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_ Reihe Hanser

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  • _Reihe Hanser

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    Georgia Byng

    Aus dem Englischenvon Wolfram Ströle

    Deutscher Taschenbuch Verlag

  • 11. Auflage 20162004 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

    © 2002Georgia ByngTitel der Originalausgabe:

    ›Molly Moon’s Incredible Book of Hypnosis‹(Macmillan Children’s Books, London)© 2003 der deutschsprachigen Ausgabe:

    Carl Hanser Verlag MünchenUmschlagbild: Kat Menschik

    Gesetzt aus der Walbaum Antiqua 11/13.Satz: Satz für Satz. Wangen im Allgäu

    Druck und Bindung: Druckerei C.H.Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

    Printed in Germany · ISBN 978-3-423-62172-4

    Ausführliche Informationen überunsere Autoren und Bücher

    www.dtv.de

    Georgia Byng in der Reihe Hanser bei dtv:»Molly Moon« (dtv 62172)

    »Molly Moon und der indische Magier« (dtv 62323)»Molly Moon und der verlorene Zwilling«

    (dtv 62485)»Molly Moon und der Verwandlungszauber«

    (dtv 62553)

  • Marc in Liebefür Zuspruch und Hilfe

    und dafür,dass er mich zum Lachen gebracht hat

  • 1. Kapitel

    Molly Moon sah auf ihre pinkfarbenen Beine hi-nunter. Sie waren gesprenkelt wie Mettwurst,aber nicht wegen des Badewassers. Sie waren immerso. Und so mager. Vielleicht verwandelte sie sich jaeines Tages wie das hässliche Entlein in einen Schwanund ihre X-Beine wurden zu den schönsten Beinen derWelt. Hoffen kostete nichts.

    Molly lehnte sich zurück, bis sie mit ihren braunenLocken und den Ohren untertauchte. Sie starrte aufdie Neonröhre über sich, auf die von der Wand abblät-ternde gelbe Farbe voller Fliegenschiss und auf dennassen Fleck an der Decke, auf dem seltsame Pilze wu-cherten. Wasser lief ihr in die Ohren und sie hörte allesnur noch verschwommen und von weit weg.

    Sie schloss die Augen. Es war ein ganz gewöhnlicherNovemberabend und sie lag in dem schmuddeligenBadezimmer eines verwahrlosten Gebäudes namensHardwick House. In ihrer Fantasie flog sie wie ein Vo-gel über das Haus und blickte auf das graue Schiefer-dach und den mit Dornengestrüpp zugewuchertenGarten hinunter. Immer höher flog sie, bis sie untersich den Hügel sah, an den sich das Dorf Hardwickschmiegte. Und noch höher, bis Hardwick House zueinem Punkt geschrumpft war. Dahinter kam dieStadt Briersville in Sicht. Und dann das ganze Landund schließlich auf allen Seiten die Küste und dasMeer. Wie eine Rakete schoss sie zum Himmel hinaufund zuletzt flog sie durch das Weltall und blickte auf

  • die Erde hinunter. In diesem Zustand verharrte sie. Sieliebte es, in Gedanken ins Weltall zu fliegen, weit wegvon allem. Dort konnte man wunderbar abschalten.Oft stellte sich dabei auch ein ganz besonderes Gefühlein.

    So wie an diesem Abend. Ihr war, als sollte sie baldetwas Aufregendes, Ungewöhnliches erleben. Als siedas Gefühl das letzte Mal gehabt hatte, hatte sie aufeinem Gehweg im Dorf eine halb volle Tüte Bonbonsgefunden. Bei dem Mal davor hatte sie am Abend un-bemerkt zwei Stunden fernsehen können statt nureiner. Und was für eine Überraschung erwartete siediesmal? Sie öffnete die Augen und lag wieder in derBadewanne. Sie betrachtete ihr verzerrtes Spiegelbildauf der Unterseite des verchromten Wasserhahns. Achdu meine Güte, war sie wirklich so hässlich? War derrosafarbene Klumpen ihr Gesicht? Und die Kartoffelihre Nase? Waren die kleinen grünen Punkte ihreAugen?

    Aus dem Stock unter ihr ertönte Hämmern, wasMolly komisch vorkam, weil in diesem Haus nie etwasrepariert wurde. Bis sie merkte, dass in Wirklichkeitjemand an die Badezimmertür schlug. Mist! Sie fuhrhoch und knallte mit dem Kopf gegen den Hahn. DasHämmern draußen wurde lauter und eine Stimme be-gann zu schimpfen.

    »Molly Moon, du machst jetzt sofort diese Tür auf!Sonst nehme ich den Generalschlüssel.«

    Molly hörte einen Schlüsselbund klirren. Ihr Blickfiel auf das Wasser in der Wanne und sie erschrak. Esstand viel zu hoch, viel höher als erlaubt. Sie sprangauf, riss gleichzeitig den Stöpsel heraus und langte

  • nach ihrem Handtuch. Gerade noch rechtzeitig. DieTür flog auf und Miss Adderstone stürzte ins Zimmerund zur Badewanne. Kaum hatte sie das ablaufendeWasser gesehen, schnaubte sie empört. Sie krempelteden Ärmel ihrer Bluse aus Borkenkrepp hoch und stießden Stöpsel wieder in das Abflussloch.

    »Wie ich befürchtet habe«, zischte sie. »Ein dreisterVerstoß gegen die Hausordnung.«

    Mit boshaft glimmenden Augen holte sie ein Maß-band aus der Tasche. Dann maß sie ab, um wie viel dasBadewasser über der knapp über dem Wannenbodenverlaufenden roten Linie stand. Dabei saugte sie mitaufgeregt schmatzenden Geräuschen an ihrem Gebiss.Molly stand zähneklappernd daneben. Ihre Knie wa-ren jetzt blau gefleckt. Durch einen Sprung in derFensterscheibe zog es fürchterlich, doch sie beganntrotzdem an den Händen zu schwitzen wie immer,wenn sie aufgeregt war oder Angst hatte.

    Miss Adderstone, ein ältliches Fräulein, das mitseinen kurzen grauen Haaren und dem behaartenGesicht entschieden männlich wirkte, schüttelte dasMaßband, trocknete es an Mollys Hemd ab und ließ eswieder zusammenschnurren. Molly duckte sich.

    »Das Wasser ist dreißig Zentimeter tief«, verkün-dete Miss Adderstone. »Angesichts der Tatsache, dassein Teil bereits in betrügerischer Absicht abgelassenwurde, während ich an die Tür klopfte, gehe ich davonaus, dass das Wasser in Wirklichkeit vierzig Zentime-ter tief war. Wie du weißt, sind nur zehn Zentimetererlaubt. Bei dir waren es viermal so viel, du hast alsodas Wasser für die nächsten drei Bäder schon im Vor-aus verbraucht und wirst deshalb drei Wochen lang

  • nicht baden. Nun zu deiner Strafe . . .« Miss Adder-stone griff nach Mollys Zahnbürste und Molly wurdeblass. Sie wusste, was jetzt kam: Miss AdderstonesLieblingsstrafe.

    Miss Adderstone starrte Molly aus schwarzen Augenböse an. Mit grotesk mahlenden Bewegungen des Un-terkiefers und der Zunge hob sie gleich darauf ihr Ge-biss an, schob es im Mund hin und her und setzte eswieder auf dem Zahnfleisch ab. Sie streckte Molly dieZahnbürste hin.

    »Du hast diese Woche Toilettendienst. Die Toilettenmüssen blitzsauber sein, Molly, und du wirst dazu die-se Bürste verwenden. Und glaube ja nicht, du kannstheimlich die Klobürste nehmen. Ich werde das persön-lich überwachen.«

    Sie saugte ein letztes Mal voller Genugtuung anihren Zähnen, dann ging sie. Molly sank auf den Wan-nenrand. Ihre Vorahnung, dass an diesem Abend etwasUngewöhnliches passieren würde, hatte sich erfüllt,allerdings auf höchst unerfreuliche Weise. Sie starrteihre zerfranste Zahnbürste an und hoffte, ihr FreundRocky würde sie seine Zahnbürste mitbenutzen lassen.

    Sie zog an einem losen Faden ihres grauen, ver-schlissenen Handtuchs und stellte sich vor, wie dieflauschig weißen Handtücher aus der Waschmittel-werbung im Fernsehen sich auf der Haut anfühlenmochten.

    KuschelweichMit zartem SchaumWäscht wundergleichIhr – Wäschetraum.

  • Molly liebte solche Werbespots. Sie zeigten, wie an-genehm das Leben sein konnte, und entführten denZuschauer in eine andere Welt. Natürlich waren vieleSpots albern, nicht aber Mollys Lieblingsspots. Dorthatte sie Freunde – Freunde, die sich immer freuten,wenn Molly sie in Gedanken besuchte.

    Mit Wolle weich wie FlaumVerwöhnt Sie Wäschetraum.

    Die Klingel zur Abendandacht schrillte und riss Mollyaus ihrem Handtuch-Tagtraum. Sie zuckte zusammen.Wie immer war sie zu spät dran. Deshalb steckte sie jaauch immer in Schwierigkeiten. Bei den anderen Kin-dern hieß sie »Blindgänger« oder »Blindi«, weil sie soungeschickt und linkisch war und Pannen förmlichanzog. Ihre anderen Spitznamen waren »Schlaftab-lette«, weil ihre Stimme auf andere angeblich ein-schläfernd wirkte, und »Sumpfauge«, weil sie dunkel-grüne, eng zusammenstehende Augen hatte. Nur ihrbester Freund Rocky und die kleineren Kinder nann-ten sie Molly.

    »Molly! Molly!«Auf dem Gang kamen ihr bereits Kinder auf dem

    Weg nach unten entgegen. Am Ende des Gangs sahsie Rockys dunkelbraunes, von schwarzen Locken um-rahmtes Gesicht. Sie solle sich beeilen, gab er ihr zuverstehen. Molly packte ihre Zahnbürste fester undrannte zu dem Zimmer, das sie mit zwei Mädchen na-mens Hazel und Cynthia teilte. Beim Überqueren desGangs stieß sie mit zwei älteren Jungen zusammen,Roger Fibbin und Gordon Boils. Die beiden schubstensie unsanft zur Seite.

  • »Platz da, Blindi.«»Zieh Leine, Schlaftablette.«»Beeil dich, Molly!«, sagte Rocky und schlüpfte in

    seine Hausschuhe. »Wir dürfen nicht schon wieder zuspät kommen! Die Adderstone kriegt einen Anfall . . .Vielleicht erstickt sie dann ja an ihrem Gebiss.« Ergrinste Molly, die ihren Schlafanzug suchte, aufmun-ternd an. Rocky verstand es immer, sie aufzuheitern.Er kannte Molly gut.

    Und das kam so.Molly und Rocky waren beide vor zehn Jahren nachHardwick House gekommen – ein weißes und einschwarzes Baby.

    Molly war von Miss Adderstone in einer Schachtelauf der Treppe gefunden worden, Rocky hatte manin einem Kinderwagen auf dem Parkplatz hinter derPolizeiwache von Briersville entdeckt, allerdings nur,weil er aus Leibeskräften gebrüllt hatte.

    Miss Adderstone mochte Babys nicht. Babys warenfür sie schreiende, stinkende, unappetitliche Wesen.Die Vorstellung, eine Windel wechseln zu müssen, er-füllte sie mit Abscheu. Also hatte man Mrs Trinkle-bury, eine gutmütige Witwe aus der Stadt, die schonfrüher in solchen Fällen ausgeholfen hatte, als Kinder-frau für Molly und Rocky engagiert. Und weil MrsTrinklebury sich bei der Namensgebung der Kindergern von den Kleidern oder Behältern anregen ließ, indenen die Kinder gefunden wurden – Moses Wickeretwa hatte wie seinerzeit Moses in einem Weidenkörb-chen gelegen, Satin Knight hatte ein Nachthemd mitBändern aus Satin getragen –, bekamen auch Mollyund Rocky ausgefallene Namen.

  • Mollys Nachname Moon kam von der rosa-grünenAufschrift »Moons Marshmallows« auf den Seiten desKartons, in dem sie gelegen hatte. Als Mrs Trinkle-bury in derselben Schachtel dann noch einen Lolli ge-funden hatte, hatte sie das Baby Lolli Moon nennenwollen. Da Miss Adderstone aber Lolli als Vornamenstrikt ablehnte, war aus Lolli Moon zu guter LetztMolly Moon geworden.

    Rockys Name leitete sich von seinem Kinderwagenab, auf dessen Verdeck ein Gebirgspanorama der Ro-cky Mountains abgebildet gewesen war. Rocky warkräftig gebaut und sehr ruhig. Auch er träumte gern,allerdings ganz anders als Molly. Molly träumte voneiner schöneren, besseren Welt, Rocky von der merk-würdigen Welt, in die er geboren worden war. Schonals Baby hatte er abwesend vor sich hin summend inseinem Bettchen gelegen. Seine tiefe, raue Stimme inKombination mit seinem attraktiven Äußeren hattenMrs Trinklebury zu der Bemerkung veranlasst, er wer-de eines Tages noch ein Rockstar werden und Frauenmit seinen Liedern den Kopf verdrehen. Der Name, densie ihm gegeben hatte, passte also wirklich sehr gut.

    Mrs Trinklebury war nicht besonders helle, aberihre gütige Art machte das mehr als wett. Es war eingroßes Glück, dass ausgerechnet sie Molly und Rockyaufzog, denn wäre nur die verbiesterte Miss Adder-stone dafür zuständig gewesen, die beiden Kinderwären am Ende in dem Glauben aufgewachsen, dieganze Welt sei böse, und darüber selbst zu bösen Men-schen geworden. Stattdessen ließ die dicke Mrs Trink-lebury sie auf ihrem Knie auf und ab hopsen und sangsie mit ihren Liedern in den Schlaf. Von ihr lernten sie,

  • was Freundlichkeit bedeutete. Mrs Trinklebury brach-te sie zum Lachen und trocknete ihnen die Tränen ab,wenn sie weinten. Und wenn sie abends fragten, wa-rum man sie ausgesetzt habe, erzählte sie ihnen, einfrecher Kuckuck habe sie einst aus dem Nest geworfen.Dazu sang sie ihnen ein merkwürdiges Schlaflied. Esging so:

    Dem Kuckuck, ihr Vöglein, seht nach,Dass er euch stieß aus dem Neste.Er hat’s von der Mutter, ach,Die dieses hielt für das Beste.

    Wenn Molly oder Rocky einmal wütend darüber wa-ren, dass ihre unbekannten Eltern sie ausgesetzt hat-ten, fühlten sie sich durch Mrs Trinkleburys Liedwieder getröstet.

    Doch Mrs Trinklebury wohnte nicht mehr im Wai-senhaus. Man hatte sie fortgeschickt, sobald Molly undRocky aus den Windeln waren. Sie kam jetzt nur nocheinmal in der Woche, um beim Putzen und Waschenzu helfen. Molly und Rocky wünschten sich zwar, esmöchten noch mehr Babys auf der Treppe des Waisen-hauses ausgesetzt werden, damit Mrs Trinkleburyzurückkehren konnte, doch ihr Wunsch ging nicht inErfüllung. Es kamen nur Kinder, die schon laufen undsprechen konnten, und um Geld zu sparen, ließ MissAdderstone sie von Molly und Rocky beaufsichtigen.Selbst Ruby, das jüngste Kind im Waisenhaus, war in-zwischen fünf und trug schon seit Jahren keine Win-deln mehr, auch nicht nachts.

  • Draußen wurde es dunkel.In der Ferne hörte Molly gedämpft den Kuckuck der

    Kuckucksuhr in Miss Adderstones Zimmer sechsmalrufen.

    »Mann, sind wir spät dran«, sagte sie und riss ihrenBademantel von einem Haken an der Tür.

    Rocky nickte. »Die Adderstone bekommt bestimmteinen Tobsuchtsanfall.« Nebeneinander rannten sieden Gang entlang. Sie hatten den Weg nach untenschon tausendmal zurückgelegt und kannten ihn in-und auswendig. Auf dem gebohnerten Linoleumschlidderten sie um die Ecke, dann sprangen sie in lan-gen Sätzen die Treppe hinunter. Auf Zehenspitzen undaußer Atem schlichen sie über den karierten Steinfuß-boden der Eingangshalle, vorbei am Fernsehzimmerund zum eichengetäfelten Andachtsraum. Leise tratensie ein.

    Neun Kinder, vier davon unter sieben Jahren, stan-den an den Wänden aufgereiht. Molly und Rocky stell-ten sich an das Ende einer Reihe neben zwei netteFünfjährige, Ruby und Jinx, und hofften, dass MissAdderstone ihre Namen noch nicht vorgelesen hatte.Molly streifte die älteren Kinder an der gegenüber-liegenden Wand mit einem Blick. Sie machten ab-weisende Gesichter. Hazel Hackersly, ein besondersgemeines Mädchen, erwiderte ihren Blick mit zusam-mengekniffenen Augen. Gordon Boils machte eineHandbewegung, als schneide er sich mit einem Messerdie Kehle durch.

    »Ruby Able?«, las Miss Adderstone vor.»Ja, Miss Adderstone«, sagte die kleine Ruby neben

    Molly.

  • »Gordon Boils?«»Hier, Miss Adderstone«, sagte Gordon und schnitt

    Molly eine Grimasse.»Jinx Eames?«Ruby versetzte Jinx einen Rippenstoß. »Ja, Miss Ad-

    derstone«, sagte er schnell.»Roger Fibbin?«»Hier, Miss Adderstone«, antwortete der schlaksige

    Junge neben Gordon und sah Molly hämisch grinsendan.

    »Hazel Hackersly?«»Hier, Miss Adderstone.«Molly atmete auf. Ihr Name kam als nächster.»Gerry Oakly?«»Hier, Miss Adderstone«, sagte der siebenjährige

    Gerry und steckte hastig die Hand in die Tasche, ausder in diesem Moment seine zahme Maus ausreißenwollte.

    »Cynthia Redmon?«»Hier, Miss Adderstone«, antwortete Cynthia und

    zwinkerte Hazel zu.Molly hätte gern gewusst, wann sie dran kam.»Craig Redmon?«»Hier, Miss Adderstone«, brummte Cynthias Zwil-

    lingsbruder. Offenbar hatte Miss Adderstone Mollyvergessen. Molly war erleichtert.

    »Gemma Patel?«»Hier, Miss Adderstone.«»Rocky Scarlet?«»Hier«, sagte Rocky atemlos.Miss Adderstone klappte das Anwesenheitsbuch zu.

    »Wie immer fehlt Molly Moon.«

  • »Aber ich bin jetzt da, Miss Adderstone«, sagteMolly verwirrt. Miss Adderstone musste ihren Namenabsichtlich ganz am Anfang vorgelesen haben, um sievorzuführen.

    »›Jetzt‹ gilt nicht«, sagte Miss Adderstone und ihreLippen zuckten. »Du wirst nachher abspülen. Ednafreut sich sicher über den freien Abend.«

    Molly kniff die Augen vor Erbitterung ganz fest zu.Die Hoffnung auf ein besonderes Erlebnis an diesemAbend war in weite Ferne gerückt. Es würde ein Abendwie so viele andere werden, voller Pannen und Miss-geschicke.

    Die Andacht begann wie immer. Ein Lied wurde ge-sungen und Gebete aufgesagt. Sonst war Rockys voll-tönende Stimme über den anderen zu hören, doch heu-te sang er leise, immer noch außer Atem. Molly hoffte,dass er im Winter nicht wieder schlimme Asthmaan-fälle bekam. Die Andacht schleppte sich hin wie jedenAbend an dreihundertfünfundsechzig Tagen im Jahr.

    Nach dem letzten Segen ertönte der Essensgongund die schwere Tür zum Speisesaal ging knarrendauf. Mädchen und Jungen schlurften hinein. Drinnenempfing sie ein Ekel erregender Gestank nach altemFisch. Sie hatten solche Fische schon oft genug in Plas-tik verpackt im Gang vor der Küche gesehen, von Flie-gen und Käfern umschwirrt und stinkend, als würdensie dort schon eine Woche liegen. Und alle wussten,dass Edna, die Waisenhausköchin, den Fisch auch dies-mal in einer dicken, fettigen Käse-Nuss-Fertigsoßegebacken hatte, um den fauligen Geschmack zu über-tünchen – ein Trick, den sie bei der Marine gelernthatte.

  • Edna erwartete sie schon. Breitbeinig und stier-nackig, mit grauen Locken und eingedrückter Nasestand sie da, um zu überwachen, dass jedes Kind seinenTeller leer aß. Mit dem (Gerüchten zufolge) auf ihremOberschenkel eintätowierten Matrosen und ihrer def-tigen Sprache erinnerte sie an einen missgelauntenPiraten. In ihrer Brust schlummerte wie ein schläf-riger Drache ein Temperament, das leidenschaftlichaufflammte, wenn man es weckte.

    Beklommen und mit einem flauen Gefühl im Ma-gen stellten die Kinder sich in einer Schlange an undversuchten durch Entschuldigungen zu verhindern,dass Edna ihnen das stinkende Essen auf den Tellerklatschte.

    »Ich habe eine Fischallergie, Edna.«»Quatsch mit Soße«, erwiderte Edna mürrisch und

    schnäuzte sich in den Ärmel ihrer Kittelschürze.Molly sah auf ihren Fisch. »Sieht mehr aus wie

    Matsch mit Soße«, sagte sie leise zu Rocky.

    Der Abend ging dem Ende entgegen. Vor dem Zubett-gehen musste Molly noch ihre Strafarbeit hinter sichbringen, das Abspülen. Wie immer bot Rocky an, ihrzu helfen.

    »Wir könnten uns ein Lied übers Abwaschen aus-denken. Oben in meinem Zimmer würden mich so-wieso nur Gordon und Roger ärgern.«

    »Die sind doch nur neidisch auf dich«, sagte Molly.»Warum gehst du nicht rauf und verprügelst sie?«

    »Sie sind mir egal.«»Aber du findest Abspülen doch furchtbar.«

  • »Du auch. Es geht schneller vorbei, wenn ich dirhelfe.«

    Also machten die beiden sich auf den Weg zur Spül-küche im Keller. Es war ein ganz gewöhnlicher Abend,doch Molly sollte mit ihrer Vorahnung trotzdem Rechtbehalten. Ein höchst seltsames Ereignis stand unmit-telbar bevor.

    Im Keller war es kalt. Aus Rohren über den Köpfen derKinder tropfte Wasser, durch Lüftungslöcher in derWand strömte eine modrig riechende kalte Luft undMäuse schlüpften herein.

    Molly drehte den Hahn auf und ließ lauwarmesWasser in die Spüle rauschen, während Rocky dasSpülmittel holte. In einiger Entfernung hörte MollyEdna leise vor sich hin schimpfen. Edna schob einenServierwagen mit elf fischverschmierten Tellern durchden abschüssigen, tunnelartigen Gang in RichtungSpülküche.

    Molly hoffte inständig, dass Edna den Wagen mitdem Geschirr draußen stehen ließ und gleich wiederging. Wahrscheinlicher war allerdings, dass sie in dieKüche kommen und sich über eine Lappalie aufregenwürde. Rocky kehrte mit dem Spülmittel zurück. Ergab einen Spritzer ins Spülbecken und begann, einenihrer Lieblingsspots zu spielen.

    »Mutti!«, sagte er zu Molly. »Warum sind deineHände so wunderbar weich?«

    Sie spielten oft Werbespots nach und kannten Dut-zende davon auswendig. Es war zu lustig, so zu tun, alsseien sie Menschen aus der Fernsehwerbung.

  • »So weich?«, erwiderte Molly und klimperte mitden Augen. »Weil ich Schaumzart verwende, Liebling.Alle anderen Spülmittel sind Gift für meine Haut. NurSchaumzart ist so mild.«

    Plötzlich senkte sich Ednas Dinosaurierhand aufMollys Schulter und der Werbespot kam zu einem ab-rupten Ende. Molly duckte sich zur Seite und erwar-tete, dass ein Schwall von Schimpfworten auf sieniederprasseln würde. Stattdessen sagte eine klebrigsüße Stimme an ihrem Ohr: »Ich mach das schon,Schätzchen. Geh du spielen.«

    Schätzchen? Molly traute ihren Ohren nicht. Ednahatte noch nie ein freundliches Wort an sie gerichtet.Sie war sonst einfach grässlich. Jetzt dagegen lächeltesie ein unnatürliches, schiefzahniges Lächeln.

    »Aber Miss Adder. . .«»Lass nur«, sagte Edna. »Geh und amüsier dich . . .

    Vielleicht kommt was Schönes im Fernsehen.«Molly sah Rocky an, der genauso verwirrt schien.

    Dann sahen sie beide Edna an. Ihre Verwandlung warerstaunlich. So erstaunlich, als ob Tulpen aus ihremKopf herausgewachsen wären.

    Dies war das erste seltsame Ereignis in dieser Wo-che.