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F.Maurer 1 • B. Mutter 2 • K. Weise 1 • H. Belzl 2 1 Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Tübingen • 2 Abteilung für Physiotherapie der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Tübingen Rehabilitation nach Hüftgelenkfrakturen Zusammenfassung Ziele der Rehabilitation nach Acetabulum- fraktur sind die anatomische Wiederherstel- lung des Gelenks und eine freie Beweglich- keit, um eine soziale wie berufliche Wieder- eingliederung des Unfallverletzten zu errei- chen. Dies ist nur durch die gemeinsamen Anstrengungen des Patienten selbst und der verschiedenen, an der Behandlung beteilig- ten Fachdisziplinen möglich. Hierbei sollte eine frühfunktionelle Physiotherapie mög- lichst bald nach dem Unfall einsetzen. Neben den prophylaktischen Zielsetzungen zur Ver- meidung von Kontrakturen, Thrombose, Pneumonie und immobilisationsbedingten Weichteilulzera stehen die Resorptions- und Zirkulationsförderungen in den verletzten Strukturen sowie der Aufbau globaler senso- motorischer Bewegungsmuster im Mittel- punkt. Begleitende Maßnahmen der Ergo- therapie sowie rechtzeitige Einleitung der beruflichen Rehabilitation sollten den Be- handlungserfolg langfristig sichern. Schlüsselwörter Hüftgelenkfrakturen • Physiotherapie • Re- habilitation I n der Behandlung der Acetabulum- fraktur stellt insbesondere die Physio- therapie neben der operativen und kon- servativen ärztlichen Behandlung ein unverzichtbares Behandlungskonzept dar. Ohne eine konsequente und zielge- richtete physiotherapeutische Begleit- und Nachbehandlung ist ein gutes Be- handlungsergebnis nicht möglich. Maß- nahmen der Ergotherapie können die Therapiemaßnahmen abrunden. Ziel der Therapie ist die Rekon- struktion einer schmerzfreien, nicht eingeschränkten Funktion des verletz- ten Gelenks mit Übernahme der beim Gehen und Stehen auftretenden Bela- stungen. Von chirurgischer Seite aus ist die exakte, stufenfreie Wiederherstellung der Gelenkfläche der entscheidende Faktor für die Langzeitprognose. Das erfordert häufig eine operative Reposi- tion und Stabilisierung. Für die ver- schiedenen Frakturtypen sind dabei auch verschiedene operative Zugänge erforderlich. Als Standardzugänge gel- ten der vordere ilioinguinale Zugang und der hintere Zugang nach Kocher- Langenbeck. Bereits durch das initale Trauma kommt es oft schon zu einer erhebli- chen Verletzungvon Knorpel- und Kno- chenstrukturen sowie der periartikulä- ren Weichteile. Zusätzlich zu Zerre- issungen der kräftigen Gelenkkapsel findet sich nicht selten eine Schädigung der benachbarten Muskulatur. Die Weichteile werden aber gerade durch das Operationstrauma zusätzlich bela- stet. Unter diesen Gesichtspunkten müssen vor allem die sog. erweiterten operativen Zugänge kritisch betrachtet werden. Immer wieder addieren sich zu der direkt mechanisch verursachten Desintegration der Muskulatur Funkti- onsstörungen, welche auf einer Schädi- gung der versorgenden nervalen Struk- turen beruhen. Besonders gefährdet sind hier beispielsweise beim hinteren Zugang der N. ischiadicus und der N. glutaeus superior und inferior. Diese Aspekte müssen bei der physiothera- peutischen Begleitbehandlung beson- ders berücksichtigt werden. Das Behandlungskonzept der kon- servativ bzw. operativ versorgten Aceta- bulumfraktur aus physiotherapeuti- scher Sicht soll exemplarisch so darge- stellt werden, wie es z. Z. an der Berufs- genossenschaftlichen Unfallklinik Tübingen durchgeführt wird. Es läßt sich in 4 Therapie- bzw. Mo- bilisierungsphasen unterteilen, welche nachfolgend am Beispiel des konserva- tiven Vorgehens ausführlich dargestellt werden sollen. Das Behandlungsschema bei konservativem und operativem chir- urgischen Vorgehen unterscheidet sich lediglich im zeitlichen Ablauf. Für den operativ behandelten Verletzten ver- kürzt sich die Liegezeit. Die Behand- lungsziele der einzelnen Phasen ent- sprechen sich; es ändert sich lediglich die jeweilige Dauer. Physiotherapie Mobilisationsphase (1. bis 3. Woche) Während dieser Zeit liegt der Patient konstant in Rückenlage. Er ist mit einer axialen – meist suprakondylären – Ex- tension und gegebenenfalls auch mit ei- nem Trochanterseitzug versorgt. In die- ser frühen Phase steht die für Reposi- tion und Retention erforderliche Lage- rung im Vordergrund. Dadurch werden aktive wie auch passive Beweglichkeit li- mitiert. 368 Der Orthopäde 4·97 Orthopäde 1997 · 26:368–374 © Springer-Verlag 1997 Hüftgelenkluxationen und -frakturen Priv.-Doz. Dr. F.Maurer Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik, Schnarrenbergstraße 95, D-72076 Tübingen

Rehabilitation of patients with acetabular fractures

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Page 1: Rehabilitation of patients with acetabular fractures

F. Maurer1 • B. Mutter2 • K. Weise1 • H. Belzl2 – 1 Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Tübingen •2 Abteilung für Physiotherapie der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Tübingen

Rehabilitation nachHüftgelenkfrakturen

Zusammenfassung

Ziele der Rehabilitation nach Acetabulum-fraktur sind die anatomische Wiederherstel-lung des Gelenks und eine freie Beweglich-keit, um eine soziale wie berufliche Wieder-eingliederung des Unfallverletzten zu errei-chen.

Dies ist nur durch die gemeinsamenAnstrengungen des Patienten selbst und derverschiedenen, an der Behandlung beteilig-ten Fachdisziplinen möglich. Hierbei sollteeine frühfunktionelle Physiotherapie mög-lichst bald nach dem Unfall einsetzen. Nebenden prophylaktischen Zielsetzungen zur Ver-meidung von Kontrakturen, Thrombose,Pneumonie und immobilisationsbedingtenWeichteilulzera stehen die Resorptions- undZirkulationsförderungen in den verletztenStrukturen sowie der Aufbau globaler senso-motorischer Bewegungsmuster im Mittel-punkt. Begleitende Maßnahmen der Ergo-therapie sowie rechtzeitige Einleitung derberuflichen Rehabilitation sollten den Be-handlungserfolg langfristig sichern.

Schlüsselwörter

Hüftgelenkfrakturen • Physiotherapie • Re-habilitation

In der Behandlung der Acetabulum-fraktur stellt insbesondere die Physio-therapie neben der operativen und kon-servativen ärztlichen Behandlung einunverzichtbares Behandlungskonzeptdar. Ohne eine konsequente und zielge-richtete physiotherapeutische Begleit-und Nachbehandlung ist ein gutes Be-handlungsergebnis nicht möglich. Maß-nahmen der Ergotherapie können dieTherapiemaßnahmen abrunden.

Ziel der Therapie ist die Rekon-struktion einer schmerzfreien, nichteingeschränkten Funktion des verletz-ten Gelenks mit Übernahme der beimGehen und Stehen auftretenden Bela-stungen.

Von chirurgischer Seite aus ist dieexakte, stufenfreie Wiederherstellungder Gelenkfläche der entscheidendeFaktor für die Langzeitprognose. Daserfordert häufig eine operative Reposi-tion und Stabilisierung. Für die ver-schiedenen Frakturtypen sind dabeiauch verschiedene operative Zugängeerforderlich. Als Standardzugänge gel-ten der vordere ilioinguinale Zugangund der hintere Zugang nach Kocher-Langenbeck.

Bereits durch das initale Traumakommt es oft schon zu einer erhebli-chen Verletzung von Knorpel- und Kno-chenstrukturen sowie der periartikulä-ren Weichteile. Zusätzlich zu Zerre-issungen der kräftigen Gelenkkapselfindet sich nicht selten eine Schädigungder benachbarten Muskulatur. DieWeichteile werden aber gerade durchdas Operationstrauma zusätzlich bela-stet. Unter diesen Gesichtspunktenmüssen vor allem die sog. erweitertenoperativen Zugänge kritisch betrachtetwerden. Immer wieder addieren sich zuder direkt mechanisch verursachtenDesintegration der Muskulatur Funkti-onsstörungen, welche auf einer Schädi-gung der versorgenden nervalen Struk-

turen beruhen. Besonders gefährdetsind hier beispielsweise beim hinterenZugang der N. ischiadicus und derN. glutaeus superior und inferior. DieseAspekte müssen bei der physiothera-peutischen Begleitbehandlung beson-ders berücksichtigt werden.

Das Behandlungskonzept der kon-servativ bzw. operativ versorgten Aceta-bulumfraktur aus physiotherapeuti-scher Sicht soll exemplarisch so darge-stellt werden, wie es z. Z. an der Berufs-genossenschaftlichen UnfallklinikTübingen durchgeführt wird.

Es läßt sich in 4 Therapie- bzw. Mo-bilisierungsphasen unterteilen, welchenachfolgend am Beispiel des konserva-tiven Vorgehens ausführlich dargestelltwerden sollen. Das Behandlungsschemabei konservativem und operativem chir-urgischen Vorgehen unterscheidet sichlediglich im zeitlichen Ablauf. Für denoperativ behandelten Verletzten ver-kürzt sich die Liegezeit. Die Behand-lungsziele der einzelnen Phasen ent-sprechen sich; es ändert sich lediglichdie jeweilige Dauer.

Physiotherapie

Mobilisationsphase (1. bis 3. Woche)Während dieser Zeit liegt der Patientkonstant in Rückenlage. Er ist mit eineraxialen – meist suprakondylären – Ex-tension und gegebenenfalls auch mit ei-nem Trochanterseitzug versorgt. In die-ser frühen Phase steht die für Reposi-tion und Retention erforderliche Lage-rung im Vordergrund. Dadurch werdenaktive wie auch passive Beweglichkeit li-mitiert.

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Orthopäde1997 · 26:368–374 © Springer-Verlag 1997 Hüftgelenkluxationen und -frakturen

Priv.-Doz. Dr. F. MaurerBerufsgenossenschaftliche Unfallklinik,Schnarrenbergstraße 95, D-72076 Tübingen

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Zum Erhalt der optimalen Zugrich-tung der axialen Extension wird dasBein der verletzten Seite in einerSchaumstoffschiene gelagert. Ein Ge-gentritt in Form einer Bettkiste zwi-schen dem Bettende und dem Fuß desunverletzten Beins dient zur weiterenStabilisierung der korrekten Lage.Durch diese gezielte Abstützung kannein Verrutschen vermieden werden.Gleichzeitig wird hierdurch die Wir-kung des Längszugs gewährleistet(Abb. 1, 2).

Therapieinhalte dieser Phase sindneben den Prophylaxen zur Vermei-dung einer Kontraktur, einer Pneumo-nie, einer Venenthrombose und von De-kubitalulzera die Resorptionsförderungund Durchblutungssteigerung in denverletzten Strukturen und der koordi-native Aufbau der Muskulatur [1].

Besonderes Augenmerk muß aufdie Vermeidung von Druckgeschwürenan besonderes exponierten und gefähr-deten Stellen, wie z. B. Fibulaköpfchenund Ferse sowie auch durch den Exten-sionsbügel am ventralen Tibiakopfdurch regelmäßige Kontrolle der Lage-rung gelegt werden. Eine möglichst fla-che Lagerung des Oberkörpers soll dieGefahr einer Hüftbeugekontraktur min-dern. In Ausnahmefällen ist auch dieAufrichtung des Oberkörpers bis 30 ° to-lerabel.

Zur Pneumonieprophylaxe lerntder Patient, durch Kombination aktiverund passiver Techniken der Atemthera-pie, seine Einatembewegungen zu ver-größern und somit das Atemminuten-volumen zu steigern. Eine Verbesserungder Belüftungs- und damit auch derDurchblutungssituation und ein erhöh-ter Sauerstoffaustausch im Lungenge-webe sind die Folge.

Vom Therapeuten gezielt gesetztetherapeutische Reize wie Ausstreichun-gen der Interkostalräume, Packegriffeetc. werden durch thermische Reize wieKryotherapie unterstützt, so daß dieVentilation verbessert und der Gesamt-gasaustausch der Lunge erhöht wird.Die Anwendung von manuellemStretchen an Sternum, Zwerchfell oderunterem Rippenrand haben eine ver-tiefte und vergrößerte Einatembewe-gung zur Folge. Durch die Vordehnungwird die Arbeit der Muskulatur unter-stützt und erleichtert. Atemgeräte wieMediflo, Flutter oder Giebelrohr kön-nen vom Patienten zusätzlich als Eigen-training angewandt werden.

Als Thromboseprophylaxe erlerntder Patient leichte Tretübungen zur An-regung der Muskelpumpe an der unte-ren Extremität. Über Dorsalextensionbzw. Plantarflexion des Fußes und derZehen wird eine kontinuierliche Musk-elan- und -entspannung am Unter-schenkel erzielt und es kommt zu einer

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Rehabilitation of patientswith acetabular fractures

Summary

In the rehabilitation of patients with acetab-ular fractures, we try to achieve anatomicalreconstruction of the joint as well as unlim-ited mobility. This is important for the pa-tient's reintegration at work and in social life.

These aims can only be reached withjoint effort of the patient him/herself and allthe different specialists concerned with thetreatment. Functional physiotherapy shouldstart as early as possible after trauma. Pro-phylaxis of joint stiffness, thrombosis, pneu-monia and soft-tissue ulcers due to immobi-lization are not only important in the begin-ning. The restoration of circulation and re-sorption in the affected tissues, in addition tocreation of global sensomotoric motion pat-terns, are the main aspects of this therapy.Definite long-term success should be en-sured by concomitant ergotherapy and well-timed measures for the patient to regain his/her occupational abilities.

Key words

Acetabular fractures • Physiotherapy • Reha-bilitation

Orthopäde1997 · 26:368–374 © Springer-Verlag 1997

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Abb. 1.~ Suprakondyläre Extension mit Längszug

Abb. 2.~ Patient mit suprakondylärer Extension

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Kreislaufanregung mit Durchblutungs-steigerung. Als ein wichtiger Gesichts-punkt in dieser ersten Mobilisations-phase ist die Schulung der Körperwahr-nehmung des Patienten zu sehen. Essollte ihm möglich sein, die Körperab-schnitte Kopf, Brustkorb und Beckengemäß der Körperlängsachse inRückenlage einzurichten und dies spä-ter in andere Ausgangsstellung übertra-gen zu können. Hierzu werden dem Pa-tienten Distanzpunkte am Körper, wiez. B. die Incisura jugularis, Sternumspit-ze oder Symphyse, bewußt gemacht.Aus dieser Bewußtmachung und Wahr-nehmung resultiert eine gerade Lage imBett, später aber auch eine aufrechteKörperhaltung in Ausgangsstellungenwie Sitz oder Stand.

Als geeignete Behandlungsme-thode zum Erhalt der intra- und inter-muskulären Koordination von beson-ders komplexen sensomotorischen Mu-ster, wie z. B. beim Gehen, aber auchzum Erhalt von Muskelkraft und Beweg-lichkeit der betroffenen wie der nichtverletzten Extremitäten erscheint dieBehandlung mit der Technik der Pro-priozeptiven neuromuskulären Fazili-tation (PNF) geeignet. Unter Zuhilfe-nahme dieser neurophysiologischenBehandlungsmethode können spinalund supraspinal gespeicherte Bewe-gungsmuster eines jeden Menschen ab-gerufen und gebahnt werden. Physiolo-gische Bewegungsabläufe und koordi-native Fähigkeiten wie das Kreuzgang-

muster sind für die frühkindlicheEntwicklung angelegt und werden ent-sprechend der sensomotorischen Ent-wicklungssequenz eingesetzt. DieseMuster werden durch die PNF reakti-viert.

Durch gezielte und genau definierteReizsetzung im Sinne von Dehnungsrei-zen (Stretch) auf die Propriozeptorenund Exterozeptoren in Gelenkkapselund Muskulatur, verbunden mit Trak-tion oder Approximation, werden phy-siologische Bewegungsmuster gebahntund wiederhergestellt. Akustische Reizein Form von Ansagen erleichtern demPatienten die korrekte Bewegungsaus-führung [4].

Abhängig von der zeitlichen undräumlichen Summation erreicht maneine in Qualität und Quantität unter-schiedliche Irradiation auf die betrof-fene Extremität. Das betroffene Beinwird in physiologische Bewegungsmu-ster wie den Gangablauf miteinbezogenund die Koordination der Muskelan-spannung und Entspannung an Beinund Rumpf gebahnt (Abb. 3, 4).

Dies bedeutet, daß eine gezieltephysiologische An- und Entspannungder hüftgelenkumgebenden Muskulaturvon verletzungsfernen Körperabschnit-ten her eingeleitet werden kann. Die In-tensität liegt dabei stets unter derSchmerzgrenze, die Belastung für dasAcetabulum ist adäquat, da nicht mitdem langen Hebel gearbeitet wird.Durch diese dosierte Reizsetzung er-folgt:

• eine Durchblutungsförderung mit Ödemre-sorption,

• eine Verbesserung des Knorpelstoffwechsels,• das Setzen eines gelenkbildenden Reizes

über die Zentrierung des Hüftkopfes• das Aufbauen der Koordination für die spä-

tere Funktion des Gehens.

Definierte Bewegungsmuster lassensich den entsprechenden Phasen imGangablauf zuordnen. Am Beispiel desrechten Hüftgelenks wird dies in Ta-belle 1 aufgezeigt.

Die Muskelgruppen können abhän-gig vom funktionellen Defizit statischoder dynamisch und in einzelnen Bewe-gungssequenzen trainiert werden.

Für ein gezieltes Eigentraining wer-den dem Patienten Zugbänder zur Ver-fügung gestellt, mit deren Hilfe er selb-ständig einzelne Bewegungssequenzenbzw. Bewegungsabläufe üben und dieWirkung der PNF hinsichtlich der Bah-nung unterstützen kann.

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Hüftgelenkluxationen und -frakturen

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Abb. 3.~ PNF-Konzept: Irradiation über die obere Extremität für Extension/Adduktion/Außenrotationim betroffenen Bein

Abb. 4.~ PNF-Konzept: Irradiation über die obere Extremität für Flexion/Adduktion/Außenrotationim betroffenen Bein

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II. Mobilisationsphase (3. Woche)Der Seitzug am Trochanter major wird,sofern überhaupt angewendet, entfernt.Die suprakondyläre Extension am Fe-mur kann abhängig vom Befund derRöntgenkontrollen auf Anweisung desbehandelnden Arztes zur Physiothera-pie zeitweise entfernt werden. Dadurchwird der Patient mobiler.

Um optimale Bedingungen für diePhysiotherapeutische Behandlung zuschaffen sollte man auch die Lagerungs-hilfen wie Schaumstoffschiene und denGegentritt für den gesunden Fuß ab-bauen. Mit der zeitweisen Wegnahmedieser das Hüftgelenk in seiner Beweg-lichkeit einschränkenden äußeren Ge-gebenheiten ist es nun möglich, nebender Behandlung nach PNF das verletzteGelenk hubfrei bzw. hubarm von proxi-mal im Sinne von kleinen Beckenbewe-gungen zu mobilisieren. Bei diesen an-gepaßten Reizen der Funktionellen Be-wegungslehre nach Klein-Vogelbach be-wegt sich die Hüftpfanne auf und umden Femurkopf [2].

Am Beispiel der Ab- und Addukti-onsbewegung des Hüftgelenks inRückenlage soll diese Behandlungstech-nik verdeutlicht werden. Der Patientwird aufgefordert, seine beiden vorde-ren Beckenkämme (Orientierungs-punkt Spina iliaca anterior superior)beidseits zu tasten und wahrzunehmenund sich eine Verbindungslinie zwi-

schen diesen beiden Bezugspunktenvorzustellen. Diese imaginäre Verbin-dungslinie bewegt er abwechselnd aufder rechten, dann auf der linken Seiteaktiv kopfwärts. Das Becken bewegtsich dadurch auf der Unterlage. An derkopfwärts hochgezogenen Beckenseitefindet eine Adduktions-, an der kontra-lateralen Seite eine Abduktionsbewe-gung des Hüftgelenks statt. Die Bewe-gungsachse steht dabei immer senk-recht zur Unterlage (Abb. 5, 6).

Bei all diesen Bewegungen handeltes sich um hubarme Bewegungsaus-schläge, bei deren Ausführung die be-wegten Körperabschnitte und Teilge-wichte des Körpers nicht gegen dieSchwerkraft angehoben werden müs-sen.

Diese minimalen, gleichmäßig undrhythmisch ausgeführten Bewegungs-ausschläge in beiden Hüftgelenken be-wirken wiederum neben einer gezieltenMobilisation des Gelenks auch eine Zir-

kulationsförderung in der Verletzungs-region. Daraus resultiert eine verbes-serte intraartikuläre Ernährungssitua-tion vor allem des Knorpels infolge derausgelösten Durchwalkung des Knor-pels mit intermittierender Kompressionund Dekompression, was letztendlichauch zur Schmerzlinderung beiträgt.

Sofern erlaubt, kann der Therapeutdas Gewicht der Extremität abnehmen.Auch das Üben mit kurzen Hebeln ver-mindert die mechanische Belastung.Hier ist insbesondere auf die Vermei-dung von Übungen, wie z. B. dem ge-streckten Anheben des Beins wegen derdadurch ausgelösten extremen Bela-stung des Hüftgelenks, hinzuweisen.Die feine Tonisierung und Detonisie-rung der Muskulatur baut nozizeptivgeschaltete Schutzspannungen ab underleichtert die Gelenkfunktion.

Aufbauend auf die kleinen Becken-bewegungen von proximal kann die Be-handlung um die Technik der „Widerla-gernden Mobilisation“ erweitert wer-den. Wie zuvor beschrieben, handelt essich hierbei um eine hubarme Bewe-gung, bei der zusätzlich der proximalegegen den distalen Gelenkpartner be-wegt wird. Ausweichmechanismen imSinne von vorzeitig weiterlaufenden Be-wegungen auf die angrenzenden Kör-perabschnitte, wie z. B. die Wirbelsäule,werden vermieden. Ziel dieser Technikist es, die Beweglichkeit des entspre-chenden Gelenks qualitativ und quanti-tativ zu verbessern, aber auch gleichzei-tig das erreichte und erweiterte Behand-lungsausmaß muskulär zu stabilisieren.

Neben der Behandlung des betrof-fenen Hüftgelenks von proximal ist esin dieser 2. Mobilisationsphase mög-lich, den distalen Gelenkpartner in allenBewegungsebenen unterhalb derSchmerzgrenze zu beüben. Das Beinge-wicht wird vom Therapeuten abgenom-men. Die im Verlauf der Behandlungnach PNF (Abb. 7) mit mittlerem Dreh-punkt spontan einsetzende Kniegelenk-flexion ist zu diesem Zeitpunkt voll-kommen ausreichend. Sie sollte auchunter keinen Umständen forciert wer-den, weil dadurch Ossifikationen im Be-reich der Eintrittstellen des Extensions-Kirschner-Drahts bzw. des Steinmanna-gels in den suprakondylären Weichtei-len provoziert und verschlimmert wer-den können.

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Tabelle 1

Definierte Bewegungsmuster des rechten Hüftgelenks

Abdruckphase des Fußes Die Muskulatur arbeitet extensorisch im Sinnevon Extension/Abduktion/Innenrotation. Eserfolgt eine Schwerpunktverlagerung auf daslinke Bein

Ablösephase rechtes Bein Die Spielbeinphase beginnt, die extensorischewird zur flexorischen Aktivität in der Flexion/Ab-duktion/Innenrotation. Das linke Bein befindetsich noch immer in der Standbeinphase

Ende der Spielbeinphase Das rechte Hüftgelenk arbeitet exzentrisch imMuster FLEX/ADD/AR; das linke Bein steht in EXT/ADD/AR-Standbeinphase

Gewichtsübernahme –Fersenkontakt

Bipedaler Stand. Das linke Bein verändert dieMuskelaktivität von EXT/ADD/AR in EXT/ABD/IR,sobald sich der Körperschwerpunkt über demrechten Bein befindet

Standbeinphase Das linke Bein befindet sich in der AbdruckphaseEXT/ABD/IR. Die Abfolge der Muskelaktivitätwiederholt sich

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Als weitere Möglichkeit, die einzel-nen Gangphasen im Bett bereits vorzu-üben, bietet sich die Seitenlage auf dergesunden Seite an. Dabei ist auf einegute Lagerung bzw. Abposterung desExtensionsbügels zu achten. EinSchwerpunkt kann hierbei die Erweite-rung der Extension im Hüftgelenk sein,die sich bei einem Defizit besonders inder Abdruckphase des Fußes zeigt.Man kann das PNF-Muster EXT/ABD/IR mit Knieextension einsetzen [3].

III. Mobilisationsphase(4. bis 6. Woche)

In dieser Phase wird meist der axialeLängszug endgültig entfernt. Der Pati-ent darf nun mit einer Teilbelastung derverletzten Seite von maximal 20 kg mitHilfe von 2 Unterarmgehstützen gehen.Zusätzlich ist die Teilnahme an derGruppenbehandlung im Bewegungsbadohne Belastung ebenso möglich wie aneiner Übungsgruppe, in der die Stabili-sation und Erweiterung der Kniegelenk-mobilität angestrebt wird. Die verbes-serte Beweglichkeit und Koordinationsteigern die Selbständigkeit des Unfall-verletzten und geben zusätzlich Selbst-vertrauen.

Vorgeübte und erlernte Bewe-gungsmuster bzw. Übergänge könnennun in Positionen wie den Sitz, denGang und den Stand umgesetzt und un-ter entsprechender Anleitung optimiertwerden.

Als Kriterien für eine mögliche Ent-lassung aus stationärer Behandlung gel-ten eine muskulär gut gesicherte Beweg-lichkeit des betroffenen Hüftgelenksund ein Gangbild, das dem physiologi-schen Gangablauf entspricht(Abb. 8–10).

IV. MobilisationsphaseIn dieser Phase befindet sich der Patientzu Hause und in der ambulanten Reha-bilitation. Die Belastung wird ab dersechsten Woche schrittweise (z. B. 10 kgpro Woche) bis zur Vollbelastung ge-steigert. So kann die Vollbelastung derbetroffenen Seite etwa nach 10 Wochenerreicht sein.

Die Indikation für eine ambulantephysiotherapeutische Nachbehandlungist bei funktionellen Defiziten gegeben.Ziel ist es, das bereits erreichte Behand-lungergebnis zu konsolidieren undnoch weiter zu verbessern.

Ein Mitteilungsbogen, in dem dieerlaubte Belastung, das funktionelle De-fizit, die Beweglichkeitsmaße der Ge-lenke und auch patientenspezifische Be-sonderheiten aufgeführt werden, er-leichtern den Informationsaustauschzwischen den Physiotherapeuten derKlinik und dem ambulant tätigen Kolle-

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Abb. 5.~Hubfreie Mobilisation nach S. Klein-Vogelbach für die Adduktionsbewegung des proximalen Hebelsim rechten Hüftgelenk

Abb. 6.~Hubfreie Mobilisation für die Abduktionsbewegung des proximalen Hebels im rechten Hüftgelenk

Abb. 7.~ PNF-Konzept: Erweiterung der Extension/Abduktion/Innenrotation im betroffenen Hüftgelenkin Seitlage

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gen und sichern einen nahtlosen Über-gang zwischen stationärer und ambu-lanter Rehabilitation.

Operative Behandlungvon Acetabulumfrakturen

Wie bereits zu Anfang erwähnt unter-scheiden sich die physiotherapeutischeBehandlungsstrategie und die durchge-führten Maßnahmen lediglich in derzeitlichen Abfolge von denjenigen beikonservativer Behandlung. Auf die seit-liche Extension wird üblicherweise ver-zichtet, der Längszug verbleibt postope-rativ – wenn überhaupt – für maximalweitere zwei Wochen. Dieser axiale Zugdarf jedoch für die Behandlung ausge-hängt werden. Im Rahmen der Remobi-lisation werden nach Entfernung desExtensionsbügels ab der dritten Wocheeine Teilbelastung der verletzten Extre-mität von maximal 20 kg zugelassen.

BesonderheitenBei bewußtlosen, beatmeten Patientenmuß anfangs konsequent auf eine kor-rekte Lagerung des verletzten Beins ge-achtet werden. Das traumatisierte Hüft-gelenk neigt zur Beugestellung, Adduk-tions- und Innenrotationskontraktur.Bis zur aktiven Kooperation durch denPatienten sind in der Anfangsphase pas-sive Maßnahmen mit schonendemDurchbewegen der Gelenke eventuellauch unter Einsatz von motorgetriebe-nen Schienen erforderlich.

Ein gutes Endresultat erfordert dieoptimale Zusammenarbeit aller Betei-ligten. Mit dem Patienten zusammenmüssen Arzt und Therapeut überlegen,welches Therapieziel erreicht werdensoll. Dieses Ziel muß sich an realisti-schen Prognosen orientieren. In ent-sprechenden Fällen muß dem Verletz-ten auch erklärt werden, warum vorerstkeine wesentlichen Verbesserungenmehr erwartet werden können. Diestrifft insbesondere dann zu, wenn unterder Behandlung zunehmende periarti-

kuläre Ossifikationen auftreten. In die-sen Fällen sollte die Physiotherapie zu-rückgenommen bzw. sogar ausgesetztwerden.

Medikamentöse Begleitbehandlung

Wegen des erhöhten Thrombose- undEmbolierisikos von Verletzten mit Hüft-pfannenfrakturen ist eine medikamen-töse Prophylaxe als zusätzliche Maß-nahme zu den physikalischen Möglich-keiten sinnvoll. Dies bedeutet die Verab-reichung von einer Injektion einesniedermolekularen Heparins täglich.

Überlegenswert ist auch ein Einsatzvon nichtsteroidalen Antiphlogistika,um die Ausbildung von heterotopen(periartikulären) Ossifikationen zuhemmen. Mit einem in dieser Hinsichterhöhten Risiko scheinen die dorsalenZugänge sowie die verzögerte operativeStabilisierung nach der zweiten Wocheeinherzugehen. Zu diesem Zweck erhältder Patient bei Fehlen von Kontraindi-kationen Diclofenac 3 mal 50 mg täglichfür 3 Wochen systemisch verabreicht.Eine routinemäßige lokale Radiatio istnicht indiziert und dürfte in vielen Fäl-len auch nicht praktikabel sein, zumaldie Bestrahlung zeitlich möglichst dichtauf die Operation folgen sollte.

Der Orthopäde 4·97 373

8 9 10

Abb. 8.~Die Ausgangsstellung Halbsitz auf der Bankkante

Abb. 9.~ PNF-Konzept: Erarbeiten der Extension/Abduktion/Innenrotation im betroffenen Hüftgelenkim Halbsitz

Abb. 10.~ PNF-Konzept: Erarbeiten der Abdruckphase des betroffenen Beines im Gangablauf

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Ergotherapie

Das Einbeziehen von ergotherapeuti-schen Maßnahmen ermöglicht eine spe-zielle Schulung der Koordination undeine gleichzeitige Muskelkräftigung, au-ßerdem wird dystrophiebedingten Ver-änderungen entgegengewirkt. Es stehtein weites Spektrum verschiedensterTherapiemöglichkeiten zur Verfügung.Für den Patienten mit einer Hüftpfan-nenfraktur eignen sich vor allem hand-werkliche Techniken sowie funktionelleSpiele. In bezug auf ihre Indikation so-wie ihre Qualität und Quantität sollteeine Absprache zwischen Arzt und Er-gotherapeut(in) erfolgen. Infolge der„Produktivität“ der Ergotherapie (z. B.Teppichweben etc.) erfährt der Unfall-verletzte im Rahmen seiner körperli-chen Rehabilitation ein Erfolgserlebnisund gewinnt dadurch an Selbstver-trauen. Bei zu erwartenden bleibendenFunktionseinschränkungen des Hüftge-lenks und längerfristigen neurologi-schen Defiziten besteht eine wesentlicheAufgabe der Ergotherapie in der Hilfs-mittelversorgung (Helfende Hand, Ar-throdesenstuhl . . .) und einer entspre-chenden Umgestaltung des Arbeitsplat-zes. Dadurch soll eine größtmöglicheSelbständigkeit des Verletzten in allenLebensbereichen (wieder) erreicht wer-den.

Berufliche Rehabilitation

Gleich welche Behandlung der Verlet-zung auch durchgeführt wird, es solltebereits frühzeitig die berufliche Rehabi-litation des Unfallverletzten ins Augegefaßt werden. Der Übergang ins Er-werbsleben kann durch eine schritt-weise Belastungsaufnahme im Sinn ei-ner Belastungserprobung erleichtertwerden. Darüber hinaus kann in Ab-sprache mit dem Arbeitgeber durcheine vorübergehende oder dauerndeUmsetzung am Arbeitsplatz der erlitte-nen Verletzung und ihren Folgen Rech-nung getragen werden. Vor allem beijungen Verletzten mit körperlich bela-stender Tätigkeit und zu erwartendenbleibenden Schäden mit Funktionsein-schränkung empfiehlt sich eine voraus-blickende Überlegung hinsichtlich vonUmschulungsmaßnahmen und gegebe-nenfalls auch die Einschaltung von Be-rufshelfer und Arbeitsamt.

Schlußfolgerung

Abhängig von Frakturtyp, Verletzungs-schwere und der ärztlichen Versorgungkann die Physiotherapie mit einem mo-difizierten frühfunktionellen Konzeptwesentlich zum Erreichen eines gutenBehandlungsergebnisses mit Wieder-herstellung der Hüftgelenkfunktion bei-tragen.

Die physiotherapeutische Therapiebei Patienten mit Acetabulumfrakturensollte frühzeitig, möglichst schon am1. Tag nach dem Trauma beginnen.Diese Behandlung wird in 4 Mobilisati-onsphasen unterteilt. Neben der Pneu-monie-, Thrombose und Dekubituspro-phylaxe und dem Schulen der Körper-wahrnehmung stehen die Unterstüt-zung der Zirkulation im verletztenGebiet und der Aufbau komplexer sen-somotorischer Fertigkeiten im Mittel-punkt der therapeutischen Bemühun-

gen. Durch hubarme Bewegungen imbetroffenen Hüftgelenk und durch dieTechnik des PNF wird das Gelenk früh-zeitig ohne Belastung mobilisiert undin komplexe Bewegungsmuster einge-bunden. Der Patient erhält Anleitungenund Möglichkeiten zum Eigentrainingaufgezeigt. Mit zunehmender Belastbar-keit (nach ca. 4–6 Wochen) kann dasErlernte von der Rücken- und Seitenlagein Sitz, Stand und Gehen übertragenwerden.

Der Patient wird bei einem gutenfunktionellen Ergebnis mit einer Teilbe-lastung von 20 kg nach Hause entlassen.Bei funktionellen Defiziten ist eine am-bulante Weiterbehandlung indiziert.Eine oft noch geübte langdauernde Ent-lastung ist unserer Meinung nach wegender nachteiligen Folgen nicht gerecht-fertigt.

Parallel zur stationären und ambu-lanten Physiotherapie sollten Ergothe-rapie und Maßnahmen der beruflichenRehabilitation erfolgen, um eine Reinte-gration sowohl im Erwerbsleben wieauch im sozialen Umfeld zu gewährlei-sten.

Literatur1. Belzl H (1996) Leistung und sinnvoller Einsatz

der Physio-, Ergo- und Balneotherapie alsbegleitende Behandlung. Bericht über die Un-fallmedizinische Tagung, Heft 92, Eppingen

2. Klein-Vogelbach S (1990) Funktionelle Bewe-gungslehre. Springer, Berlin Heidelberg NewYork

3. Letsche M, Oberer S (1992) Krankengymnasti-sche Behandlung bei Patienten mit einerAcetabulumfraktur. Krankengymnastik 44:134–140

4. Sullivan EP (1985) PNF – ein Weg zum thera-peutischen Üben. Fischer, Stuttgart

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Hüftgelenkluxationen und -frakturen