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Reinhard Fatke · Hans Merkens (Hrsg.) Bildung über die Lebenszeit

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Reinhard Fatke · Hans Merkens (Hrsg.)

Bildung über die Lebenszeit

Schriftenreihe der DGfE

Reinhard FatkeHans Merkens (Hrsg.)

Bildung überdie Lebenszeit

1. Auflage März 2006

Alle Rechte vorbehalten© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006

Lektorat: Monika Mülhausen

Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media.www.vs-verlag.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. JedeVerwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes istohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesonderefür Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspei-cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesemWerk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solcheNamen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachtenwären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, HeidelbergDruck und buchbinderische Verarbeitung: MercedesDruck, BerlinGedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in Germany

ISBN 3-531-14924-5

Bibliografische Information Der Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

Inhalt

Reinhard Fatke / Hans Merkens

Vorwort .................................................................................................................... 9

Eröffnungsvortrag

Michael Naumann

„Bildung“ – eine deutsche Utopie ......................................................................... 15

Parallelvorträge

Helmut Fend

Bildungserfahrungen und produktive Lebensbewältigung – Ergebnisseder LifE-Studie ...................................................................................................... 31

Roland Merten

Bildung und soziale Ungleichheiten – Sozialpädagogische Perspektivenauf ein unterbelichtetes Verhältnis ........................................................................ 57

Ekkehard Nuissl

Orte und Netze lebenslangen Lernens .................................................................. 69

Christiane Spiel

Grundkompetenzen für lebenslanges Lernen – eine Herausforderungfür Schule und Hochschule? .................................................................................. 85

Nico Stehr

Eine Welt aus Wissen ............................................................................................ 97

6 Inhalt

Berichte über Symposien

Frank Achtenhagen / Klaus Beck / Michael Bendorf / Alison Fuller /

Gerhard Minnameier / Wim J. Nijhof / Karsten D. Wolf / Lorna Unwin

Berufserziehung als lebenslange Aufgabe – Vocational EducationAs a Lifelong Learning Task ............................................................................... 111

Johannes Bilstein

Lebenszeit – Bildungszeit ................................................................................... 121

Rita Casale / Juliane Jacobi / Jürgen Oelkers / Daniel Tröhler

Lebenslanges Lernen – ein alter Hut? ................................................................ 131

Lucien Criblez / Ferdinand Eder

Erziehungswissenschaft und Politikberatung ..................................................... 143

Wilfried Datler

Entwicklungsprobleme unter der Perspektive lebenslangerBildungsprozesse – Verbindungslinien zwischen Sonderpädagogik undPsychoanalytischer Pädagogik ............................................................................ 153

Werner Georg

Schullaufbahnen, persönliche und soziale Ressourcen im Jugendalterund Berufserfolg im Erwachsenenalter ............................................................... 163

Edith Glaser / Barbara Rendtorff

Menschenbilder und Geschlecht – Bildungs- und Erziehungskonzeptein verschiedenen Lebensphasen .......................................................................... 173

Tina Hascher / Odette Haefeli / Ruth Jermann / Angelika Schade

Akkreditierung und Zertifizierung von Bildungsleistungen– verlässliche Pfade im Bildungsdschungel? ...................................................... 179

Michael-Sebastian Honig / Ludwig Liegle

Erziehung in früher Kindheit und lebenslange Bildungsprozesse– Internationale Perspektiven der frühpädagogischen Forschung ..................... 189

Jochen Kade / Wolfgang Seitter

Die Institutionalisierung des Lernens im Erwachsenenalter .............................. 197

Inhalt 7

Michael Kerres / Claudia de Witt

Perspektiven der „Medienbildung“ ..................................................................... 209

Peter H. Ludwig / Markus Dresel / Monika Finsterwald / Natalie Fischer /

Martin C. Holder / Ruth Rustemeyer / Barbara Schober / Albert Ziegler

Erwartungen in himmelblau und rosarot: Erklärung fürGeschlechterdifferenzen im lebenslangen Lernen ............................................. 221

Sandra Oppikofer / Sonja Perren / Regula Schmid / Albert Wettstein

Lebenslanges Lernen mit neuen Zielgruppen – Zusammenfassungder Referate zum Themenschwerpunkt „Alter“ ................................................. 231

Sylva Panyr

Differenzierung von Erziehungswerten in Sozialen Milieus ............................. 239

Holger Reinisch / Tade Tramm

Entgrenzungen der beruflichen Bildung – „Bildung über die Lebenszeit“als Herausforderung und Perspektive der Praxis, Politik undTheorie beruflicher Bildung ................................................................................ 255

Werner Thole / Cornelia Schweppe / Ingrid Lohmann / Sabine Andresen /

Josef Scheipl / Mark Schrödter

Bildung im Zeitalter der normierten Globalisierung – Folgen für dieSozialpädagogik ................................................................................................... 265

Rudolf Tippelt / Christoph Kasten / Rolf Dobischat / Paolo Federighi /

Andreas Feller

Regionale Netzwerke zur Förderung lebenslangen Lernens– Lernende Regionen ........................................................................................... 279

Christoph Wulf / Jörg Zirfas

Bildung als performativer Prozess – ein neuer Fokuserziehungswissenschaftlicher Forschung ............................................................ 291

Christine Zeuner

Erwachsenenbildung zwischen Inklusion und Exklusion .................................. 303

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ........................................................... 315

Vorwort

Reinhard Fatke / Hans Merkens

Bildung ist wieder in aller Munde. Das Thema hat Konjunktur. Wir erleben ge-radezu eine Inflation von Begriffen und Konzepten im Zusammenhang mit Bil-dung, und wir werden Zeugen eines enormen Aufmerksamkeitsschubs, der al-lem, was mit Bildung zu tun hat, zuteil wird. Bildungsforschung, Bildungsstan-dards, Bildungsevaluation sind nur einige der neueren Begriffe, welche die öf-fentlichen Debatten beherrschen. Motor oder zumindest Katalysator dieser neue-ren Entwicklung sind die Aufgeregtheiten um die Ergebnisse der internationalenLeistungsvergleichsstudien wie TIMSS und PISA, bei denen die deutschsprachi-gen Länder relativ schlecht abgeschnitten haben. Seitdem werden auf politischerEbene vermehrte Anstrengungen gefordert, um das Bildungsniveau der Schüle-rinnen und Schüler zu heben, und Fachleute aus Wissenschaft und Praxis disku-tieren, durchaus kontrovers, die Möglichkeiten und Grenzen solcher Anstren-gungen.

Trotz unterschiedlicher Auffassungen über Bildungsziele, Bildungsstan-dards, Kerncurricula, überfachliche Kompetenzen, Aussagewert von Leistungs-vergleichen usw. sind sich alle Beteiligten in einem Punkte einig: Bildung istnicht auf die Schule als Institution und nicht auf Kindheit und Jugend als Le-bensphase begrenzt. Vielmehr verlangt die moderne Welt ein neues Konzept:Bildung über die Lebenszeit. Denn unsere Wissensbestände verändern sich ra-sant, und die moderne Welt ist davon so sehr geprägt, dass von einer „Wissens-gesellschaft“ gesprochen wird, in der eine Hauptaufgabe im Wissensmanagement

liegt. Auch in der Berufswelt verändern sich die Anforderungen ständig, sodassdie Weiterbildung zu einer lebenslangen Aufgabe wird. Ferner greifen die for-mellen Prozesse des Lernens in den Bildungseinrichtungen und die Prozesse desinformellen Lernens, z. B. am Arbeitsplatz, in der Freizeit, im Kulturbereich, mitHilfe alter und neuer Medien usw., ineinander. Aus alledem ergibt sich, dassBildung schon weit vor der Schule im frühen Kindesalter beginnen und über dieganze Lebenszeit anhalten muss. Dafür steht der – auch international gebräuchli-che – Begriff „lebenslanges Lernen“.

Mit der lebenszeitlichen Perspektive wird zugleich die Chance eröffnet,Bildung wieder in einem umfassenderen Verständnis in die öffentliche Reflexion

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und Diskussion zu bringen als nur im Sinne von Aufnehmen und Verarbeitenvon Wissensbeständen zum Erreichen vorbestimmter Leistungsziele. Gerade dieKontingenz, die Nichtverfügbarkeit, auch die Sperrigkeit gegenüber allzu einen-genden Didaktisierungsversuchen, das Widerständige auch und gerade gegen-über ökonomischer Instrumentalisierung und staatsbürgerlicher Verzweckunggilt es wieder stärker in den Mittelpunkt zu rücken.

Wenn mit Bildung diejenigen Prozesse benannt werden, in denen sich derMensch in wahrnehmender, denkender und handelnder Auseinandersetzung mitder Welt allseitig entfaltet, sind ein wesentliches Kennzeichen solcher Bildungs-prozesse Erfahrungen von Differenz zwischen dem, was man ist, weiß, kann,darf usw., und dem, was man (noch) nicht ist, weiß, kann, darf usw. Wenn dieseDifferenz als Herausforderung erfahren wird, an der man wachsen kann, indemman sich ihr stellt und sich mit ihr auseinander setzt, und nicht nur als Aufgabe,die man bewältigen muss, dann ist eine notwendige Vorbedingung dafür gege-ben, dass sich Bildung ereignen kann. In diesem Sinne lässt Bildung sich nichterzwingen, sondern sie kann sich ereignen, wenn entsprechende Angebote undSituationen geschaffen werden, in denen sich der Mensch herausfordern lässt,sich mit der Welt und sich selbst auseinander zu setzen. Insofern sind Bildungs-prozesse prinzipiell unabschließbar.

Die Welt ist größer geworden, die Fragen und Probleme, die uns betreffen,sind längst grenzüberschreitend geworden und damit auch die Inhalte von Bil-dungs- und Lernprozessen. Deshalb war es folgerichtig, dass ein erziehungswis-senschaftlicher Kongress, der sich mit diesen Themen befasst, international aus-gerichtet war: Veranstaltet von den vier führenden Fachgesellschaften ausDeutschland, Österreich und der Schweiz, in denen die pädagogischen Fachleuteaus Forschung und Lehre zusammengeschlossen sind, und organisiert vom Pä-dagogischen Institut der Universität Zürich, bot der Kongress ein internationalesForum für die Diskussion aller Facetten lebenslanger Bildungsprozesse.

Mit dem Kongress in Zürich wurde zwar kein Neuland betreten, aber eswurde ein Thema bearbeitet, das sowohl für Deutschland als auch für Österreichund die Schweiz gegenwärtig von hoher Bedeutung ist. Insbesondere im Zu-sammenhang mit den Übergängen, die sich zwischen vorschulischen und schuli-schen sowie nachschulischen Institutionen über die Lebenszeit ergeben, und derFrage nach den notwendigen Unterstützungssystemen, derer Menschen über dieLebenszeit im Bildungsprozess bedürfen, wurde ein breites Spektrum für dieVorträge, Symposien, Arbeitsgruppen und Round Tables des Kongresses eröff-net.

In 9 Vorträgen, 43 Arbeitsgruppen und 21 Symposien ist den Fragen nach-gegangen worden, wie Bildung sich über die Lebenszeit organisieren lässt, wieForm und Gegenstände der Bildung sich verändern und welche Bedeutung der

Vorwort 11

Bildung für moderne Gesellschaften zukommt. In den Parallelvorträgen wurdenvor allem die Veränderungen thematisiert, die aus der Globalisierung, der neuenKompetenzorientierung und der auf Wissen beruhenden Ungleichheit und derIdee der wissensbasierten Gesellschaft resultieren.

Die Symposien und Arbeitsgruppen fanden ihren Schwerpunkt aus unter-schiedlichsten Perspektiven immer wieder bei der Frage des lebenslangen Ler-nens. Dabei war es der Anspruch des Kongresses, neue Ergebnisse der For-schung in den Veranstaltungen zu präsentieren. Für das Programmkomitee wardabei zusätzlich das Kriterium wichtig, dass Übergänge zwischen Institutionenbzw. die Anforderungen verschiedener Institutionen an ein gemeinsames Themain den Mittelpunkt gerückt wurden. So ist es gelungen, thematische Geschlos-senheit und neue Themenfelder miteinander in Verbindung zu bringen. Für dieQualität der Beiträge ist allen Referentinnen und Referenten zu danken. Derreibungslose Ablauf wurde durch die Organisatorinnen und Organisatoren dereinzelnen Gesellschaften unterstützt. Ein ganz besonderer Dank gilt dem ZürcherOrganisationskomitee, insbesondere Herrn Dr. Philipp Balzer.

Zürich und Berlin, im Herbst 2005Reinhard Fatke und Hans Merkens

Eröffnungsvortrag

„Bildung“ – eine deutsche Utopie

Michael Naumann

Deutschlands Universitäten sind das Spiegelbild des nationalen Unbehagens undmanchmal auch sein Blitzableiter. Noch sind sie nicht haftbar gemacht wordenfür ökonomische Stagnation, staatliche Überregulierung oder die Verspätungender Bundesbahn. Es bedarf freilich nur geringer Fantasie, um Herkunft undGründe der deutschen Untergangsstimmung in den akademischen Institutionendes Landes zu verorten. Das wäre zwar nicht sehr gerecht, aber auch nicht ganzabwegig. Schließlich sind sie es, die unsere Verwaltungs- und Wirtschaftselitenausbilden. Auch Deutschlands Juristen, die den Staatsapparat beherrschen wie ehund je, fallen nicht vom Himmel (wenngleich es zumal in Berlin manchmal soscheint), sondern sie werden so gut ausgebildet, dass sie in der Lage sind, Macht,Zuständigkeit und Verbreitung ihres eigenen Berufsstands ins Unermessliche zuvergrößern: Pro Kopf der Bevölkerung gemessen, gibt es bei uns sechsmal soviele Berufsrichter wie in England. Entsprechend mehr Rechtsanwälte muss esgeben, was natürlich allenthalben Kopfschmerzen macht. Also benötigen wirauch mehr Apotheker als jede andere Nation der Welt.

Zurzeit wird die Bundesrepublik von einem Rechtsanwalt regiert, ein ande-rer reguliert die innere Sicherheit. Adenauer und Kiesinger waren ebenfallsRechtsanwälte, wie auch Roman Herzog und wer weiß wie viele Ministerpräsi-denten in unserer demokratischen Geschichte. Die Ordnung im Lande ist einejuristische. Für die Unordnung sind die anderen verantwortlich. Jahrelang reichtees, eine einzige Generation, die so genannten 68er, dafür haftbar zu machen.Inzwischen hat man neue Schuldige gefunden. Es sind die so genannten Struktu-ren des Wohlfahrtsstaates und seiner Rechtsverordnungen. Aber auch die Struk-turanalytiker sind Akademiker. Sie und ihre journalistischen Schüler besitzen dieInterpretationshoheit über die Erstarrungsgründe des Landes. In einem Wort: Diedeutschen Bildungsanstalten sind zwar an allem schuld, aber ihre Absolventenkönnen diese Schuld auch erklären. Den Erstsemestern unter ihnen rufe ich zu:Herzlich willkommen an dieser schönen Universität! Vor ihnen liegt das deut-sche Bildungsabenteuer, und über seinen Ursprung möchte ich heute sprechen.

Alles steht schief in dem ehemaligen globalen BildungszentrumDeutschland, schief wie der Turm von Pisa: Grundschulen, Haupt- und Real-

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schulen, Oberrealschulen, Gesamtschulen, Gymnasien – das ganze Ausmaßder wieder einmal frisch entdeckten Bildungskatastrophen manifestiert sichin der Blüte von Reformkommissionen, in neuen Hochschulrahmengesetzenund dem ewig stillen Eifer der Kultusministerkonferenz, die alles beschlie-ßen könnte, außer ihrer eigenen Abschaffung, denn im Grundgesetz gibt essie nicht, mithin ist sie ja eigentlich auch nicht vorhanden. Verfassungs-rechtlich verkörpert sie die philosophische, parmedianische Grundfrage:„Warum ist nicht nichts, sondern etwas?“ Wollte man alle bildungspoliti-schen Verbesserungsvorschläge der letzten Jahrzehnte auf dem Boden ausle-gen, reichten sie aus, um die Kultusministerkonferenz unter einem meterho-hen Papierberg zu begraben, was vielleicht keine schlechte Idee wäre.

Eine jener vielen Kommissionen, nämlich diejenige „zur Strukturreformder Hamburger Hochschulen“, hat vor fast einem Jahr ihre Blaupause für dieVerbesserung der akademischen Ausbildung vorgelegt. Sie sieht die Halbie-rung des geisteswissenschaftlichen Fächerangebots vor, zum Vorteil derNaturwissenschaften und der Ingenieursstudiengänge. Mehr Geld soll fließenfür Nanotechnologie, Wirtschafts-, Rechts- und Biowissenschaften. Luft-fahrt- und Transportstudiengänge werden gefördert, ginge es nach denKommissaren und ihrem ökonomisierten Bildungsideal. Doch ihre Vorschlä-ge, die technischen und naturwissenschaftlichen Fächer zu fördern, sind soneu nicht. Bildungsreformen in Deutschland sind seit dem Ausgang des 19.Jahrhunderts stets mit dem Abbau der Geisteswissenschaften verbundengewesen. Die bildungsbürgerliche Vorstellung, dass das alte Deutschlandeine Nation von Altphilologen, Germanisten oder Kunsthistorikern gewesensei, die sich eher nebenbei zur pharmazeutischen und physikalischen „leadnation“ entwickelt habe, ist irrig. Es war in Wirklichkeit – wie die USA undnach 1916 die Sowjetunion – spätestens seit 1900 das Land der Ingenieure,der Physiker, Erfinder und Naturwissenschaftler und ist es zumindest imBereich der Wirtschaft geblieben, wenngleich die Juristen, wie erwähnt, unddie Betriebswirte sich alle Mühe geben, die Führung zu übernehmen.

Um die Jahrhundertmitte, jedoch spätestens ab 1890, endete inDeutschland der historische Antagonismus zwischen klassischer und moder-ner, industriell und naturwissenschaftlich geprägter Bildung. Die erfolgreichnachgeholte industrielle Revolution in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-derts hatte das Land von Grund auf verwandelt. Berlin wurde die größteIndustriestadt des Kontinents. Eine gewaltige Schwemme populär-naturwissenschaftlicher Bücher führte die „verspätete Nation“ auch mentalan die Produktivität der hoch industrialisierten Briten und Franzosen heran.Kaiser Wilhelm II. rühmte sich, das Promotionsrecht für die technischenHochschulen (1899) erkämpft zu haben. Die weitere Produktion junger Rö-

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mer und Griechen an den Gymnasien empfahl er nicht. Statt Latein wurdeDeutschunterricht die Konstante im wilhelminischen Bildungsgang. DieGleichwertigkeit der Gymnasien, Realgymnasien und Oberrealschulen wurdedurch kaiserlichen Erlass vom 26. November 1900 amtlich anerkannt.Deutschland, so sollte der Kaiser elf Jahre später Kasselaner Gymnasiastenzurufen, stellten sich neue Aufgaben, „wir müssen nationalökonomische undfinanzielle Kenntnisse uns aneignen, denn es gilt Deutschland seine Stellungin der Welt, besonders auf dem Weltmarkte zu wahren.“ Zu jenem Zeitpunkthatte die deutsche Stahl-, Pharma-, Maschinenbau- und Rüstungsindustrieden Vorsprung der konkurrierenden europäischen Nationen bereits aufgeholt.Im Zeitalter des akademischen Positivismus stiegen die idealistischen Philo-sophen, Historiker und Philologen alter Schule auf der nationalen Prestige-Skala auf die mittleren Plätze ab. Nicht die Bildungsbürger, sondern Fabri-kanten und Bankiers, Offiziere und Erfinder galten als vorbildliche Deutscheund neben ihnen natürlich die Beamten. Hegels gesammelte Schriften, dasdeutsche Bildungswerk par excellence, waren bereits Mitte des 19. Jahrhun-derts verramscht worden.

Eine Wissenschaftsgeschichte, die den ideologischen und politischenEinfluss der technischen, naturwissenschaftlichen und medizinischen Eliteauf die unheilvolle Geschichte des Wilhelminismus und Nationalsozialismusvorstellt, existiert erst in Anfängen. Die Rolle der Juristen oder Germanistenist geklärt. Die Gründe ihres politischen Versagens sind wahrscheinlich nichtausbildungs- oder berufsspezifisch. Womöglich haben sie auch mit dem frü-heren Abbau der Geisteswissenschaften zu tun – oder mit deren historischen,gesellschaftlichen und politischen Illusionen im 19. Jahrhundert, die sich indem komplexen Begriff „Bildung“ ihr Programm gemacht hatten.

Deutschland, sagte der Hamburger Kommissionsvorsitzende Klaus vonDohnanyi, müsse begreifen, dass es sich erneuern muss. Deutschland kannaber nichts begreifen, weil Deutschland kein Bewusstsein hat, sondern nurein schönes Sprachsymbol ist für ein staatliches Territorium, auf dem Men-schen leben, die Deutschen eben, die sich verabredet haben, gemeinsam un-ter einer demokratischen Verfassung zu leben.

Die Grundrechte jener Verfassung beruhen auf politischen Erfahrungen,die unsere Vorfahren mit sich selbst und die unsere Nachbarn mit Deutsch-land im letzten Jahrhundert gemacht haben. Zu den interessantesten Erfah-rungen zählt aber der Umgang der Deutschen mit ihrem eigenen Erziehungs-system. Wir sind die einzigen Europäer, die für Erziehung noch ein zweites,im Grunde genommen sehr seltsames Wort geprägt haben: „Bildung“. Estaucht im allgemeinen Sprachgebrauch Ende des 18. Jahrhunderts auf, eswar, in den Worten von Moses Mendelssohn, neben „Kultur und Aufklärung

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in unserer Sprache noch Neuankömmling.“ Doch in Wirklichkeit war „Bil-dung“ ein ehrwürdiges Wort spätmittelalterlicher Mystiker, das sich auf dieGottesebenbildlichkeit des Menschen bezog: Sich Gott anzunähern, war einBildungsakt in göttlicher Gnade oder, wie es in einem pietistischen Textheißt: „Wir müssen zerstöret und entbildet werden, auf dass Christus in unsmöge formieret, gebildet werden und allein in uns sein.“

Die mystische Herkunft des Begriffs „Bildung“ ist heute vergessen,gleichwohl schimmert er immer noch in der Vehemenz unserer Bildungsde-batten durch und vermag, wie seit 1965, durchaus studentische Massen zumobilisieren. Das alte Wort „Bildung“ hat immer noch die Sprengkraft einerErlösungsparole. Erst eine durch und durch gebildete Nation, so die heimli-che Hoffnung aller Bildungspolitiker, sei eine glückliche.

Und unter einem gebildeten Bürger stellen wir uns heute einen Men-schen vor, der die ästhetischen Tröstungen und moralischen Lehren derKünste und Musik, der Dichtung, des Tanzes, des Films oder der Architekturzu schätzen weiß, der fremde Sprachen spricht und liest und der an der Uni-versität oder anderswo mit den Fragen der Philosophie und Theologie inBerührung geraten ist: also einen Menschen, der seine Existenz nicht ganzdem gewidmet hat oder widmen muss, was Karl Marx in einem vulgärenMoment einmal die „alte Scheiße des Notwendigen“ genannt hat, nämlichdem Erwerb des materiellen Lebensunterhalts. Diese Form der Bildung wirdin Deutschland traditionell in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen undBibliotheken der Universitäten vorgehalten. Wer sie nicht genossen hat, aberdennoch ein guter Mensch ist, der hat, so will es der Volksmund,,,Herzensbildung“. Er ist ein Sonntagsmensch und ihm schreiben wir Güteund Humor zu, mag er auch nicht wissen, was ein Algorithmus ist. Wer ge-bildet ist, so glauben wir, hat auch Kultur. Kultur und Bildung sind zweiSeiten derselben Deutschlandmedaille: Einen kulturlosen Menschen gleich-zeitig als gebildet zu bezeichnen, fiele uns schwer, wenngleich er vorkommt.

Den Sonderfall jenes Zeitgenossen, der alles weiß und sonst nichts, trifftman nur noch selten, vielleicht, weil man einfach nicht mehr alles wissenkann, weil alles Wissenswerte immer mehr wird. Es ist aber diese Zunahmeder Wissensbestände in aller Welt, die unsere Pädagogen und Kultusbeamtenso nervös macht, da sie beobachten, dass die Fähigkeiten der Schulen undUniversitäten mit den gleichzeitig steigenden beruflichen Ansprüchen dermodernen Wissensgesellschaft nicht Schritt halten. Andere Nationen sindoffenbar besser in der Lage, ihre Schulen und Universitäten den Anforderun-gen einer modernen, globalisiert ökonomisierten Welt anzupassen. Woranliegt das? Vielleicht verstehen wir unsere akademische Schwerfälligkeitbesser, wenn wir einen Blick auf die Geschichte unseres sehr spezifischen

“Bildung” – eine deutsche Utopie 19

Begriffs von „Bildung“ werfen. Ich behaupte, dass unsere gesamte Hoch-schuldiskussion immer noch geprägt ist vom Abschiedsschmerz: Das alteBildungsideal des frühen 19. Jahrhunderts ist zwar untergegangen, doch esfehlt uns immer noch. Aber was ist es genau, was uns fehlt? Ich behaupte: Esist das utopische Versprechen von Freiheit, Ordnung und nationaler Wohl-fahrt, das im spezifisch deutschen Wort von „Bildung“ verborgen lag. „Er-ziehung“ im Geist der Aufklärung galt dem pädagogischen, zweckgerichtetenProzess, „Bildung“ hingegen war mehr, war die Summe aller Erziehung zueinem höheren Zweck. Einer dieser Zwecke war die Nationenbildung. In denWorten des Pädagogen Resewitz ist „der gesittete Mittelstand“ der Träger„des Nationalcharakters“. „Von seiner Bildung“, so schreibt er 1773, „hängtder Zustand des Ganzen ab, und seine Sitten und Denkungsart haben wiederden nächsten und wirksamsten Einfluss auf den großen Haufen.“ Patriotis-mus, so der feste Glaube, sei ein Bildungsprodukt.

In der Geschichte des deutschen Bildungsideals – also jenseits der An-forderungen praktischer Erziehung – war von Anfang an ein Wille zur indi-viduellen und nationalen Überlegenheit beschlossen, und eben dieser Willezum absoluten Wissen, so behaupte ich, hat die Idee von „Bildung“ selbstunterhöhlt und zugleich den mentalen Sonderweg der Deutschen in die Mo-derne geprägt, mit einem Nebeneinander akademischer Tüchtigkeit in dentechnischen Hochschulen und gleichzeitigem akademisch-nationalistischemStolz im Selbstverständnis führender Geisteswissenschaftler und ihrerKlientel, dem Bildungsbürgertum. Zur besseren Unterscheidung von denNachbarn entwickelte es die Begriffsdifferenz zwischen Kultur und Zivilisa-tion. Letztere war etwas verächtlich Modernes.

Jener Stolz war und ist dem seltsamen historischen, kulturellen und po-litisch-historischen Erlösungsanspruch der deutschen Bildungselite selbstgeschuldet. Denn im deutschen Begriff von „Bildung“ war eine geradezumillenarische Hybris angelegt, die sich im Alltag des 19. Jahrhunderts nochals sozialer Professorendünkel manifestieren konnte. Doch unter dem Druckund den Zwängen der industriellen Modernisierung Deutschlands war dieKrise des ursprünglichen deutschen Bildungsideals in ihm selbst angelegt. Erhatte einfach zu viel versprochen: Freiheit, mehr noch: Gottwerdung durchBildung, durch Kunst und Kultur.

Noch immer versteht das Bundesverfassungsgericht Deutschland als„Kulturstaat“. Kein anderes europäisches Land pflegt ein ähnlich höchst-richterlich festgelegtes Selbstverständnis. Es verpflichtet den Staat zur Pflegejenes dichten Netzwerks subventionierter Theater, Museen, Opern und ande-rer kultureller Institutionen, deren historische Herkunft sich im barockenBegriff der „Kulturhoheit“ der Länder noch widerspiegelt.

20 Michael Naumann

Die modernen Phantomschmerzen der Nation über den Verlust einerkulturell gebildeten wirtschaftlichen und politischen Elite, wie sie zum Bei-spiel der Berliner Industrielle Rathenau verkörperte, haben ihren Ursprung ineiner enttäuschten, utopisch-ästhetischen Hoffnung, dass sich Deutschlandüber die subjektive Erfahrung künstlerischer Schönheit, statt über die revo-lutionäre Guillotine oder eine republikanische Verfassung am Ende des 18.Jahrhunderts zur Freiheit hin, zum besten aller möglichen Staaten entwickelnmöge. Den Ursprung dieser Hoffnung möchte ich in den nächsten Minutenherausarbeiten.

„Bildung“ war einst das erstrangige Symbol im historischen Aufbruchdes deutschen Bürgertums zur politischen Existenz in Gesellschaft und Ge-schichte. Unvergessen war den Bürgern des 19. Jahrhunderts Lessings „Er-ziehung des Menschengeschlechts“, jene Vision eines teleologisch ablaufen-den Bildungs- und Erziehungsfortschritts der Menschheit, die – im Bild einesseiner Zeitgenossen – von einer Schulklasse zur anderen aufrückt, von derOrthodoxie zur Aufklärung, vom Kindergarten zur Matura. Nicht andersHerders Umwandlung des Bildungsbegriffes in etwas Umfassendes: „Bil-dung“ wurde in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Mensch-heit“ ein Prozess mit einer Konzeption, „der alle niedrigen Bedürfnisse derErde nur dienen“ und der schließlich zur „Humanität selbst“ führen soll.

Lessings Idee des göttlichen Erziehungsplans hatte sich in der eschato-logischen Grundstimmung des Idealismus, der Klassik und der Romantik zurintellektuellen Obsession verhärtet. In den Worten Friedrich Schlegels: „Je-der gute Mensch wird immer mehr und mehr Gott. Gott werden, Menschsein, sich bilden, sind Ausdrücke, die einerlei bedeuten.“

Schlegels Behauptung hatte einen klassischen Vorläufer – SchillersBriefe „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“. Sie erschienen 1795in den „Horen“ und sind der Gründungstext für die neuhumanistische Bil-dung in Deutschland, das Manifest des Kulturbegriffs, der für das 19. Jahr-hundert maßgeblich werden wird – und fortlebt im Spannungsverhältnis vonGeist und Macht, das nur in Deutschland ein ständiger, wenn auch etwasabgenutzter Topos der politischen Diskussion im Feuilleton geblieben ist. Inseinen „Ästhetischen Briefen“ verarbeitet Schiller das Erlebnis der französi-schen Revolution. Wie beinahe alle deutschen Intellektuellen seiner Zeitsteht Schiller unter dem Schock des jakobinischen Terrors. Der Blutrausch inFrankreich führt in der deutschen Intelligenz zu einer fast einhelligen Ab-wendung von der praktischen Revolution als politischem Gewaltakt, nichtjedoch von ihren Idealen. Frankreich war plötzlich kein kulturelles Vorbildmehr. Für die neue Gesellschaft, für den neuen Staat, geboren aus dem Geistder Vernunft und der Freiheit, sucht Schiller neue Voraussetzungen mit dezi-

“Bildung” – eine deutsche Utopie 21

diert antirevolutionären Vorschlägen. Er besteht nicht darauf, das Volk zumpolitischen Handeln zu bewegen, sondern hofft, den einzelnen Bürger – unddie Fürsten – an einen seelischen Punkt zu bringen, an dem sie reif werdenfür den künftigen Vernunftstaat. Sein politisches Konzept ist dasjenige einerkulturellen Veredelung des Menschen, also ein Bildungsgang sonderglei-chen. Er setzt auf die ästhetische Erziehung, auf die kathartische Wirkungder Kunsterfahrungen auf eine ganze Nation.

Bevor der Mensch aus der latenten oder – wie gerade im revolutionärenFrankreich zu beobachten – aus der manifesten Gewaltsamkeit seiner natür-lich-sinnlichen Situation in den Stand der Sittlichkeit und der Vernunft ein-treten kann, muss er gemäß Schiller einen dritten Zustand durchlaufen. Erliegt zwischen der historischen Lücke, die sich öffnet, wenn die Fesseln desabsolutistischen Staats abgeschüttelt werden, aber ein neuer, vernünftigerStaat noch nicht geschaffen ist. In dieser historischen Phase bildet der ästhe-tische Zustand als Synthese von Sinnlichkeit und Vernunft eine „Stütze“:

„Diese Stütze findet sich nicht in dem natürlichen Charakter des Menschen, der,selbstsüchtig und gewalttätig, vielmehr auf Zerstörung als auf Erhaltung der Gesell-schaft zielt; sie findet sich eben so wenig in seinem sittlichen Charakter, der, nachder Voraussetzung, erst gebildet werden soll, und auf den, weil er frei ist und weil ernie erscheint, von dem Gesetzgeber nie gewirkt, und nie mit Sicherheit gerechnetwerden könnte. Es käme also darauf an, (…) einen dritten Charakter zu erzeugen,der, mit beiden jenen verwandt, von der Herrschaft bloßer Kräfte zu der Herrschaftder Gesetze einen Übergang bahnte.“

Die „Ästhetischen Briefe“ enthalten eine scharfe Zeitkritik – nicht nuram revolutionären Frankreich, sondern auch an der banalen, bürokratischenGegenwart des deutschen Reformabsolutismus. Ähnlich wie Rousseau führtSchiller die Miseren seiner Zeit auf eine Art Selbstentfremdung des Men-schen innerhalb der vorgefundenen Kultur zurück. Der Mensch sei gezwun-gen, ein Doppelleben zu führen: als Individuum und als Gattungswesen, alsPrivatmensch und als Staatsbürger. Als Überwindung dieses unbekömmli-chen Zustands schwebt Schiller ein Heilmittel vor: Die Ausbildung „desEmpfindungsvermögens ist also das dringende Bedürfnis der Zeit.“ SeinVorbild für die Veredelung der naturhaften Rauheit der Deutschen ist diegriechische Antike, deren reale politische Verhältnisse, Sklaverei inklusive,ihn nicht sonderlich interessierten. Die griechische Antike habe harmonische,mit sich identische Menschen hervorgebracht.

ln den Worten Winckelmanns: „Der einzige Weg für uns, groß, ja, wennes möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten.“Ihre Kunstwerke, so Schiller ein halbes Jahrhundert später, böten anschauli-

22 Michael Naumann

che Beispiele für ein ausgewogenes Verhältnis von Sinnlichkeit und Ideal.Diese Harmonie bezeichnet Schiller als „Schönheit“. An ihr, an den schönenWerken der Antike solle sich, Schiller zufolge, die Empfindungsfähigkeitschulen, solle sich der verstandestrockene Mensch der Gegenwart neu sensi-bilisieren.

„Nun spricht aber die Vernunft: Das Schöne soll nicht bloßes Leben und nicht bloßeGestalt, sondern lebende Gestalt, das ist, Schönheit sein; indem sie ja dem Men-schen das doppelte Gesetz der absoluten Formalität und der absoluten Realität dik-tiert. Mithin tut sie auch den Ausspruch: Der Mensch soll mit der Schönheit nurspielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen. Denn, um es endlich auf einmalherauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Menschist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“

Im Spiel, so Schiller, realisieren sich Freiheit und Schönheit. Im Spiel lassen wiruns nicht von sinnlichen Impulsen fortreißen, aber wir schwingen uns auch nichtzum vernunftgeleiteten Beherrscher der Natur auf. Wir lassen den Dingen ihrenRaum – und gewinnen dadurch selbst Freiheit. Nichts anderes ist der ästhetischeZustand. Kunstwerke symbolisieren ihn. Er ist auch der Grund für die Autono-mie der Kunst. Denn schöne Kunst, das gehört ebenfalls zu den Lehren der idea-listischen Ästhetik, ist frei von sinnlich-materiellen Interessen. Modern gespro-chen: Sie ist nicht marktfähig. Aber sie ist auch frei von den Ansprüchen dervernünftigen Sittlichkeit. Für die Kunst gelten keine moralischen Normen. Sie istder Inbegriff der Freiheit – im Reich der Kultur, nicht des Politischen oder despraktischen Alltags.

Zu Beginn von Schillers Reflexion war die ästhetische Erziehung nochein Mittel, um in den Vernunftstaat zu gelangen. Nun ist sie selbst zum Zielgesellschaftlicher, nicht mehr politischer Existenz geworden. Der ästhetischeZustand ist der ideale, erstrebenswerte für die Menschen. Nur in ihm sindFreiheit und Sinnlichkeit in harmonischer Ausprägung möglich. Im 25. Briefgesteht Schiller den Wechsel seiner Perspektive freimütig ein: „Es kann, miteinem Wort, nicht mehr die Frage sein, wie er [der Mensch] von der Schön-heit zur Wahrheit übergehe, die dem Vermögen nach schon in der erstenliegt, sondern wie er von einer gemeinen Wirklichkeit zu einer ästhetischen,wie er von bloßen Lebensgefühlen zu Schönheitsgefühlen den Weg sich bah-ne.“ Genau hier liegt der für Deutschlands Kultur- und Bildungsgeschichtebestimmende Übergang von einer politischen Philosophie zu einer idealis-tisch-privatistischen Kulturphilosophie. Von einer politischen Inpflichtnah-me der Künste ist die Rede nicht mehr. Die Kunst selbst, genauer: Bildungbildet nun das Modell der Freiheit.

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Schillers Konzept der ästhetischen Erziehung stellt eine folgenreicheLösung des Problems dar, wie das Scheitern der französischen Revolutioneinzugestehen war, ohne die mit ihr verbundene Utopie zu verraten. DieKultur – nun verstanden als ästhetische Kultur – enthält noch immer genü-gend subversive Potenziale. Sie ist das Synonym für eine private Freiheit, diein der praktischen Politik der Zeit nicht mehr zu erringen war. Die Kultur istfortan der Hort der individuellen Freiheit, der Selbstverwirklichung des Ein-zelnen, der – mit Thomas Mann gesprochen – „machtgeschützten Innerlich-keit“. In ihr residiert der gebildete Mensch.

Die Hoffnung, über ästhetische Bildung frei zu werden, schien das un-sterbliche Geschenk Winckelmanns, Goethes und Schillers, Humboldts,Fichtes, Schellings und Hegels an das deutsche Bürgertum zu sein, das die„Perfektibilität der Menschheit“ an sich selbst, als gebildetem, auf den Beg-riff brachte. Für Wilhelm von Humboldt hieß „den Menschen zu bilden“, „sienicht zu äußeren Zwecken zu erziehen.“ 1810 fordert er, „die Bildung derBürger bis dahin zu erhöhen, dass sie alle Triebfedern zur Beförderung desZwecks des Staats allein in der Idee des Nutzens finden, welche ihnen dieStaatseinrichtung zur Erreichung ihrer individuellen Absichten gewährt.“Anders gesagt: Der Staat ist gefordert als Ermöglicher allgemeiner gesell-schaftlicher Bildung, dies ist sein höchster Zweck.

Der vielfach postulierte Fortschritt der Geschichte vom Naturstaat überden Polizeistaat zum vernünftigen Staat schien ein unaufhaltsamer „Bil-dungsgang der Menschheit“ (Friedrich Theodor Vischer) und seine Avant-garde ist der deutsche Bildungsbürger. Ihren radikalsten Ausdruck fand diesin Fichtes „Reden an die deutsche Nation“: „Wir wollen durch die neue Er-ziehung die Deutschen zu einer Gesamtheit bilden.“ „Die neue Bildung derNation als solcher“, schwebt Fichte vor, „in welcher in der Bildung zuminnigen Wohlgefallen am Rechten nämlich, aller Unterschiede der Stände(...) vollkommen aufgehoben sei und verschwinde, und dass auf diese Weiseunter uns keineswegs Volkserziehung, sondern eigentümliche deutsche Nati-onalerziehung“ entstehe – an ihr sollte sich jedoch auch „die Verbesserungund Umschaffung des gesamten Menschengeschlechts zuerst in der Welt“anschließen.

Weder Frankreichs Philosophen noch die Revolutionäre Amerikas wa-ren der Ansicht, dass politische Freiheit ein Produkt der ästhetischen Erzie-hung und von Bildung sei. Man sah das pragmatischer: Herrschaftsteilung,Machtkontrolle, Meinungsfreiheit und Gleichheit vor dem Gesetz galten alsdie Eckpfeiler einer freien Gesellschaft. Nur in Deutschland sollte sich derGedanke durchsetzen, dass wahre Freiheit eine Freiheit des Herzens, desWissens, der ästhetischen Empfindsamkeit sei. Die Verknüpfung dieses Bil-

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dungsbegriffs mit der eschatologischen Grundstimmung des deutschen Idea-lismus macht seinen besonderen Charakter aus: Er hat auch seine eigeneSäkularisierung im späteren 19. Jahrhundert überstanden.

„Bildung“, so hatte ich gesagt, hat nicht nur als idealistisch-pädagogischer oder geschichtsphilosophischer Begriff, sondern zuerst einmalals religiöses Symbol der Imago-dei-Lehre seinen angestammten Ort in derdeutschen Geistesgeschichte. Seit dem 14. Jahrhundert tauchte „bildunge“ imWortschatz deutscher Mystiker als Symbol der Gottesebenbildlichkeit desMenschen auf. So, wie Meister Eckhart nach der Versenkung in das Mysteri-um menschlicher Gottesebenbildlichkeit zur Erklärung seiner mystischenErfahrung des Heiligen Neologismen formt, wie „ein inbilden“, „in sichbilden“, „überbilden“, „widerbilden“, so gerät ihm die unio mystica zumgroßgeschriebenen Bildungserlebnis. An der äußersten Grenze der Meditati-on stößt Eckhart, von menschlicher Gottesebenbildlichkeit bewegt, zur Er-fahrung der Selbst-Vergottung vor: „Swenne der Geist haftet an gote mitganzer einunge des willen, so wirt er vergotet.“

Das heimliche Zentrum späterer deutscher Bildungsideale, die sich al-lerdings von göttlicher Gnade – conditio sine qua non christlicher Mystik – zulösen weiß, war damit benannt: Die Vergöttlichung des Menschen, ein nochvon Wilhelm von Humboldt offen ausgesprochenes Geheimnis, der in einemBrief schreibt: „Ich fühle nun, dass ich auf eine Einheit getrieben werde (...)Diese Einheit Gott zu nennen, finde ich abgeschmackt, weil man sie so ganzunnützerweise aus sich hinauswirft. Diese Einheit ist die Menschheit, und dieMenschheit ist nichts anderes als ich selbst.“

Es ist müßig, derlei unfassbares Selbstbewusstsein aus der Sicht zeitge-nössischer philosophischer oder pädagogischer Selbstbescheidung zu beur-teilen. Vielmehr gehört es zur akademischen, philosophischen Wirklichkeitjener Jahre, da neue Universitäten aus dem Boden schossen und die Alpha-betisierung im ganzen Lande unerhörte Fortschritte machte. Fest steht jeden-falls, dass Jakob Böhme und seine theosophische Bildungslehre als philo-

sophus teutonicus und Vermittler jener mittelalterlichen Bildungsmystik zurPflichtlektüre der Tübinger Stiftschüler, also auch Hegels zählte. Die religiö-sen Konnotationen des Bildungsbegriffes waren den Zeitgenossen Hum-boldts sehr bewusst. Hegels Leistung war es schließlich, „Bildung“ und„Staat“ in eine dialektische Beziehung zu setzen. Das Schillersche Bil-dungsideal wurde, wie wir heute sagen würden, politisiert.

Politische Funktion von Bildung sei es fortan, in den Worten von Hegels„Rechtsphilosophie“, den subjektiven Willen des Einzelnen in jene Objekti-vität zu verwandeln, die er die „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ nennt – alsoden Staat.

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„Die Bildung ist in ihrer absoluten Bestimmung, die Befreiung und die Arbeit derhöheren Befreiung, der absolute Durchgangspunkt zu der zur Gestalt der Allge-meinheit erhobenen unendlich subjektiven Substanzialität der Sittlichkeit (...) Durchdiese Arbeit der Bildung ist es aber, den subjektiven Willen in jene Objektivität zuverwandeln, die seinerseits allein würdig und fähig ist, die Wirklichkeit der Idee zusein.“

Anders gesagt: „Bildung“ symbolisiert in dieser dunklen Sprache desdeutschen Staatsphilosophen zu Berlin den Prozess der bewussten Selbstbe-freiung des in sich selbst gefangenen, dumpfen Individuums zum Staatsbür-ger. Der philosophierende Staatsbürger Hegel, der die Wissensbestände derGeschichte in sich aufgesogen hat und zum absoluten Wissen vorgedrungenist, ist der ideale Staatsbürger, der in einer Gesellschaft der Gebildeten – alsoin der höchsten Utopie der Gleichheit aller Menschen – sich bereit erklärt,dem Staat zu dienen. Entsprechend ernsthaft ist die Ermahnung des Profes-sors an die Lehrer im Lande: „Dem Lehrerstande ist der Schatz der Bildunganvertraut (...) Der Lehrer hat sich als den Bewahrer und Priester dieses hei-ligen Lichtes zu betrachten.“ „Bildung“ verwandelt sich so zum spekulativenKern einer idealistischen theologia civilis, die eine freiheitliche Versöhnungvon Subjekt und Objekt, von Individuum und Staat feiert. Ihre praktischeAusbildung lautet dementsprechend freiwilliger Gehorsam, Liebe zumStaatsdienst, Hingabe ans Ganze. Die Künste, bei Schiller noch Hinblickglücklicher Existenz, sind überwunden, sind – mitsamt den Griechen – histo-rische Vorstufe in der Emanzipation der Menschheit zum absoluten Wissen,das im preußischen Staat politische Realität wird. Er ist, anders gesagt, dasEndprodukt menschlicher Bildung.

Die deutsche Revolution des Geistes, deren kantianisches Ziel die Ab-schaffung von Herrschaft war, entfaltet sich in Hegels Bildungstheorie zurLegitimation von Herrschaft schlechthin. Deren Fortbestand sichert das ge-bildete Individuum kraft seiner vernünftigen Einsicht in die bürgerlichePflicht, in die es selbst sich stellt: Mitglied des Staates zu sein.

Ohne Rückgriff auf Hegel, aber in voller Übereinstimmung mit seinerLehre, konnte so der Bildungsbürger par excellence des 19. Jahrhunderts,Friedrich Theodor Vischer, als Reutlinger Abgeordneter der FrankfurterNationalversammlung zurufen: „Der Staat ist religiöser geworden als dieReligion, und diesem Staate gehört die Schule. Es kommt darauf an, dass wirvor allem die Lehrer frei machen; wir müssen ihnen Ehre und Würde geben.Die Zeit wird kommen, wo die wahre, menschliche, sittlich-politische Reli-gion eins ist mit dem Staate und mit der Schule.“ Der hegelianische Philo-soph empfand die Revolution seiner Zeit als Bildungsereignis: „Die übersatteBildung der deutschen Nation drängte endlich mit Macht nach außen und

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pochte an das Tor der Wirklichkeit.“ Ein Vierteljahrhundert später, im „Hochund Hurra!“ der deutschen Sedan-Stimmung summiert der ehedem revolutio-näre 1848er Vischer den ziviltheologischen Zusammenhang von Bildung undGehorsam, der auch nach 1870/71 anerkannt war:

„Der straffe Befehl kann nicht alles bestimmen, er lässt notwendig der eigenen Ein-sicht der Gehorchenden ihren Spielraum. In diese Lücke tritt der geistige Einschlag,mit dem die Masse unserer Bürger durchschossen war, die in der höheren Schulbil-dung gereifte Intelligenz, die mit der Klarheit der Auffassung den Winken der Füh-rer entgegenkam, und auch dies ist noch nicht alles: In der Kriegszucht und Willig-keit der Massen selbst hat Deutschland die Früchte seiner Volksschule geerntet.“

Die Selbstverständlichkeit, mit der sich das deutsche Bildungsbürgertumdem Macht- und Herrschaftsanspruch Preußens nach 1871 beugte, wäre undenk-bar ohne jene „Vorarbeit“ des Idealismus, der zwischen Staat und Subjekt dieLegitimationsleistung eines besonderen, in der restlichen Welt einmaligen Bil-dungstheorems ausbreitet. Es glänzt in der Annahme eines absoluten Geistes, derin der Bildungsgeschichte des Einzelnen zu sich selbst kommt, d. h., sich bildetund – als „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ – den Staat realisiert. An die StelleGottes im Sinne Meister Eckharts ist der neue Gott getreten: der Staat. Andersgesagt: Dem deutschen Idealismus ist der Staat das objektive, göttliche, auf alleFälle aber sittliche deutsche Bildungsprodukt. Als 1914 Deutschlands „Griffnach der Weltmacht“ dem expansiven Anspruch nicht nur der Wirtschaft, son-dern auch des deutschen Geistes territoriale Realität verschaffen wollte, konnteder Berliner Universitätsprofessor Adolf Lasson, von „Deutscher Art und Bil-dung“ redend, die Feinde auffordern: „Macht uns doch erst den deutschenVolksschullehrer nach, den deutschen Oberlehrer, den deutschen Akademiepro-fessor!“ Ihre Unnachahmlichkeit war es natürlich, die viele dieser Repräsentan-ten deutscher Bildung ein Jahrhundert lang auf je eigene Weise behauptet hatten.Auf dem Gipfel der Geschichte stand eine deutsche Universität, stand ihr Absol-vent, der Bildungsbürger. Selbst das olympische Selbstbewusstsein der deut-schen Ordinarien-Universität, das noch in den 1960er-Jahren des 20. Jahrhun-derts zu bestaunen war, war ein fernes Echo dieser Entwicklung. Doch seinegesellschaftliche Haltlosigkeit kündigte sich mit der verspäteten Industriali-sierung Deutschlands an, da die geisteswissenschaftlichen Fakultäten in denSchatten der wilhelminischen Aufbruchs- und positivistischen Fortschritts-stimmung gerieten. Dort ist der klassische Bildungsbegriff, seines idealisti-schen Inhalts entleert, untergegangen: Nun lebt er als Worthülse fort, die vonJahr zu Jahr mit neuen Kommissionsvorschlägen gefüllt werden soll.

Bildungspolitik ist längst Ausdruck eines föderalistischen Wettbewerbsgeworden, in dem sozialpolitische Hoffnungen, pädagogische Traditionen

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und Experimente sich mit gewerkschaftlich organisierten Interessen undökonomischen Sachzwängen verschränkt haben zu einem Krisenknäuel un-geahnten Ausmaßes. Einige kaum noch wieder gutzumachende Niederlagendieses Wettbewerbs sind bekannt: Die musischen Unterrichtsfächer gehörenzu den großen Verlierern der ökonomisierten Erziehungsdebatte. Der Unter-richt in den klassischen Fächern Latein und Griechisch ist das Privileg weni-ger Oberschüler.

Im deutschen Sprachgebrauch verbanden sich die Begriffe „Kultur“ und„Bildung“ oft genug mit politischen Hoffnungen, nationalistischem Größen-wahn und übersteigertem Selbstwertgefühl. Kein Staat hat sich in seinerGeschichte so nachdrücklich und so oft auf seine Kultur berufen, sie derma-ßen überhöht und idealisiert und zugleich malträtiert wie Deutschland. Be-reits erwähnt habe ich die historische Verspätung einheitlicher, nationalerStaatlichkeit, seiner verzögert entwickelten modernen Wirtschaft und diegeistigen Auswirkungen dieser Verspätung auf die Gesellschaft. Einer ihrerKonsequenzen war der deutsche Wille zu europäischer Besonderheit, ausdem sich schließlich das Gefühl einer nationalen Überlegenheit entwickelte.Der deutsche Sonderweg, jenes eigentümliche, von England, Frankreich oderden USA so sorgsam unterschiedene Identitätsgefühl, das andere Verständnisvon Nationalstaatsbildung und davon, wie die technisch-wissenschaftlicheModernisierung zu bewältigen sei, dieser Sonderweg verlief in den Spurenund Sprachen der Kultur.

Ich fasse zusammen: Schillers Konzept der ästhetischen Erziehung warein Programm zur Sicherung individueller Freiheit. Für ihn symbolisierteKultur die Rettung spontaner, privater Sinnlichkeit und die Abweisung vonpolitischen Machtansprüchen anderer. Schiller entdeckte in der Kunst ihranarchisches Potenzial. Hegel hingegen verwandelt seinen idealen Bürgerkraft seiner Bildungstheorie zum Subjekt des modernen Staates. Bildung undKultur erhalten eine klar umrissene soziale Funktion. Sie stehen im Dienstallgemeiner Vernünftigkeit. Er ist damit der Vater eines soziologischenKulturbegriffs, der dem Kulturellen eine gesellschaftliche Integrationsleis-tung abverlangt, die Sicherung des Langzeitgedächtnisses der Gesellschaftzum Beispiel, der aber auch ein Podium zur Lösung von kollektiven Kon-flikten bietet. Seine Idee des Kulturstaates ruhte auf den Säulen des christli-chen Glaubens und der klassischen Bildung und des politisch-militärischenFührungsanspruchs Preußens.

Im 19. Jahrhundert gelang es lange Zeit, beide Aspekte, Gesellschaft-lichkeit und Privatheit des Kulturellen, zu verknüpfen. Die gesellschaftlicheSchicht, die diese Synthese zunächst ermöglichte, war das Bildungsbürger-tum. Spätestens in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts zerbricht die bil-

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dungsbürgerliche Harmonie zwischen Individualität und Kulturstaatlichkeitin der entwickelten Moderne geradezu explosionsartig. Kultur wird gänzlichgleichbedeutend mit historischer und ästhetischer Bildung. Sie hat mit Tech-nik und Wirtschaft nichts mehr zu tun. Im Gegenteil: Es überwiegt wiederdie Schillersche Vorstellung vom edlen, schöpferischen Individuum als Bil-dungszweck.

Der zeitgenössische Pessimismus der deutschen Kultur- und Bildungs-kritik entspringt dem monumentalen Anspruch des Idealismus, in Bildungund Kultur den deutschen Weg zur vernünftigen Ordnung des Staates ent-deckt zu haben. An seiner eigenen Überheblichkeit ist er schon im 19. Jahr-hundert steril geworden, doch seine spezifische, gleichsam revolutionäre undoriginelle Substanz lebt fort in der deutschen Kultur- und Bildungsdebatte.Dass sie immer noch mit unvergleichlich heftiger Inbrunst geführt wird, lässtsich aus ihrem ursprünglichen Plan erklären, entweder die ganze Welt zuerlösen oder doch dem einzelnen Menschen zumindest in seiner Innerlichkeitdas Glück zu verschaffen, das die amerikanische Unabhängigkeitserklärungim Politischen zu verankern suchte. Unsere Bildungsdebatten sind insoferndeutsche kulturelle und historisch undurchsichtige Verfassungsdebatten, undda wir uns in Deutschland keine besseren gesellschaftlichen Diskussions-grundlagen vorstellen können als großvolumige politische, kulturelle oderwirtschaftliche Katastrophen und die Suche nach ihren Schuldigen, werdensie uns weiter begleiten, solange es die Bundesrepublik gibt. Es wird aller-dings Zeit, dass wir uns daran erinnern, dass ihr Ursprung in jener Zeit zusuchen ist, da, ausgehend auch von dieser Universität, der Anspruch, mitBildung gottgleich zu werden, seinen Weg nahm, bis er in der sprichwörtli-chen Katastrophe endete.

Parallelvorträge

Bildungserfahrungen und produktiveLebensbewältigung – Ergebnisse der LifE-Studie1

Helmut Fend

1 Von der Biographie zum Generationenschicksal

Wenn im Folgenden von Bildungserfahrungen und Lebensbewältigung die Redeist, dann stehen nicht individuelle Biographien und inhaltsbezogene kulturellePrägungen im Vordergrund, sondern die Biographien einer Generation. DieGrundlage dafür bilden die Lebensläufe von 1527 Personen der Jahrgänge 1966und 1967, die vom 12. bis zum 35. Lebensjahr begleitet werden konnten. DieBiographien dieser Generation werden danach befragt, wie bedeutsam derenschulische Laufbahn und deren Verhältnis zu schulischen Anforderungen für dieLebensbewältigung waren. Konkret wurden ca. 2000 12-Jährige, die 1979 inländlichen und großstädtischen Kontexten in die 6. Klasse gingen, bis zum 10.Schuljahr jährlich untersucht und zwanzig Jahre später wieder befragt.

Die Besonderheit der LifE-Studie („Lebensverläufe ins frühe Erwachsenen-alter“) liegt im Vergleich zu anderen Untersuchungen (Grossmann 1985; Helm-ke/Weinert 1989; Largo 1987; Meulemann 1995; Roeder/Schnabel 1995;Schneewind/Ruppert 1995) in der Breite der Stichprobe und in der umfassendenBerücksichtigung von verschiedenen Entwicklungsbereichen und Entwicklungs-kontexten. Sie ermöglicht es, die Lebensläufe von Kindern und Jugendlichen ausallen Schulformen in einem städtischen und ländlichen Soziotop zu analysieren.Dabei werden die wichtigsten Lebensbereiche berücksichtigt, in denen sichMenschen bewähren müssen.

1 Diese Studie beruht auf einem gemeinsamen Projekt der Universitäten Zürich und Konstanz.

Die Autoren sind Helmut Fend, Werner Georg, Wolfgang Lauterbach, Fred Berger und UrsGrob.

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2 Der Zusammenhang von Bildungserfahrungen und Lebensbewältigung

Die Analysen der Adoleszenzstudie (Fend 1990; 1991; 1994; 1997; 1998) hat beiallen Entwicklungslinien jugendlichen Verhaltens die Frage aufgeworfen, welcheLangzeitwirkungen mit ihnen verbunden sind. Hier soll diese Frage auf dieAnalyse der Langzeitfolgen von Bildungserfahrungen zugespitzt werden.

2.1 Bildungserfahrungen

Es geht um eine einfache, aber bildungspolitisch intensiv diskutierte Frage: Wel-che Bedeutung für die weitere Lebensgeschichte bis zum 35./36. Lebensjahr hatder Sachverhalt, vom 6. bis zum 10. Schuljahr im Erfahrungskontext von Haupt-schulen, Realschulen und Gymnasien gewesen zu sein? Sind mit den unter-schiedlichen Schulformen Bildungserfahrungen verbunden, die den gesamtenLebenslauf und ein großes Spektrum von Lebenschancen prägen? Was bedeutendiese Platzierungen lebensgeschichtlich?

Zugehörigkeiten zu Schulformen sind einmal ein proxy für den Erfolg imBildungswesen. Wenn der Anspruch eines meritokratischen Bildungswesenseingelöst ist, dann entsprechen diesen Platzierungen unterschiedliche intellektu-elle Leistungsniveaus und Kulturen. In Vorwegnahme verschiedener künftigerAnforderungen im Beruf und im sozialen Verkehr müssten den Schulformenauch Differenzen in Wertkulturen entsprechen, die mit den Herkünften und denZukünften korrespondieren. Baumert spricht mit Blick auf diese Unterschiedevon unterschiedlichen Entwicklungsmilieus (Baumert et al. 2002).

2.2 Konzepte der produktiven Lebensbewältigung

Lebensbewältigung schließt mehr ein als erfolgreiche schulische und beruflicheLebenswege. Sie umfasst Merkmale der personalen, sozialen, beruflichen undgesundheitlichen Entwicklung. Wenn wir von „produktiver Lebensbewältigung“sprechen, dann mischen sich unvermeidbar normative Vorstellungen über gelun-gene Adaptationen im Erwachsenenalter ein.

Für „Erfolg“ soll hier eine pragmatische Definition vorgeschlagen werden:„Successful functioning in adulthood is marked by internalization of societalnorms, economic independence, formation of viable family units, and acceptanceof responsibility for others as well as for oneself.“ (Zahn-Waxler 1996, S. 57)Auf subjektiver Ebene kommt eine erfolgreiche Lebensbewältigung im Bewusst-sein (1) von Erfolgen und der Sinnhaftigkeit des Lebens, (2) von sozialer Zuge-

Bildungserfahrungen und produktive Lebensbewältigung 33

hörigkeit und sozialer Teilhabe sowie (3) von Glück, Zufriedenheit und Identitätzum Ausdruck. Diese subjektiven Einschätzungen umfassen gelungene Bezie-hungen zu sich selbst (Autonomie und Selbstwirksamkeit bzw. Selbstwert), zursozialen Umwelt (Zugehörigkeit und Verantwortung) und zu beruflichen Anfor-derungen (Leistung und Können).

Für die Frage der Bildungswirkungen interessieren vor allem Effekte in je-nen Lebensbereichen, auf die die Schule gezielt vorbereitet und die ihr eigentli-ches „Kerngeschäft“ berühren (domain-specific effects). Dazu gehören die Vor-bereitung auf einen Beruf, die Entwicklung von Arbeitsmotivation und dieSchaffung der Grundlagen für eine finanziell selbstständige Lebensführung. DenIndikatoren solcher Bildungswirkungen auf der Handlungsebene entsprechensolche auf der Persönlichkeitsebene, insbesondere jene der Arbeitsmotivationund der Berufszufriedenheit. Außerdem gehört es zum Kerngeschäft der Schule,in die kulturelle Teilhabe am Leben einer Gesellschaft einzuführen.

Dem Bildungswesen sind aber viele andere Aufgaben zugewachsen, dieüber diese Wirkungsfelder hinausgehen und deshalb „cross-domain effects“genannt werden. Sie beziehen sich auf die sozialen Lebensläufe, auf Indikatorender sozialen Bindung und auf physische bzw. psychische Gesundheit. An diesenIndikatoren orientiert sich im Folgenden die Untersuchung der Langzeitwirkun-gen von Bildungserfahrungen.

3 Die Datenlage

Die Grundlage der LifE-Studie bildet die Konstanzer Jugendlängsschnittsunter-suchung „Entwicklung im Jugendalter“, an der von 1979 bis 1983 jährlich etwa2000 Kinder und Jugendliche aus Frankfurt und aus zwei ländlichen Regionen inHessen teilnahmen (Kreis Bergstraße und Odenwald)2. Die Jugendlichen wurdenvon der 6. bis zur 10. Schulstufe in ihren Klassenverbänden getestet. Neben derHauptuntersuchung fanden zwei große Elternuntersuchungen, drei Erhebungenbei Lehrkräften und mehrere qualitative Studien statt. Insgesamt beteiligten sichgegen 3000 Schülerinnen und Schüler aus verschiedenen Schultypen (ohne Son-derschulen) an mindestens einer der fünf Erhebungen. 851 Jugendliche nahmenzu allen fünf Messzeitpunkten teil (s. Abb. 1).

2 Durchführung im Sonderforschungsbereich 23 der Universität Konstanz unter der Leitung von

Helmut Fend; finanzielle Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft von 1976 bis1988.

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Abbildung 1: Design der Studie „Entwicklung im Jugendalter“3

Das Lebenslauf-Inventar umfasste 21 Seiten und enthielt eine Reihe sehr per-sönlicher Fragen. Trotz dieser Anforderungen an die Befragten konnte durch daskomplexe Design eine Ausschöpfungsquote von 82,4% erzielt werden. 1527Personen nahmen nach der langen Unterbrechung erneut an der Untersuchungteil. Tab. 1 enthält die Zusammensetzung der Stichprobe der Wiederbefragung,aufgegliedert nach Schulniveau, Geschlecht und Stadt-Land-Kontext.

Die Stichprobe blieb aber, wie zu erwarten war, nicht von einer gewissenSelektion verschont. Daran konnten auch die große Bereitschaft der Eltern zurWeitergabe der Adresse und die hohe Beteiligung der Probanden in der Fragebo-genstudie nur bedingt etwas ändern. Die leichte Verzerrung in der Stichprobe istsowohl durch Verweigerungen (non-response) als auch wesentlich durch die

3 Die Zahlen geben den kompletten Stichprobenumfang pro Jahr an. * Davon 128 Schulabgän-

ger/Berufsanfänger (in der Regel Lehrlinge); 112 Abgänger in Schulen (in der Regel Berufs-fachschulen); 1550 Real-, Gymnasial- und Gesamtschüler.