschlußreich, daß man sich gewissermaßen ungeteilt jeweils ein hohes Maß an objektiver Leistungswirksamkeit in der ei­genen Aufgabenerledigung zuschreibt (76,1 % zu 77,1 % überdurchschnittli­che bzw. Spitzenleistung). Dies stimmt ja auch mit dem zuvor ermittelten Er­gebnis überein, daß wir es mit einer ausgesprochen weitgehenden Entspre­chung ("fit") von Aufgabenkomplexität und Komplexität der Informationsver­arbeitung zu tun bekommen. Zu nennenswerten Unterschieden kommen wir auch erst, wenn im engeren Sinn auf die persönliche berufliche Zufriedenheit abgestellt - hier also in der Fragestellung ganz bewußt der Bezug zum per­sönlichen Anspruchsniveau bzw. zum Grad der eigenen Verpflichtung gegen­über Leistungsnormen hergestellt wird. Ganz in Übereinstimmung mit den gängigen Erwartungen (und zu der These eines in natürlicher Weise anheben­den Anspruchsniveaus) zeigt sich hier - und zwar als Folge einer vergleichs-

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weise größeren Vordringlichkeit von Leistungsnormen -, daß gerade die Gruppe der Experten/Professionellen eine vergleichsweise geringere berufli­che Zufriedenheit entwickelt (16 % 120 %; 22,7 % zu 50 % auf der Basis von Indexwerten) - also häufiger äußern, daß sich noch vieles im Rahmen der Aufgabenerledigung verbessern ließe. Diese größere "Empfindlichkeit" er­gibt sich hier im übrigen zugleich aus einem vergleichsweise stärker ausge­prägten beruflichen Engagement (78,3 % /63,2 % für starkes berufliches En­gagement) - womöglich auch aus dem Umstand, daß man hier - zu ver­gleichbar größeren Anteilen - ein aktives statt bloß defensives ~rwaltungsverstl1ndnis zeigt (60,4 % /53,2 %).

7i2belle 3: Bedingungen und Folgen der Zufriedenheit

Aufgabenkomplexität

Komplexität

der Info·VerarbeHung

Bedeutung der AufgabensteIlung

I Anerkennung Im Hause I

Manegementstll

Berufliches Engager. ..

Verwaltungsverständnis

• PosHlv spezifiziert durch Anerkennung

• Positiv spezifiziert durch Unterstützung

(. )

L_~z~uf~rle:!de~n~he~lt~~'---I~~ Nutzenerwartung von Reformen

Daß und wie sich nun persönliche Zufriedenheit aus speziellen "Vergleichs­prozessen" ergibt, zeigt dann auch eine dreidimensionale Aufschlüsselung der Verhältnisse. Daran wird deutlich, daß die direkte negative Beziehung zwi­schen Managementstil und Zufriedenheit durch das erfilhrene Maß an politi­scher Unterstützung - und einer daraus auch direkt folgenden Anerkennung im Hause - vermittelt bzw. kontrolliert wird. Der eigentliche Anlaß der Un­zufriedenheit ist dann auch kombiniert in den Umständen zu sehen, daß sich der Experte zwar unter den gegebenen Bedingungen einer erfolgreichen Auf­gabenerledigung um einen Einsatz der Politik als Handlungsressource be­müht, dabei allerdings diese Unterstützung nicht - zumindest nicht in dem für notwendig erachteten Maß findet und wohl auch nicht die davon selbst wie­derum abhängige Anerkennung im Hause. Die dreidimensionalen Analysen zeigen hier daher auch, daß sich die negative Beziehung zum Managementstil

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auch erst bei ungenügend werdender politischer Unterstützung und Anerken­nung einzustellen beginnt. Da und insoweit sich Zufriedenheit im Zusammen­hang mit politischer Unterstützung bildet, wird an diesem Vergleichsgesichts­punkt auch wieder deutlich, welch große Bedeutung dem Politikeinfluß im Lichte dieses Managmentstils bzw. im Lichte einer für angemessen erachteten Problemlösung beigemessen wird.

4.4 Reformforderungen und ihre Bedingungen

Aus der jeweiligen Art der Zufriedenheit und ihren Bedingungen ergeben sich dann auch der eingeschätzte Nutzen von Reformen sowie die Art der geforder­ten Reformen selbst - handele es sich dabei um eine weitere Verbesserung von Informationsverarbeitungsmäglichkeiten oder um eine verbesserte soziale Unterstützung und Steuerung.

Ziemlich erwartungsgemäß ist dabei auch zunächst, daß sich die Dringlich­keit und die Art des Reformbedarfs doch recht deutlich gemäß dem jeweils er­reichten Maß an beruflicher persönlicher Zufriedenheit und nach den Mana­gementstilen einstellt. Während also Experten/Professionelle ein höheres Maß an Dringlichkeit veranschlagen (42,9 % /33,3 % für mittleren/höheren Nutzen) und sich in eindeutiger Weise für verbesserte Möglichkeiten der In­formationsverarbeitung (45,5 % / 16,5 % für sachlich-informations-bezogene Reformen) entscheiden, ist diese Dringlichkeit bei Bürokraten nicht so inten­siv und wird der Schwerpunkt der Forderungen auch nur auf eine weitere so­ziale Unterstützung gelegt (Tl,3 % /33,3 % für sozial-prozeßbezogene Re­formen).

Tabelle 4: Reformforderungen und ihre Bedingungen

Nutzenerwartungen I Politische EInbindung

Zufriedenheit

Gemäß vorliegenden und dreidimensional aufgeschlüsselten Daten liegt hier im Sinne einer weitergehenden Interpretation der Schluß nahe nahe, daß sich die Dringlichkeit bzw. der erwartete Nutzen von Reformen -letztendlich

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auch theoretisch zwingend - zusammenhängend bzw. kombiniert aus dem Maß an beruflicher Zufriedenheit und dem jeweils dominant ausgeprägten Managementstil ergibt - nicht jedoch schon aus einer weiteren, direkten In­tervention der Aufgabenkomplexität. Wie in aller Regel auch schon theore­tisch zu vermuten, muß also auf jeden Fall ein persönlich erhebliches "Defi­zit" oder "Mangelerlebnis" vorliegen, um überhaupt Reformanliegen zu ent­wickeln und sich dementsprechend auch einen vergleichbar größeren Nutzen davon zu erhoffen.

Während hier Managementstil und Zufriedenheit noch im Sinne eines kom­binierten Effekts operieren, ist allerdings - nach Lage der Daten - nun der Managementstil allein verantwortlich für die Anmeldung der inhaltlich unter­schiedlich gearteten Reformbedarfe. Theoretisch zwingend wird hier primär auch das als Verbesserung gefordert, was nun im Lichte der hier wieder domi­nant werdenden beruflichen Selbstverständnisse primär als persönlich erheb­liche "Mängelerlebnisse" empfunden wird. Zumindest relativ unabhängig von den sich zunächst quasi objektiv aufzwingenden Anforderungen einer er­folgreichen Aufgabenerledigung, wird daher von Experten nicht schon eine weitere politische Einbindung gefordert, sondern durchaus konsistent - eine weitere Verbesserung von Informationsverarbeitungsmöglichkeiten. Vorzugs­weise geht es hier also um verbesserte Möglichkeiten, fachlich relevante In­formationen aufzugreifen, auf ihre Verläßlichkeit hin zu prüf tm und sie in zweckgerechter Weise bearbeiten zu können. Anders gesagt: politische Unter­stützung wird hier zwar in einem .bestimmten Maße als notwendig empfun­den, über dieses prinzipielle Maß hinaus wird allerdings nicht nach einer wei­teren Verbesserung verlangt. Und umgekehrt betrachtet, dürfte nun von den sog. Bürokraten eine verbesserte soziale Unterstützung (inklusive einer ver­besserten politischen Einbindung) auch nicht schon nur aus bloßer Einsicht in eine funktional erhebliche Notwendigkeit gefordert werden, sondern ebenso aus einer persönlich akzentuierten Haltung bzw. einer vergleichsweise stärke­ren Orientierung an bloß organisationsinterner Autorität.

5. Zusammenfassung und Bewertung

Bedingt durch die Art der Stichprobe, die Art der OperationaHsierung von Untersuchungsgrößen und die Erhebung der Daten gibt es noch einige Un­schärfen und Instabilitäten in den Zusammenhängen. Gewisse Unsicherheiten stellen sich auch schon insoweit ein, als wir im Augenblick nicht genau sagen können, inwieweit in den Managementstilen nur situationsspezijisch erzwun­gene Verhaltensweisen oder doch stärker persönlichkeitsabhängige Problem­lösungsstile zu sehen sind.

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Dabei dürfte allerdings schon jetzt klar sein, daß dem Managementstil -neben dem Typus der Aufgabenstellung - zumindest ein sekundär verstär­kender Einfluß auf die Art der Aufgabenerledigung einzuräumen ist. Der Ma­nagementstil von Experten bzw. Professionellen erweist sich dabei auch inso­weit als funktional, als er den objektiv gegebenen Anforderungen entspre­chend zu einer komplexen Informationsverarbeitung und zum Einsatz der Politik als Handlungsressource anhält. So haben wir es in diesem Punkte auch nicht schon, wie ansonsten vermutet, mit irgendwelchen Tendenzen der Selbststeuerung, sondern geradezu umgekehrt mit dem fast schon paradoxen Verhaltensmuster des Typus eines aufgeklärten bzw. politischen Experten zu tun - der eben in zweckgerechter Weise versucht, neben dem Fachwissen und den Methodenkenntnissen auch die Politikressource - und somit ggfs. auch das Sanktionspotential und die Pressionsfähigkeit der Politik ins Spiel zu be­kommen. Gerade für den Fall schlecht-definierbarer Aufgaben kann dieser Stil also eine gewisse Gewähr dafür geben, daß die "Politik" - und zwar in angemessener Weise - sei es bei der Präzisierung von Zielen oder der Imple­mentation von Maßnahmen im Spiel bleibt. Wenn es hier im Entscheidungs­verhalten überhaupt zu Tendenzen einer "Selbststeuerung" kommt, dann ge­wissermaßen erwartungsgemäß bei den Bürokraten. Für diesen Typ ist aber zu bedenken, daß hier - abgesichert durch einen hohen Grad der Program­mierung - "Selbststeuerungen" im Sinne der Führungsentlastung geradezu gewollt sind.

Die weitergehende, praktisch und normativ relevante Frage ist sodann, ob oder inwieweit mit den ermittelten Ergebnissen auch das gewissermaßen je­weils notwendige Maß an Steuerung im Verhältnis von Politik und Verwaltung erreicht wird. Obwohl sich dies schwer objektivieren läßt, kann zum einen da­von ausgegangen werden, daß hier der Experte / Professionelle unter den gege­benen Bedingungen der Aufgabenerledigung zwar ein gewisses Maß an lei­stungskritischer Untersteuerung (vgl. hier die Daten zur vergleichsweise ge­ringeren politischen Unterstützung bei zunehmender Aufgabenkomplexität) erkennt, dieser Typ allerdings - soweit es um eine weitere Bessergestaltung bzw. Optimierung gehen soll- entsprechend den dominanten Aspekten sei­ner Selbsteinschätzung doch primär weiter verbesserte Möglichkeiten der In­formationsverarbeitungsmöglichkeiten fordert. Und für den Bürokraten gibt es genau umgekehrt mit Blick auf die Zwänge der Aufgabenerledigung keinen weiteren politischen Steuerungsbedarf, gleichwohl wird hier andererseits -wieder im Sinne einer weiteren Optimierung der Verhältnisse - eine verbes­serte Einbindung in die übergreifenden politischen Zielsetzungen gewünscht. Soweit es also um eine ggf. zu verbessernde politische Steuerung geht, sind hier also neben den quasi objektiv zu ermittelnden Defiziten die jeweilige Art zusätzlich intervenierender Anspruchsniveaus zu bedenken. Als gänzlich un­strittig kann es hier allerdings gelten, daß unabhängig von den jeweiligen Ty-

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pen ein verstärktes Maß an Anerkennung und Integration, somit eine verbes­serte Funktionstauglichkeit des symbolisch-affektiven Managements der poli­tischen Spitze zu fordern ist. Auf der Basis aller Befragten äußern nur 8,4 % ihre volle Zustimmung, daß sie die wohlwollende Unterstützung durch die po­litische Spitze bekommen.

Von allgemeiner Bedeutung für die weitere Forschung könnte schließlich sein: Zunächst einmal ließe sich näher prüfen, unter welchen Bedingungen und in welcher Hinsicht die sich die von uns beschriebenen Managementstile - die des Experten und Bürokraten - bilden. Für den von uns ermittelten Ty­pus des politischen bzw. aufgeklärten Experten / Professionellen ist sicherlich mitbestimmend, daß von den Laufbahnbestimmungen her Juristen (mit ihren hermeneutischen Entscheidungsstilen) auch auf modernere bzw. wirkungsbe­zogene Aufgabenbereiche eingesetzt werden - oder aber Ingenieure und Ökonomen zunächst in überraschender, bei näherer Überlegung aber durch­aus verständlicher Weise zu einer starken Programmierung ihrer Aufgabenbe­reiche (etwa Anwendung von DIN-Verfahren im Hochbau) neigen.

Und sodann ist sicherlich beachtenswert, daß wir hier zu einer überra­schend starken und sich durchaus als funktional erweisenden Passung von In­formationsverarbeitungsa1iforderungen und Informationsverarbeitungsver­halten kommen - und dabei auch abhängig vom Aufgabentypus, allerdings vermittelt durch den Managementstil, feststellen können, daß hier "Politik" bewußt neben Recht, finanziellen Anreizen etc. als Handlungsressource ein­zusetzen versucht wird. Im Regelfall wünscht man sich hier also eine politi­sche Präzisierung von Zielsetzungen und auch konsequentes politisches Han­deln bei der Mobilisierung sowie Durchsetzung der dazu notwendigen Maß­nahmen. Im Rahmen einer solchen Untersuchung bzw. auf der Basis dieser Daten scheint es also ziemlich abwegig, Selbststeuerungstendenzen im klassi­schen Sinne von Zielverschiebungen oder strategisch angelegten 11iforma­tionsfilterungen (selektive Aufwärtskommunikation) unterstellen zu wollen.

Und schließlich gibt hier ebenso Anlaß zur Überlegung, daß sich der fach­lich notwendige, aber auch der affektiv notwendige Bedarf an Steuerung -und zwar gerade wegen der klassisch bürokratischen Behördenstruktur von Regierungspräsidien .- nicht mehr, oder nicht in angemessener Art und Weise befriedigen läßt. Wie schon im Rahmen anderer Betrachtungen, etwa denen der Politikfeld- und Implementationsforschung, mehrfach angedeutet, haben wir es hier also nicht schon mit gewissermaßen normativ bedenklichen Pro­blemen der Selbststeuerung zu tun, sondern erweist sich ganz im Gegenteil die Politik als besonders knappe Handlungsressource.

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Anmerkungen

1 Um hier eine gewisse Vergleichbarkeit mit den Ergebnissen anderer Forschungsansätze (ins­besondere der "Technokraten" -Forschungen) herzustellen, muß freilich bedacht werden, daß hier lediglich auf die Anwendungjachspezijischer Methoden oder organisationsintemer U1r­fahrensregeln abgestellt wird - also weitergehende Gesichtspunkte, wie etwa Ausmaß der Programmiertheit, nicht schon in der Definition enthalten sind; vgl. zu gänzlich anders gear­teten Operationalisierungen Putnam (lfI17: 383 ff.).

Literaturverzeicbnis

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Mayntz, R. 1m: Soziologie der öffentlichen Verwaltung, Heidelberg. Putnam, A.D., lfI17: Elite Transformation in Advanced Industrial Societies. An Empirical

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N. Regieren und Personal

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Die Staatsaffinität der Exekutivpolitiker der Bundesrepublik - Zur Bedeutung der Bürokratie als Sozialisationsfeld

Hans-Ulrich Derlien

1. Einleitung

Die Personalstruktur und das subjektive Rollenverständnis der politischen Führungsschicht gehören vermutlich zu den Elementen eines parlamentari­schen Regierungssystems, die am wenigsten formalisierbar sind, ja unter dem Gesichtspunkt der Repräsentativität für die Wahlbevölkerung gar nicht über formale Auswahlkriterien gesteuert werden sollen. Dennoch spielen sich re­gelmäßig bestimmte, für nationale Führungsschichten typische Merkmals­kombinationen im Laufe der Zeit ein, die alles andere als zufallsbedingt sind. Daß die deutsche politische Elite im Gegensatz zur politischen Führungs­schicht in Großbritannien oder in den U.S.A. eher vom Beamtentum als von einer eigenständigen politischen Schicht geprägt ist, hat systematische Gründe: der seit 1848 hohe Beamtenanteil in den Parlamenten (Boldt 1979; Klatt 1980) reflektiert letztlich den Umstand, daß in der deutschen geschichtli­chen Entwicklung die Bürokratie älter ist als die Demokratie. Heute wird er dadurch begünstigt, daß das Beamtentum nicht nur weiterhin nicht parteipoli­tisch neutralisiert, sondern im Wahlkampf auch privilegiert ist. Diese Bedin­gungen reichen jedoch kaum aus, die besondere Attraktivität der Befassung mit öffentlichen Angelegenheiten im politischen System zu verstehen; Beamte könnten sich ja schließlich auch in der Verwaltung den öffentlichen Angele­genheiten, allerdings weniger gestaltend, widmen. Nicht zuletzt wenn man in den Kategorien der dichotomen Typologie von Beamten und Politikern denkt, die Max Weber entwickelt hat, ist nicht einsichtig, weshalb es Menschen aus den Büros in die öffentliche Arena zieht, warum sie sich vom Medium der Schrift dem der Rede zuwenden und von dem auf Fachschulung beruhenden Problemlösungsverhalten zum mit Leidenschaft geführten Kampf um die poli­tische Macht antreten.

Im folgenden sollen, soweit dies empirisch möglich ist, zwei Fragen behan­delt werden: die nach der Staatsaffinität der Rekrutierungswege der politi­schen Elite und die nach dem Ausmaß der juristischen Prägung ihres Staats­verständnisses als Teil des subjektiven Rollenverstlindnisses. Unter "Staatsaf-

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finität" sei im folgenden die Neigung verstanden, sich aktiv mit öffentlichen Angelegenheiten zu befassen. Ich gehe dabei davon aus, daß spezielle Rekru­tierungswege auch besondere Motivationen erfordern und möglicherweise in einem spezifischen Staatsverständnis resultieren, das zwischen ins Metaphysi­sche steigerbarem Etatismus einerseits und dem Primat einer "civii society" andererseits (Heper 1987) angesiedelt sein kann. Die Hypothese liegt nahe, daß eine stark bürokratische Rekrutierung der politischen Elite auch ein deut­lich etatistisches Rollenverständnis aufweist. Dies umso mehr, wenn wie in Deutschland der Staatsbegriff lange Zeit von den Institutionen "Monarchie", "Bürokratie" und "Militär" aus konzipiert und Parlamente als Teil der parti­kularistischen Gesellschaft und "staatsformabhängiges Beiwerk" (Böhret et al. 1988, 257 f.) angesehen wurden.

2. Rekrutierung der Exekutivpolitiker

Gestützt auf die Analyse der Biographien aller zwischen 1949 und 1984 amtie­renden Bundesminister und Kanzler (121 BM) sowie Parlamentarischen Staatssekretäre (seit 1967: 72 PStS) seien drei Indikatoren zur Charakterisie­rung der Rekrutierung dieses Teils der politischen Elite herangezogen: die Ausbildung, das Vorhandensein administrativer Berufserfahrung und die so­genannte Berufsvererbung: die Herkunft aus einer Beamtenfamilie.

2.1 Bildung

Die formale Bildung der Bonner Exekutivpolitiker untersuchen, heißt nach ihrem Studienfach fragen; denn wie die administrative Elite besteht auch die politische Elite überwiegend aus Akademikern: 71,7 Prozent (Beamte: 96,8 Prozent) haben studiert, ja 64 Prozent der studierten Politiker sind auch pro­moviert (Beamte 70,9 Prozent). Der Unterschied im Promoviertenanteil von Spitzenpolitikern und Beamten ist Folge des Generationenwandels zwischen 1949 und 1984 (Derlien 1990), denn es sind die historisch jüngeren PStS, die nur zu 51 Prozent promoviert sind, während BM und beamtete Staatssekretäre fast gleich oft den in den älteren Generationen üblichen Studienabschluß der Promotion (70,8 bzw. 72,7 Prozent) erreicht haben.

Bedeutsamer als die regelmäßig hohe Formalbildung, die unsere Exekutiv­politiker mit der Beamtenelite gemein haben, ist die Übereinstimmung im Studienfach. Von den studierten Politikern haben 59,6 Prozent Jura studiert -kaum weniger als die Elitebeamten mit 65,1 Prozent. An zweiter Stelle folgt das Studium der Ökonomie mit 14 Prozent (Beamte 12,6 Prozent). Dabei ist in

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der Generationenfolge auffällig, daß die Bedeutung des Jurastudiums mit der Geburtskohorte 1911-16 und damit - auf Legislaturperioden bezogen - seit 1969 rückläufig ist, besonders stark in der Beamtenschaft (1CJ77: 59,1 Prozent mit anschließender Stabilisierung bei 65 Prozent), während der Juristenanteil unter den Politikern seit 1CJ70 (41,2 Prozent) auf 65 Prozent (1983) gestiegen ist. Das Jura-Studium scheint also mehr denn je unsere politische Elite zu qua­lifizieren, wenn sie nicht die vormals ebenfalls der Staatswissenschaft zuge­rechnete Ökonomie erlernt hat. Zwar ist ein hoher Juristenanteil in der politi­schen Elite keine deutsche Besonderheit, sondern prägt auch die Verhältnisse in den USA (Rüschemeyer 1CJ76, 67); Juristen sind unter den deutschen Exeku­tivpolitikernjedoch deutlich stärker vertreten als unter den Abgeordneten des Bundestages, wo der Juristenanteil bei rund 30 Prozent liegt.

2.2 Administrative Erfahrung

Nur rund 55 Prozent aller 193 Exekutiv-Politiker hatten in ihrer Karriere keine berufliche Erfahrung in der öffentlichen Verwaltung sammeln können, bevor sie in Bonn ins höchste Amt ihrer Karriere gelangten; alle anderen hatten kurzfri­stig bis zu vier Jahren (23,3 Prozent) oder gar längere Zeiten (22,3 Prozent) ih­res beruflichen Lebens in der öffentlichen Verwaltung verbracht. Dabei nahmen administrative Karriere-Elemente nach 1949 mit 29 Prozent einen größeren An­teil ein als bei den Personen, die schon vor 1949 ihre Laufbahn begonnen hatten (16 Prozent). Mit einem Drittel schon beinahe üblich sind verwaltungserfahrene Politiker unter den Angehörigen der Jahrgänge ab 1917. Von der Kohorte 1923 bis 1928 ist beinahe jeder zweite kurzfristig bis zu 4 Jahren (28,2 Prozent) oder längere Zeit (17,9 Prozent) in der Verwaltung tätig gewesen. Daß man BM oder PStS wird, nachdem man den größten Teil des Berufslebens in der Verwaltung verbracht hat, beschränkt sich jedoch auf Fälle wie die BM Westrick und Lahn­stein. Ganz allgemein ist der Wechsel von administrativen Elite-Positionen in die Politik höchst selten; wie sich der Beamtenanteil im Bundestag nicht aus den Bonner Ministerien rekrutiert, so ist auch die umgekehrte intersektorale Mobi­lität von politischen in administrative Spitzenpositionen höchst selten. Was die vorgestellten Daten belegen, ist nicht mehr, aber auch nicht weniger, als daß die spätere politische und administrative Elite, bevor sie Spitzenpositionen erreicht, neben der Juristen-Schulung zur Hälfte auch einen vergleichbaren beruflichen Erfahrungshorizont aufzuweisen hat. Ohne daß der biographische Zeitpunkt näher bestimmbar ist, gabeln sich irgendwann die Karrieren derjenigen juri­stisch ausgebildeten Verwaltungsleute, die in die Politik gehen, und derjenigen, die in die administrative Elite gelangen.

Natürlich bedingen sich Studienfach und Verwaltungserfahrung. Nur etwa ein Drittel der Biographien von Juristen unter den Politikern verzeichnen

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keine Verwaltungserfahrung, während es unter den Ökonomen 68 Prozent und unter sonstigen Akademikern 66 Prozent sind. Umgekehrt stellen die Juristen jeweils ein Drittel der kurz- und der längerfristig in der Verwaltung tätigen späteren politischen Elite. 1 Diese Befunde, wenngleich im internationalen Vergleich wohl allenfalls noch in Frankreich und Italien anzutreffen - eben­falls Ländern mit einer stark ausgeprägten etatistischen Tradition - besagen zunächst nur, daß in einem bestimmten nationalen politischen Kontext verwal­tungsmäßige Ausbildung in der Elite verbreitet ist und sich folglich auch in der politischen Elite antreffen läßt. Historisch bedeutsam wird der Befund indes dann, wenn sich feststellen läßt, daß sich dieser Karriereweg sogar innerhalb einzelner Familien "vererbt".

2.3 Berufsvererbung

Dies ist weitgehend der Fall. Unsere Spitzenpolitiker stammen zwar am häu­figsten aus der privatwirtschaftlichen Mittelschicht (und nur zu 19,7 Prozent aus Haushalten von Arbeitern oder einfachen Angestellten), aber außerdem wuchsen 34,3 Prozent in Beamtenfamilien auf, davon 21,2 Prozent als Kinder von Beamten des höheren Dienstes. In der Verwaltungselite ist die Selbstre­krutierung aus dem höheren Dienst mit 49 Prozent noch ausgeprägter. Jura wird zwar in allen Herkunftsklassen am häufigsten studiert, mit 79,2 Prozent bei Söhnen höherer Beamter aber noch häufiger als bei denen, die Freiberuf­ler (71,4 Prozent) oder gehobene Beamte (41,7 Prozent) zum Vater hatten. Keine Verwaltungserfahrung haben Exekutivpolitiker entsprechend am selten­sten, wenn sie von höheren Beamten abstammen.

Der Umstand, daß jeder dritte BM und PStS aus einer Beamtenfamilie stammt, ist besonders dann aufschlußreich, wenn man das Modell der Berufs­vererbung auf die Berufspolitiker bezieht und feststellt, daß nur fünf Elitemit­glieder einen Berufspolitiker oder Berufsfunktionär zum Vater hatten (zum Vergleich: auch 10 Spitzenbeamte). Offenbar hat die deutsche Geschichte die Entwicklung einer parlamentarischen Kultur derart stark retardiert, daß sich eine Tradition des Berufspolitikers nicht hat entwickeln können und eine sol­che Schicht nicht zum Rekrutierungsfeld der politischen Elite hat werden lassen.

Darauf weisen auch Interviewergebnisse einer 1987 unter 59 Bonner Bun­destagsexponenten (darunter 10 PStS) und 147 Spitzenbeamten (darunter 13 StS) durchgeführten Untersuchung hin (Derlien / Mayntz et al. 1988, 55 f.). 59 Prozent der Politiker und 76 Prozent der Beamten hatten Verwandte im Staats­dienst, bei den Politikern vornehmlich die Eltern (45,7 Prozent), die Großel­tern (20 Prozent), Onkel oder Tanten (34,3 Prozent), während es bei den Be­amten etwas häufiger die Eltern (74 Prozent) und die Großeltern (39 Prozent),

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aber seltener Onkel und Tanten (22 Prozent) waren. Wenn Politiker 10 Prozent häufiger Geschwister im Staatsdienst vermerken als die Beamten, dann deutet sich wiederum - jetzt innerhalb einzelner Familien - die Gabelung der ad­ministrativen und der politischen Karrieren auf gemeinsamem familiären Hin­tergrund an.

Umgekehrt gaben 63 Prozent der Politiker, aber auch 47 Prozent der Spit­zenbeamten an, daß einer ihrer Verwandten politisch aktiv gewesen sei - die Eltern bei 57 Prozent der Politiker und bei 51 Prozent der Beamten. Bedeut­sam ist das politische Aktivitätsniveau im Elternhaus aber insofern nicht, als es nicht dazu führte, daß ein Elternteil Berufspolitiker wurde. Späteren Spit­zenpolitikern und Spitzenbeamten ist also gemein, daß ihre Staatsaffinität im Sozialisations- und im Rekrutierungsprozeß stark exekutiv über ihre Herkunft aus Beamtenfamilien, durch Jurastudium und anschließende Verwaltungser­fahrung vermittelt ist.

3. Staatsverständnis

Hat dieser Rekrutierungsweg auch ein spezifisches subjektives Rollenver­ständnis zur Folge, das diese Gruppe der Exekutivpolitiker von denen mit an­derer Biographie unterscheidet? Aus der erwähnten Elitebefragung von 1987 liegen einige Befunde vor, die es erlauben, das Rollenverständnis und speziell das Staatsverständnis von Politikern (allerdings neben den 10 PStS MdBs aller Fraktionen) und von Beamten unter Berücksichtigung des juristischen Studi­ums zu qualifizieren.

Während Juristen unter den Politikern die politischen Aspekte der Beamten­rolle nur zu 30,4 Prozent sehr gut fanden (gefolgt von 27,3 Prozent der Ökono­men), beurteilten sogar 78 Prozent der juristisch geschulten Spitzenbeamten die politische Seite ihrer Rolle als sehr positiv (Mayntz/Derlien 1989). Zwar prädestiniert die juristische Ausbildung also in beiden Teileliten mehr denn jede andere Ausbildung dazu, die Dichotomie von Politik und Verwaltung auf­zulösen; dies gilt aber nicht für die Mehrheit der Juristen unter den Politikern, auf deren Beurteilung die Sektorzugehörigkeit offenbar stärker durchschlägt als das Studienfach.

Entsprechend fallt das Bild aus, wenn man technokratische Einstellungen untersucht (Aberbach et al. 1990); auf einem aus 4 items2 bestehenden Index, dessen 16 mögliche Punkte den niedrigsten Grad von Technokratismus ange­ben, erzielten die deutschen Beamten (wie ihre amerikanischen Kollegen) ei­nen mittleren Wert von 10.8 (US: 9.6); dabei Juristen nach Sozialwissenschaft­lern (12.6) und Ökonomen (11.2) den drittschwächsten Technokratismus-Wert (10.8), vor Agrarwissenschaftlern (10.4) und Naturwissenschaftlern (9.9).

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Niedriger als diese Ausprägungsunterschiede nach Studienfach sind diejeni­gen, die sich zwischen StS (10.4) und den darunter liegenden Rängen bis zum Ministerialdirigenten (10.8) ergeben (Ministerialrat und Ministerialdirektor 10.7). Die Parteibindung diskriminiert aber nicht weniger als das Studienfach: 10.6 bei den Parteilosen, 11.0 bei Mitgliedern der Regierungsparteien und 11.3 bei Sozialdemokraten, die sich damit als unwesentlich weniger technokratisch als andere Beamtengruppen erweisen. Die Beamtenschaft in Bonn ist also ge­nerell wenig technokratisch, sondern politikaufgeschlossen. Juristen machen dabei keine Ausnahme.

Hier deutet sich aber an, daß der Stellenwert des Studienfachs möglicher­weise für das Rollenverständnis weniger groß ist als die Parteibindung: bei der Frage nach der Akzeptanz der politischen Aspekte der Beamtenrolle zeigt sich nämlich auch, daß SPD-MdBs sie zu 30,4 Prozent, CDU/CSU-MdBs aber nur zu 23,1 Prozent voll akzeptieren, obwohl zum Erhebungszeitpunkt ein po­litisches Rollenverständnis der Ministerialbürokratie im Sinne der eigenen Regierung gewesen wäre. In der Beamtenschaft finden wir übrigens dieselben parteimäßig bedingten Einstellungsunterschiede.

Einen direkten Vergleich von Politikern und Beamten erhielten wir auch bei einer auf Selbsttypisierung zielenden Frage. Von 10 möglichen Rollen nannten Politiker dabei die des "Repräsentanten des Staates" an fünfter Stelle (1.9 auf der 4-Punkte-Skala; 1 = trifft ganz zu), die Beamten diese Funktion mit 1.7 an vierter Stelle (Derlien/Mayntz et al. 1988, 14). Vergleicht man die Einstellung der Juristen mit der anders Ausgebildeter, so ergibt sich für die Politiker, daß Naturwissenschaftler und Juristen (1.8) sich etwas stärker als Ökonomen (1.9) und deutlich stärker als Philologen (2.7) und Sozialwissen­schaftier (2.5) als Staatsrepräsentanten ansehen. Bei den Beamten akzeptieren die Juristen mit 1.6 die Rolle ebenfalls stark, übertroffen nur von Agrarwissen­schaftlern und gleichauf mit Sozialwissenschaftlern. Wiederum schlagen aber parteipolitische Grundhaltungen auf die Stärke dieses Rollenverständnisses durch, allerdings deutlich nur bei den Politikern: CDU / CSU 1.5, SPD 2.1, FDP 2.2, Grüne 3.2. Bei den Beamten schwanken die Werte nur leicht zwi­schen 1.5 (FDP) und 1.7 (SPD, Parteilose). Erneut erweist sich die Sektorzu­gehörigkeit der Teileliten als prägender Faktor, und die Parteizugehörigkeit verstärkt bei den Politikern die Selbstwahrnehmung der Rolle als Staatsreprä­sentant.

Schließlich sei eine aus etatistischen und elitären Elementen bestehende Orientierung erwähnt, die wir als Staatsautoritarismus3 bezeichnen (Der­lien/Groß 1990). Nur 7,4 Prozent der Politiker (10,2 Prozent der Beamten) sind als stark staatsautoritär einzustufen, während die Mehrheit der Politiker (53,7 Prozent) schwach staatsautoritär ist (40,9 Prozent der Beamten). Dabei sind unter den Beamten die Juristen (22.2 Punkte) wiederum etwas staatsauto­ritärer, wenngleich auf niedrigem Niveau, als Sozialwissenschaftler (16.8) und

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Ökonomen (20.7). Unter den MdB sind die Juristen (20.5) jedoch nach den Ökonomen (20.2) am wenigsten staatsautoritär. Das Elternhaus spielte bei der Entwicklung dieser Attitüde keine Rolle. Damit richtet sich abermals der Blick auf die Parteimitgliedschaft: SPD-Mitglieder erzielen in der Beamten­schaft (19.2) wie im Bundestag (18.5), sieht man dort von den Grünen (17.0) ab, die niedrigste Merkmalsausprägung, während die höchsten Werte von CSU­Mitgliedern erreicht werden (Beamte 24.2; MdB 28.0).

Diese Indizien mögen genügen, um zu demonstrieren, daß für die Ausprä­gung von Werthaltungen und Rollenverständnis der politischen und der admi­nistrativen Elite die Zugehörigkeit zu einer der Teileliten und die Parteibin­dung mindestens so bedeutsam ist wie das Studienfach. Juristenausbildung be­günstigt keineswegs per se unpolitisches Rollenverständnis und hohe Technokratismus- oder Staatsautoritatismus-Werte, sondern korreliert eher mit moderaten Werten.

4. Schluß

Die empirischen Befunde zur Rekrutierung der deutschen Politikerelite nach dem Zweiten Weltkrieg unterstreichen ein typisch deutsches Merkmal, das auch in früheren Regimes strukturprägend war: die große Bedeutung des Jura­Studiums für die Elitebildung in Verwaltung und Politik. Dabei kommt es in erheblichem Umfang zur intergenerationalen Berufsvererbung aus Familien des öffentlichen Dienstes. Allerdings entscheidet sich ein Teil der so für eine Verwaltungslaufbahn Prädestinierten nach ersten administrativen Erfahrun­gen für die Berufspolitik. Umgekehrt haben Berufspolitiker aufgrund der kur­zen verfügbaren historischen Zeitspanne bislang kaum neue Berufspolitiker fortgezeugt. Mit Dahrendorf (1962) könnte man sagen, daß die Juristen eine abstrakte Elite (im Gegensatz zum britischen establishment) darstellen, deren generalistische Universitätsschulung ein funktionales Äquivalent zur engli­schen public school und der dort vermittelten Homogenität der Elite darstellt. Die Vermutung, Juristenausbildung und Verwaltungserfahrung, gar in der zweiten Generation, hätten auch ein am metaphysischen Staatsbegriff orien­tiertes etatistisches Rollenverständnis bis in die Gegenwart tradiert, lassen sich jedoch nicht bestätigen. Der "autoritäre Legalismus", den Dahrendorf (1962, 24) feststellen zu können glaubte, läßt sich weder für 1970 noch für 1987 nachweisen. Vermutlich erlaubt es gerade die Formalität der Juristenausbil­dung, im Rollenverständnis inhaltlich so weit offen zu sein, daß unterschiedli­che Parteibindungen der Elite möglich und diese Parteiaffinität wie auch die Zugehörigkeit zum Verwaltungs- oder zum politischen Bereich prägender für das Rollenverständnis und das Staatsverständnis sind als die im Rekrutierungs-

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prozeß im Extremfall dreifach über Elternhaus, Ausbildung und erste Beruf­serfahrung vermittelte strukturelle Staatsaffinität der deutschen politischen Elite.

Anmerkungen

1 Der statistische Zusammenhang ist mit Cramer's V = 0,22 deutlich. 2 Es handelt sich um a) "In sozialen und wirtschaftlichen Angelegenheiten muß heutzutage

technischen Überlegungen stärkeres Gewicht zukommen als politischen Faktoren"; b) "Um Verwaltungshandeln rational zu bewerten, ist es notwendig, politische Erwägungen auszu­schließen"; c) -"Die Regierung sollte an der Effektivität ihrer Politik beurteilt werden und an sonst nichts"; d) "Der Bundestag mischt sich zu häufig in die Arbeit der Verwaltung ein."

3 Der Index setzt sich aus folgenden items zusammen: a) "Einige Leute sind auf grund ihrer Herkunft besonders zur Führung unseres Landes geeignet"; b) "Man wird immer ein paar starke, fähige Persönlichkeiten brauchen, die das Steuer in die Hand zu nehmen wissen"; c) "Das allgemeine Wohl unseres Landes wird durch die ständigen Auseinandersetzungen zwi­schen partikularistischen Interessengruppen ernstlich gefährdet"; d) "Es ist wichtiger, daß eine Regierung stark und handlungsfähig ist, als daß sie ein bestimmtes Programm vertritt"; e) "Die Freiheit politischer Propaganda ist keine absolute Freiheit, und der Staat sollte ihre Ausübung sorgfältig regulieren". Der schwächste Index-Wert wird mit 10, der höchste mit 40 erreicht; bis 20 Punkte schwacher, ab 30 starker Staatsautoritarismus.

Literatur

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Parlamentarische Staatssekretäre Karrieremuster und Zufälligkeiten im Rückblick eines Politikers*

Andreas von Bülow

I. Meine Zeit als Parlamentarischer Staatssekretär liegt relativ lang zurück, von 1976 bis 1980. Ich gehöre zu denjenigen, die in die Politik gehen wollten und deshalb Jura studiert haben, komme aber aus einem reinem Musikerhaushalt. Insofern gehöre ich nach der Statistik wohl zu den Sonderfällen.

Nach dem Jurastudium war ich im Landesdienst Baden-Württemberg, in zwei Landratsämtern und einem Regierungspräsidium. Einmal zu erfahren, wie der Inspektor unten an der Schwäbischen Alb oder im Landkreis Heidelberg mit den Materialien umgeht, die oben hochkomplex zusammengeschustert werden - was man ihm zumuten kann, was man ihm nicht zumuten kann und womit man ihn lahmlegen kann -, das hat mich meines Erachtens für meine parla­mentarische Zeit mit unendlichen Kenntnissen ausgestattet. Auch der Umgang unmittelbar mit der Basis, mit Kreistagen usw. hat mir sehr viel gebracht.

Wichtig war für mich in meiner Vorbereitungszeit auch das Jahr in Amerika, wo ich mich über die Erdgas-Industrie ausgelassen habe, über die Regulierung. Das war damals die Zeit, in der die erste Erdgas-Pipeline von Holland in die Bundesrepublik verlegt wurde, und die Frage tauchte auf, soll man das wie die Amerikaner machen mit unabhängigen Preisüberwachungsbehörden oder nicht. Mein Ergebnis war nach einem tiefen Einblick in die ganze politische und juristische, administrative Landschaft der Amerikaner: um Gottes willen nicht so wie die. Auf jeden Fall hat das in der ganzen Breite einen Einblick in die amerikanische Regierungsmaschine gegeben, wie ihn sonst nur ganz wenige haben konnten.

II. Nach drei Jahren Verwaltungstätigkeit bin ich über die Landesliste Baden­Württemberg in den Bundestag gewählt worden. Ich hatte das große Glück -später hätte ich sicher keinen Erfolg gehabt -, einer der jüngsten zu sein, Vor­reiter der Erneuerungswelle. Vier Jahre später waren die Listen voll von denje­nigen, die in meinem Alter ins Parlament drängten. Nun verstopft die Ko-

* Anhand der Tonband-Abschrift redigierte Fassung eines freien Vortrages, in dem auch auf Fragen von Teilnehmern eingegangen wurde.

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horte der inzwischen 50jährigen eher die Nachwuchskanäle der SPD. Nach und nach werden wir aus hegerischen und pflegerischen Gründen aus dem Rennen genommen. Ich halte das letzlich für akzeptabel.

Gegen meinen Willen bin ich zunächst in den Haushaltsausschuß geschickt worden. Rainer Offergeid, der spätere Finanzminister, trat damals gleichzei­tig mit mir auf und machte mir als einer, der in der Finanzverwaltung großge­worden war, natürlich meinen Wunsch streitig, als Baden-Württemberger in den Finanzausschuß zu gehen. Ich hatte mir geschworen, als von Bülow unter keinen Umständen (a) Landwirtschaft, (b) Militär zu machen. Also wurde ich in den Haushaltsausschuß gesteckt, weil da Vakanzen waren.

Ich sage das deshalb, weil das Parlament, was die Karrieren angeht, eine ganze Reihe von Zufälligkeiten zu bieten hat. Am Ende bin ich im Haushalts­ausschuß außerordentlich glücklich geworden. Das erste, was dort frei wurde, war die Berichterstattung in Landwirtschaftsfragen. Also habe ich mich erst­mal anderthalb oder zwei Jahre ganz intensiv mit Landwirtschaft beschäftigt. Wenn man jede Woche mehr als hundert Seiten Material verschlingt und Fach­literatur noch und noch liest, dann ist das fast wie ein Studium. So wird man innerhalb weniger Jahre auch zum Landwirtschaftsexperten.

Aber für die SPD ist das kein übermäßig einträgliches Gebiet. So bin ich, als das frei wurde, Berichterstatter Forschung und Technologie geworden und habe dort mich versucht einzuarbeiten. In meiner Zeit als Berichterstatter tra­ten diese ganzen schrecklichen Dinge wie Hochtemperaturreaktor, Schneller Brüter und ich weiß nicht was zum ersten Mal in den Haushalt ein. Damals gab es im Parlament, abgesehen von einem Kollegen aus Frankfurt, nicht eine einzige Stimme, die sich gegen die Atomenergie wendete. Ansonsten war bei uns in der Fraktion alles einhellig pro Kernenergie.

Dann wurde ich Sprecher in Haushaltsfragen für meine Fraktion bis 1976.

III. Warum ich Parlamentarischer Staatssekretär geworden bin, weiß ich selbst.nicht genau. Der einzige Grund, den es vielleicht gab, mich mit Militär­fragen und überhaupt mit einer solchen Position zu betrauen: Ich hatte als Sprecher in Haushaltsfragen - Obmann, wie das in der Fraktion heißt - Hel­mut Schmidts Abweichungsversuch von der versprochenen Rentenerhöhung zu Fall gebracht.

Schmidt hatte erklärt, die Renten werden zwar erhöht, aber nicht so wie frü­her. Barzel versprach dann im Wahlkampf eine Rentenerhöhung nach dem bis­herigen Muster. Daraufhin gab Schmidt klein bei und sagte, wir garantieren die Rentenerhöhung auch. Später behauptete er, es sei noch einmal nachge­rechnet worden und viel mehr an Aufwendungen rausgekommen, als er ur­sprünglich angenommen hätte. Demnach sollte die Fraktion das Versprechen zurücknehmen. Da bin ich als erster Redner aufgetreten und habe gesagt, das mache ich nicht mit. Ich hatte allen Rentnern in meinem Wahlkreis erklärt,

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euch wird nichts genommen, ihr bekommt zwar eine Erhöhung, aber so wie bisher geht es nicht weiter. Und ich war fest der Meinung, daß man damit ei­gentlich zurechtkommen könne. Jetzt sollte plötzlich eine Kehrtwendung erfol­gen - von der damaligen Opposition wurde das später "Rentenbetrug" ge­nannt. Ich wollte aber auf jeden Fall der graden Linie folgen und habe die ganze Fraktion sofort zum Kippen gebracht. Das führte zu einer großen Krise mit dem Arbeitsminister Walter Arendt, der bis heute noch nicht mit mir spricht.

Das kann einer der Gründe gewesen sein für meine Berufung, daß man ge­sagt hat, so einen unbequemen Mann muß man irgendwo hinstopfen, wo er unter irgendeinem Minister ist und dann schon ganz schön an die Kandarre ge­nommen wird.

IV. Warum es Parlamentarische Staatssekretäre gibt, ist bekannt. Ob sie über­all zu Recht eingesetzt sind, das ist eine berechtigte Frage. Ich ärgere mich über manche landesparlamentarischen Staatssekretäre, die von Einweihung zu Einweihung, von Straßenabschnitt zu Straßenabschnitt, von Verein zu Verein gehen und offensichtlich kaum in den Ministerien anzutreffen sind.

Andererseits muß man sehen, daß unsere sehr juristisch ausgebildete Büro­kratenhierarchie auf eine ganz dünne Leitungsebene trifft und daß man unter Umständen - insbesondere in schwierigeren und größeren Ressorts - ganz gut einige Hirne mehr brauchen kann, die mit etwas umfassenderem Blick versuchen, das, was machbar ist, vernünftig ist, zu wägen, in die Wege zu lei­ten und zu kontrollieren.

Die Verstärkung der Leitungsebene gegenüber der Hierarchie ist natürlich auch eine Einrichtung, die der Nachwuchspflege für den zukünftigen Mini­sternachwuchs dienen kann. Das ist nicht immer so angelegt, aber meines Er­achtens mit eines der wichtigsten Dinge. Daß man unter dem Windschatten ei­nes Ministers, der alle Schwierigkeiten, die aus seinem Ressort entstehen, nach außen zu vertreten hat, immer noch jemanden hat, der sich in das ganze Feld einarbeitet. Und dann auch als Reserve zur Verfügung steht.

Das Amt wird natürlich auch benutzt - genauso wie die Zuteilung von Mi­nisterien -, um einen politischen Apparat oder ein Gremium wie eine Frak­tion nicht unglücklich zu machen. Das heißt, man achtet darauf, Nord und Süd und Ost und West und evangelisch und katholisch und gewerkschaftlich und mittelständisch und was auch immer anständig miteinander zu mischen, so daß alle verschiedenen Gruppierungen einschließlich des Rechts-Links­Schemas vertreten sind. Ich hatte z.B. als Bundesminister für Forschung und Technologie von Volker Hauff einen Parlamentarischen Staatssekretär über­nommen, der war eingesetzt worden, weil Hauff als links galt. Das war Erwin Stahl aus dem Ruhrgebiet - rechts -, diese Mischung wurde bewußt so ange­legt. Ich habe ihn dann "geerbt". Wir waren beide verhältnismäßig mitte bis rechts und sind ganz gut miteinander ausgekommen.

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Eine der bedenklichsten Geschichten im politischen Bereich sehe ich darin, daß natürlich durch die Expektanzen von allen möglichen Posten die Friedfer­tigkeit der Fraktion erreicht wird. In der Opposition wird das dadurch er­reicht, daß es z.B. bei uns in der SPD-Fraktion Obmänner gibt und stellvertre­tende Obmänner, Arbeitskreisvorsitzende und stellvertretende Arbeitskreis­vorsitzende, möglichst viele stellvertretende Fraktionsvorsitzende usw. Auf diese Weise erhält jeder - möglichst ungefähr an die fünfzig Prozent - ir­gendeine herausragende Position, mit der er in der Öffentlichkeit darstellen kann, wie wichtig und unentbehrlich er ist. Das politische Verhaltensmuster läßt sich dann ungefähr so einschätzen - sehr zynisch ausgedrückt: die Hälfte hat einen Posten, ein Viertel hofft noch auf einen Posten durch das Ausschei­den derer, die in ersten fünfzig Prozent drin sind, und mit dem letzten Viertel kann man keine Revolution mehr machen. Letztlich führt das zu einer Strom­linienformung einer Fraktion, die ich für sehr problematisch halte.

V. Parlamentarischer Staatssekretär wurde ich unter merkwürdigen Umstän­den. Helmut Schmidt kam zu mir und sagte: "Du, erzähl' dem Leber nichts (damals Verteidigungsminister), ich habe vor, Dich zum Parlamentarischen Staatssekretär zu machen. Du verstehst was vom Haushalt, und da oben auf der Hardthöhe muß mal einer nach dem Geld gucken." Ich bin zwar nie für's Geld zuständig gewesen, aber so wurde mir das angetragen. Mein Einwand, schon die Achselklappen nicht voneinander unterscheiden zu können und al­lenfalls bei Entscheidungen über den Tornado wesentlich mitgewirkt zu ha­ben, half nichts. Er sagte: "Du gehst da rauf, du kommst auch wieder runter." So passierte es dann auch. Vier Tage später kam Schorsch Leber an und sagte: "Du, erzähl' dem Schmidt nichts, aber ich habe vor, Dich zum Parlamentari­schen Staatssekretär zu machen." Noch lange nach seiner Amtszeit konnte Le­ber sich über das Verhalten Helmut Schmidts empören. Wir haben das vor Jahren bei einigen Gläsern Wein einmal gemeinsam rekonstruiert.

VI. Das Aufgabengebiet des Parlamentarischen Staatssekretärs, das was sie alle machen, ist Kontakt zum Parlament halten, Fragestunden bearbeiten -also drei Tage vorher die Fragen durchgehen, ob die Antworten einigermaßen richtig sind, zurückgehen lassen, nachbessern lassen -, dann ins Plenum ge­hen und mehr oder weniger klug das, was die Bürokratie aufgeschrieben hat, erstmal vorlesen und anschließend Zusatz fragen beantworten. Wenn man nicht weiter weiß, dann immer unter dem Hinweis: Ich biete Ihnen gerne an, das schriftlich nachzureichen. Damit kommt man dann eigentlich ganz gut über die Runden.

Als Parlamentarischer Staatssekretär sitzt man stundenlang in den Aus­schüssen, natürlich um präsent sein. Sollte man einmal nicht da sein, geht

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ganz schnell der Spannungs bogen zwischen Regierung und Parlament in die Höhe und kommen Erregungszustände zustande. Wenn die Leute vier, fünf Stunden gesessen haben und ein Beamnter unglücklich reagiert und es ist kei­ner von der Regierung da, dann wird sofort der PS zitiert. Die meisten ziehen es folglich vor, regelmäßig in den Ausschüssen zu sitzen.

Wir selbst hatten mal im Haushaltsausschuß eine Situation, wo ein beamte­ter Staatssekretär des Bundesministers der Verteidigung so unfähig war, daß wir als Regierungsfraktion die Sitzung unterbrochen, den Minister angerufen und gesagt haben: Schick' uns einen anständigen Staatssekretär, mit dem ver­handeln wir nicht weiter, weil der keine Antworten auf wichtigste Fragen hatte! Das kann also ganz schnell zu einer explosiven Stimmung innerhalb des Parlaments kommen und da sind natürlich Trouble-Shooter ganz gut, die wis­sen, wie ihre Kollegen reagieren, wie man sie besänftigen kann, allein durch Anblick und manchmal auch durch Wissen.

VII. Der Parlamentarische Staatssekretär sitzt also jeweils in den Ausschüssen seines Arbeitsgebietes - Parlamentskultur, Spaltung des Parlaments in Mehrheits- und Oppositionfraktionen ist hier bisweilen zu beklagen. In den einzelnen Häusern sind die Zuständigkeiten der Staatssekretäre sehr unter­schiedlich. Die Minister haben sie - eifersüchtig, wie sie sind - in der Regel von der administrativen Arbeit ferngehalten. Im Verteidigungsministerium war das gottseidank anders. Insofern habe ich das als eine ausgesprochen anre­gende Zeit erlebt. Die Hardthöhe hat ja allein in Bonn fünftausend Beamte und Mitarbeiter, das ist natürlich ein Riesenladen. Was der so täglich macht, falsch macht, gut macht, weiß die Spitze der Hierarchie in der Regel nicht.

Es kommt eine Besonderheit des Verteidigungsministeriums hinzu. Alle fä­higen Leute werden nach drei Jahren weiterverschubt, auf einen anderen Po­sten. Wer nämlich Karriere machen will, der muß möglichst viele Positionen durchrannt haben. Da läßt sich denken, was man in drei Jahren, wenn man in einen Job kommt, für den man nicht speziell ausgebildet ist, dort machen kann. Zunächst stellt man sich ein halbes Jahr vor, dann steht man vor der Frage, eine nicht ganz zufrieden stellende Situation dadurch in Ordnung zu bringen, daß man das Ganze auseinandernimmt und neu und anders zusam­mensetzt, oder es lieber so zu lassen, wie es ist.

Die meisten entscheiden sich für das Seinlassensollen; es sei denn, es gibt eine klare politische Vorgabe für Änderungen. Und so kann es passieren, daß eine Sache einfach vor sich hin schwelt und schmort und nicht in Ordnung ge­bracht wird und irgendwann gibt es durch irgendwelche Vorfälle einen Kurz­schluß in der Öfentlichkeit - dann brennen die Sicherungen durch. Das Inter­essante ist beim Verteidigungsministerium - und deshalb gibt es da auch so viele Skandale -, daß die Leute, die was falsch gemacht haben oder mögli­cherweise was falsch gemacht haben, in der Regel längst weg sind.

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Ich werde nie vergessen, wie wir im Rechnungsprüfungsausschuß versucht haben, den Starfighter-Skandal aufzuklären. Da kam ein lustloser Oberst an mit einem Rest von Akten und sagte: Also, ich hab' die vor einem Jahr über­nommen. Die ganze Geschichte war aber zehn bis fünfzehn Jahre alt ... Ich kann Ihnen nur sagen, was ich selbst weiß. Alles andere müßten Sie meine Vorgänger im Amt fragen. Das Non-Involvement dessen, der sich nicht per­sönlich rechtfertigen muß, ist beachtlich und deswegen schlagen Krisen im­mer bis in die Leitung durch. Der Minister kommt dann ganz schön ins Wan­ken, wird gejagt - drei, vier, fünf Tage von der zuständigen Presse. Übersteht er das, kommt er meistens davon. Wenn nicht, dann wackelt es so, daß er ir­gendwann gehen muß.

VIII. Ich hatte im Haus selbständige Zuständigkeit, nicht der Haushalt, nicht das Personal, aber die ganze militärische Organisation, zusammen mit dem Generalinspekteur. Das Leitungsgremium setzte sich zusammen aus dem Bundesminister, zwei beamteten Staatssekretären, dem Generalinspekteur, unter ihm die drei Teilstreitkräfteinspekteure mit eigener Zuständigkeit, vor allem mit eigener Personalverwaltung. Wenn z.B. ein Luftwaffenoffizier dem Generalinspekteur nach dem Urteil der Luftwaffe falsch zuarbeitet, dann ist dessen Luftwaffenkarriere am Ende, d.h. die drei Teilstreitkräfte setzen sich auch mit den Mitteln der Personalpolitik durch die Person des wie auch immer gearteten Generalinspekteurs in der Regel durch und sind deshalb außeror­dentlich mächtig. Der Leitung arbeitet noch ein Planungsstab zu, der das Ganze kritisch begleitet.

Der Führungsstil oder die Art, wie man zusammenkommt, hängt davon ab, wie die Menschen beschaffen sind. Das Verhältnis Staatssekretär oder Parla­mentarischer Staatssekretär zum Bundesminister hängt einmal davon ab, ob er ihm aufgezwungen worden ist oder der Minister ihn hat selber auswählen kön­nen. Eine andere Frage ist, ob Eifersucht aufkommen kann. Liegen die Dinge so, daß der Staatssekretär für den Fall, daß dieser stürzt, jederzeit Nachfolger des Ministers werden könnte, kann das Verhältnis schnell sehr spannungsreich werden.

Und im übrigen hängt es natürlich stark davon ab, wie Stil und Arbeitsweise der Minister sind. Ich hatte zwei völlig unterschiedliche Minister. Den Schorsch Leber, der sehr viel mit gesundem Menschenverstand, mit gutem Gefühl für die Soldaten gearbeitet hat. Auf der anderen Seite hatte er wahr­scheinlich schon als Gewerkschaftschef sich einen eigenen Check-Stil ange­wöhnt. Bei schwierigen Entscheidungen fragte er rundum eine ganze Reihe von persönlichen Freunden, die er in der Republik hatte: Seid ihr für ein go oder seid ihr für ein non-go? Wenn da eine kritische Masse sich nicht zusam­mentat, hat er die Finger davon gelassen. Das ist insgesamt ganz glücklich ge­laufen.

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Apel war ganz anders. Er konnte nicht und wollte nicht in großen Gremien entscheiden. Also eine Abteilungsleiterkonferenz mit Staatssekretären, Gene­ralinspekteur, Teilstreitkraftinspekteuren, Planungschef usw. Da wollte er nicht diskutieren, sondern er war ein "Vier-Augen-Mann". Er suchte sich ei­nen Partner, mit dem er das zu lösende Problem beriet und intern auch ent­schied. Das konnte zum Beispiel der beamtete Staatssekretär Hiehle sein, den er aus dem Finanzministerium mitgenommen hatte. Dann wurde nur noch verkündet und Widerrede für sinn- und zwecklos erklärt.

IX. Sich selbst zu einem bestimmten Problem ein angemessenes Meinungs­bild zu machen und eine bestimmte Auffassung hausintern durchzusetzen, ist auch für einen Parlamentarischen Staatssekretär nicht immer einfach. Wir hatten Z.B. in meiner Zeit das Herzensanliegen des Heeresinspekteurs, eine Heeresreform, die Heeresreform 4, seit Jahren im Modellversuch. Ich habe mich intensiv - Z.B. durch Truppenbesuche - um diesen Modellversuch ge­kümmert. Deshalb habe ich ziemlich schnell gemerkt, daß der Inspekteur des Heeres so voreingenommen war, jeden, der mit einer Negativmeldung über sein Heeresmodell kam, mit einem Karriereknick zu bedrohen. Jeder wußte das. Wenn man also zur Truppe kam, wurde einem immer wieder alles Mögli­che erzählt. Aber an den Augen konnte man sehen, daß das nicht stimmte, daß das nicht den eigenen Erfahrungen entsprach. Durch Fragen und Bohren und durch ganz vorsichtiges Reden unter vier Augen kam allmählich heraus, daß vieles von der Idealplanung nicht aufgehen konnte. Der Finanzminister hatte durch ständiges Wegziehen der für das Gelingen des Modells erforderlichen und auch vorgesehenen Stellen das ganze Modell im Grunde zum Kippen ge­bracht. Man hätte also das Projekt umplanen oder fallenlassen müssen. Doch der Inspekteur bestand auf der neuen Struktur, der Minister wollte sich nach acht Jahren Planung nicht blamieren. Es war klar, daß in der Truppe über Jahre hinaus der Wurm sein mußte. Deshalb stellte ich mich in der Entschei­dung gegen Inspekteur und Minister.

X. Ich selbst muß sagen, mir haben diese vier Jahre unendlich viel gebracht. Im Windschatten eines Ministers bzw. zweier Minister das ganze Ressort ken­nenzulernen. Das gilt gerade rückblickend betrachtet, weil ich mich seit mei­ner Zeit als Bundesminister für Forschung und Technologie, seit 1982/83, noch einmal intensiv mit militärischen Fragen beschäftigt habe: Sind eigent­lich unsere Bedrohungsvorstellungen richtig in bezug auf die Sowjets, müssen da nicht große Abstriche gemacht werden? Ist das, was der deutschen Öffent­lichkeit vorgelegt wird, die Wahrheit oder ist das nur der Komprorniß zwi­schen Amerikanern, Deutschen, Engländern und ich weiß nicht wem, die alle möglichen nationalen Waffenbeschaffungswünsche durch die Ausgestaltung der Bedrohungsanalyse hinterfüttert haben wollen. Sind wir eigentlich mit

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unserer Strategie richtig beraten, liegt sie in unserem eigenen Interesse? Ha­ben wir die richtige Struktur, wie sieht unser Reservistenkonzept aus?

Als Staatssekretär stößt man teilweise auf Dinge, die man einfach nicht lö­sen kann. Denn wenn man sie lösen wollte, müßte man systemisch rangehen, oft völlig neue Grundlagen schaffen. Man müßte das ganze System überden­ken. Aber in der sich unendlich drehenden Mühle des Tagesgeschäfts kommt man nicht dazu, zumal dann nicht, wenn man das Ganze erst lernen muß, von der Pike auf.

Ich habe das dann in der Oppositionszeit nachgeholt. Doch ich bin sicher, daß ich dies nicht ohne diese vier Jahre Vorlauf hätte leisten können. Ich wäre sicher auch nicht dazu gekommen, wenn ich Bundesminister hätte spielen müssen. Ad hoc hätte ich auf jeden Fall in diesen vier Jahren keine grundle­genden Veränderungen ansetzen können. Dafür sind die laufenden Vorgänge und Routinen zu mächtig und in die Tiefe gehende Veränderungen viel zu komplex.

XI. Die Beamten im Ministerium müssen der Leitungsspitze die Optionen darlegen können. Wenn sie auch einigermaßen politisch klar bei Kopf sind, dann harmoniert das hervorragend. Natürlich gibt es unter Parlamentarischen Staatssekretären Fälle, die sich zu Pleiten auswachsen. Teilweise gar nicht aus politischen Gründen, sondern weil die administrative Fähigkeit des Betroffe­nen nicht ausreicht. Es ist ja manchmal durchaus merkwürdig, wann wer an­steht zum Staatssekretär, ob dann wirklich das beste da ist. Bisweilen hängt es - wie bei den Generalen, wo kriegslautbedingt bestimmte Jahrgänge ganz dünn sind - schlicht von den Jahrgängen ab, die "anstehen".

Ein Apparat wie ein Ministerium ist nicht auf Einjahresrythmen angelegt, sondern die Bundeswehrplanung erstreckt sich auf zehn bis zwanzig Jahre. Die Finanzplanung geht aus von fünf Jahren mindestens, zehn Jahren poten­tiell. Diese laufenden Planungen, sei es der Haushalt, sei es die Bundeswehr­planung, sei es die Mittelfristige Finanzplanung, sei es die Ernennung und Be­förderung, viertel- oder halbjährlich, das kommt alles automatisch auf einen zu. Da drehen sich die großen Walzen und man selbst ist derjenige, der dann die wenigen Optionen, die sich allenfalls anbieten, zu entscheiden hat. Die In­puts sind ganz stark von dieser Riesenbürokratie von 5000 Mann bestimmt, die nun ihre ganzen Vorstellungen walzenartig Tag für Tag und Monat für Mo­nat und Jahr für Jahr vorantreiben und dann durch Nadelöhre durchmüssen­Unterabteilungsleiter, Abteilungsleiter, Staatssekretär usw. Irgendwann wird das dann haushaltsrelevant in Form von PersonalsteIlen, Baransätzen, Ver­pflichtungsermächtigungen. Nicht selten wird 30 % mehr gefordert als gege­ben werden kann. Dann muß durch die Leitung entschieden werden. Im gro­ßen und ganzen handelt es sich um eine kontinuierliche, regelhafte, im System eingebaute Regierungs- und Verwaltungstätigkeit.

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XII. In einem so großen Apparat kann man keine unabhängige Politik ma­chen. Man kann stöhnen über seinen Minister, genauso wie dieser über seinen Staatssekretär stöhnen kann. Aber sie beide müssen natürlich die Zusammen­hänge beachten. Es ist durchaus möglich, z.B. gegen den Generalinspekteur zu entscheiden, aber das muß in einem ordentlichen Verfahren erfolgen.

Da gibt es eine Abteilungsleiterkonferenz, in dieser Abteilungsleiterkonfe­renz fallen dann Entscheidungen. Das wird dem Minister vorgetragen, unter Umständen streitig vorgetragen. Meistens klärt man das aber vorher, um sich in der Abteilungsleiterkonferenz keine Niederlage zu holen. Das Vorabklären - das macht man doch überall, wo irgendwas in einem Gremium durchgesetzt werden soll und potentiell opponierende Haltungen vorhanden sind. Um mög­liche Streitpunkte einigermaßen vorzuklären, redet der Staatssekretär etwa schon vorher mit dem Generalinspekteur. Wenn sich das Problem auf diese Weise nicht lösen läßt, muß man sich notfalls streiten - aber in geregelten Bahnen. Das System ist schon ganz schön rigide, und wer da auf Wildwuchs geht, dürfte das kaum schaffen.

Ich wollte nochmal anschließen an die Regelhaftigkeit. Als ich Forschungs­minister wurde, war ich entsetzt, dieselben Arbeitsfelder - zwar in etwas fortgeschrittenem Zustand, aber im Grunde genommen so, wie sie einmal an­gelegt waren - wieder vorzufinden wie 1973, als ich noch Berichterstatter im Haushaltsausschuß war für den Haushalt des BMFT. D.h., es hatte sich prak­tisch nichts verändert. Und wenn ich heute in den Verteidigungsausschuß gehe, dann gilt das ähnlich - es verändert sich so furchtbar viel im Regela­blauf einer Behörde nicht. Auch nicht im Taktrythmus der Jahre, in dem be­stimmte feste Daten und Aufgaben zu bewältigen sind.

XIII. Im Bundesministerium für Forschung und Technologie war ich nur zwei Jahre und ich habe das Ministerium in einem ausgesprochenen Krisenzustand übernommen. Einmal spitzte sich der Streit zwischen SPD und FDP zu -Hauff hatte Wahlkämpfe immer geführt mit dem Hinweis gegen Lambsdorff, der sehe nur die Drei- bis Fünfjahreshorizonte der deutschen Industrie, sei fürchterlich verblendet, er selbst aber sehe viel weiter hinter den Bergen die großen Bedrohungen und Gefahren auf die Bundesrepublik zukommen. Ent­sprechend wurden im Forschungsministerium ordoliberalen Vorstellungen strikt zuwider laufende Zukunftsprogramme gestartet. In Vorbereitung wohl auch des Regierungswechsels 1982 erzwang die FDP in den Kolitionsverhand­lungen 1980 die ordoliberale Korrektur. Das Forschungsministerium wurde konkursreif gemacht, indem man aus einem Sieben-Milliarden-Etat in der Mittelfristigen Finanzplanung eine Milliarde pro Jahr herauskürzte. Dies war in einem sehr personalintensiven Haushalt nahezu unmöglich. Erschwerend kam hinzu, daß die Industrie trotz heiliger Eide dann doch beim Brüter und beim Hochtemperaturreaktor mit Milliarden-Nachforderungen kam. Das

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ganze war unhandbar geworden. Deswegen habe ich mich intensiv eigentlich nur um das Retten der ganzen Situation gekümmert und nicht so sehr um die gesamte Programmbreite des BMFT. Auch für einen Parlamentarischen Staats­sekretär gibt es dort natürlich genug zu tun, aber ich muß sagen, dessen Rolle in der damaligen Zeit nicht verändert zu haben.

Ein Parlamentarischer Staatssekretär, vielleicht in einem Wohnungsbaumi­nisterium mit vielleicht 240 Angehörigen, wird es natürlich schwer haben, tagaus, tagein ordentliche Beschäftigung zu finden. Der geht dann in die Flä­che und verkündet das Heil der Welt, während in den größeren Häusern Spe­zialisierung eintritt. Das hängt aber auch vom Minister ab.

XlV. Ist die Staatssekretärs-Laufbahn das Ende einer politischen Karriere? Was die Kohl'sche Philosophie hinter der Ausweitung der Minister- und Staatssekretärs stellen und der Berufung von politikbetriebsfremden Ministern ist, weiß ich nicht. Das bessere Image durch die Hereinnahme von Außenper­sonen mag eine Rolle spielen, es kann auch die intellektuelle Knappheit der CDU-Fraktion sein. Völlig klar ist, daß die SPD-Fraktion nur einen sehr ge­ringen Auslaufz.B. in Industriepositionen hat, während bei der CDU der Ab­fluß in industrielle Führungsetagen sehr viel leichter und organischer vonstat­ten geht.

Wenn ein Minister von außen kommt, sind natürlich die Riegen im Parla­ment, die in den Fachgebieten arbeiten, aufs bitterste enttäuscht. So wie bei mir auch, als ein Haushälter in das Verteidigungsministerium ging. Das ist nicht üblich. An sich erhofft sich der oberste Häuptling der Verteidigungs­gruppe nachzurücken. Wenn ein anderer ihm vorgezogen wird, gerät er in Er­klärungszwang, warum die Wahl nicht auf ihn fiel. Dies mag der Grund sein für das gelegentliche Aufflammen von Kleinaufständen in der CDU-Fraktion, die man pazifiert, indem die Zahl der Parlamentarischen Staatssekretäre er­höht wird. Nur damit werden die Parlamentarischen Staatssektretäre so lang­sam zur Landplage für Vereins- und Straßeneinweihungsfeste.

Xv. Nach meiner Erinnerung aus den Ressorts, in denen ich war, sind wichtige Entscheidungen nicht vorher mit der Fraktion in allen Details abgeklärt wor­den. Wir haben uns erst mit dem Apparat eine Meinung gebildet, zuweilen pa­rallel dazu die Fraktionsgruppe im Parlament informiert. Die meisten Probleme werden ja in der öffentlichen Diskussion gespiegelt und sind damit auch Gegen­stand von Ausschuß- und Gruppenberatungen. Das lohnt sich auch, um zu hö­ren, was bei den Parlamentariern an Einwänden, Anregungen und an Proble­men hochkommt. Aber das Gekungel vorweg ohne Hinzuziehen des Sachver­standes in den Häusern, das in in meinen Amtszeiten nicht vorgekommen.

Nach 1982 hat sich das geändert, und zwar weil die CDU - ob zu Recht oder Unrecht - den Beamten oder dem ganzen Apparat mißtraute, ihn für

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SPD-durchseucht und tendenziell für verräterisch hielt. Deswegen haben die versucht, in kleinsten CDU / CSU-Zirkeln Politik zu formulieren.

Ich selbst habe immer die Philosophie gehabt, wenn ich einen CDU-Mann neben mir habe, dann weiß ich erstens mal, was die CDU denkt. Und da ich sowieso mit gläsernen Taschen arbeite, weil um mich herum immer irgendein Zuträger sitzt, der der anderen Gruppierung natürlich Meldung macht, was bei uns vorgeht, habe ich versucht, immer so zu arbeiten, wie wenn die sozu­sagen mit am Tisch säßen. Letztlich habe ich keine Probleme gehabt mit der Administration, die ja auch früher mal CDU-geprägt war. Völlig unrealistisch nahmen die CDU-Leute 1982 an, durch einige Jahre Sozialiberaler Koalition seien die Personalkörper nun einseitig SPD-Iastig geworden. Und deswegen hat sie sich zurückgezogen in informelle Zirkel. Ich habe das immer für falsch gehalten und würde es unter keinen Umständen so machen.

Wenn einer kreativ ist im Parlament und Ideen hat, mit dem kommt man so­wieso ins Gespräch. Der schreibt einem Briefe in seinem Fachgebiet oder ruft an und dann setzt man sich mit dem zusammen. Natürlich nimmt man auch wahr, wenn es z.B. einen guten Kritiker im "Spiegel" gibt oder in einer ande­ren Zeitung oder irgendeinen Professor, der sich um das Fachgebiet kümmert, und weiß, aus dieser Ecke kommen Anregungen und Kritik, mit der man um­zugehen hat. Dann ist es das Beste, den Faden gleich aufzunehmen, oft erge­ben sich so informelle Netzwerke, die es der politischen Leitung erleichtern, ihre Kontrollaufgaben gegenüber dem Apparat wirksam wahrzunehmen. Aber es wird nicht etwa systematisch in nuce vorweg festgelegt, wo die Politik hingeht, und dann sozusagen die Administration beglückt. Ich weiß, daß es jetzt ein bißchen anders ist, halte das aber für falsch.

XVI. Der Auswahlprozeß für Staatssekretäre verläuft unterschiedlich: Die Angst, vor der Administration zu versagen, im Lenken von großen Personal­körpern oder im Treffen von Entscheidungen, führt dazu, genau zu gucken, wer in einer Fraktion überhaupt in Frage kommt. Grundsätzlich. Daneben spielt z.B. Einfluß und Stärke von Landesverbänden eine Rolle, daß man also einen Nordrhein-Westfalen nimmt, weil Baden-Württemberg tendenziell zu viele und Nordrhein-Westfalen nur wenige Repräsentanten in der Regierung oder auch im Fraktionsmanagement hat. Die Gruppe der Auszuwählenden hat sich oft in der Fraktion hervorgetan. Gespräche mit dem Fraktionsvorsitzen­den aber auch den Chefs der Landesgruppen können wichtig und notwendig sein. Ein starker Kanzler wird anders vorgehen als ein schwacher; ein wirk­lich starker Minister wird sich seinen Parlamentarischen Staatssekretär selbst aussuchen, ist er verhältnismäßig schwach, bekommt er ihn eher aufgedrückt. So läuft das Geschäft.

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V. Regieren und Organisation

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Die funktionale Notwendigkeit informeller Gremien für das Regieren in der Bundesrepublik - diskutiert am Beispiel der Personalrekrutierung für das Bundesverfassungsgericht

Göttrik Wewer

I. Praktische Vielfalt und theoretische Relevanz des informellen "Regierens "

Hans Koschnik, der frühere Bremer Bürgermeister und heutige Bundestags­abgeordnete, hat kürzlich darauf hingewiesen, daß "heute in den Jahren aus­ufernden Materialismus" sich die verfassungsrechtliche Auseinandersetzung zwischen den Ländern viel stärker als früher unter dem Primat des ,schnöden Mammons' vollziehe. Die dabei notwendigen Abklärungsprozesse zwischen den ,reichen' und den ,armen' Ländern fänden aber nicht vorrangig im Bun­desrat statt, sondern in den Ministerkonferenzen der Länder: "Sie sind - ob MP-Konferenz oder Landesministerkonferenz - die eigentliche Stätte inner­föderaler Auseinandersetzungen oder länderübergreifender Gemeinsamkeit. Sie beherrschen - obwohl verfassungsrechtlich nicht normiert -- die 1Odera­tive Szene und werden vom Bund auch als solche ernst genommen"; jedenfalls werde es bei den Treffen mit Mitgliedern der Bundesregierung, ob Bundes­kanzler mit den Ministerpräsidenten oder der Bundesminister mit den zustän­digen Landesministern oder Senatoren, möglichst vermieden, die föderativ­bundesstaatlichen Probleme und die der Bundesgesetzgebung, also die Aufga­ben des Bundesrates mit zu behandeln (Koschnik 1989: 84).

Hans H. Klein, früher Bundestagsabgeordneter und gegenwärtig Bundes­verfassungsrichter, sagte auf derselben Veranstaltung, der Bundesrat mache von seinem ihm in Art. 53 Satz 3 GG eingeräumten Informationsrecht deshalb kaum je Gebrauch, weil den Landesregierungen die für sie bedeutsamen In­formationen der Bundesregierung auf anderem Wege, sei es von Bürokratie zu Bürokratie, sei es auf Minister- und Ministerpräsidentenkonferenzen zugäng­lich gemacht würden. "Dort - und in vielen informellen Zirkeln - werden die notwendigen Absprachen getroffen, die dann im Bundesrat, so es die Rechtslage erfordert, vollzogen werden" (Klein 1989: 99).

Zu diesen informalen Gremien im Umkreis des Bundesrates zählen ferner die regelmäßigen Vorabtreffen der Landesregierungen nach ihrer parteipoliti­scher Einfärbung. Hier geht es nicht um ,arm' oder ,reich', sondern um ,rot' oder ,schwarz'. Während die sozialdemokratischen Landesregierungen schon

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in den sechziger Jahren mit der parteiinternen Vorkoordination ihrer Voten im Bundesrat begannen, gingen die unionsgeführten "B-Länder" erst nach 1969 dazu über (Scharpf 1989: 129, Anm. 32).

Diese Beispiele für die praktische Bedeutung und theoretische Relevanz in­formeller, gleichwohl häufig formaler Gremien für das Regieren hierzulande ließen sich ohne Mühe vermehren (vgl. Schulze-Fielitz 1984). Gemäß dem funktionalistischen Credo, wonach die Form der Funktion folgt, könnte man ihre Existenz und Vielfalt dahingehend interpretieren, daß sie offenbar erforderlich sind, um das relativ stark fragmentierte Regierungssystem des "semi-sovereign state" (Peter Katzenstein) Bundesrepublik Deutschland zu integrieren, es arbeitsfähig und geschmeidig zu machen. Und auf diesen Ein­druck könnte man eine Hypothese gründen, die sich international verglei­chend empirisch überprüfen ließe: Je Jragmentierter das Regierungssystem ei­nes Landes, desto mehr verlagern sich Regierungspraxis, -handeln und -koor­dination in informelle Gremien und Zirkel.

Wenn diese Annahme zutrifft, dann müßte die Bundesrepublik Deutsch­land, die nach verbreiteter Ansicht eine besonders ausgeprägte institutionelle Machtverteilung aufweist, nach der Zahl und Bedeutung solcher Gremien un­ter den westlichen Demokratien an der Spitze liegen. Sollte sich die Hypo­these als empirisch falsch erweisen, dann wäre nach anderen Variablen zu fra­gen, die eine unterschiedliche Dichte informeller Gremien im internationalen Querschnitt erklären.

Unterhalb struktureller Unterschiede der westlichen Regierungssysteme könnte auch ein spezifischer Regierungsstil zu einer verstärkten Verlagerung von Entscheidungen in informelle Gremien und Zirkel führen. Aber nur dort, wo es sich nicht um den (vorübergehenden) persönlichen Führungsstil eines bestimmten Regierungschefs handelt, hätte diese Variable einen systemati­schen Erklärungswert für das System als solches.

Denkbar ist im übrigen auch, daß der "Auszug" der Politik in informelle Gremien eine Reaktion von Regierungen auf Öffentlichkeit und Mediendemo­kratie ist. War im Zeitalter der Arkanpolitik informelles Regieren praktisch noch der Regelfall, wenn auch die Zahl der Entscheidungs- und Machtzirkel geringer gewesen sein dürfte als im ausdifferenzierten Leistungsstaat unserer Tage, so steht die Verlagerung von Kompetenzen in informelle Gremien mit dem Aufkommen von Rechtsstaat und Demokratie unter einem grundsätzli­chen Rechtfertigungszwang. Inwieweit es der Forschungsstand erlauben würde, im historischen Rückblick verläßlich zwischen Phasen eines eher for­malen oder stärker informalen Regierens zu unterscheiden, kann hier dahin­gestellt bleiben.

Im Vergleich etwa mit den USA, die auf ihre Weise nur ein lose verkoppeltes Regierungssystem haben (Sundquist 1988), liegt es für die Bundesrepublik Deutschland viel klarer auf der Hand, wer die verschiedenen Elemente und

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Ebenen des Regierungssystems miteinander verklammert: nämlich die Par­teien. Sie sind einerseits die verbindende Komponente zwischen Bundesregie­rung, Bundestag, Bundesrat und Landesregierungen, sie strukturieren ande­rerseits zugleich die politische Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition, zwischen Bundespolitik und Landespolitik. Die Bargaining­Funktion, die sie im fragmentierten Regierungssystem ausfüllen müssen, wird dabei stets überlagert durch ihre Konkurrenz untereinander (siehe schon Lehmbruch 1976).

Diese Spannung zwischen Integration der Gewalten und politischer Konkur­renz, die für das Regieren in der Bundesrepublik typisch erscheint, soll im fol­genden anband der Personalrekrutierung für das Bundesverfassungsgericht und in der Absicht illustriert werden, zur theoretischen Klärung dieses Phänomens beizutragen. Inwieweit die funktionalistische Interpretation, die von der Struk­tur des Regierungssystems ausgeht, allein ausreicht oder der Ergänzung durch handlungstheoretische Ansätze bedarf, die sich auf Motive und Verhalten des Akteurs Regierung bzw. seiner Mitglieder beziehen, wäre noch zu diskutieren.

11. Personalrekrutierung für das Bundesverfassungsgericht

Angesichts der weltweit einzigartigen Kompetenzfülle der Karlsruher "Mitre­genten" (Wolfgang Jäger) kann es keiner Bundesregierung gleichgültig sein, wer dazu bestellt wird. Im Unterschied zum Emennungsrecht des amerikani­schen Präsidenten, dessen Kandidaten für den Supreme Court allerdings vom Senat bestätigt werden müssen, hat sie jedoch keine Möglichkeit, während ih­rer Amtsdauer das Bundesverfassungsgericht allein mit Personen ihrer Wahl zu besetzen. Während Thurgood Marshall als der letzte von Demokraten be­rufene Richter sein Amt immerhin schon im Jahre 1968 antrat und es sich mit­hin in den USA derzeit um einen dezidiert Republican Court handelt (Silver­steiniGinsberg 1987: 372), hat eine Bundesregierung formal überhaupt kein Recht, bei der Auswahl der Verfassungsrichter mitzuentscheiden. Informell ist sie aber - wie noch zu zeigen sein wird - dennoch beteiligt, auch wenn ihr Einfluß wesentlich geringer ist als der eines amerikanischen Präsidenten, der im Laufe einer vier jährigen Amtszeit etwa 50 bis 100 Bundesrichter und durchschnittlich drei Oberste Richter beruft, deren Parteipräferenz zu über neunzig Prozent mit der seinen übereinstimmt - was nicht heißt, daß das Ver­hältnis von Exekutive und Judikative deswegen immer spannungsfrei wäre (vgl. Silversteinl Ginsberg 1987: 387).

Die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts werden nach Art. 94 Abs. 1 Satz 2 GG "je zur Hälfte vom Bundestage und vom Bundesrate gewählt"; die Bundesregierung ist demnach also nicht beteiligt. Über das Wahlverfahren im

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engeren Sinne sagt das Grundgesetz selbst nichts aus, sondern verweist hier auf eine gesetzliche Regelung (Art. 94 Abs. 2 Satz 1 GG).

Während nach dem Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951, das 1985 (nach 1971) zum zweiten Male neu gefaßt wurde (BGBl. I, S. 2229), der Bundesrat seine Hälfte der Richter im Plenum wählt (§ 7 BVerGG), erfolgt die Wahl der anderen Hälfte im Bundestag indirekt (§ 6 Abs. 1 BVerfGG). Zu diesem Zweck wählt das Parlament nach den Regeln der Ver­hältniswahl zwölf seiner Mitglieder als Wahlmänner, wobei jede Fraktion ei­nen Vorschlag einbringen kann (§ 6 Abs. 2 Satz 1 und 2 BVerfGG). Während der Bundestag bei der Besetzung der gewöhnlichen Ausschüsse seit einigen Jahren das System St. Lague / Schepers praktiziert, eine Fortentwicklung des Verfahrens nach Hare / Niemeyer, gilt für den Wahlmännerausschuß nach wie vor das Höchstzählverfahren nach d'Hondt, das die größeren Gruppierungen tendenziell begünstigt. Nach diesem System wird aus den Summen der für je­den Vorschlag abgegebenen Stimmen die Zahl der auf jeden Vorschlag ge­wählten Mitglieder errechnet (§ 6 Abs. 2 Satz 3 BVerfGG).

Wenn sich die beiden großen Fraktionen verständigen würden, die jeweili­gen Vorschläge wechselseitig mitzuwählen, sich aber bei den Vorschlägen der kleinen Fraktionen zu enthalten, wären diese ohne Chance auf einen Sitz im Ausschuß. Freilich nimmt der jeweilige Koalitionspartner zumindest immer auf die FDP Rücksicht und bildet mit dieser meist sogar eine gemeinsame Li­ste, um dort eine 7:5-Mehrheit zu bekommen. Wenn im Parlament Konsens besteht, daß jede Fraktion wenigstens einen Vertreter im Wahlmänneraus­schuß haben sollte, dann ist das nach dem Verfahren machbar; kleine Fraktio­nen bleiben aber im Zweifel vom Wohlwollen und von Stimmen der großen abhängig. Bei den GRÜNEN, die schon in der 10. Legislaturperiode nicht im Wahlmännerausschuß vertreten waren, blieben die 1987 auf ihren Listenvor­schlag abgegebenen Stimmen sogar weit hinter ihrer Fraktionsstärke zurück (Gusy 1989: 1628).

Viel bewegen können hätte ein einzelner Grüner im Ausschuß freilich ohne­hin nicht, denn: "Zum Richter ist gewählt, wer mindestens acht Stimmen auf sich vereinigt" (§ 6 Abs. 5 BVerfGG). Hier verliert auch die eine FDP­Stimme an Wert: Sie reicht - ganz abgesehen von der stets zu beachtenden Konstellation im Bundesrat - einerseits für die jeweilige Koalition nicht aus, um gegen die Opposition "durchwählen" zu können, und sie ist andererseits irrelevant, wenn sich die beiden großen Parteien auf jeden Fall verständigen müssen und bereits geeinigt haben. Selbst eine Dreiviertel-Mehrheit, wie sie bis zur ersten Novelle von 1956 in beiden Häusern erforderlich war, würde daran - jedenfalls nach den gegenwärtigen Stärkeverhältnissen - nichts än­dern.

Schon die Wahl der Richter durch zwei verschiedene Organe und die in Wahlmännerausschuß und Bundesrat erforderlichen qualifizierten Mehrhei-

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ten bewirken einen Zwang zur wechselseitigen Abstimmung. Hinzu kommt, daß immer drei Richter eines jeden Senats von den obersten Gerichtshöfen des Bundes stammen und dort mindestens drei Jahre tätig gewesen sein sollen (§ 2 Abs. 3 BVerfGG), wobei davon "einer von dem einen, zwei von dem ande­ren Wahlorgan", von den übrigen Richtern drei von dem einen, zwei von dem anderen Wahlorgan in die Senate gewählt werden sollen (§ 5 Abs. I Satz 2 BVerfGG). Bis 1956 mußten - bei damals allerdings noch zwölf Mitgliedern in den beiden Senaten - sogar jeweils vier Richter von den obersten Gerichts­höfen des Bundes rekrutiert werden.

Eine wechselseitige Abstimmung von Bundestag und Bundesrat ist nach dem gesetzlich vorgeschriebenen Wahlverfahren also unumgänglich. Nur so kann gesichert werden, daß im jeweils anderen Wahlorgan auch tatsächlich die entsprechende Anzahl an Richtern von den obersten Gerichtshöfen des Bun­des und an sonstigen Kandidaten gewählt werden. "Paketlösungen" zwischen Parlament und Länderkammer sind, unter Beachtung der jeweils verbleiben­den Besetzung der beiden Senate, praktisch unvermeidlich. Kein Wahlorgan könnte sich so verhalten, als wäre es nur für seine Hälfte der Richterstellen zu­ständig. Die in beiden Häusern erforderliche Zweidrittel-Mehrheit senkt für alle Beteiligten das Risiko, daß die - rechtlich unverbindlichen - Abspra­chen von einer Seite gebrochen werden.

Nun kann das Schnüren dieser Personalpakete im Prinzip ganz unterschied­lich organisiert werden: So könnten sich zum Beispiel Wahlmännerausschuß und Bundesrat lediglich kurz darüber verständigen, wer bei anstehenden Neu­wahlen wieviele Bundesrichter und für welchen Senat zu wählen hätte, und die Wahlakte dann autonom und ohne weitere Abstimmung untereinander vollzie­hen; ebenso könnten neue Verfassungsrichter zeitlich nacheinander gewählt werden, so daß das jeweils andere Organ wüßte, ob gerade ein Bundesrichter dran wäre oder nicht; auch könnte sich eine Delegation des Bundesrates zu förmlichen Sitzungen mit dem Wahlmännerausschuß des Bundestages treffen, um Verfahrensfragen zu besprechen. Das politische Risiko aller dieser und an­derer denkbarer Möglichkeiten liegt allein darin, daß der Streit um einen an­nähernden politischen, regionalen, konfessionellen Proporz im Gericht in beiden Wahlorganen aufbrechen würde und dort zu einer wechselseitigen Blockade führen könnte.

In der Praxis hat sich seit 1951 allmählich ein informelles Verfahren einge­spielt, in dem letztlich die - in den gesetzlichen Wahlvorschriften nirgendwo erwähnten - Parteien bestimmen, wer Richter in Karlsruhe wird (und wer nicht). Genauer gesagt: Es sind allein CDU / CSU auf der einen Seite und die SPD auf der anderen Seite, die dies untereinander ausmachen. Selbst die FDP, die in der Frühphase der Republik mit Hermann Höpker-Aschoff als Präsiden­ten des Gerichts neben Bundespräsident Theodor Heuss sogar zwei Verfas­sungsorgane repräsentieren durfte, ist darauf angewiesen, daß der jeweilige

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Koalitionspartner auf sie Rücksicht nimmt und ihr einen von "seinen" Sitzen im Gericht "abtritt". Auf diese Weise gelangten - jeweils kurz nach den Re­gierungswechseln in Bonn - 1971 Joachim Rottmann auf dem "SPD-Ticket" in den Zweiten Senat und 1983 Johann Friedrich Henschel auf Vorschlag der Union in den Ersten Senat.

Aufgrund der breiten bürgerlichen Koalition in den ersten Jahren der Repu­blik kam einst auch noch Conrad Roediger (DP) zum Zuge, dessen Sitz aber schon 1956 der Reduzierung der RichtersteIlen von zwölf auf zehn in beiden Senaten zum Opfer fiel. 1963 erfolgte dann die weitere Reduzierung auf je­weils acht Richter.

Die seit 1983 im Bundestag vertretenen GRÜNEN - die nach dem Zwi­schenspiel in Hessen nach 1989 auch in Berlin mitregierten - haben unter den gegebenen Umständen keine Chance, einen Richter ihrer Wahl aus eigener Kraft durchzusetzen. Erst ein grüner Koalitionspartner bekäme hier mehr Einfluß und ein gewisses Mitspracherecht.

Nach dem informellen Verfahren, das sich in den vergangenen Jahrzehnten zwischen den großen Parteien eingespielt hat (vgl. Wewer 1983), klären zu­nächst die Obmänner von CDU / CSU und SPD im Wahlmännerausschuß -in der Regel die Rechtsexperten der beiden Fraktionen -, ob die angestamm­ten "Vorschlagsrechte" bis hin zu den als "neutral" gehandelten Sitzen von der Gegenseite noch anerkannt werden. Dieses Clearing fällt um so leichter, je mehr Richter gleichzeitig zu ersetzen sind, weil sich dann abweichende Vor­stellungen zu einem "Paket" verbinden lassen nach dem Motto: "Akzeptierst Du hier einen CDU-Vorschlag, dann nehmen wir dort einen SPD-Kandida­ten."

Parallel zur Klärung der grundsätzlichen Frage nach den bestehenden "An­sprüchen" auf die freiwerdenden Plätze im Gericht suchen parteiinterne "Fin­dungskommissionen" in den vom Bundesjustizminister gemäß § 8 BVerfGG zu führenden Listen und auch an anderen Stellen nach Kandidaten, die ihnen genehm erscheinen und bereit sind, nach Karlsruhe zu wechseln. Während die Bedeutung einer annähernden konfessionellen Parität inzwischen zurückgegangen ist, achten die Landesregierungen, die ja eigene Kandidaten benennen können und über den Bundesrat mitbestimmen, wie bei allen ober­sten Gerichtshöfen des Bundes neben dem Parteienproporz - der dort aber wegen der im Richterwahlausschuß genügenden einfachen Mehrheit schwieri­ger durchzusetzen ist (vgl. zuletzt Günther 1987) - auf inoffizielle Länder­quoten bzw. einen gewissen "Nord-Süd-Ausgleich". Gelegentliche Überle­gungen, das weibliche Element im Gericht über die traditionelle "Alibi­Richterin" hinaus zu verstärken, führten erst in jüngster Zeit zu konkreten Er­gebnissen. Auch verschiedentlich aus Karlsruhe in die Presse lancierte Anre­gungen, beispielsweise die Dominanz der Richter vom Bundesgerichtshof durch Kollegen mit einem anderen fachlichen Schwerpunkt, etwa vom Bun-

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desfinanzhof, zu mildern oder wieder mehr Professoren zu wähnen, fanden in Bonn nur selten Gehör.

Die inoffiziellen Beratungen dort werden schließlich in einer interfraktio­nellen Bund/Länder·Arbeitsgruppe koordiniert, für die es keine rechtliche Grundlage gibt und deren Mitgliederzahl oder Verfahren von daher auch nir­gendwo festgelegt ist. Als 1975 fünf von den sechzehn Plätzen im Gericht neu zu besetzen waren, saßen darin zum Beispiel für die sozial-liberale Koalition der damalige Justizminister Hans-Jochen Vogel, sein nordrhein-westfaIischer Kollege Diether Posser und Friedrich Schäfer, der Rechtsexperte der SPD­Bundestagsfraktion, sowie Innenminister Werner Maihofer (FDP) und für die christdemokratische Opposition der rheinland-pfälzische Justizminister Otto Theisen mit den beiden Bundestagsabgeordneten Friedrich Vogel und Richard Jäger (CSU). Parallel zum Parteienproporz sind in der "Arbeitsgruppe" also die Elemente Regierung, Opposition und Bundesrat bzw. Bundesländer er­kennbar. Wie wichtig den Parteien diese Frage ist und auch die informelle Be­teiligung der Bundesregierung, zeigte sich 1986/ 'ifl, als gleich acht von sech­zehn Richtern neu zu wählen waren, etwa darin, daß dem sozialdemokrati­schen Fraktionsgeschäftsführer Gerhard Jahn Kanzleramtsminister Wolfgang Schäuble als Verhandlungsführer gegenübertrat.

In der Regel bleibt es beiden Seiten selbst überlassen, welche Kandidaten sie für "ihre" Sitze nominieren. Wird jedoch ein Vorschlag von der anderen Seite trotz des ausgehandelten "Präsentationsrechts" als "unzumutbar" angesehen, so muß in der gemeinsamen "Arbeitsgruppe" ein Kompromiß gefunden oder Kompensation geboten werden. Letzte Weihe bekommen die dort erzielten Er­gebnisse sodann in den jeweiligen Parteipräsidien. Ein Eklat wie 1971, als sich die unionsgeführten Länder im Bundesrat weigerten, die FDP-Bundestagsabge­ordnete Emmy Diemer-Nicolaus, die in den Wochen zuvor schon eine öffentli­che Debatte um ihre fachliche Qualifikation zu ertragen gehabt hatte, mit ihren Stimmen mitzuwählen, ist wegen des institutionalisierten Einigungszwanges sel­ten, kommt aber vor. Auch die Union, die sich darauf versteift hatte, als Nachfol­ger für Willi Geiger einen eigenen Kandidaten durchzusetzen, bekam dafür im Bundesrat 1976 nicht die erforderliche Zweidrittel-Mehrheit. Erst nach dem überraschenden Tod der nach Erna Scheffler (1951-1963) zweiten Verfassungs­richterin Wiltraut Rupp-von Brünneck (1963-1977), die der SPD nahestand, funktionierte das festgefahrene Proporz-Puzzle wieder: Gisela Niemeyer, Präsi­dentin des Finanzgerichts in Düsseldorf, rückte auf Vorschlag der Sozialdemo­kraten in den Ersten Senat nach (1977-1989) und Ernst Träger, ein früherer Bun­desanwalt, der noch ein kurzes Gastspiel als Bundesrichter gegeben hatte, im Sinne von CDU / CSU in den Zweiten Senat. Nach der Wahl von Karin Graßhoff (1986) gab es erstmalig in jedem Senat einen weiblichen Verfassungsrichter.

Faktisch beschließen der Wahlmännerausschuß des Bundestages und der Bun­desrat nur noch formell, was jene informellen Gremien - die parteiinternen

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"Findungskommissionen" und die gemeinsame "Arbeitsgruppe" - vorab ausgehandelt haben. Formal-rechtlich gibt es diese Gremien garnicht; gleich­wohl können weder Parlament noch Länderkammer die dort getroffenen Ab­sprachen infrage stellen, weil sonst die mühsam geschnürten Personalpakete völlig auseinderfallen würden. Dementsprechend findet weder im Wahlmän­nerausschuß noch im Bundesrat vor den formlichen Wahlakten eine Diskus­sion der Vorschlagslisten statt. Im Grunde sind es eine Handvoll Politiker, die in einem weder in der Verfassung noch im Gesetz vorgesehenen Gremium und einem wenig transparenten Verfahren immerhin über die Besetzung eines Ver­fassungsorgans entscheiden.

III. Unmögliches Verfahren oder funktionale Notwendigkeit?

Das skizzierte Verfahren zur Rekrutierung der Verfassungsrichter wird zuneh­mend kritisiert und als verfassungswidrig bezeichnet: "Dieses Verfahren läßt sich weder mit Art. 94 GG noch mit Art. 42 I 1 GG vereinbaren, wonach der Bundestag eben öffentlich verhandelt. Durch einfaches Gesetz dem Bundestag eine Entscheidung abzunehmen, sie auf ein so kleines Gremium (gemeint ist hier sogar noch der zwölfköpfige Wahlmännerausschuß; G.w.) zu verlagern, daß kleinere Fraktionen keinen Anspruch auf Beteiligung haben, und zudem noch aus der Öffentlichkeit zu flüchten, läßt die Verfassung nicht zu. Es läßt sich noch nicht einmal behaupten, daß die relative Geheimniskrämerei zu be­sonders überzeugenden Personalentscheidungen geführt hätte. Eher lassen sich einige markante Fehlbesetzungen nachweisen. Daß die in § V BVerfGG verlangte Zweidrittel-Mehrheit in dem Wahlmännerausschuß ihre Funktion, möglichst breiten Konsens des Gesamtgremiums für jeden Kandidaten zu ver­langen, in die Funktion verwandelt hat, die 'Sitze' auf die beiden großen poli­tischen Gruppierungen im Parlament aufzuteilen, ist wohl mehr als ein Schön­heitsfehler" (Meyer 1989: 152 f. m.w.Nachw.).

Ähnlich wie zahlreiche andere Juristen und der Deutsche Richterbund, die sich öffentlich gegen die "Kungelei" bei der Auswahl der Richter wandten (vgl. auch die Kontroverse zwischen dem früheren Richter Willi Geiger 1983 und dem CDU/CSU-Obmann im Ausschuß Benno Erhard 1983), verabschiedete auch die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristen 1987 eine Ent­schließung gegen das "unmögliche Verfahren" (Martin Hirsch). Danach sollten in Zukunft die Richterstellen öffentlich ausgeschrieben und je zur Hälfte durch das Plenum des Bundestages und des Bundesrates mit Zweidrittel-Mehrheit ge­wählt werden. Vorausgehen sollte dem eine persönliche Vorstellung aller Be­werber vor einem Ausschuß des Bundestages bzw. vor Mitgliedern des Bundes­rates (abgedruckt in der Zeitschrift "Demokratie und Recht" 3/1987: 135).

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Ein entsprechender Gesetzentwurf der GRÜNEN (BI-Drucks. 11 /73) machte im Rechtsausschuß des Bundestages am 24. Februar 1988 nur die un­terschiedlichen Standpunkte noch einmal deutlich. Während die Union er­klärte, das bisherige Verfahren habe sich uneingeschränkt bewährt, schloß sich die SPD, die das kritisierte Verfahren zuvor immer mitgetragen, freilich gelegentlich ungeschickt taktiert hatte, dem Wunsch der GRÜNEN nach einer öffentlichen Anhörung zu diesem Thema an. Geändert hat sich nach dieser Anhörung, die am 4. Mai 1988 stattfand (vgl. Preuß 1988), bisher jedoch nichts; der Wahlmännerausschuß des Bundestages wählte am 23. Juni 1989 wie gewohnt Jürgen Kühling für den ausscheidenden Sozialdemokraten Her­mann Heußner in den Ersten Senat.

Die normativ-juristische Kritik soll hier, wo es auf andere Punkte ankommt, nicht weiter vertieft werden. Auch bei den denkbaren Alternativen zum gegen­wärtigen Wahlverfahren bliebe nämlich die Frage, wer denn - außer den Par­teien - die nach den gesetzlichen Vorschriften funktional offenkundig not­wendige Verklammerung der Wahlorgane und damit letztlich des Regierungs­systems leisten könnte. Damit ist noch nicht gesagt, daß das immer nur die beiden großen Parteien sein müssen. Auch daß sich das gewaltenteilige Wahl­verfahren natürlich vom Gesetzgeber vereinfachen ließe, ohne daß der ge­wollte politische, regionale, konfessionelle oder fachliche Proporz leiden müßte, steht auf einem anderen Blatt. Ein Vorstoß, das Zwei-Drittel-Quorum im Grundgesetz selbst abzusichern, scheiterte 1972 im Bundestag.

Unter den gegebenen Umständen scheint die informelle Verklammerung der beteiligten und interessierten Gewalten durch die Parteien allerdings un­umgänglich. Sie läßt sich schon an der personellen Besetzung beider Seiten ablesen: Vertreten in der "Arbeitsgruppe" ist immer die Bundesregierung durch eines ihrer Mitglieder und zumeist auch der kleinere Koalitionspartner, ferner das Parlament durch mindestens einen Unterhändler der Mehrheit und der Opposition sowie schließlich der Bundesrat, d.h. die Landesregierungen, repräsentiert im Regelfall durch je einen CDU- und einen SPD-Justizrninister, die sich mit ihren Kollegen zum Teil in einer Wahlvorbereitungskommission des Bundesrates abstimmen.

Formal findet gegenüber den rechtlichen Vorschriften eine zweifache Kom­petenzverschiebung statt: vom eigentlichen Wahlorgan - Bundestag, Bundes­rat - hin in kleinere Gremien - Wahlmännerausschuß, Wahlvorbereitungs­kommission - und aus diesen hinaus in informelle Gremien auf Parteiebene (Gusy 1989: 1632). Die These hier lautet, daß dies wegen der überkomplexen Gewaltenteilung im bundesdeutschen Regierungssystem - wenigstens ein Stück weit - praktisch unvermeidlich ist, wenn Regieren möglich bleiben soll. Und die Personalrekrutierung für das Bundesverfassungsgericht gehört ohne Zweifel dazu.

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Formalisierung und Informalisierung im Regierungszentrum

Klaus König

I. Informalität der Regierungsgeschäjte

Regierung ist beides: Person und Institution, Individuum und Organisation, Motivation und Normation. Indessen stehen sich Individualität des Regieren­den und Maschinerie der Regierung nicht unvermittelt gegenüber. Zwischen­gelagert ist ein Kommunikationsnetz nicht angeordneter, nicht geplanter, nicht festgeschriebener Handlungzusammenhänge, das mit den persönlichen Er­wartungen und Verhaltensweisen der Beteiligten verknüpft ist. Es geht nicht um die Welt der Organisationspläne, Dienstanweisungen, Statushierarchien, sondern um ein soziales Beziehungsgefüge jenseits der formalen Organisa­tion, aber vor der Einzelpersönlichkeit (König, 1989).

Will man diesen Kontext an der Architektur von Regierungsgebäuden ver­deutlichen, dann bieten die Liegenschaften der amerikanischen Präsident­schaft bemerkenswerte Anschauungsbeispiele. Zuerst fällt das Auge auf das Weiße Haus. Auch in seinen repräsentativen Räumen ist es so anekdotisch ge­prägt, daß verständlich wird, wie dieser Herrensitz einer Agrargesellschaft über die Zeiten hinweg die Persönlichkeit des jeweiligen Präsidenten gleich­sam mythisch verklären konnte. Nach Westen stößt der Blick auf das Old Exe­cutive Office Building. Seine Herrschaftsarchitektur des ausgehenden 19. Jahrhunderts macht unübersehbar, daß auch in den USA - damals in den Be­reichen von Außen-, Kriegs- und Marineverwaltung - Regierungsgeschäfte der formalen Organisation bedürfen. Zwischen diesen Gebäuden erstreckt sich als eher unscheinbarer Trakt der Westflügel des Weißen Hauses: das exe­cutive Machtzentrum der Vereinigten Staaten. Bewegt man sich durch seine eher engen Räume und Gänge, dann spürt man, an einem Ort zu sein, wo sich die Distanz hochformalisierter Regierungsprozesse nur schwerlich pflegen läßt. So viele drängen in die Nähe des Präsidenten, daß durch informale Handlungsmuster auf die jeweilige Persönlichkeit des Organisationsmitglie­des Rücksicht genommen werden muß (Patterson, 1988).

Über eine solche Situation hinaus gibt es für Regierungszentren maßgebli­che Gründe, warum die formalen Apparate in ein Netz informaler Beziehun-

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gen eingesponnen werden. Regieren an der Spitze ist eine im höchsten Maße gefahrgeneigte Tätigkeit. Das politische Risiko kennzeichnet nicht die Aus­nahmesituation, sondern den ArbeitsalItag. Stolpersteine sind mehr zu fürch­ten als zu erklimmende Hänge. Angesichts von Erfolgszwang, unvollkomme­ner Standards für Problemlösungen, Vertraulichkeit der Kommunikation, äu­ßerstem Zeitdruck, Notwendigkeit der Vertretung usw. ist der Inhaber des Regierungsamtes darauf angewiesen, durch Vertrauen auf andere die Komple­xität des Geschehens für sich bearbeitbar zu machen (Luhmann, 1973). Er wird zunächst durch den Rückgriff auf ihm verbundene Personen versuchen, das Handlungspotential der politischen Leitung auszuweiten.

Persönliches Vertrauen als ein Mechanismus der Reduktion sozialer Kom­plexität ist in der Regierungsspitze unverzichtbar. Da aber die Verfassungsord­nung des Grundgesetzes für ein politisches Beutesystem nur begrenzte Spiel­räume läßt, erweist sich die Entlastung durch das institutionelle Gefüge von vornherein als unerläßlich. Die übliche Erklärung beim Amtswechsel, daß man auf die Beamtenschaft des Hauses baue, deutet auf Systemvertrauen hin. Dieses knüpft zunächst bei formalisierten Strukturmerkmalen an: einem orga­nisatorischen Aufbau, der eine sinnvolle Arbeitsteilung wiedergibt, einen Verfahrensablauf, der einer effizienten Geschäftsordnung folgt, einer Mitar­beiterschaft, die von einem loyalen Berufsbeamtenturn geprägt ist.

Indessen überfordert die Spannungslage des Vertrauens auf handelnde Per­sonen und des Vertrauens auf formalisierte Handlungsmuster den Exekutivpo­litiker. Die Zuwendung nach Art persönlicher Beziehungen absorbiert Ar­beitskraft. Der Mann oder die Frau an der Spitze läuft Gefahr, Gefangener sei­ner persönlichen Berater zu werden. Es kann sich eine Gruppendynamik­Sympathie, Rivalität, Konformität - entwickeln, bei der die politische Sub­stanz aus den Händen gleitet. Ein auf die formale Organisation verkürztes Sy­stemvertrauen übersieht schon die Vorgeschichte, wie sie jedes Regierungs­zentrum in Raum und Zeit prägt. Diese Vorgeschichte ist immer auch eine des Informalen. Nehmen wir dazu das Beispiel personeller Merkmale. Parteizu­gehörigkeit bzw. Nicht-Parteizugehörigkeit sind nach unseren geschriebenen Regeln nicht Einstellungsvoraussetzung für den VerwaItungsdienst der Regie­rungszentrale. Sie scheinen nicht einmal in dem Maße der Ämterpatronage ausgesetzt zu sein, wie das von mancher Großstadtverwaltung 1:-ekannt ist. Andererseits ist das Parteipolitische ein Anknüpfungspunkt für persönliche VertrauensverhäItnisse (König, 1989). Selbst wenn sich eine gezielte Personal­politik des Parteilichen angesichts normativer wie faktischer Restriktionen schwer durchsetzen läßt, werden sich entsprechende Präferenzen ausprägen (Dyson, 1979). Nimmt man die über Legislaturperioden hinausgreifende Ver­weildauer von Regierungen bestimmter parteipolitischer Konstellation hinzu, dann kommt man zu quantitativen Größenordnungen, die über das Persönli­che hinaus zu informalen Arrangements neigen. Dafür sind weniger die par-

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teilichen Arbeitskreise - "Betriebskampfgruppen" - in der Ministerialver­waltung, vielmehr bestimmte Kooperationsmuster in konflildtreichen und wertbeladenen Situationen kennzeichnend (Seemann, 1975).

Dabei ist das Parteipolitische nur ein, meist nicht zureichendes Identifika­tionsmerkmal. Die Abstammung aus bestimmten politischen Institutionen, die Herkunft aus bestimmten Regionen usw. sind nicht nur für die amerikani­sche Administration interessant (Cohen, 1988). Insgesall,lt bildet sich über die Jahre eine bestimmte informale Loyalitätsstruktur heraus, die für die alte Re­gierungsmannschaft funktional, für die neue aber dysfunktional ist. Ein auf Formalien gegründetes Systemvertrauen wird problematisch. Es geht an der informellen Ausrichtung der Mitarbeiter vorbei. Mißtrauen als funktionales Äquivalent prägt die Handlungen der neuen Amtsinhaber. Aber man kann diese hochbelastende Strategie im eigenen Haus nur für eine Übergangszeit durchhalten. Ein informales Netz der Kommunikationen muß sich einrichten, um im schwierigen Entscheidungsfeld der Regierungsspitze angemessen handlungsfähig zu sein.

Wir haben den Symbolcharakter amerikanischer Regierungsarchitektur be­müht, um Persönlichkeit, Formalorganisation und dazwischen Informalität für die exekutive Politik anschaulich zu machen. Das Gebäude: des Bonner Bundeskanzleramtes läßt sich für eine solche Unterscheidung kaum anführen. Allenfalls läßt sich dem Arbeitszimmer des Bundeskanzlers eine persönliche Note abgewinnen. In den langen Fluren sterben informale Gespräche. Der Unkundige mag in diesem Gebäude die Konzernspitze eines dezentralisierten Banken-, Handels-, Versicherungsunternehmens vermuten, etwa mehr als die Behausung einer Staatsverwaltung, aber jedenfalls einen Bürotrakt, in dem straff, diszipliniert, präzis, verläßlich gearbeitet wird, kurz: jene hohen For­malqualitäten eingehalten werden, wie sie von den komplizierten Lebenssach­verhalten einer modernen Industriegesellschaft gefordert werd.en (Kollatz, 1967). Jedes Schriftstück, das den in der Aktenordnung vorgesehenen Weg verläßt, kann in einer solchen Umwelt die Frage abweichenden Verhaltens -von Apathie bis Rebellion - aufwerfen und in einer Hauptstadt wie Bonn auf publizistische Interessen stoßen. Neue Amtsinhaber mögen sich vom Palais Schaumburg als altem Kanzlersitz angezogen fühlen. Sie werden aber bald kulturkritische Gedanken aufgeben, sich der Technizität der heutigen Regie­rungsgeschäfte beugen und sich im neuen Funktionsbau einrichten.

Die Architektur der Hochbürokratie legt den Gedanken nahe, auf jenen Ty­pus moderner Macht- und Arbeitsordnung für unser Thema der Formalisie­rung und Informalisierung in Regierungszentren zurückzugreifen. Staatsbüro­kratien werden gerade wegen ihrer Formalismen kritisiert (Merton, 1968). Man kann von den Merkmalen der Bürokratie, wie sie Max Weber herausge­arbeitet hat (Weber, 1976), ausgehen und sie von ihrer Formalität her gleich­sam als Hintergrund für unseren Gegenstand benutzen. Kompetenzordnung,

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Amtshierarchie, Aktenmäßigkeit usw. sind angeordnete, gesetzte, vorge­schriebene Strukturen des Regierungssystems, also Formalisierungen, von denen sich nicht kodiftzierte, weniger positivierte Sinnzusammenhänge des Regierungshandelns abheben lassen.

Il. Formale und informale Organisationsstrukturen

Die soziale Differenzierung der modernen Gesellschaft äußert sich bei der Wahrnehmung öffentlicher Angelegenheiten in einer bestimmten, als verbind­lich geltenden Kompetenzverteilung. Dieser Grundgedanke einer bürokrati­schen Verwaltung - im Unterschied zu den traditionellen Formen sich ent­wickelnder Verwaltungen in der Dritten Welt (König, 1986) - greift nicht nur bis in den Ministerialbereich, sondern bis zur Spitze der Regierung selbst. Für die Bundesregierung ist festgelegt, daß der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik bestimmt, die Bundesminister ihren Geschäftsbereich selbständig und in eigener Verantwortung leiten und über deren Meinungsverschiedenheiten das Kabinett entscheidet. Diese Kompetenzverteilung ist in Artikel 65 des Grundgesetzes dokumentiert und hat so die höchste Formqualität, die der Ver­fassungsstaat zu vergeben hat. Jenseits der persönlichen Verantwortung geht es beim Kanzlerprinzip, Ressortprinzip und Kabinettsprinzip um institutio­nelle Regeln, die die zugehörigen Organisationen einschließen.

Stellt man unter den Vorzeichen des Zentrums der Regierung die Frage nach der Handhabung dieser Grundsätze, dann stößt man insbesondere auf die Pro­bleme, die die Staatsrechtslehre (Stern, 1980) und die Politische Wissenschaft (Hennis, 1964) mit der Normativität und der Faktizität der Richtlinienkompe­tenz des Bundeskanzlers haben. Auf einer Ebene unterhalb der verfassungs­mäßigen Formalisierung kann man insoweit in zwei Richtungen blicken. Zum einen kann man danach Ausschau halten, an welchem institutionellen Ort über die politische Richtung, Ziele und Wege, Leitsätze der Regierung entschieden wird und ob über einen bloßen Dezisionismus hinaus sich ein entsprechendes Kommunikationsnetz organisiert hat. Dieses wäre jedenfalls gemessen an der Positivität des Grundgesetzes als informales Beziehungsgefüge zu betrachten. Insoweit haben wir es inzwischen mit einem klassischen Gegenstand der Re­gierungslehre zu tun, der etwa unter der Überschrift "Kanzlerdemokratie oder Dispersion der Macht" diskutiert wird (Mayntz, 1980). Wir wissen, daß es heute insbesondere Koalitionsgremien sind, die im Gewande von Partei-, Fraktions- oder Regierungsspitze dem gouvernementalen Geschäft den politi­schen Rahmen setzen, und zwar nicht einfach von Fall zu Fall, sondern in strukturierter Kommunikation (Rudzio, 1972).

Fragt man in die andere Richtung, welches denn die Entscheidungsbeiträge des Bundeskanzlers in den Regierungsgeschäften sind, dann stößt man auf die

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ganze Breite der Inanspruchnahme von Kompetenzen. Das beginnt mit der Richtlinienkompetenz selbst. Die Formel von den Richtlinien der Politik ist zwar für den Regierungsalltag zu anspruchsvoll. Man wird sie klugerweise nur dann benutzen, wenn ohnehin Konsens zwischen den Beteiligten besteht. Bundeskanzler treffen aber durchaus Grundsatzentscheidungen, ausnahms­weise sogar ohne Abstimmung mit dem Koalitionspartner, wie sich jüngst in der Deutschlandpolitik gezeigt hat. Bundeskanzler fällen die vielfiiltigsten Einzelfallentscheidungen, und zwar auch ohne daß man sich darauf berufen kann, im Einzelfall käme eben das Grundsätzliche zum Ausdruck (Böcken­förde, 1964; Knöpfte, 1965). Man denke etwa daran, daß das letzte Wort zur Annahme einer Erbschaft - das Kulturdenkmal einer italienischen Villa be­treffend - hier fiillt. Kanzler intervenieren gegebenenfalls in Ressortge­schäfte, etwa wenn ein Ministerium in einer Sache Handlungsschwäche zeigt und die Regierungsspitze in den Massenmedien in Anspruch genommen wird. Kanzler neigen meistens dazu, das Kabinettsprinzip nicht zu praktizieren und Meinungsverschiedenheiten zwischen Ministerien anders zu bereinigen (Hüttl, 1967). Dabei werden die Kommunikationskanäle mit davon bestimmt, ob die Minister der Kanzlerpartei angehören oder die Koalitionsparteien be­troffen sind.

Will man diese und andere Funktionen der Entscheidung an der Spitze nicht auf die Frage des persönlichen Führungsstils zurückführen, sondern sich mit dem informalen Regelwerk jenseits offtzieller Kompetenzen beschäftigen, dann ist die organisierte Kanzlerschaft mitzuberücksichtigen. Auch bei hoher Einschätzung der personalisierten Sonderstellung des Bundeskanzlers ist die­ser letztlich sowenig wie ein Ressortminister ein Ein-Mann-Unternehmen. Auch insoweit gilt, daß Regierungsgeschäfte in einem Gegenstromverfahren auf den verschiedenen Stufen der Referate, Gruppen, Abteilungen, Amtslei­tung, politischer Spitze mit Querkanälen nicht zuletzt zu Fraktions- und Koa­litionsgremien verfolgt werden. Die Referate als Basiseinheiten der Ministe­rialorganisation haben im Falle des Bundeskanzleramtes keine hierarchischen Befugnisse gegenüber den Ressorts (König, 1985). Sie können sich nur selten auf die Richtlinienkompetenz berufen. Sie sind nicht einmal federführend bei der Koordination der verschiedenen in einer Sache beteiligten Ministerien. Dennoch verfügen sie über gewisse Sanktionsmöglichkeiten, weil nach der Geschäftsordnung der Bundesregierung alle Kabinettsvorlagen vor der Bera­tung im Bundeskanzleramt unter fachlichen wie politischen Gesichtspunkten zu prüfen sind (§ 21 GOBReg). Die Prüfungsarbeit mündet in einem Kabi­nettsvermerk, dem ein Beschlußvorschlag vorangestellt ist. Er kann mit Be­gründung vom Votum des Ressorts abweichen.

Diese formale Kompetenzzuordnung genügt, um den Mitarbeiter des Bun­deskanzleramtes von vornherein zur Prozeßpartei in den Regierungsgeschäf­ten zu machen. Im sozialen Feld zwischen persönlichen Verhaltensweisen und

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institutionellen Größen läßt sich dementsprechend ein informales Beziehungs­gefüge aufbauen. Dies schließt jenseits vorgeschriebener Geschäftsabläufe den informellen Zugang zu den verschiedenen Arbeits- und politischen Ebe­nen der Ressorts ein, gegebenenfalls bis zum Staatssekretär und Minister. Es werden Informationskanäle zum Geschehen im jeweiligen Ministerium er­schlossen, von denen umgekehrt die Beratungsqualität im Kanzleramt ab­hängt. Die informelle Einbindung in ein Ministerium kann soweit gehen, daß die einseitige Vertretung von Ressortinteressen droht, insbesondere wenn der Mitarbeiter dort sein Heimathaus mit weiteren Karrierechancen sieht.

Bürokratische Verwaltungen sind durch ihre Amtshierarchie im organisato­rischen Sinne gekennzeichnet. Im inneren Kreis des Weißen Hauses im Was­hington gibt es formaliter einen solchen pyramidenförmigen Aufbau nicht. Mehr als ein Dutzend Assistenten des Präsidenten sind diesem wie Radspei­chen zugeordnet (Hess, 1988). Allerdings zeigt sich bald, wie problematisch eine solche Organisations struktur im Zentrum der Macht ist. Der Beobachter entdeckt Ansätze der Mediatisierung. Das Problem des unkontrollierten Zu­gangs zum Präsidenten wird relevant. Man stößt auf ein Diagramm des Infor­mationsflusses, das vermittelnde Instanzen aufweist.. Schließlich mag man die Frage stellen, wieweit es etwa dem Stabschef in informaler Weise gelungen ist, eine Hierarchie mit ihm unmittelbar unter dem Präsidenten einzurichten (Kernell/Popkin, 1986).

Der Bonner Bundeskanzler kommt demgegenüber in ein Haus mit hierar­chischer Organisation in streng formaler Ausprägung (Behrendt, 1967). Die Zeiten einer Kanzlei als persönlichen Büros des Regierungschefs sind lange vorbei. Das Bundeskanzleramt unserer Tage ist durch die Pyramide von sechs Abteilungen, etwa 15 Gruppen und 50 Referaten mit dem Amtschef an der Spitze gekennzeichnet. Eine solche Formalorganisation ist verhältnismäßig indifferent gegenüber der Person des Bundeskanzlers, seinem Führungsstil, seiner Arbeitsweise im Kabinett, seiner Handhabung von Koalitionsgesprä­chen, seinen Zugängen zur Fraktion usw. Diese Indifferenz ist im Wege zur modernen Regierungsmaschinerie beschlossen, die auch ohne Ansehen der Person funktionieren kann und im Prinzip ein Arbeitspotential für Probleme vorhalten muß, die keine politische Aktualität genießen (Schöne, 1968).

Gibt es mithin einen begründeten Unterschied zwischen Erwartungen und Verhaltensweisen des Regierungschefs und Formalorganisation der Regie­rungszentrale, dann ist wieder funktional verständlich, daß sich jeweils eine Zwischenschicht informaler Beziehungen bildet. Exekutiv-Politiker folgen den Themen, die politische Konjunktur erleben; sie versuchen durch eigene politische Prioritäten Ansehen zu gewinnen; sie sichern sich in den politi­schen Gegenständen ab, in denen sie die höchsten Risiken erwarten. Entspre­chend konzentrieren sie sich auf Organisationseinheiten, die sie für politisch erheblich halten. Andere können nicht mit gleicher Anspannung rechnen. Es

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entsteht ein informelles Steuerungsmuster von oben her, das nur Auszüge der offiziellen Organigramme erfaßt. Es kommt zu Durchgriffen ohne Einhaltung des hierarchischen Aufbaus. Man könnte für die jeweilige Regierungsphase einer informellen Kontrollspanne nachspüren, die nirgends aufgeschrieben ist und sich weder in der Breite noch in der Tiefe an die offizielle Amtspyramide der Organisationspläne hält (König, 1989).

III. Formale und informale Prozeßstrukturen

In der bürokratischen Verwaltung erfolgt die Amtsführung der Beamten nach generellen, mehr oder minder festen und mehr oder minder erschöpfenden, erlernbaren Regeln. Diese Typisierung ist durch die rechtsstaatliche Verwal­tung unserer Tage eher übertroffen worden. Die Regelungsbestände sind fest, nämlich durch Gesetz, Verordnung, Vorschriften positiviert. Parlamentari­scher Steuerungsanspruch, gerichtliche Kontrollrnaßstäbe, öffentlicher An­spruchsdruck und auch legistischer Perfektionismus haben dazu geführt, daß das, was zu verwalten ist, erschöpfend durch Normen und Programme vorent­schieden wird (König, 1988). Die Mitarbeiter des Bundeskanzleramts sind demgegenüber in einer formulierenden, gestaltenden, vorbereitenden Verwal­tung tätig. Ihr Geschäft ist nicht vom Vollzug der Gesetze, sondern von deren Initiierung und Novellierung, nicht von Umsetzung des Budgets, sondern von der Erschließung und Neuverteilung der Finanzmittel, nicht von der Imple­mentation von Plänen, sondern der Erstellung neuer Projekte und Programme geprägt.

Aber auch in einer solchen Arbeitssituation kann man seine Problemlö­sungsbeiträge nicht gleichsam von einem Nullpunkt her leisten. Die Regeln des Sachverstandes reichen nicht aus. Man ist Teil des politischen Prozesses. Dessen Risiken verlangen Entlastung, d. h. daß über die zu treffende Ent­scheidung in vieWiltiger Weise vorentschieden ist (König, 1974; Luhmann, 1981). Charakteristisch ist die Unsicherheit, die sich am Beginn einer Regie­rungsära im Amte ausbreitet. Der neue Kanzler verteilt im Hause kein Hand­buch des politisch Richtigen. Die Mitarbeiter machen sich auf die Suche nach den inhaltlichen Prämissen ihres Handeins. Parteiprogramme und Wahl­kampfversprechen werden studiert. Glücklicherweise veröffentlicht eine Ta­geszeitung die Koalitionsvereinbarung. Schließlich kommt es zu einer An­trittserklärung des neuen Regierungschefs vor dem Parlament. Diese Regie­rungserklärung pflegt heute so operational zu sein, daß man ein gewisses Kodifikat politischer Prioritäten in der Hand hat (Beyme, 1974).

Danach bildet sich ein Regelwerk zur inhaltlichen Politik, das aus formalen und informalen Elementen besteht. Dazu zählen Reden, Erklärungen, Inter-

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views des Regierungschefs selbst, Verlautbarungen anderer Exekutivpolitiker, die er gebilligt hat. Ferner gibt es interne Weisungen mehr genereller Art, die über die Ebene des Amtschefs, der Abteilungsleiter, Gruppenleiter bis zur Ba­sisorganisation generiert werden. Vieles weiß man dort freilich nur vom Hö­rensagen. Es fehlt die Autorität des geschriebenen Wortes und die Sicherheit des direkten Kontakts mit der Person. Man erfährt von Gesprächen, die der Kanzler geführt hat, hört von Präferenzen, die der Amtschef geäußert hat, lauscht auf die Untertöne der Abteilungsbesprechungen usw. Die Sicherheit des inhaltlich richtigen Handeins nimmt zu.

Eine Regierung mag in ihren sachlichen Prioritäten noch so eingeschliffen sein, der Mitarbeiter an der Basis wird dennoch zu oft ohne einen zureichen­den Satz substantieller Entscheidungsprämissen für seine Probleme sein. Dem kann keine Hausleitung abhelfen, mag sie noch so eifrig politische Vor­gaben produzieren. Regierung an der Spitze bedeutet temporale Komplexität von hohem Ausmaß. Umweltbedingungen und interne Konstellationen verän­dern sich schnell. Niemand kann alle Möglichkeiten zukünftiger Fallgestal­tungen flächendeckend durch Vorentscheidungen antizipieren. Das ist nicht bloß eine Frage der Intelligenz des Staatsapparates. Wenn sich der Gedanke ei­ner alternativen Planung nicht weiter durchgesetzt hat, so deswegen, weil kaum einer in der Lage ist, gleiche Macht für zwei verschiedene Sachlösun­gen zu beschaffen. Der Staatskanzlist ist deswegen nicht zuletzt ein Fachmann für das Regierungsverfahren. Die prozedurale Rationalität greift ein, wenn man in komplexen Entscheidungslagen auf die beschränkte Möglichkeit in­haltlich richtigen Handeins stößt (Simon, 1978).

Mit Geschäftsordnungen und Hausanweisungen ist der Regierungsarbeit ein formalisiertes Verfahren vorgeschrieben. Auch hier greifen aber wie­derum informelle Ablaufmuster ein, die der jeweiligen Handlungssituation bis zu den persönlichen Erwartungen und Verhaltensmustern hin Rechnung tragen. Als ein Anschauungsfall sei die Bestimmung in der Geschäftsordnung der Bundesregierung genannt, wonach Meinungsverschiedenheiten zwischen Bundesministern der Bundesregierung erst zu unterbreiten sind, wenn ein persönlicher Verständigungsversuch zwischen den beteiligten Bundesmini­stern oder im Falle ihrer Behinderung zwischen ihren Vertretern ohne Erfolg geblieben ist (§ 17 GOBReg). Das Bundeskanzleramt wird nicht schlechthin auf der Einhaltung dieser Vorschrift bei der Vorbereitung der Kabinettssitzung bestehen. Konfigurationen sind möglich, die andere informale Vorgehenswei­sen ins Spiel bringen.

So kann man etwa einem auf zwei Ressorts zugespitzten Konflikt die Schärfe nehmen, indem man die Fragestellung so erweitert, daß noch andere Minister betroffen sind und ein multilaterales, weniger markantes Verfahren eingreift. Man mag'verhindern wollen, daß zwei prominente Sprecher ver­schiedener Koalitionsparteien in ihrer Eigenschaft als Regierungsmitglieder

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aneinander geraten. Hier bietet sich der Ausweg über ein Koalitionsgespräch möglicherweise als der Sache dienlich an. Der Bundeskanzler kann nach der Geschäftsordnung Meinungsverschiedenheiten vor der Beratung im Kabinett zunächst in eine Ministerbesprechung mit den beteiligten Bundesministern unter seinem Vorsitz erörtern. Bei Ministern der Kanzlerpartei mag es für ihn aber durchaus opportun sein, diese Diskussion in einem Parteigremium zu führen, wenn die von ihm vertretene Ansicht vor dem dortigen Hintergrund besser zu verdeutlichen ist. Alle diese prozeduralen Möglichkeiten bedeuten freilich nicht, daß die Gespräche der Ressortchefs in der überwiegenden Zahl der Fälle abgeschafft sind.

Damit sind wir bei der Frage, wie die formalisierten Regierungsverfahren in ihrer wirklichen Maßgeblichkeit einzuschätzen sind. Es würde nicht unserer Verwaltungskultur entsprechen, in der Verfahrensgestaltung einem bloßen Dezisionismus zu folgen (Luhmann, 1969). Die Werte des "due process" gel­ten auch in der Regierungszentrale. Nur steht Politik an der Spitze unter einem solchen Erwartungsdruck, daß der Exekutivpolitiker sich wegen (~ines Verfah­rensfehlers nicht um seine Erfolge in der Sache bringen lassen wird. Insoweit geht es nicht um zwingendes Prozeßrecht. Ein Handlungsspielraum, der gleichsam von Geschäftsordnungen befreit, wird einem Minister aber nur als seltene Ausnahme eingeräumt. Das mag der Fall sein, wenn er zugleich als Kandidat für das Amt eines Ministerpräsidenten in einem Bundesland zu be­sonderen Leistungsbeweisen gezwungen ist. Üblicherweise geht derjenige, der die formalen Prozeduren nicht einhält, ein beträchtliches Risiko ein. Blei­ben in der Sache auch nur geringe Zweifel, fehlt zum Konsens auch nur ein kleiner Rest, kann er leicht an der Verfahrensrüge scheitern, ohne daß man sich zum Vorhaben selbst einläßt. Hiernach bedeuten informale Verfahrensge­staltungen grundsätzlich nicht, daß die offiziellen Regeln außer Kraft gesetzt sind, sondern daß weitere Kommunikationskanäle eröffnet werden, die auch die persönlichen Konfigurationen berücksichtigen.

Unter den Verfahrensmerkmalen der bürokratischen Verwaltung ist es ins­besondere noch die Aktenförmigkeit der Amtsführung, die die Aufmerksam­keit der Regierungslehre verdient. Dabei wären Bürotechnologien, Datenban­ken usw. auch im Spitzenbereich ein modernes Thema (Dahms, 1975). Aber auch unter dem Vorzeichen des Informalen ergeben sich vom Aktenbetrieb her Einblicke in die Regierungstätigkeit. Das Weiße Haus in Washington wie das Bundeskanzleramt in Bonn sind beide Hochburgen der Papierarbeit, und doch besteht ein höchst unterschiedliches Amtsverständnis. Papiere im Wei­ßen Haus werden weitgehend als persönliche Schriftstücke des Präsidenten begriffen. Nach Ende seiner Amtsperiode wird er versuchen, sich daraus ein ebenso persönliches Denkmal - etwa im Rahmen einer Bibliothek - zu er­richten. Der Amtsnachfolger findet leere Schränke und Regale vor. Die Konti­nuität in der Führung der Regierungsgeschäfte ist schwierig (Pfiffner, 1988).

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Papiere im Bundeskanzleramt werden weitgehend als amtliches Schriftgut definiert. Ihr Schicksal - gegebenenfalls bis zur ebenfalls amtlichen Archi­vierung - ist in einer Registraturanweisung geregelt. Nach einem Regie­rungswechsel finden die neuen Amtsinhaber gefüllte Aktenräume vor. Von der Information her ist die Stetigkeit der Amtsgeschäfte, wie sie für die bürokrati­sche Leistungsordnung hervorgehoben wird, gewährleistet. Andererseits setzt eine solche prinzipielle Amtlichkeit von Schriftstücken, und zwar bis zu deren Vernichtung, wiederum einen bürokratischen Mechanismus des Schutzes ge­gen Indiskretionen in Gang. Im Falle der Regierungszentrale reicht dazu eine allgemeine Verschlußsachenanweisung für Behörden nicht aus, sondern es be­darf einer bedarfsgerechten Spezifizierung durch eine Hausanordnung.

Die Schwerfälligkeit solcher Formalverfahren trifft weniger die aus staats­politischen Gründen geheimgehaltenen Sachen, vielmehr die Vertraulichkeit von Informationsvorsprüngen eines kurzlebigen politischen Geschäfts. Man greift daher nicht nur zum Telephon, um sich das Schreiben zu ersparen, um schnell zu unterrichten und unterrichtet zu werden, sondern um vertraulich zu kommunizieren. Man schätzt die Risiken einer Indiskretion im Ferngespräch geringer ein als bei zirkulierenden Schriftstücken. Freilich würde es Kompe­tenzordnung und Hierarchie widersprechen, wenn jeder injeder Sache mit je­dem telephonieren würde. Demgegenüber gingen Vorzüge von Schnelligkeit und Vertraulichkeit verloren, wenn man das formale Regelwerk einhalten wollte. Es bildet sich mithin ein informales Kommunikationsnetz fernmündli­cher Kontakte heraus, in dem nach den persönlichen Erwartungen und Verhal­tensweisen der Formalismus des Aktenverkehrs zumindest gelockert ist.

Diese Kommunikationsmöglichkeiten stoßen auf Grenzen, wo die Erreich­barkeit beschränkt ist. Das gilt insbesondere für den politischen Leitungsbe­reich. Papier kann sich nun doch wieder als der geeignete Informationsträger herausstellen. Gewisse Notizzettel mögen ihren Weg finden. Indessen zeigt sich, daß es bei unserem Ordnungssinn für eine aktenmäßige Amtsführung schwierig ist, auf den Gebieten des Schriftverkehrs informale Kommunika­tionskanäle einzurichten. Aus dem politischen Umfeld her mögen sich noch solche Zugänge anbahnen lassen. Für den Regierungsbereich selbst ist eine entsprechende Toleranzgrenze eher niedrig anzusetzen.

IV. Fonnale und infonnale Personalstrukturen

Die Personalverhältnisse im exekutiven Spitzenbereich sind durch zwei Sta­tusgruppen geprägt: politische Amtsträger und öffentliche Bedienstete (Hohm, 1987; König, 1990). Beide Gruppen haben bei uns ein gemeinsames zivilisatorisches Merkmal, nämlich ihre Professionalität. Regierungsarbeit

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wird ganz überwiegend von Berufspolitikern und Berufsbeamten geleistet. Ausnahmsweise dringen politisch-administrativ Ungeschulte ins Mangement öffentlicher Angelegenheiten bis in das Zentrum der Regierung vor; es gibt sie als Pressesprecher, Redenschreiber usw. Unter dem Vorzeichen der Bürokra­tie gehen danach die Fragerichtungen auseinander. Bei den Exekutivpoliti­kern ist zu prüfen, was deren Formalismen für diese bewirken. Bei den öffent­lichen Bediensteten ist zu untersuchen, wie bürokratische Regeln durch infor­male Beziehungsgefüge überlagert werden.

Die Bürokratisierung der Berufspolitiker ist ein klassisches Thema, das von der Rekrutierung von Beamten für politische Mandate bis zur "Bürokratie als Sozialisationsfeld" (Derlien) reicht (Bischoff/Bischoff, 1989). Hier soll nur bestätigt werden, daß auch der Exekutivpolitiker dieser Leistungsordnung auf die eine oder andere Weise unterworfen ist (Böhret/Jann/Kronenwett, 1988; Mayntz/Scharpf, 1973). Das gilt selbst für den Regierungschef. Gerade Per­sönlichkeiten an der Spitze, die die Rolle des politischen Führers mehr als die des öffentlichen Managers schätzen, müssen von ihrem Haus doppelt und dreifach bürokratisch abgesichert werden, wenn sie nicht Schaden leiden sollen.

So beweist eine Regierungszentrale ihre Qualität gerade dadurch, eigene Verhaltensweisen des Spitzenpolitikers aufzufangen, die nicht zuletzt seine persönliche Attraktivität ausmachen. Hält er sich nicht an die Kompetenzord­nung, wird man dafür sorgen, daß die Zuständigen nicht verletzt werden. Überspielt er die Hierarchie, wird man darauf achten, daß entsprechende Ver­antwortungen doch erhalten bleiben. Schiebt er den Bürobetrieb beiseite, wird man versuchen, etwas wie Aktenmäßigkeit herzustellen. Sichert er die unbü­rokratische Erledigung eines Falles zu, dann wird die Regierungsmaschinerie umgekehrt beweisen, was Max Weber mit Präzision, Stetigkeit, Disziplin, Straffheit und Verläßlichkeit gemeint hat. Die Regelverstöße können sich al­lerdings in der Weise häufen, daß von Amts wegen nicht mehr geholfen wer­den kann. Bei der Beurteilung eines Falles als "Panne" muß dann freilich zwi­schen intendiertem Abweichen von geschriebenen und ungeschriebenen Nor­men um des politischen Erfolges willen und den Kunstfehlern des Berufspolitikers unterschieden werden. Soviel gilt jedenfalls für die Regie­rungslehre.

Wenden wir uns von den politischen Amtsträgern den öffentlichen Bedien­steten zu, dann sind für die Berufsbeamten bereits nicht-bürokratische Merk­male wie Parteizugehörigkeit genannt worden (Derlien, 1986; Seemann, 1983). Zur regionalen Herkunft sollte angemerkt werden, daß dieses Problem bei uns im Vergleich zu anderen Ländern sehr unbedeutend ist. Die grundge­setzliehe Vorschrift, wonach bei den obersten Bundesbehörden Beamte aus al­len Bundesländern in angemessenem Verhältnis zu verwenden sind (Art. 36), ist kaum verletzt. Der Gedanke der repräsentativen Bürokratie, wonach alle

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Klassen, Schichten, Religionen, ethnische Gruppen, Regionen usw. entspre­chend der gesellschaftlichen Verhältnisse in der öffentlichen Verwaltung abge­bildet sein sollen (Subramaniam, 1967), ist eher in Richtung auf die Frauen­quote in Frage gestellt.

Unter den öffentlichen Bediensteten des exekutiven Spitzenbereiches ver­dienen zwei Gruppen aus der Sicht informaler Personalstrukturen besonderes Augenmerk: die politischen Beamten und die Führungshilfskräfte. Politische Beamte sind ein enumerativ festgelegter Kreis von Personen, die Ämter be­kleiden, bei deren Ausübung sie in fortlaufender Übereinstimmung mit den grundsätzlichen politischen Ansichten und Zielen der Regierung stehen müs­sen (§ 31 Beamtenrechtsrahmengesetz) (Kugele, 1976). Ihre beamtenrechtli­che Formalqualität besteht darin, daß sie jederzeit in den einstweiligen Ruhe­stand versetzt werden können. Dank einer aufkommenden empirischen Erfor­schung von Verwaltungseliten wissen wir, daß politische Beamte der Bonner Ministerialverwaltung 1949 bis 1984 im Durchschnitt nach rund fünf Jahren aus dem Amt ausscheiden. Im Bundeskanzleramt einschließlich Presse- und Informationsamt der Bundesregierung ist die Verweildauer mit 2,8 Jahren am kürzesten (Derlien, 1990).

In der Ministerialverwaltung erreichen hiernach nur 21,7 % der Staatsse­kretäre und Abteilungsleiter die gesetzliche Altersgrenze, im Bundeskanzle­ramt kaum jemand. Das sind zunächst quantitative Aussagen. Zwischen die­sen Fakten und der formalen Möglichkeit einer Versetzung in den einstweili­gen Ruhestand bilden sich aber informale Orientierungsmuster. In zentralen Funktionen der Regierung erwartet der politische Beamte nicht, das Regelal­ter der Pensionierung in solchen Positionen zu erreichen. Die Berufserfah­rung ist zu einer ungeschriebenen Norm verdichtet, nach der Amtsperioden vorher enden. Das bedeutet nicht, daß die Versetzung in den einstweiligen Ru­hestand oder der - eventuell zwangsweise - Wechsel in eine andere Beschäfti­gung keine persönliche Enttäuschung hervorrufen. Aber von den ungeschrie­benen Personalregeln her hat man darauf eingestellt zu sein. Eine informale Struktur begrenzter Dienstzeit im Amt überlagert das Lebenszeitprinzip des Berufsbeamtentums, und zwar durchaus im Rahmen der gesetzlichen Vor­schriften.

Von hier aus kann man nach anderen informalen Berufsstrukturen Ausschau halten, die die politischen Beamten zu einer Statusgruppe machen, welche man nicht einfach auf den bürokratischen Typus des Lautbahnbeamten zu­rückführen kann. Unter den empirischen Daten fällt der hohe Anteil externer Beschäftigung vor bzw. nach Antritt der Verwaltungstätigkeit auf. Man kann von einer starken Teilgruppe mit gemischten Karrieren sprechen (Derlien, 1990). Das wirft die Frage nach der Aufstiegsorientierung der beruflich Am­bitionierten auf. Von einer gewissen Gruppe von Inhabern zentraler Positio­nen der Regierung gewinnt man insoweit den Eindruck, daß nicht einfach ein

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beruflicher Werdegang durch Mitarbeiterschaft in Parteiorganisationen, Frak­tionsstäben, politischen Stiftungen einerseits und Tätigkeit in Landes- und Bundesadministrationen andererseits von Fall zu Fall individuell betrieben wird, sondern daß sich eine solche Doppelkarriere neuerdings zum Orientie­rungsmuster verdichtet. Allerdings sind die benachbarten Arbeitsplätze au­ßerhalb der Staatsverwaltung zu gering an der Zahl, als daß sich wie in den USA - insbesondere mit den Washingtoner Industrien politischer Beratung -das Mobilitätsgefüge einer "revolving doOf" einstellen würde (Mackenzie, 1987).

Im engeren Umkreis des Exekutivpolitikers arbeitet eine Personalgruppe, die nach Ausbildung, beruflichem Werdegang und Qualifikation, dann Rekru­tierung und spätere Verwendung ein eher diffuses Bild abgibt und die man als Führungshilfskräfte bezeichnen kann (Wagener/Rückwardt, 1982). Zu dieser Gruppe zählen Persönliche Referenten, Leiter des Ministerbüros, Kabinetts­und Parlamentsreferenten, Pressesprecher, Referenten für Öffentlichkeitsar­beit, Redenschreiber. Nimmt man dazu noch die Möglichkeit, Planungsstäbe oder Grundsatzreferate einzurichten und im Hinblick auf ein Abgeordneten­mandat parlamentarische oder Wahlkreisarbeit anzubinden, dann können sich die betreffenden Personalbestände ausweiten. Wenn dann auch nicht der Insti­tutionalisierungsgrad und die Funktionsbreite eines französischen "Cabinet ministeriei" erreicht wird (Siedentopf, 1970), so gibt es immer wieder starke Bindungen von Exekutivpolitikern an solche Personenkreise.

Führungshilfskräfte werden aus unterschiedlichen Bereichen rekrutiert: aus der Verwaltung, aber auch aus Stäben der Parteien, Parlamente, Verbände, Stiftungen usw. Oft werden sie aus dem unmittelbaren persönlichen, berufli­chen, parteipolitischen Umfeld des Exekutivpolitikers ausgewählt. Ihre dienst­rechtliche Stellung ist entsprechend verschieden: Sie sind Beamte, öffentliche Angestellte, unter Umständen mit einem Werkvertrag ausgestattet oder durch einen Dienstvertrag direkt an einen Minister gebunden. Organisationsrecht­lich ist nur der Persönliche Referent der Minister und Staatssekretäre hervor­gehoben (§ 3 Abs. 5 GGO I). Der weitere berufliche Werdegang der Füh­rungshilfskräfte weist in verschiedene Richtungen. Einige machen die be­kannten schnellen Karrieren ehemaliger Persönlicher Referenten. Manche finden einen sicheren Platz in der Linie. Nicht wenige verlassen aber zugleich mit ihrer Position in der Nähe der politischen Spitze das Haus und finden un­terschiedliche Arbeitsplätze.

Trotz solcher Heterogenitäten verbindet Führungshilfskräfte während ihrer Tätigkeitsperiode in dieser Funktion ein informales Kommunikationsnetz, das sie zugleich von den Linienbeamten unterscheidet. Dieses ist geprägt von einer engen, oft persönlich gestalteten Beziehung zu ihrem Chef und unter­einander mit entsprechenden Strukturen der Zusammenarbeit und des Ver­trauens.

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Informale Handlungsmuster sind so beschaffen, daß persönliche Eigenheiten des jeweiligen politischen Amtsträgers ertragen und hohe physische und psy­chische Belastungen ausgehalten werden können. Qualifikationen werden nicht abstrakt nach arbeitsteiligen Amtstätigkeiten vorgehalten, sondern kon­kret an das individuelle Anforderungsprofil der Führungspersönlichkeit ange­paßt. Solche informalen Beziehungsgefüge sind für die politische Leitung nicht nur funktional. Es besteht ohnehin die latente Gefahr, daß sich der ein­zelne Führungsgehilfe mit einem politisch-administrativen Entscheidungsträ­ger verwechselt. Aber auch das informale Kommunikationsnetz der Gehilfen um den Politiker herum kann sich so verdichten, daß die amtlichen Informa­tionskanäle zum Hause hin verstopft werden.

V. Formalisierung der Regierungsgeschäjte

Unterscheidungen zwischen formaler und informaler Organisation sind im­mer wieder kritisiert worden (Irle, 1963). Jedoch kann die Regierungslehre genausowenig wie etwa die Betriebswirtschaftslehre auf solche Kategorien verzichten (Grün, 1980). Regieren reicht vor und jenseits der politischen Per­sönlichkeit von verfassungsrechtlich kodifizierten und dann wirklich maßgeb­lichen Grundregeln wie dem Ressortprinzip bis zu gewissen Mindestnormen etwa der Unterrichtung untergebener Mitarbeiter zur Erhaltung des Organisa­tionsklimas. Freilich ist eine dichotomische Betrachtung von Formalität und Informalität wohl weniger brauchbar, als die einschlägigen Phänomene auf ei­nen Eigenschaftskontinuum anzusiedeln.

Entsprechend kann man für die Regierungsgeschäfte nicht einfach davon ausgehen, daß organisationspolitische Entscheidungen, die das Formale be­treffen, von oben, von der politischen Leitung her kommen, während entspre­chende Entscheidungen zum Informalen von unten, den Mitarbeitern herrüh­ren (Heinen/ Aschoff, 1980). Für den Exekutivpolitiker mag es genügen, sei­nen Einfluß im Haus informell abzusichern, während umgekehrt der Referatsleiter auf einen formalen Umriß seiner Zuständigkeit angewiesen ist (Luhmann, 1972). In diesem Sinne relativiert sich auch das, was spontan, un­beabsichtigt entsteht und was bewußt, intendiert in Gang gesetzt wird, ohne eine formale Gestaltung im Wege der Anordnung vorzunehmen.

Es steht auch nicht von vornherein fest, in welchem Verhältnis formale und informale Handlungsmuster zueinanderstehen, ob sie nebeneinander bestehen oder das eine das andere verdrängt, ob sie einander ergänzen oder miteinander in Konflikt geraten (Irle, 1963). Nehmen wir das Beispiel der Antrittserklä­rung des Regierungschefs vor dem Parlament (Pfister, 1974). In ihren opera­tionalen Teilen bedeutet sie eine formale Festlegung politischer Prioritäten

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auch für die Mitarbeiter des Regierungszentrums. Wir haben daraufhingewie­sen, wie sich danach ein Regelwerk zur inhaltlichen Politik auch mit informa­len Elementen entwickelt. Deren Verhältnis zur Regierungserklärung steht nicht aus der Definition des Informalen für alle Zeiten fest. Es kann sich in Teilen eine gewisse z;weispurigkeit ergeben, wenn nämlich sich im Offiziellen vor allem die Koalitionsabsprachen niederschlagen, daneben aber ungeschrie­ben gewisse parteipolitische Themen weiterverfolgt werden.

Oft ergänzen sich aber verlautbarte und nicht verlautbarte Programmatik. Letztere kann eine Konkretisierung dessen sein, was in der kurzen Zeit der Rede vor dem Parlament nur umrissen werden konnte. Nicht selten stehen aber formale und informale Vorgaben zum politisch richtigen Handeln in Wi­derstreit. Die Regierungserklärung mag ein politisches Vorhaben nennen, für das sich später herausstellt, daß es sich von den Machtverhältnissen her nicht durchsetzen läßt. Nach den informellen Aussagen weiß man, daß das Projekt fallengelassen worden ist. Die informalen Regeln verdrängen die offiziellen Verlautbarungen, ohne daß diese formal widerrufen worden sind. Die Angele­genheit kann dann eine politische Neubewertung erfahren, etwa indem sie von einem Fall nationaler zu einem europäischer Bedeutung wird. Die Regierungs­erklärung gilt sodann, als ob es informal keine anderen Orientierungen gegeben hätte.

Wenn man hiernach auch nicht Formalität mit rationalem, Informalität mit irrationalem Handeln gleichsetzen darf (Grün, 1980), so muß doch gesehen werden, daß eine Rationalisierungsrichtung des modemen Staates in der For­malisierung seiner programmatischen, organisatorischen, prozeduralen, per­sonellen Verhältnisse besteht (Jellinek, 1960). Ob parlamentarisches Gesetz, Richterspruch, Verwaltungsakt: Form steht gegen Willkür. Auch das Regie­rungshandeln ist einer solchen Formalisierung unterworfen. Für die Umwelt­politik setzt man auf die Neuorganisation eines eigenen Ministeriums. Für die öffentlichen Ausgaben reformiert man Haushalts- und Finanzplanung. Für die gehobenen Beamten stellt man neue formale Bildungsanforderungen auf usw. Die Entwicklung der Regierungszentrale vom Zentralbüro des Gründers Bis­marck - mit vier Mitarbeitern - bis zum Bundeskanzleramt unsere Thge -mit fast 500 Mitarbeitern - läßt sich als eine immer neuer Formalisierungen beschreiben (Bachmann, 1967).

Hierbei ist der Fortschritt nicht einfach der von der Person zur Formalorga­nisation. Dazwischen liegen Zwischenschritte des Informalen. Eine Regie­rung mag bei Gesetzesinitiativen einen bestimmte Informationsbedarf zu­nächst aus informalen Kommunikationsnetzen beziehen. Führt das nicht zu zufriedenstelIenden Vorlagen an das Kabinett, wird man eine entsprechende Formalisierung in den Geschäftsordnungen als geboten ansehen. So wurde § 40 Abs. 2 GGO n dahin ergänzt, daß in der Begründung zu Gesetzesvorlagen darzulegen ist, worin das Bedürfnis für eine bundesgesetzliche Regelung -

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bezogen auf das Gesetzesvorhaben und die wichtigsten Einzelregelungen -besteht (König, 1987).

Die Formalisierung des Informellen ergreift selbst Bereiche, die man im Vorhof vor der Regierung im strengen Sinne angesiedelt sieht. Koalitionsgre­mien, Koalitionsgespräche, Koalitionsvereinbarungen mögen als zutiefst Poli­tisches vor jedem Bürobetrieb begriffen werden (Schüle, 1964). Es wird sich aber bald herausstellen, daß man dort nicht über ein gemeinsames Regie­rungsprogramm Verhandlungen führen kann, ohne sich auf eine aktenmäßige Vorlage zu Problemidentifikationen, Zielvorstellungen, Tatbeständen, Res­sourcenrahmen, Lösungsalternativen usw. stützen zu können. Eine Tagesord­nung wird darüber belehren, daß es nicht um freien Diskurs, sondern um Re­gierungsgeschäfte geht. Man kann nicht durch eine Beliebigkeit in der Aus­wahl der Teilnehmer internen Statuskämpfen die Tür öffnen (Scott, 1986). Beteiligte sind etwa Parteivorsitzende, Fraktionsgeschäftsführer, Parteiexper­ten und damit austauschbare Positionsinhaber, die keine Nachfolgeprobleme in den Gremien selbst aufwerfen. Deren vielfältige Verpflichtungen werden feste Terminvereinbarungen erzwingen. Man wird eher zwei oder drei Proto­kollführer - nämlich von jeder Partei einen - mitbringen, als daß man sich auf die Verbindlichkeit des gesprochenen Wortes verläßt. Schriftliche Ergeb­nisvermerke werfen dann wieder Fragen der Vertraulichkeit und deren Schut­zes aufusw.

Nach allem mag für manchen der Eindruck entstehen, daß Regieren in zwei Welten zerfällt: eine des Personalismus, wie sie heute insbesondere durch die Massenmedien in Szene gesetzt wird, und eine des Formalismus, wie sie von den politisch-administrativen Bürokratien hergestellt ist. Indessen gibt es da­zwischen die dargelegten Handlungsmuster informaler Kommunikation, mö­gen sie in einem Falle mehr Persönlichkeitsfaktoren - etwa die Eigenheit ei­nes Ministers -, im anderen Falle mehr die Formalorganisation - etwa eine hochaufgebaute Hierarchie - reflektieren. Informalität drückt sich weder in Bildnissen noch in Formularen aus. Sie ist für uns schwer ersichtlich. Dies macht für diesen Gegenstand Theoriestreit wie Anziehungskraft zugleich ver­ständlich.

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Studienausgabe, Tübingen

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Über die Autoren

Klaus von Beyme, Dr. phil., ist Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Heidelberg. - Veröffentlichungen u.a.: Interessengruppen in der Demokratie (1980)5; Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa (1983)2; Das politische System der Bundesrepublik Deutschland (1991)6; Die politischen Theorien der Gegenwart (1986)6; Parteien in westlichen Demo­kratien (1984)2 .

earl Böhret, Dr. rer. pol., ist Professor für Politikwissenschaft und derzeit Rektor der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer. - Veröffent­lichungen u.a.: Entscheidungshilfen für die Regierung (1970); Grundriß der Planungspraxis (1975); (Mitautor) Führungskonzepte für die öffeilltliche Ver­waltung (1976); (mit anderen) Innenpolitik und politische Theorie (3. Aufl., 1988); (Mitautor) Technikfolgenabschätzung (1982); Verwaltungsreformen und Politische Wissenschaft (1978); Folgen (1990).

Andreas von Bü[ow, Dr. jur., Bundesminister a.D., ist Rechtsanwalt und Mit­glied des Deutschen Bundestages. - Veröffentlichungen u.a.: Fortentwick­lung der Strategien in Ost und West (1983); Die eingebildete Unterlegenheit (1984); Skizzen einer Bundeswehrstruktur für die 90er Jahre (1984); Strategie vertrauenschaffender Sicherheits-Strukturen in Europa - Wege zur Sicher­heitspartnerschaft (1985); The Conventional Defense of Europe, Council on Foreign Relations New York (1986); Defence and Disarmament, in Search of an Overall Concept (1988); Zur Rentenreform (1989); Was müßte in und an den östlichen Volkswirtschaften umgestellt werden, um sie westlichen Lei­stungsstandards anzunähern? (1989); Gegen die Wirtschafts- und Währungs­union im Verhältnis 1: 1 (1990); European Security System (1990); (zus. mit E. Bahr und K. Voigt) Materialien "Europäische Sicherheit 2000" (1990); Konventionelle Verteidigungskräfte in Europa (1990).

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Hans-Ulrich Derlien, Dr. rer.pol., ist Professor für Verwaltungswissenschaft an der Universität Bamberg. - Veröffentlichungen u.a. : Die Erfolgskontrolle staatlicher Planung (1976); (Koautor) Kommunalverfassung und kommunales Entscheidungssystem (1976); Methodische Probleme der empirischen Verwal­tungsforschung (1978); (mit Dyprand von Queis) Kommunalpolitik im geplan­ten Wandel (1986); Innere Struktur der Landesministerien in Baden­Württemberg (1988); (Mitherausgeber) Verwaltungslexikon (1985).

Hans-Hermann Hartwich, Dr. rer. pol., ist Professor für Politische Wissen­schaft an der Universität Hamburg im Bereich "Regierungslehre" und Spre­cher der Sektion Regierungssystem und Regieren in der Bundesrepublik Deutschland der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft. - Veröf fentlichungen u.a.: Arbeitsmarkt, Verbände und Staat (1967); Sozialstaatspo­stulat und gesellschaftlicher Status quo (3. Aufl., 1979); (Mitherausgeber und -autor) Strukturpolitik (1978); (Hrsg.) Vollzug und Wirkungen regionaler Um­weltpolitik (1980); (Hrsg.) Policy-Forschung in der Bundesrepublik Deutsch­land (1985); (Hrsg.) Macht und Ohnmacht politischer Institutionen (1989).

Peter Haungs, Dr. phil., ist Professor für Politikwissenschaft an der Universi­tät Trier. - Veröffentlichungen u.a.: (Koautor) Wahlkampf und Wählertradi­tion (1965); Reichspräsident und parlamentarische Kabinettsregierung (1968); (Herausgeber und Koautor) Wahlkampf als Ritual? (1974); Parteiendemokratie in der Bundesrepublik Deutschland (2. Aufl., 1981); (Herausgeber und Koau­tor) 40 Jahre Rheinland-Pfalz (1986); (Mitherausgeber und Koautor) Parteien in der Krise? (1987).

wrs Kastning, Dipl. -Pol., war Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Hamburg und ist jetzt Referent in der Behörde für Wirtschaft, Verkehr und Landwirtschaft der Freien und Hanse­stadt Hamburg. - Veröffentlichungen u.a.: Regionalentwicklung und Regio­nalpolitik in der Europäischen Gemeinschaft (in: M. Strobel (Hrsg.): Wohin treibt Europa?, 1990); Vereinigtes Königreich (in: W. Steffani (Hrsg.): Regie­rungsmehrheit und Opposition in den Staaten der EG, 1990).

Rainer Koch, Dr. rer.publ., ist Professor für Verwaltungslehre, insbesondere Personal und Führung, an der Universität der Bundeswehr Hamburg. - Veröf fentlichungen u. a.: Personalsteuerung in der Ministerialbürokratie, (1975); Management von Organisationsänderungen in der öffentlichen Verwaltung (1982); Verwaltungsforschung in Perspektive (Hrsg.) (1987); Personal und Verwaltung (1990).

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Klaus König, Dr. jur., Dr. rer. pol., ist Professor für Verwaltungswissenschaft, Regierungslehre und Öffentliches Recht an der Hochschule für Verwaltungs­wissenschaften in Speyer. - Veröffentlichungen u.a.: (Mitherausgeber) Öf­fentliche Verwaltung in der Bundesrepublik (1981); (Hrsg.) Öffentliche Ver­waltung und Entwicklungspolitik (1986); Kritik öffentlicher Aufgaben (1988); Vom Umgang mit Komplexität in Organisationen: Das Bundeskanzleramt (Der Staat 1989); (mit Nicolai Dose) Klassifizierungsansätze staatlicher Handlungsformen (1990).

Axel Murswieck, Dr. soz.wiss., ist apl. Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Heidelberg. - Veröffentlichungen u.a. : Die staatliche Kon­trolle der Arzneimittelsicherheit in der Bundesrepublik Deutschland und den USA (1983); Sozialpolitik in den USA (1988).

Herfried Münkler, PD Dr. phil.habil., ist Vertreter einer Professur für Politik­wissenschaft an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main. - Veröffentlichungen u.a.: Machiavelli. Die Begründung des politi­schen Denkens der Neuzeitaus der Krise der Republik Florenz (1982 u.ö.); Machtzerfall. Die letzten Tage des Dritten Reichs in der hess. Kleinstadt Friedberg (1985); Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsraison in der Frühen Neuzeit (1987); (zus. mit W. Storch) Siegfrieden. Politik mit einem deutschen Mythos (1988); Odysseus und Kassandra. Politik im Mythos (1990). Mitherausgeber von Pipers Handbuch der politischen Ideen, dazu zahlreiche Aufsätze insbes. zur politischen Ideengeschichte.

Wolfgang Rudzio, Dr. phil., ist Professor für Politikwissenschaft an der Uni­versität Oldenburg. - Veröffentlichungen u.a. : Die Neuordnung des Kommu­nalwesens in der Britischen Zone (1968); Die organisierte Demokratie (1977); (Mitautor) Der Marsch der DKP durch die Institutionen (1980); Das politische System der Bundesrepublik Deutschland (2. Aufl., 1983); Die Erosion der Abgrenzung (1988).

Bemhard Vogel, Dr. phil., Ministerpräsident a.D., ist Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung, St. Augustin. - Veröffentlichungen u.a.: Wahlen und Wahlsystem (1961); Kontrolliert der Bundestag die Regierung? (1964); Wahlkampf und Wählertradition. Eine Studie zur Bundestagswahl 1961 (zu­sammen mit Peter Haungs) (1965); Die Wahl der Parlamente und anderer Staatsorgane. Band I: Europa, 2 Halbbände (Hrsg., mit Dolf Sternberger) (1969); Band 11: Afrika, 2 Halbbände (Hrsg., mit Dolf Sternberger, Dieter Nohlen und Klaus Landfried) (1978); Wahlen in Deutschland. Theorie, Ge­schichte, Dokumente, 1848 bis 1970 (zusammen mit Dieter Noblen und Rainer-Olaf Schultze) (1971); Grundsätze einer Politik für morgen (1986); Deutsche Einheit und Föderalismus in Deutschland (1990)

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Göttrik Wewer, Dr. phil, ist Hochschulassistent am Institut für Politische Wis­senschaft der Universität Hamburg und Geschäftsführendes Vorstandsmit­glied der Sektion Regierungssystem und Regieren in der Bundesrepublik Deutschland. - Veröffentlichungen u.a.: Sozialdemokratische Wirtschaftsbe­triebe (1987); (Mithrsg. und Autor) Regierungssystem und Regierungslehre (1989); (Mithrsg. und Autor) Die Kirchen und die Politik (1989); (Hrsg. und Autor) Parteienfinanzierung und politischer Wettbewerb (1990); (Mithrsg. und Autor) Regieren in der Bundesrepublik 1(1990); (Hrsg. und Autor) DDR - von der friedlichen Revolution zur deutschen Vereinigung (1990).

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