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Jules Verne Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

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Jules Verne

Reise zum Mittelpunkt der Erde

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Jules Verne

Reise zum Mittelpunkt der Erde

© 2003 Voltmedia GmbH, Paderborn

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. JedeVerwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohneZustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fürVervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherungund Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Kapitel 1

«Gut gesagt», antwortete ich, «aber jetzt müssen wir uns umunseren Braten kümmern.» Und die gute Martha eilte wiederin ihre Küche.Ich sah, wie mein Onkel, der Professor Otto Lidenbrock, dieKönigstraße heraufkam, eilig wie immer, aber früher alssonst an Sonntagen. Vor kurzem erst hatte es von derMichaeliskirche halb zwei geschlagen, und das Mittagessenwar noch nicht fertig. Es würde ihn erzürnen: nicht, weil eretwa Hunger nicht ertragen konnte, sondern weil es ihngrundsätzlich und gründlich ärgerte, wenn die wirklicheWelt nicht mit der übereinstimmte, die er sich vorstellte.Ich erinnere mich noch gut an jenen Tag, es war der 21. Mai,an die eilig staksenden Schritte meines dürren und hoch-aufgeschossenen Onkels, mit denen er seinem kleinen HausKönigstraße 28 in der Hamburger Altstadt zustrebte, dennan jenem Tag begann eine der merkwürdigsten Unter-nehmungen des 19. Jahrhunderts. Die wissenschaftlichenDaten darüber hat mein Onkel veröffentlicht; was ich, seinNeffe Axel, erzähle, behandelt die Hintergründe und diepersönlichen Schicksale, die in die Messergebnisse nicht miteingegangen sind, ohne die jene aber nicht möglich gewesenwären. Ich will davon berichten, welche Temperaturen dieHand empfand, die das Thermometer aushielt, und wie zit-ternd die Schallabgabe bei der Erprobung eines akustischenPhänomens war, da sie von einem Hilferufenden kam. Ichkann dabei nicht nur auf meine Erinnerung, sondern auch

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dessen Rolle knarrt, wenn man etwas aus ihm herausziehenwill, egozentrisch, ein Gelehrter voller Ecken und Kanten,Schrot und Korn.Am ungenießbarsten ist er, wenn er spricht. Er beherrschtder Grammatik, der Satzlehre und dem Wortschatz nachzwanzig Sprachen, darunter die deutsche, aber wenn erredet, klingt es, als hacke jemand Holz. Modulation erscheintihm als lächerliche Geziertheit, gegen die sich seine Zungesträubt, Wort und Sprache kann er sich nur als Mittel derInformation denken. Würden ihn die Mineralogie und dieangrenzenden Wissenschaften nicht so in Anspruchnehmen, so bin ich sicher, er hätte über kurz oder lang ausseiner Verzweiflung vor der Sprache eine Tugend gemachtund sich ein einfaches Idiom erfunden, ein Desperanto, dasseiner Redefeindlichkeit entgegengekommen wäre, einereine Nachrichtensprache aus einfachsten Bestandteilen. Sostolpert er die Zeilen seiner Vorträge entlang, verheddertund verhaspelt sich, ringt mit dem Wort wie Jakob mit demEngel und läßt es nicht ohne Wunde fahren. Oft bleibt erstecken, und aus dem beabsichtigten geologischen Fach-ausdruck ist ein deutscher Fluch mit griechischem Prä- oderSuffix geworden. Das gab in den ersten Jahren Arger, aberHamburg hatte sich bald an diese Besonderheit gewöhnt,nahm sie als Schrulle und spottete sehr gern darüber. Selbstverständlich versetzt das meinen Onkel in zusätzlicheWut.Nicht nur Worte, sondern auch manchen Stein hat er bei derVorführung seiner Wissenschaft bereits zerschlagen. Unddoch ist dies barsche Genie für die Geologie und Gesteins-

auf eine Anzahl von Notizen zurückgreifen, die ich mirwährend der Reise unter oft ziemlich erschwerten Umstän-den machte.Mein Onkel, der Professor, ist ein Mann von cholerischemTemperament. Sein Aufbrausen hielt sein Haus in Schachund sicherte ihm die persönliche Freiheit und Unabhängig-keit von Alltagsrealitäten wie Nahrung, Kleidung, Geld-verkehr, in der allein fruchtbare wissenschaftliche Arbeitmöglich ist. Seine Lebenshilfen waren Martha, die Haus-hälterin, sein Patenkind Grauben, ein siebzehnjährigesMädchen aus den Vierlanden, und ich, Axel, im wissen-schaftlichen Rang eines Hilfsassistenten, im verwandt-schaftlichen eines Neffen.Otto Lidenbrock wird als schrecklicher Sonderling sterben.Ich hatte früher gedacht, außergewöhnliche Erlebnisse oderLeiden könnten ihn vielleicht ändern und ihn zu normalemVerkehr mit seinen Mitmenschen bewegen, aber wir habendas Äußerste gesehen und erlebt, was ein Mensch erfahrenkann, und dennoch ist er der Alte geblieben.Wenn ich ihn unter dem Datum jenes 21. Mai porträtierensollte, dann müßte ich schreiben: Mein Onkel Otto Liden-brock ist Professor und liest am Hamburger Johanneum überGeologie und Mineralogie, wobei er regelmäßig in Zorngerät. Er nimmt dabei seine Schüler kaum wahr, achtet auchnicht darauf, ob sie Fortschritte machen oder nicht, sondernredet zumeist innerhalb seiner selbst, wütend über auf-tauchende Probleme, die sich nicht sofort lösen lassen, insich gekehrt und geistesabwesend, wenn ihn ein Gedankefesselt, wortkarg, wenn er gefragt wird, ein Wissensbrunnen,

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Zu seinem Wesen gehört die Figur: ein hagerer Mann voneiserner Gesundheit, der durch die blonden Haare um zehnJahre jünger aussieht, als er wirklich ist. Er geht mitEinmeterschritten unter den Menschen einher, was auchbarsch wirkt, und trägt dabei die Hände fest ineinandergefügt auf dem Rücken. Aus seinem Gesicht erwähne ich dieNase, lang und scharf geschnitten, von der in Schülerkreisenerzählt wird, sie sei magnetisch und ziehe Eisenstaub an.Vielleicht ist das nicht mal üble Nachrede, sondern nur einewissenschaftliche Metapher dafür, dass mein Onkel oft undreichlich Tabak schnupft.Auch mit mir verkehrt dieser Mann meistens wenig freundlich, aber es stört mich nicht sehr, denn ich weiß, dasser mich liebt. Ich weiß, dass alle seine Ausfälle nur auf seinehervorragendste Charaktereigenschaft zurückzuführen sind:auf die Ungeduld, die ihn beherrscht. Otto Lidenbrock ver-steht nicht zu warten und versucht selbst der Natur Beine zumachen. Mir wurde das klar, als ich ihn letztes Jahr im April,nachdem er in den Fayencetöpfen seines Salons Reseda undWinden gepflanzt hatte, dabei sah, wie er morgens an denBlättern zupfte, um ihr Wachstum zu beschleunigen.

kunde unersetzlich. Mit einem Hammer, einer Spitzhacke,einer Magnetnadel, einem Lötrohr und einem FläschchenSalpetersäure ist er in der Lage, jedes beliebige Metall nachBruch, Aussehen, Härte, Schmelzbarkeit, Ton, Geruch oderGeschmack zu klassifizieren und in eine der sechshundertbekannten Gattungen einzureihen. Im wissenschaftlichenAusland hat sein Name auch einen ehrenvolleren Klang alsvielleicht gerade am Hamburger Johanneum. HumphryDavy und von Humboldt, Franklin und Sabine besuchtenihn, als sie durch Hamburg kamen. Becquerel, Ebelmen,Prewster, Dumas, Milne-Edwards und Sainte-Claire-Devilleholten sich brieflich bei ihm chemische Auskünfte. DieWissenschaft verdankt ihm eine ganze Reihe von hübschenFunden und ein Buch über transzendentale Kristallographie,das 1853 als Großfolio mit Abbildungen in Leipzig er-schienen war. Davon wurde leider jedoch fast nichtsverkauft, so dass mein Onkel erheblich zuzahlen musste.Was ihm nicht wehtat, da er für Professorenverhältnissereich ist. Das Haus auf der Königstraße gehört ihm, einFachwerkhaus mit gezacktem Giebel, das an einem der vielen kleinen Kanäle liegt, die das älteste Viertel Hamburgsdurchziehen. Es hat den Großen Brand von 1842 glücklichüberlebt, und obwohl ihm das Dach so schief sitzt wie einemStudenten die Mütze, steht es und wird stehen, denn dieUlme, die seine Vorderseite durchwachsen hat und in jedemFrühjahr ihre blühenden Zweige durch die Fensterscheibentreibt, ist ein starker Baum und hält es fest. Außerdem ver-dient mein Onkel als Konservator am mineralogischenMuseum des russischen Gesandten Struve nicht schlecht.

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Schwarte mit vergilbten Buchstaben? «Ei, der Donner!» sagte ich lahm.Lidenbrock entriss mir das Buch wieder, blätterte darin undlobte:«Ja, das liegt in der Hand, das ist ein Format, Axel! Sieh malden Einband! Nach sechs Jahrhunderten noch kein Riß imRücken! Wie edel der Buchblock noch schließt, nirgendsklaffen hässliche Zwischenräume. Und doch, wie leichtschlägt es sich auf, keine verklebten Seiten...»«Was steht denn überhaupt drin?»«Dieses Werk», sagte Lidenbrock und wurde unwillkürlichleise dabei, «ist die Heimskringla des Snorre Sturluson. Indiesem >Weltkreis< ist die Geschichte der norwegischenKönige von der ältesten Zeit bis zum Ausgang des 12.Jahrhunderts verzeichnet. Als Sturluson am 22. September1241 durch Mörderhand auf seinem Gute Reykjaholt fiel,galt er bereits als Meister unter den isländischen Historikernund Skal ... « «Ist es gut übersetzt?»«Übersetzt? Schnödes Wort! Ich halte hier das Original-manuskript in meinen Händen. Es ist Isländisch, das reicheund doch zugleich so einfache Idiom. Und die Schriftzeichendarin sind nicht etwa Lettern, die ein lächerlicher HerrGutenberg erfunden hat, sondern Runen, deren Erfindungauf den Gott Odin selbst zurückgeht!»«Mein Gott!»Ein schmutziges Pergamentstück war aus den Blättern her-ausgefallen und lag am Boden. Mit unbeschreiblicher Gierfiel mein Onkel über diesen Fetzen her. Eine alte Handschrift

Kapitel 2

Ich wollte mich auf mein Zimmer zurückziehen, um für denhastig heimkehrenden Mineralogen nicht zum Stein des An-stoßes zu werden. Es ist den Bewohnern im Hause und demFortschritt der Wissenschaft zuträglicher, wenn sich seineErregung in seinem Arbeitszimmer an Graphiten, Anthra-ziten, Ligniten, Steinkohlen und Torf entlädt. Aber als ich inder Tür des Speisezimmers stand, wo ich mich mit Marthaunterhalten hatte, eilte er bereits durch den Flur, warf denStock mit dem Nußknackerkopf und den wider den Strichgebürsteten Hut nach der Garderobe und rief mir imVorbeigehen zu: «Axel, komm mit!»Ich stürzte ihm nach in sein Kabinett. Dort liegen alleMusterstücke aus dem Steinreich geordnet und etikettiert(zum großen Teil meine Arbeit!) in den Regalen, grob ge-drittelt nach brennbaren, metallischen und steinartigenMineralien. Inmitten des Gesteins steht der Lehnstuhlmeines Onkels, ein kostbares Stück, das mit Utrechter Samtausgeschlagen ist. Darin saß jetzt Lidenbrock und führte mittiefster Andacht ein Buch vor seiner Nase und denBrillengläsern auf und ab. «Welch ein Buch! Nimm und lies!»Ich muss nachtragen, dass Lidenbrock auch ein Büchernarrist. Eine alte Scharteke kann ihn begeistern, und zwar um sostärker, je unleserlicher sie ist.«Erkennst du's? Ein unschätzbares Stück! Ich hab es heutemorgen beim Juden Hevelius entdeckt.» Wahrhaftig: wozu diese Aufregung über eine kalbslederne

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mich mit unmerklichen Schrittchen nach rückwärts in dieNähe der Tür. Aber die unbemerkte Flucht gelang nicht.Plötzlich schlug es auch bei uns in der kleinen Kaminuhrzwei, Martha trat heran und krähte:«Die Suppe ist aufgetragen, Herr Professor.»«Zum Teufel mit der Suppe», schrie Lidenbrock, «zur Höllemit dem, der sie gekocht hat!»Martha floh und ich mit ihr. Im Esszimmer warteten wir einWeilchen am Tisch, aber dann wussten wir sicher, dass meinOnkel an dieser Mahlzeit nicht teilnehmen würde. Wieschade, sie war so vortrefflich. Es gab Petersiliensuppe,Eierkuchen mit Schinken in Sauerampfersauce, Kalbs-nierenbraten mit Pflaumenkompott, zum Nachtisch Meer-krebschen mit Zucker und einen mundigen Mosel.«Der Herr Professor nicht bei Tisch», sagte Martha fassungs-los weinerlich.«Ich esse für ihn mit», versprach ich.«Das hat doch etwas zu bedeuten!» sagte Martha.Ich hatte kaum mit den Krebschen begonnen, als die laut-hallende Stimme meines Onkels mich vom Tisch riss. Ichwarf die Serviette neben den Teller und war mit einem Satzin seinem Zimmer.

in einer alten Handschrift! Kostbarer kann es für einenBüchernarren nicht mehr kommen. Er glättete das Pergament-stück sorgfältig auf dem Tisch. «Was ist das?» fragte er streng.Ich wusste es nicht, und ich gebe die Schriftzüge, die mirdamals wie unverständliches Gekritzel erschienen, hier sowieder, wie sie auf dem Zettel standen; vielleicht möchtesich einer der Leser daran versuchen, bevor er weiterliest:

Lidenbrock sah sich die drei Kolonnen von Schriftzeicheneine Weile an und sagte dann:«Es ist Runisch. Die gleichen Schriftzeichen hat Snorre auchbenutzt.»Mit seinen schmalen langen Fingern malte er die Zeichen inder Luft nach, während er sich auf die Lippen biss. Ich merk-te, wie sein Zorn wuchs, da er die Schwierigkeiten diesesTextes nicht gleich im ersten Anlauf nehmen konnte.«Es ist Altisländisch, verdammt noch mal!»Ich wusste, dass Lidenbrodt diese Sprache beherrschte, aberdoch war er jetzt offenbar nicht in der Lage, den Text zuübersetzen. Während er sich mit dem Zettel in der Handerhob und schnaufend durch das Kabinett ging, brachte ich

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Er hatte eine Idee und griff nach dem Buch. Aber noch ehe eres aufgeschlagen hatte, schob er es wieder beiseite. «Die beiden Schriften sind nicht von der gleichen Hand. Dererste Buchstabe auf dem Zettel ist ein doppeltes M. Der-gleichen kannst du bei Sturluson lange suchen! Es wurdenämlich erst im 14. Jahrhundert ins isländische Alphabetaufgenommen. Zwischen Buch und Zettel liegen also min-destens zweihundert Jahre.» «Das war aber ein scharfer Schluss», sagte ich.«Er bringt mich auf den Gedanken, dass der ehemaligeBesitzer des Buches diesen Zettel geschrieben hat. Verdammtnoch eins! Warum hat er nirgends seinen Namen hinter-lassen?»Lidenbrock griff wieder nach dem Buch, schob seine Brillehoch und setzte eine Lupe ans Auge. Sorgfältig suchte er dieersten Seiten des Bandes ab. Auf der Rückseite des zweitenBlattes blieb sein Blick an einer Art Tintenfleck hängen, der,genau besehen, aus einigen fast erloschenen Schriftzügenbestand. Nach kurzer Zeit hatte mein Onkel entziffert, wasda stand:

«Arne Sacknussemm!» rief er. «Das darf doch wohl nichtwahr sein! Den kenne ich allerdings. Ein isländischer Name,ein Gelehrter des 16. Jahrhunderts, ein berühmter Alchimist.Ah, ihr Alchimisten! Avicenna, Bacon, Lullus, Paracelsus, ihrwart die echten Gelehrten eurer Zeit! Euch sind die wahrenEntdeckungen gelungen, die uns in Erstaunen setzen! Ich bingespannt, Arne Sacknussemm, welche Entdeckung du uns

Kapitel 3

«Es ist Runisch, fertig, aus, basta! Und ich krieg's raus,sonst...» rief Lidenbrock und fuchtelte mit der Hand. «Setz dich hin und schreib!»Ich nahm mir Papier und Feder.«Ich diktiere dir jetzt diese Schriftzüge in den Buchstabenunseres Alphabets. Dann werden wir weiter sehen. Abernimm dich zusammen und schreib richtig!» Er begann jetztziemlich rasch zu diktieren, und ich gab mir alle Mühe mitden drei Kolonnen. Schließlich standen sie in lateinischerSchrift auf dem Papier, waren aber so unverständlich wiezuvor:

m.rnlls esreuel seecJdesgtssmf unteief niedrkekt,samn atrateS Saodrrnemtnael nuaect rrilSaAtvaar .nscrc ieaabsccdrmi eeutul frantudt,iac oseibo KediiY

Mein Onkel riss mir das Blatt aus den Händen, starrte daraufund fuhr mich an:«Was soll das bedeuten?»Ich zuckte die Achseln.«Was soll das bedeuten?» wiederholte er mechanisch. «Dasnennen wir eine Geheimschrift, deren Sinn sich erst offen-bart, wenn man die absichtlich verstellten Buchstabenwieder ordnet!»

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formt. Diese Idee müssen wir finden. Das ist der Schlüssel.»Meine Blicke waren während dieser Rede längst zur Wandgegangen, an der, zur Rechten meines Onkels, ein Miniatur-porträt von Fräulein Grauben hing. Ich liebte dieses Bild undhatte, um es betrachten zu können, mich häufig angeboten,Steine zu sortieren und zu beschriften. Es hing bereits da,bevor Grauben ins Haus des Professors kam, und es hattemich in meiner Phantasie immer gelockt, mit diesem dunkel-haarigen Wesen von blassem Teint zu verkehren. Eines Tages kam Grauben dann zu uns, ein frisches blondesMädchen aus den Vierlanden. Es ist wahr, sie glich demWesen auf dem Bild nicht sehr, vielleicht irre ich mich auch,und das Porträt stellt jemand anderen dar (ich wagte ausScheu niemals, meinen Onkel darüber zu befragen). Sicherist, dass ich die nahe liegende Möglichkeit ergriff, die Liebezur gemalten Grauben auf die lebendige zu übertragen. Stattdes Bildes war sie jetzt die Gefährtin meiner Steinstunden imKabinett des Onkels. Ich weihte sie ein in die wundersameWelt der rhomboedrischen Kristallisationen, der retin-asphaltischen Harze, Gelenide und Molybdate. O welch süsseStunden der Steinstudien, da ich sie lehrte, mit ihrer Finger-kuppe die Bruchfläche eines Quarzes zu prüfen! Ich hätte daQuarz sein mögen, unter diesen Händen wäre ich zumglücklichsten Kieselsäureanhydrid der Welt geworden. Undwie bald besiegte sie mich in unseren heimlichen Spielen, diewir in unserem übermut im Kabinett von Lidenbrocktrieben! Es kam dabei auf Schnelligkeit an. Ich hielt danneinen Stein hoch, etwa einen grüngelben Beryll, und fragte:«Härte?»

in verstellter Schrift mitzuteilen hast.»«Aber woher weißt du, dass er darin über eine Entdeckungberichtet?»«Alles an dieser Mitteilung spricht dafür. Das Leben einesAlchimisten ist voller Entdeckungen. Wovon sollte er sonstberichten? Und hat sich nicht Galilei über den Saturn auch sogeheimnisvoll geäußert? Neinein, keine Widerrede. Wirwerden das Geheimnis dieses Dokuments aufdecken.Vorher eß und schlaf ich nicht!» «Onkel -»«Und du auch nicht!»«Onkel, Onkel -»«Zuerst werden wir feststellen, in welcher Sprache diesesDokument abgefasst ist. Kinderleicht. Es enthält 132 Buch-staben: 79 Konsonanten und 53 Vokale. Der Singsang desSüdens. Alle nördlichen Dialekte sind viel konsonanten-reicher. Also eine südliche Sprache. Aber welche? Kinder-leicht. Sacknussemm gehörte zu den gebildeten Leutenseines Jahrhunderts, und die schrieben lateinisch. Wir dür-fen als selbstverständlich annehmen, dass der entschlüsselteText in Latein geschrieben ist. Hier also verworrenes Latein.132 Buchstaben in vollkommener Verworrenheit. So etwasVerworrenes habe ich überhaupt noch nicht gesehen.Geradezu wirr! Manche Gruppen: nur Konsonanten, rnlls zum Beispiel.Oder sgtssmf! Andere wieder überwiegend aus Vokalen: soeeutul, oseibo, ieaabs. Hm. Natürlich ist das nicht von unge-fähr so. Vielmehr mathematisch genau. Die Gruppen sindnach einem mathematisch ausgeklügelten System gebildet,erst normal geschrieben, dann nach der Chiffrieridee umge-

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i h h k re e , 1 ab r m e u

«Gut», sagte Lidenbrock, als ich aufsah. «Ich will's nichtlesen. Mach erst eine Zeile daraus!»Die sah so aus:

Idzeib ciline hcinen lhceG! ihhkr ee, la brmeu«Wunderbar!» rief Lidenbrock und riß mir den Zettel ausder Hand. «Das sieht schon ganz so aus wie SacknussemmsDokument. Vokale und Konsonanten stehen in ähnlicherUnordnung, Großbuchstaben und Satzzeichen auch hierinmitten von Worten!»«In der Tat.»«Ich kenne den Inhalt deines Satzes nicht, aber ich kann ihnlesen. Ich brauche nämlich nur alle erster., zweiten, drittenetc. Buchstaben eines jeden Wortes hintereinander zu lesen!»Er hob das Papier an die Augen und las recht flüssig:«Ich lieb dich herzlich, meine kleine Grauben! Also, du liebst Grauben.»Ich ärgerte mich jetzt, dass ich so unbedacht geschriebenhatte.«Du liebst also Grauben -» «Nun ja, ich meine -»«Grauben also liebst du. Das ist der Sinn deiner Mitteilung,den ich ohne Schwierigkeit deiner Geheimschrift entnom-men habe. Wie du siehst, ist es kinderleicht. Jetzt verfahrenwir ebenso mit dem Dokument.»Seine Augen sprühten jetzt wahrnehmbar durch die Brille,der Hauptversuch nahte. Die Hand zitterte ihm leicht, als er

Wenn sie dann antwortete: «Härte 7 3/4!», so war das richtig,und sie durfte mich fragen. Und so schwirrte es durch den Raum.«Bruchfläche bei Jaspis?» «Muschelig!« «Katzensilber?» «Muskovitglimmer!» «Katzengold?» «Biotat!»Ja, es war eine fröhliche Wissenschaft, und oftmals lachtenwir herzlich, wenn einer falsche Härtezahlen angab oder garden Türkis unter die Quarze rechnete. In diesem Porträt ander Wand war für mich abgemalt, wie schön das Leben miteiner Frau sein konnte, es weckte nicht nur meine Er-innerungen, sondern verführte mich zu Träumen in die Zu-kunft.Aus diesen Träumen riss mich der Faustschlag, mit demmein Onkel Lidenbrock auf den Tisch hieb.«Ich habe dich gefragt, ob du den Schlüssel hast!» rief er. «Es ist kinderleicht. Normalerweise schreibst du horizontal.Jetzt willst du deinen Text verschleiern. Erster Gedanke:schreibst vertikal. Mal sehen, was dabei rauskommt. Axel,schreib einen Satz, aber nicht in waagerechten Zeilen, son-dern setz die Buchstaben in Gruppen von je fünf oder sechsunter-einander. Hier ist Papier!»Ich begriff und schrieb:

1 d z e i bc i 1 i n eh c i n e n1 h c e G !

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Kapitel 4

Ich hörte Martha unten zetern, die Treppe heraufpoltern undfragen, was vorgefallen sei. Erst das Essen stehen lassen unddann ohne Erklärung weglaufen, das haben Haushälter-innen gerade gern.«Was ist mit dem Herrn Professor?»«Er hat den Oedipuskomplex. Er hat sich in den Kopf ge-setzt, das Rätsel zu lösen, welches sich hinter diesem Ge-kritzel verbirgt. Und bevor er's nicht raus hat, bekommt nie-mand in diesem Haus mehr zu essen.» Die alte Martha gingschluchzend in ihre Küche hinunter. Ich überlegte, ob ichmich vielleicht zu Grauben flüchten könnte, die in jenenTagen bei Verwandten in Altona zu Besuch war. Aber wersollte dann die Sammlung Klapperkiesel ordnen, die einGeologenfreund aus Besangon meinem Onkel geschickthatte? Die Steine lagen noch immer namenlos im Karton.Aber diese Arbeit füllte mich nicht völlig aus. In meinemKopf kreisten die Gedanken um das unverständliche Papier,und nach einer Stunde glühte meine Stirn in einer be-stimmten Unruhe so sehr, dass ich die Klappersteine ließund mich in den Sessel meines Onkels setzte, in dem manauch kühnen Gedanken wohlbehütet nachhängen kann. Ichzündete mir die lange Pfeife an, deren Schmucknymphe amKopf durch die fortschreitende Verkohlung bereits zu einerprachtvollen kleinen Negerin geworden war, ein Vorgang,den ich lange Wochen hindurch mit dem größten Interessebeobachtet hatte. Jetzt sah ich in Gedanken meinen Onkeldie Altonaer Chaussee entlang stürzen, mit den Armen

das Dokument nahm und mir nach einem kurzen Räuspernmit verhaltener Stimme der Reihe nach alle ersten, zweiten,dritten etc. Buchstaben der Worte in den Kolonnen diktierte.

Dabei kamen die folgenden Zeilen heraus:messunkaSenrA.icefdoK.segnittamurtn ecertserette,rotaivsadua,ednecsedsadne lacartniiiluJsiratracSarbmutabiledmek meretarcsilucoYsleffenSnl

Nach dem Diktat war mein Onkel Lidenbrock sofort aufge-sprungen und beugte sich von hinten über mich, um mit mirim Zusammenhang zu lesen, was ich da geschrieben hatte.Offen gestanden: es sah mir nicht sehr sinnvoll und auchnicht sehr lateinisch aus. Da erschütterte ein Faustschlag denTisch, das Tintenfass tanzte, und ich ließ vor Schreck dieFeder fallen. Hinter mir warf mein Onkel die Arme in dieLuft.

«Das ist Mist!» schrie er. «Das hat dir der Teufel diktiert!»Dann schoss er wie eine Kugel durchs Kabinett, die Treppehinab, durch die Haustür und die Königstraße hinunter,wurde kleiner und verschwand.

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nen Schritten zweimal durch das Zimmer. Dann setzte ichmich wieder in den Lehnstuhl und horchte angestrengt undmit weit geöffneten Augen auf Geräusche im Treppenflur.Dann stand ich wieder auf und trat ans Fenster. Ich sah aufdie Straße hinab, ob sie leer sei, dann fixierte ich das Papierauf dem Tisch und ging langsam darauf zu.Mit lauter Stimme las ich den ganzen Text, verstand ihn undwusste, dass ich wusste. Wieder bewahrheitete sich der Satz,dass Wissen nichts ist als des Schrecklichen Anfang, den wirgerade noch ertragen.Was ich hier gelesen hatte, schien mir so ungeheuerlich, sosträflich und undurchführbar, und doch, bei Kenntnismeines Onkels, so drohend gefährlich, dass mein ersterImpuls war, diesen Zettel sofort zu vernichten, zu verbren-nen und das, was ich wusste, in meinem tiefsten Innern zuverschließen und niemals zu verraten. Es waren meinebesten Instinkte, die mich davor warnten, Lidenbrock in denBesitz dieser Nachricht kommen zu lassen. Wenn ihn dervulkanische Gedanke, der in dem Zettel verborgen war, ersteinmal besäße, würde er alles unternehmen, um ihn in dieTat umzusetzen. Und das nicht ohne mich, wie ich genauwusste.Nein! Bei aller Liebe zur Wissenschaft! Das Feuer war derrichtige Ort für diese ketzerischen Gedanken. Ich hatte be-reits beide Papiere vom Tisch genommen, meinen Zettel unddas Dokument des Arne Sacknussemm, um sie im Kaminanzuzünden und zu verbrennen, da trat Lidenbrock wiederherein. Ich hatte gerade noch Zeit, die Papiere wiederzurückzulegen. Er griff mechanisch danach, suchte sich ein

fuchtelnd, Disteln köpfend und die Schwäne scheuchend.Wenn er wenigstens das Blatt mitgenommen hätte, um sichdaran zu erproben.Ich griff mechanisch danach. Ich versuchte, die Buchstabenso zu gruppieren, dass sie verständliche Worte bildeten:unmöglich. Es gelang mir zwar, die englischen Worte iceund sir zu finden, des weiteren die lateinisch anmutendenrota, mutabile, ira, nec und atra. Das Wort tabiled dagegenklang eher hebräisch, mer, arc, mere außerdem französisch.Vier Sprachen zu einem Satzgebilde gemengt? Ich starrte soangestrengt auf das Blatt, dass die Buchstaben vor meinenAugen zu tanzen anfingen und Schweißtropfen auf meineStirn traten. Ich weiß noch, wie es dann geschah. Es gingganz plötzlich; ohne jede Vorbereitung hatte ich dasGeheimnis entdeckt: als ich mir mit dem Blatte Luftzufächelte, las ich kurze Stücke der von mir geschriebenenZeilen durch die Rückseite des Papiers. Es waren ver-ständliche, sinnvolle Worte; der Name Sacknussemm befandsich darunter.Ich war so erschrocken, dass ich das Papier rasch auf denTisch legte und die Augen schloss. Ich besaß den Schlüssel!Mein Onkel Lidenbrock war auf dem richtigen Weg gewe-sen, er hatte bereits alle nötigen Schritte außer dem letztengetan, und den hatte ein Zufall mir gezeigt. Jetzt konnte ichden geheimnisvollen Text lesen, wenn ich wollte. Ichbrauchte nur meine Hand auszustrecken, nach dem Papierzu greifen, meine Augen zu öffnen und zu lesen. Dannwürde ich wissen. Es lag allein bei mir, ob ich es tun würdeoder nicht. Ich stand auf und ging mit absichtlich gemesse-

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holte: >Ich werde es nicht sagen! Ich werde es nicht sagen. Esist in seinem eigenen Interesse. Er würde in seinen Tod rennen. Und ich müsste mir Vorwürfe deswegen machen.Soll er selbst drauf kommen, bitte sehr.<Ich fand diesen Entschluss sehr gut, bis Martha eine Stundespäter auf den Markt gehen wollte, aber die Haustür ver-schlossen war. Mir fielen sofort die Wochen wieder ein, indenen mein Onkel am großen «Lidenbrockschen System derMinerale» arbeitete. Damals hatten die von ihm auferlegtenFasten öfter bis zu 48 Stunden gedauert und waren allenaußer ihm schlecht bekommen. Sollte sich das wiederholen?Gestern Abend kein Abendessen, heute morgen kein Früh-stück? Sollten wir jetzt darunter leiden, dass er den irdischenBedürfnissen entrückt war?Meine erste Reaktion war Trotz. Nun sollte er's erst rechtnicht erfahren. Ehrensache.Gegen Mittag fragte ich mich, ob ich die Wichtigkeit desDokuments nicht vielleicht übertrieb und eine so strikteZurückhaltung gar nicht angemessen war.Um drei Uhr nachmittags kam mir die Idee, dass manmeinen Onkel ja schließlich auch mit Gewalt zurückhaltenkönne, falls er sich wirklich auf das befürchtete Unter-nehmen einlassen wollte. Um fünf schließlich wurde mirschrecklich deutlich, dass mein Onkel ebenso wie ich durchZufall auf die richtige Lösung kommen könne, ohne vorhersämtliche Oktillionen von Möglichkeiten ausprobiert zuhaben ... alles in allem vortreffliche Gründe, nicht länger mitdem am Ende gar nicht so furchtbaren Geheimnis heraus-zurücken. Als mein Onkel gegen Abend aufstand, offensicht-

neues Blatt Papier, nahm die Feder und begann, einen neuenGedanken zur Entzifferung, den er offenbar unterwegs ge-fasst hatte, mit Schriftgruppen, die wie mathematische For-meln aussahen, durchzuspielen. Ich sah ihm dabei zu, undobwohl ich hätte ruhig sein können, da ich das Geheimnisbereits entdeckt hatte und wußte, dass es nur einen Weg gab,der zur Entschlüsselung führte, zitterte ich angesichts dieserwütend betriebenen linguistischen Algebra. Ich bemerkte,dass er versuchte, die Buchstaben systematisch in allemöglichen Verbindungen miteinander zu bringen. In allemöglichen? Ich nahm mir jetzt auch ein Blatt Papier undbegann zu rechnen. Hätte er nur 20 Buchstaben vor sichgehabt, so wären ziemlich genau 2.432.902.008.176.640.000Verbindungen möglich gewesen. Er aber hatte 132. Ich rech-nete nicht weiter, sondern steckte mir mit einigerBeruhigung den Zettel ein, legte mich in eine Ecke des Sofasim Arbeitszimmer meines Onkels und schlief ein.Am anderen Morgen schlug ich die Augen auf und sahLidenbrock in das abgekämpfte, bleifarbene Gesicht, daskaum noch über die Tischkante ragte. Er hatte sich mitfieberhaften Handbewegungen die Haare verwirrt, und diegeröteten Augen verrieten, dass er die ganze Nacht mitRechnen und Ausstreichen, mit Gruppieren und Inter-pretieren verbracht hatte. Er dauerte mich, und ich ertapptemich bei dem Gedanken, seiner Gehirnnot ein Ende zumachen. Das wirkte augenblicklich auf mich wie ein kalterWasserguss, und ich sprang auf. Mein Onkel nahm mich garnicht wahr, als ich mit zusammengepressten Fäusten undZähnen durchs Zimmer ging und mir beschwörend wieder-

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Was auf deutsch heißt:

Steig in den Krater des Snoeffelsjökull, den derSchatten des Scartaris vor den Kalenden des Julibestreicht, kühner Wandrer, und du gelangst zumMittelpunkt der Erde. Das hab ich getan. Arne Sacknussemm.

Als mein Onkel diese Nachricht hörte, gewann sein Gesichtdie Farbe wieder, vor Freude, Kühnheit und Oberzeugungdehnte er die Brust, faßte sich an den Kopf, rüttelte unddrehte ihn, trommelte mit seinem Gesteinshämmerchen aufder Schnupftabakdose und nahm sich wahllos Steine ausden Regalen, um sie in die Luft zu werfen und mit derFußspitze fortzukicken, schlug dem Lehnstuhl und mir aufden Rücken, klepperte mit der Pinzette über die Buchrückenund schleuderte, auf einem Bein tanzend, die Brille um denZeigefinger. Schließlich aber beruhigten sich seine Nervenund er fand Worte. «Wie spät ist es?» fragte er.«Fast sechs am Abend.»«Kein Wunder, dass ich Hunger habe. Zu Tisch!» «Martha muss erst etwas einkaufen gehen, Onkel. Die Türwar -»«Gut, dann packen wir vor dem Essen.»

lich, um das Haus zu verlassen, sprach ich ihn an. Er schienmich nicht zu hören. Die Angst davor, weiterhin einge-schlossen und von jeder Nahrung abgeschlossen zu werden,machte mir Mut.«Onkel, der Schlüssel!»«Was?» fragte er wie ein Mensch, der plötzlich aufwacht.«Ich habe den Schlüssel -»«Den Schlüssel habe ich und damit basta!» sagte er undklopfte sich auf die Tasche.«Nein, vom Dokument!»Jetzt sah er mir gerade ins Gesicht, leicht über die oberenRänder seiner Brille hinweg, er nahm mich beim Arm,unfähig zu sprechen, und fragte mich mit seinem Blick. Ichnickte langsam, während er langsam und ungläubig ver-neinend den Kopf schüttelte. Ich nickte stärker und merkte,wie seine Augen sich vergrößerten, sein Griff fester wurde.Diese narrenhafte Unterhaltung hätte den gleich-gültigstenZuschauer fasziniert. Ich bekam plötzlich Angst davor, dasser mich erdrücken würde.

«Durch Zufall habe ich entdeckt, was die Zeilen auf demDokument bedeuten ...»

Ich langte zur Seite, griff den Zettel und las die Zeilen flüs-sig von hinten nach vorn:

In Sneff els Yoculis craterem kein delibat umbraScartaris Julii intra calendas descende, audaxviator, et terrestre centrum attinges. Kod feci.Arne Sacknussemm.

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Mein Onkel schlug den Band auf und strich mit seinenFingerspitzen leicht über die Karte.«Eine der besten Aufnahmen Islands», sagte er. «Der gutealte Handerson! Wie du siehst, tragen alle hier eingezeich-neten Vulkane den Namen Jökull. Es heißt Gletscher.»Nur allzu rasch fanden wir auch den Snoeffels, knapp unterdem 65. Breitengrad an Islands Westküste: einer der höch-sten Berge des Landes. Ich hoffte für einen Augenblick, derKrater seines Vulkans sei mit glühender Lava gefüllt oderverstopft, aber mein Onkel wußte, dass die letzte Eruption1219 stattgefunden hatte. Auch das Wort Scartaris machteihm nicht die geringsten Schwierigkeiten.«Dir mag das dunkel sein, mir dämmert Licht. Der Snoeffelshat mehrere Krater. Aber nur einer führt der Mutter Erde inden Schoß. Was macht der gelehrte Isländer? Er sieht, dasseine der Bergspitzen, der Scartaris, Ende Juni seinenSchatten bis zur Mündung des fraglichen Kraters wirft. Un-veränderliches Kennzeichen! Genauer geht's nicht mehr. ««Ja, schon gut, geschenkt, zugegeben, Sacknussemms Papierist in sich richtig. Aber dass er selbst diese Reise unternom-men hat und wieder zurückgekehrt ist, das halte ich fürunmöglich!»«Wieso?»«Alle wissenschaftlichen Theorien sprechen dagegen.»«Gräuliche Theorien! Die genieren mich nicht.»«Ich bitte dich. Beim Eindringen in die Erdkugel nimmt dieWärme im Durchschnitt mit je 20 m Tiefe um 1 ° zu. Da derRadius bei über 6.300 km liegt, muss die Temperatur iminnersten Kern 315.000° sein, wenn das Verhältnis der Zu-

Kapitel 5

Nein! Ich wollte nicht. Ich fühlte mich auf dieser Erde wohlgenug und hatte kein Bedürfnis, ihren Mittelpunkt zu sehen.Aber ich wusste, dass ich dem Professor Lidenbrock nur mitwissenschaftlichen Argumenten gegen sein VorhabenEindruck machen konnte. Nach dem Abendessen wurdemein Überblick über die Situation wieder besonders klar.Mein Onkel bedankte sich bei mir für die Hilfe, die ich nichtals Neffe, sondern als Fachkollege geleistet hatte, und ver-sprach, mich an seinem künftigen Ruhm zu beteiligen. Vorallem empfahl er mir völlige Geheimhaltung unseresWissens. «Glaubst du denn, es gibt irgendwo noch einenVerrückten, der imstande wäre, uns zuvorzukommen?»fragte ich.Das war ein deutliches argumentum ad hominem, aber eszog nicht.«Vielleicht ist das Dokument aber gar nicht echt?»«Und das Buch?» fragte er mit überlegenem Lächeln. «Gut,ich gebe zu, dass Sacknussemm das Papier geschrieben hat.Aber stimmt der Inhalt? Hat er die Reise gemacht?»«Das werden wir ja sehen.»«Mir kommt an diesem Zettel manches spanisch vor. Waszum Beispiel soll Jökull, Snoeffels oder Scartaris bedeuten?Das gibt's doch wahrscheinlich gar nicht!» « Jökull istisländisch, Snoeffels auch. Mein Freund August Petermannin Gotha hat mir erst vor kurzem eine Karte geschickt, in derwir das alles finden. Hol mal den dreißigsten Atlas im zweiten Fach der großen Bibliothek, Reihe Z, Brett vier.»

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unterliegen. Folglich zweimal täglich Ebbe und Flut imInnern der Erde. Es würde schwappen. Der Boden müßtesich heben - periodische Beben. Schon mal was davongehört, Herr Neffe? Natürlich nicht. Kommt nämlich nichtvor, gibt's nicht.»«Aber ich denke, die Erdkruste ist so zerrissen, weil sie beimlangsamen Abkühlungsprozess der Erde als erste kaltwurde.»«Irrtum. Die Erdoberfläche war Verbrennungen ausgesetzt,soviel ist sicher. Und von diesen Verbrennungen allein rührtauch die Erdwärme her. Die Oberfläche bestand aus großenMengen Kalium und Natrium, das bei der bloßen Berührungmit Luft oder Wasser in Brand gerät. Nun lass es mal regnen.Wie da die Flammen zischen! Da brechen in der HitzeSpalten in der Rinde auf, das Wasser dringt weiter ein.Bringt neue Schichten zur Entzündung, zur Explosion.Daher die vielen Vulkane in der ersten Zeit nach derEntstehung der Welt. Humphry Davy machte die Probe aufsExempel. Hatte eine Kalium/Natrium-Kugel, das sollte dieErdkugel sein, da goss er Wasser drauf. Gleich schwoll dieOberfläche, oxydierte, bildete ein kleines Gebirge, an derSpitze brach ein Krater auf, ein Ausbruch erfolgte underhitzte die Kugel so sehr, dass man sie nicht mehr in derHand halten konnte. Also: die Hypothesen sind unsicher,eine so gut wie die andere. Nichts ist bewiesen. Deshalb wer-den wir nachschauen. Dann haben wir Klarheit.»

nahme gleich bleibt. Die Stoffe im Erdinnern treten alsglühende Gase auf, da weder Metalle noch Steine einer sol-chen Hitze widerstehen können.» «Axel, du bist ein junger Springer, die Hitze macht dirEindruck und hat dich so verwirrt, dass du die geothermis-che Tiefenstufe schon gar nicht mehr recht kennst. Sie be-trägt im Durchschnitt 33 und nicht 20 m. Was aber ist siewirklich? Eine bloße Zahl. Kein Mensch weiß genau, wie'sda drinnen aussieht. Keiner hat tief genug gebohrt. Immernur angekratzt. Eine Theorie erhebt sich. Eine neue stürzt sieum. Fourier glaubte, die Planetenräume würden immer käl-ter. Unfug. Ist nirgends kälter als -40° bis -50°. Warum nichtauch mit der Wärme? Sie erreicht vielleicht eine gewisseHöhe, und damit gut. Dabei bleibt's dann. Weshalb gleichmehr? 300.000? Glühendes Gas? Poisson sagt, das hätteunsern Erdball mit seinem Druck schon längst auseinandergeblasen. Kein dummer Mensch, Poisson. Eine gewissenotwendige Wärme ja, aber glühendes Gas ist Mist. Gibt'snicht immer seltener Vulkanausbrüche? Na also. Wennjemals Wärme da war, dann nimmt sie ab, wird sehrschwach. Das ist nicht bloß meine Erfindung. 1825 kamHumphry Davy durch Hamburg und besuchte mich. Wirsprachen lange über den Kern der Erde. Tagelang. Aber wirverneinten, dass er flüssig sei aus einem sehr überzeugendenGrund, der übrigens noch keinem anderen eingefallen war:die periodischen Beben fehlen.»«Das ist ein einleuchtender Grund?»«Ja. Ganz einfach. Wäre der Kern flüssig, würde dieseFlüssigkeit ebenso wie das Meer der Anziehung des Mondes

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nach ihrer Hand, als dass sie's für den normalen halb seligen,halb werbenden Griff hätte halten können. So fasst man nachSchürzen, nach Strohhalmen, Rettungsringen.«Axel, was ist dir?» fragte sie. «Ach, Grauben», sagte ich.Hier, in der Wohnstube ihrer Altonaer Tante, über demschokoladenbraunen Kaffee in den großen blauweißenWedgewood-Tassen schien mir die Idee des Onkels so kaltund so grausam wie nie zuvor. Das war Graubens, meineWelt, die wir ehrbar im Tagebau bestellen konnten. Wozusollte ich wie ein Maulwurf unter die Erde? «Ach, Grauben», sagte ich. «Wozu soll ich wie ein. Maulwurfunter die Erde? Aus einem verschlüsselten, geheimenDokument des 16. Jahrhunderts hat der Onkel Lidenbrockerfahren, auf welchem Weg, durch welchen Kratereinstieg,welche Schlünde man zum Mittelpunkt der Erde gelangt.Dieser Alchimist, dieser Sacknussemm hat's getan, und HerrLidenbrock muss seinen Spuren folgen. Und ich, sein Neffe,dein Axel, soll mit unter Tag!»Sie hatte ihre Kaffeetasse abgesetzt und sah mich langeschweigend an.«Axel!» sagte sie endlich.«Grauben, Liebste! Ich wusste, du würdest mich verstehen!»Ich war bei ihr.«Ach, wird das eine schöne Reise! «Ich sprang auf, sprang zurück, stellte mich mit dem Rückenzur Wand bei diesen Worten. «Was sagst du, du?»«Eine schöne Reise, um die ich dich beneide. Die richtige Reisefür den Neffen eines großen Gelehrten. O du, ich bin so stolz.»

Kapitel 6

Nach dieser Ansprache glühte ich im Genie- und im Narren-fieber. Ich konnte das, was ich tatsächlich glaubte, nichtmehr von dem unterscheiden, was mein Onkel Lidenbrockmir eingeredet hatte. Bei dem Gedanken an den Abstieg inden dichtdunklen Schoß der Erde wurde mir das Kabinettmeines Onkels zu eng; ich floh. Die Gassen Hamburgs hatteich bald durchquert und wanderte nun mit langen Schrittendas Elbufer ab, schweifenden Blicks, die Pfeife im Mund. Eineigenartiges Gefühl beherrschte mich und trieb mich an: dieEmpfindung der Kühnheit des Unternehmens zog meinHerz schreckhaft zusammen, die Vorstellung von Kraterlochund Abenteuer ließ es wieder schwellen. Wie tief mochtenwir gelangen? 100 m? 1.000? Durch die Schale hindurch?Und: wo hörte die Wahrheit auf, wo begann der Irrtum?Allmählich nur wurden meine Schritte langsamer, ich sahwieder Einzelheiten in der Landschaft und konnte kühlerüberlegen. Mein in Gedanken halb gepackter Koffer bliebstehen, und das Bewusstsein kehrte mir aus den Abgründenin meinem Innern zurück. Eine gute Stunde nach derGrößenanwandlung erkannte ich, dass ich einen Bogen umdie Stadt geschlagen hatte und nach Altona unterwegs war.Ich begann einen Sinn in meiner Flucht zu sehen und schlugden kürzesten Weg zu dem Hause ein, in dem GraubensAltonaer Verwandte wohnten.Grauben war über meine Ankunft überrascht und freutesich, dass ich sie abholen kam. Aber sie merkte bald, welcheUnruhe mich beherrschte. Ich griff zu oft verstört und heftig

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unterschied im Geschrei die Stimme meines Onkels undzehn anderer Männer. Es waren Packer.«Da kommt der Unglücksmensch!» rief Lidenbrock mirschon von weitem zu. «Du hast kostbare Zeit vertan.Grauben soll dir deinen Koffer, besser einen Reisesack. Unddeine Papiere in Ordnung. Mir fehlt ein Schlüssel.Martha, wasch die Gamaschen!»Grauben war vorausgelaufen, um Lidenbrock zu begrüßen.Ich stützte mich schwer auf Martha. «Also wir reisen ...»«Herr Axel, ist der Herr Professor ...?»«Ja, Martha, ich fürchte, diese Reise hat ihm den Restgegeben.»«Wohin soll's in Gottes Namen gehen?»Ich deutete mit dem Daumen der Rechten nach unten. «In den Keller!» schrie die Alte und schien etwas vom Wahn-sinn dieser Reise zu spüren. Ich ließ mich auf einem HaufenStrickleitern vor dem Hause nieder. Zu meinen Füßen lagenFackeln, Blechflaschen, Haken mit Ringen, Spitzhacken,Spaten und Stöcke. Trotz des Arbeitslärms um mich herumnickte ich rasch ein und wurde halbschlafend von Graubenemporgezogen und an mein Bett geführt. In dieser Nachtträumte ich von Abgründen und Erdspalten, die sichöffneten, von Blasen, die langsam und lautlos an derOberfläche von Schlickseen zerplatzten, ich stieg dieschwärzesten Kamine hinab, auch wiederholten sichPhallträume, die ich schon oft hatte, mit der größten Inten-sität und steigerten sich ins Unendliche, zu einem Fall vonRiesenausmaßen, nach dem ich erschöpft und zerschlagenerwachte.

«Das sagst du, du?»«Ja. Ich finde es schön, wenn ein junger Mann sich durch eingroßes Unternehmen auszeichnet -»O Frau, o unbegreifliches junges Mädchen! Grauben, dieSteinkundige, die Zärtliche, die Vierländerin, mein Inbegriffdes Ewigweiblichen, sie stieß mich hinab. Dieses Kindschickte mich unter die Erde mit Pickel und Hacke, Schippeund Seil, als seinen Ritter, der Ruhm erwirbt, einen PrinzEisenerz des 19. Jahrhunderts. Und die Gefahren, die denhöhlenforschenden Geliebten bedrohten, zählten nicht? Wasgalt ihr eines Toten Spatenruhm? Sie schien an diesemAbend neu beseelt. In ihren Augen stand ein Leuchten, wieich es lange nicht mehr gesehen hatte.«Lass uns heimgehen zum Onkel», sagte sie. «Er wird eineHilfe beim Packen brauchen.»«Aber bis zum 1. Juli ist noch eine Menge Zeit! Bis dahinkann sich noch vieles ändern, vielleicht sogar der Onkel!»Mit der ganzen Strenge ihrer Liebe sah sie mich an, und ichstand wortlos auf. Was sollte ich tun? Wir gingen durch dieAbenddämmerung die Elbe entlang nach Hamburg zurück.Noch war nichts zu befürchten. Vielleicht hatte der mildeAbend meinen Onkel sogar etwas beruhigt. Er würde imBett liegen, sich ordentlich ausschlafen nach den Über-reizungen der letzten Zeit, Martha in der Küche würdeGrauben und mir noch einen Teller mit Broten richten, eineKanne Bier aus dem Keller ... Aber in der Königstraße zeigtesich schon von weitem, dass Graubens Ahnung undAufbruch wirklichkeitsnäher war als mein Elbtraum. Umdas Haus Nr. 28 herum brannten Laternen, es lärmte, ich

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Heiter plaudernd trat Grauben zu mir ins Zimmer und nahmsich meine Reisetasche vor. Sie bemerkte nicht, mit welchemFatalismus ich mich ankleidete, denn sie begleitete jedesStück, jede Socke, jeden Kragen, den sie packte, mit er-klärenden Worten. Hätte ich wirklich zugehört, hätte icheine Menge über Island und vielleicht noch anderes er-fahren.Unten im Esszimmer, wo mein Onkel sein Frühstück hin-unterschlang, entdeckte ich, dass es erst kurz nach fünf Uhrmorgens war. Martha brachte Brote und Kaffee für mich,aber ich kam nicht zum Essen, weil sie ihre Arme um michschlang und um mich weinte. Lidenbrock räusperte sichungehalten, Martha fuhr noch lauter weinend zurück in dieKüche. Grauben begann jetzt mit kleineren Gepäckstückenin den Händen auf und ab zu gehen. Da brach von der Straßeher das Rasseln des Pferdewagens in die Morgenstille. DieKutscher, die uns zum Altonaer Bahnhof bringen sollten,waren da. «Wo ist das Gepäck?» fragte Lidenbrock.«Wo ist es? Ich weiß nicht.» Es war ein verzweifelter letzterVersuch.«In seinem Zimmer, oben», rief Grauben. Sie war schon hin-aufgestürmt. Im Augenblick der Abreise, der danach folgte,sah ich mein Leben deutlich vor mir, und Grauben, jetztmeine Braut, hernach meine Frau, hielt es fest in ihrer Hand.Und wenn ich bis zum Mittelpunkt der Erde stieg: ich konnte sie nicht verlieren.

Ich hörte Graubens Stimme an meiner Tür, obwohl es nochsehr früh am Tag war, wie ich am Licht vor den Fensternerkennen konnte. Sie rief nach mir, um mich zu wecken, undich wankte aus dem Bett. «Axel, mein Lieber», rief sie mich lachend an, als ich die Türeinen Spalt öffnete. «Es geht dir besser, wie ich sehe, dieNacht hat dich beruhigt.» «Beruhigt-», sagte ich tonlos. «Ich habe heut morgen beimPacken mit dem Onkel über die Reise gesprochen. Ich bin sofroh, dass du mit ihm fahren darfst. Er ist ein so kühner,mutiger Gelehrter ...! Er hat mir erzählt, wie er den Abstiegbewältigen will, aber ich konnte gar nicht richtig zuhören,ich musste immer an den Ruhm später denken, von demauch ein Teil auf dich fallen wird, mein Liebster ... Welcheine Reise! Wenn du zurückkehrst, wirst du seinesgleichensein, wirst du frei sein, frei zu reden, frei zu handeln, frei zufreien ...»Hier stockte sie.«Dies also meine Freiheit», sagte ich.Jetzt trat mein Onkel aus seinem Zimmer und kam über den Flur.«Junge, beeil dich», sagte er. «Wenn wir wieder hier sind, istFreizeit genug zum Schwatzen.» «Aber wollen wir wirklich heute reisen? Jetzt ist grad der 26.Mai, und bis zum Juniende -» «Schnack! Glaubst du, nach Island ist so leicht? VonKopenhagen nach Reykjavik geht's nur einmal im Monat.Am 22. Ist schon weg, frag Lieffender & Cie.! Und 22. Juni?Das ist zu spät, dann sehen wir SnefjelsYoculius craterem keindelibat umbra Scartaris nicht mehr. Pack deinen Koffer!»

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tischen auf, wenn er kam, und mein Onkel kehrte sich gegenmich. Am Nachmittag war Lidenbrock zu einem scharfenAnprangerer der Missstände in den Verkehrsministerien undauch den restlichen Abteilungen der Regierung geworden.Ich drängte ihn an die Ufer der Bucht und lenkte, da es mirweniger gefährlich schien, seinen Reformwillen auf die ver-wahrlosten Wege, schiefsitzende Nester im Gebüsch und dieunregelmäßig verteilten Badehäuschen an den herrschaft-lichen Villen im Hintergrund.Die Nacht der Überfahrt war mondlos und stürmischbewegt. Einige Feuer schimmerten an den Küsten,schließlich auch ein Leuchtturm, ich weiß nicht, von wo.Gegen 7 Uhr früh landeten wir an der Westküste von See-land in Korsör. Unser Gepäck wurde sofort umgeladen, undwir bestiegen den Zug nach Kopenhagen. Wieder dieseflache Landschaft, Holstein vergleichbar. Man konntedenken, der Belt sei nur ein großer See, landumschlungen. Indas Schlagen der Waggonachsen mischte sich das Fußtrap-peln meines Onkels, der die ganze Nacht kein Auge zugetanhatte. Dann tauchte zur Linken in der Ferne Wasser auf, zurRechten in der Nähe, unmittelbar, ein ungeheurer Bau, derwie ein Spital aussah, ein Zeichen am Weg. «Der Sund!» rief mein Onkel Lidenbrock. «Das Irrenhaus», erklärte ein Reisegefährte.In Kopenhagen tat mein Onkel über den Direktor desMuseums für Nordische Altertümer, Herrn Thomson, anden er vom hamburgischen Konsul einen herzlichen Em-pfehlungsbrief mitbrachte, rasch eine Möglichkeit auf, nachIsland zu kommen. Die Walküre, eine kleine dänische Korvette,

Kapitel 7

Von Altona, der Hamburger Vorstadt, aus kamen wir nachzwanzig Minuten Eisenbahnfahrt auf holsteinisches Gebiet.Der Zug fuhr nach Kiel. Wir waren unterwegs. Ich versuchtemir vorzustellen, dass wir an den Belt reisten, um dortFerien zu machen. Vor den Fenstern zog eine ungeheureKäche wenig aufregender Ebenen vorbei, einförmig, schlam-mig, nicht sehr fruchtbar. Plötzlich erkannte ich, wie hervor-ragend geeignet die Landschaft zur Anlage von Eisenbahn-linien war. Ich wandte mich ab. Mir gegenüber saß meinOnkel und faltete Sacknussemms Dokument so klein, dass eres im Brustbeutel unterbringen konnte. Der Ferientraumging schmerzhaft zu Ende. Die Unrast meines Onkelsrichtete sich jetzt, nachdem das Dokument einen neuen Platzgefunden hatte, auf die Taschen und Reisesäcke. Er öffneteeinen nach dem andern und kramte ein wenig darin herum.Wir sprachen kein Wort miteinander, obwohl wir alleinsaßen.Aber diese Unruhe in dem Abteil, das die Waggonachsendurch die holsteinische Gegend trugen, war ein noch sanfterWind gegen den Tag, den wir in Kiel zubringen mussten.Lidenbrock hatte zu gut kalkuliert. Der Dampfer nachKopenhagen, die Ellenora, ging erst 9 Stunden nach unsererAnkunft ab. Dieser Tag ist als das neunstündige KielerFieber in mein Gedächtnis eingegangen. Die ersten Stundengelang es meinem Onkel Lidenbrock, die Angestellten derReiseagenturen für seine Unruhe zu interessieren, aber abMittag blickten sie nicht einmal mehr von ihren Schreib-

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die hübsche Brücke aus dem 17. Jahrhundert, das ungeheureGrabmal Thorwaldsens, das Schloß Rosenborg in einemrecht schönen Park, die Börse mit ihrem Drachenschwanz-turm und die großen Mühlen der Festung. Hier, im schatti-gen Buschwerk, in dessen Schoß die Zitadelle Frederiks-haven liegt, deren Kanonen zwischen Hollunder und Wei-dengezweig ihr schwarzes Rohr vorstrecken, dachte ich zumerstenmal wieder an Grauben.Der Glockenturm auf der Insel Amager, die den südwest-lichen Teil Kopenhagens darstellt, erregte als erstes undeinziges Bauwerk die Aufmerksamkeit meines Onkels. Erdrang darauf, dass wir mit einem kleinen Dampfboot dorthinüber fuhren. Vom Quai Dock-Yard aus sind es nurwenige enge Straßen bis zur Frelsers-Kirken, zu welcher derGlockenturm gehört. In den Straßen arbeiteten in halb gelben, halb grauen Hosen Galeerensträflinge unter derPeitsche von Aufsehern. Die einzige Merkwürdigkeit dieserKirche besteht in der Turmtreppe, die sich oberhalb derPlattform außen um die Spitze windet.«Da hinauf!» sagte Lidenbrock. «Das ist es.» «Um Gottes Willen, ich bin schwindelig.» «Deswegen. Jetzt komm.»«Aber Onkel, mein innerstes Wesen hat keineswegs dieUnempfindlichkeit des Adlers -»«Bleib hinter mir. Im Snoeffelsjökull sind keine Treppen. Seifroh, dass du hier welche hast.»«Aber wir steigen dort hinunter, nicht hinauf. Da ist doch einUnterschied!»Auf der inneren Wendeltreppe ging alles ganz gut. Aber

sollte am 2. Juni auslaufen. Der Kapitän Bjarne dachte sichnichts dabei, aber mein Onkel fand die Auskunft großartig,er fiel Herrn Bjarne um den Hals und schüttelte ihm mehr-mals herzlichst die Hand. Bjarne wurde mißtraurisch underhöhte den Fahrpreis. «Recht schön, recht schön», sagte Lidenbrock glücklich undzahlte gleich etwas an. «Wir haben ein Schiff, was brauchenwir mehr. Jetzt wollen wir frühstücken gehen.» Auch dieses Frühstück ist mir in Erinnerung, denn wir fan-den am Kongens-Nytorv Nr. 5 eine kleine Restauration, woder Chef - ein Franzose mit dem Namen Vincent- selberkocht, und dort ißt man sehr gut und nicht einmal teuer, vierMark für ein reichliches Frühstück. Leider hatte mein OnkelLidenbrock bereits Magenschmerzen und war, obwohl ernach Frühstück verlangt hatte, wenig zu schwerem Essenaufgelegt, als wir an den besonnten Tischchen vor demLokal saßen. Er bat schroff um ein Glas Milch und eineScheibe Weißbrot, was Monsieur Vincent wegen derPhantasielosigkeit offensichtlich ärgerte. Ein französischesRestaurant in Dänemark findet man nicht alle Tage. Ich ver-suchte durch meine Bestellung die Scharte wieder auszuwet-zen. Ich freute mich so sehr auf die Stadtbesichtigung, diewir anschließend vornehmen wollten. Aber Lidenbrock ver-darb mir den Spaß. Mit weit ausgreifenden staksigenSchritten und leicht vorgebeugtem Oberkörper (dabei dieHände auf dem Rücken verschränkt) schritt er neben mir herund starrte geradeaus. Ich schreibe hier auf, was wirbesuchten und betrachteten, damit er es nachlesen kann,denn damals nahm er nichts davon wahr: den Königspalast,

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Kapitel 8

Die Walküre hatte für Reykjavik Kohlen, Haushaltswaren,Tongeschirr, Wollkleidung und Getreide geladen. Wirstiegen am 2. Juni, 6 Uhr morgens zu, mit Seilen und Säcken,mit Pickel und Pack. Außerdem mit Empfehlungsschreibenan Graf Trampe, den isländischen Statthalter, an HerrnPictursson (den Koadjutor des Bischofs) und an HerrnFinsen, den Bürgermeister von Reykjavik.«Haben wir günstigen Wind?» fragte mein Onkel denKapitän Bjarne, als er das Deck betrat.«Südost», antwortete der Kapitän.«Das ist die Hauptsache. Nun los!»Viel mehr sprach Lidenbrock während dieser Reise nicht, erhielt sich vielmehr in seiner Kabine unter Deck auf, da ihmschlecht war. Vielleicht hätte ihm die frische Luft gut getan,aber er schämte sich seiner Schwäche und schloss sichdeshalb ein. Der Zweimaster setzte volle Segel und stach inSee. Mein Onkel unter Deck sah nicht, wie die dänischeHauptstadt zurückblieb und sich mit den Fluten des Üre-sunds vermischte, hörte mich nicht flüstern, als wirHelsingör passierten, «ach du erhabener Narrenschatten aufKronborg, es wird dir gefallen, was du hier vorbeifahrensiehst. Der unter Deck und ich steigen in ein tiefes Loch, umzu sehen, was die Welt im Innersten zusammenhält: dasmüsste dich doch interessieren!», und mein Onkel hörtenicht, wie die Segel der Walküre sich mit den Winden desKattegat füllten und das Schiff am Kap Skagen vorbei insSkagerrak drückten. Und mein Onkel sah nicht, wie wir's

sowie wir ins Freie traten, wurde mir schlecht. «Niemals!Nein! Ich steige diese Treppe nicht.» «Sei nicht so feig! Steig!»Aber erst als Lidenbrock mich am Kragen nahm, brachte ichmeine weichen Knie ein paar Treppen höher. Ich spürte dieWindstöße mit dem ganzen Körper und fühlte, wie derTurm mitsamt der Treppe schwankte. Schließlich hatteLidenbrock mich bis zur Spitze geschleift. «Jetzt mach die Augen auf, Neffe», sagte er. «Lerne in denAbgrund zu schauen, ohne zu schaudern.» Unter uns lagen die Häuser platt und zerdrückt am Boden.Über mir standen Wolkenformationen starr am Himmel,eine Landschaft, unter der wir uns in phantastischer Ge-schwindigkeit mit unserem Turm fortbewegten. In der Ferneteilte sich die Welt in braungrüne Felder und blaugrünesMeer, das im Sonnendunst lag. Man konnte einige weißeSegel erkennen. Weiter östlich, kaum zu sehen, entmischtesich aus dem nebligen Dunst das schwedische Festland. Ichsank auf das Treppengeländer und übergab mich.Fünf Tage lang wurde die Anti-Schwindellektion fortgesetzt,und ich lernte dabei, die Dinge von einem höheren Stand-punkt aus zu sehen.

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übrigens der einzige, mit dem ich mich verständigen konnte,denn er sprach wenigstens Latein. Trampe, Finsen und auchFridriksson staunten über die Menge unserer Ausrüstungs-gegenstände. Mein Onkel war nicht bereit, genaue Auskunftdarüber zu geben. «Ein paar Spaziergänge hier, ein paar Klettereien dort. Allesrein privat», sagte er.Fridriksson stellte uns zwei Zimmer in seinem Haus zurVerfügung. Lidenbrock ging mit ihm, während ich be-schloss, mich zuerst in der Stadt umzusehen. Das war eintrauriges Geschäft. Ich hatte Reykjavik und Umgebung nachdrei Stunden durchschaut. Keine Bäume, fast keineVegetation, überall stößt das spitze vulkanische Gesteindurch die Lehmdecke des Bodens. Darauf ducken sich dieHütten der Isländer, einfache Dächer, die auf den Bodengesetzt sind und auf denen durch die Wärme, die sie vonden darunter hausenden Bewohnern erhalten, das besteGras der Insel wächst. Das Städtchen Reykjavik mit seinenzwei Straßen, an denen die Häuser aufgereiht sind, liegtzwischen zwei Hügel eingebettet. Die am Ufer entlangführende Straße ist mit Blockhütten aus rötlichen Holz-balken besetzt, darin wohnen die Geschäftsleute und haltenihre Läden. Die zweite Straße wird von den Häusern desBischofs und der übrigen Bewohner gesäumt. Beide Straßensind düster und trübe, ich sah bisweilen farblose Grassodenauf dem Boden, fleckiges Gemüse auf winzigen Beeten undhängende Levkojen, denen die Sonne fehlte. Die wenigenLeute, die vor den Hütten standen, trockneten und salztenKabeljau mit mürrischem Gesicht. Es sind kräftige blonde

Kap Lindesnes an der Südspitze Norwegens streiften und indie offene Nordsee stachen und hörte nicht, wie die Männerzwei Tage später die schottische Küste ausriefen. Jetzt hieltdie Walküre zwischen Orkney- und Shetland-Inseln auf dieFäröer zu. Lidenbrock sah nicht, denn seine Kabine wardunkel, und er hörte nicht, denn die Trennwände krachtenunter dem Schlag der atlantischen Wellen. Es entging ihmder Anblick der zerklüfteten isländischen Küste vom KapPortland an der Südspitze der Insel bis in die Bucht vonReykjavik an der Westseite, durchbrochene Felsen, welchedas Meer mit schäumender Kraft auswäscht. Als aber dieWalküre anlegte und die Reise beendet war, stieg Liden-brock aus dem Schiffsleib empor an Deck, öffnete nach derlangen Dunkelheit und Konzentration seine Augen, blicktenach Norden, wo sich eine Landspitze mit einem schnee-bedeckten Doppelkegel ins Meer schiebt und die Buchtbegrenzt, und rief: «Der Snoeffelsjökull! Ja, der Snoeffels.»Wir sahen ihm an, dass er in diesem Augenblick wieder-hergestellt war. Am Ufer hatte sich bereits eine Menschen-menge versammelt, denn die Ankunft eines Schiffesbedeutet hier eine willkommene Abwechslung. Mein Onkelfand bald den Baron Trampe und den Bürgermeister Finsenheraus, zwei prächtig uniformierte Herren von höchst zivil-er Zuvorkommendheit, als sie von Lidenbrock die Kopen-hagener Empfehlungspost bekamen. Der KoadjutorPictursson war leider auf Bekehrungsreise in den Nordendes Landes gefahren. Für die netteste Bekanntschaft aberhatten wir keinen Empfehlungsbrief: für Herrn Fridriksson,einen Naturkundelehrer aus der Schule in Reykjavik. Er war

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«Der hat in seiner Heimat genug Bibliotheken. Die beson-dere Situation, in der unsere Bevölkerung lebt, macht es fürsie sehr wichtig, dass sie liest und sich bildet. Das liegt demIsländer auch so im Blut; er gerät gern ins Nachdenken. Wirhaben deshalb bereits 1816 eine literarische Gesellschaftgegründet, die Lesungen veranstaltet und mit bedeutendenGelehrten des Auslands korrespondiert. Wenn Sie wollen ...»Mein Onkel gab durch Handaufheben das Zeichen, dass ereinverstanden war, als korrespondierendes Mitglied dieserGesellschaft anzugehören. «Haben Sie in der Bibliothek übrigens etwas Besonderesgesucht? Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein?»Mein Onkel steckte sich einige Gabeln voll Fisch in denMund, um nicht gleich antworten zu müssen. Ich konnte mirdenken, dass er jetzt scharf überlegte, wie viel er Fridrikssonsagen durfte.«Ahme Msackmussem», sagte er schließlich mit noch halb-vollem Mund. «Ich suche nach Schriften von Arne Sack-nussemm.»«Die Zierde der isländischen Literatur und Wissenschaft!»«Ganz recht. Haben Sie Arbeiten von ihm?»«Nein. Die gibt es weder auf Island noch anderswo.» «Warum nicht?»«Weil er als Ketzer verfolgt wurde und der Henker 1573 inKopenhagen all seine Werke verbrannte.» «Ausgezeichnet!» rief mein Onkel.«Ich bitte Sie!» sagte Fridriksson.«Es passt alles, alles klärt sich, alles gehört zusammen. Natür-lich musste er sein Geheimnis in Geheimschrift, damit die

Menschen, deren Augen gedankenvoll verschwimmen, siebewegen sich schwerfällig, arme Verbannte, von der Naturverdammt, an der Grenze des Polarkreises zu leben, wasihnen als Eskimos leichter gefallen wäre. Manchmal lachtensie, aber ich sah, dass es unwillkürlich war. Die Angesichterder Frauen sind angenehm, aber ausdruckslos. DiesenBoden und die Häuser darauf, die Straßen und die Men-schen darin zu betrachten war für mich eine Beschäftigungvon tiefer Traurigkeit. Hier ist der Friedhof sehr groß.Als ich zu Fridrikssons Haus zurückkam, hatte mein Onkelinzwischen bereits die Bibliothek aufgesucht und warwieder da, ärgerlich, wie mir schien. Wir setzten uns zumAbendessen, und ich bin in der Lage, die Unterhaltung zwischen Fridriksson und Lidenbrodt wiederzugeben, weilmein Onkel deutsche, der Isländer lateinische Sätze in dieRede mischte. «Wie fanden Sie unsere Bibliothek?» fragte Fridriksson. «Wirsind ein bisschen stolz darauf, denn unter den 8.000 Bändensind allerhand wertvolle und seltene altskandinavischeWerke, außerdem natürlich alle Neuerscheinungen, diejedes Jahr aus Kopenhagen herüberkommen... ««Ach was», sagte mein Onkel Lidenbrock wegwerfend,«alles zerrissen, lauter leere Regale!» «Ja natürlich, in den Regalen stehen die Bände nicht! Sie sindausgeliehen, ständig im Umlauf. Man liest hier gern. Wirhaben ja viel Zeit. Alle Fischer, alle Bauern können lesen, dasist hier normal. Weshalb sollen die Schwarten hinter Schlossund Riegel verschimmeln?» «Und der ausländische Forscher, der sich ...»

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«Wir haben kein Schiff mehr hier.» «Bassa Manelka!»«Aber der Landweg ist bei weitem interessanter. Sie müssennur einen guten Führer haben.» «Wüssten Sie einen?»«Vielleicht schon. Er wohnt auf der Halbinsel drüben und istEiderdaunenjäger. ««Wann kann ich ihn sehen?» «Morgen.»«Heute nicht mehr?»«Heute nicht mehr», lächelte Fridriksson. «Morgen.» «Also morgen», seufzte mein Onkel Lidenbrock.

Inquisition ...»«Was für ein Geheimnis?»«Ach was», sagte mein Onkel laut und unwillig. «BloßeSpekulationen. Das soll einen ernsthaften Wissenschaftlerwie Sie nicht anfechten, Professor Fridriksson!» Der Natur-kundelehrer merkte, dass es meinem Onkel unangenehmwar, weiter darüber zu sprechen, und er wechselte dasThema.«Nachdem Olaffen und Povelsen, Troil, Gaimard undRobert, und neulich auch die Gelehrten auf der Fregatte >LaReine Hortense<, sich genauer um die Beschaffenheit un-serer Insel gekümmert haben, werden Sie doch sicher aucheinige mineralogische ...»«Aber sicher, sicher. Ich komme etwas spät, aber es gibt nochgenug zu tun, denke ich.»«Berge, Gletscher oder Vulkane?»«Mir fiel dieser Doppelkegel da auf, als wir heute ankamen.Der Snoeffelsjökull, vermute ich. Kennen Sie ihn?»«Ja, ein merkwürdiger Vulkan. Der Krater ist noch nicht oftbesucht worden.»«Erloschen.»«Seit fünfhundert Jahren.»«Vielleicht schauen wir da mal zuerst rein.»«Wie schade, dass ich Schule halten muss, sonst wäre ichgern mitgekommen.»«Das können Sie Islands Kindern nicht antun!»«Nein, nein, ich sagte ja: schade. Wie wollen Sie übrigenshinüberkommen? Zu Wasser geht's nicht.» «Wieso nicht?»

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Eiderjäger keinen Wert legt. Die Gans kann jetzt ablegen undbrüten und hat ein Jahr lang Ruhe. Da die Eidergänse ihreNester nicht in den steilen Fjordfelsen bauen, sondern aufflach ins Meer laufenden, ist es nicht nötig, dass derEiderjäger sich stark die Glieder verrenkt. Er sät nicht, erntetaber und wird auch satt. Dieser Hans Bjelke verpflichtetesich, uns zu führen, wenn er dafür wöchentlich am Samstagdrei Reichstaler ausgezahlt bekäme. Mein Onkel wollte ihmgleich den Lohn für 3 Wochen geben. Aber Hans Bjelkebestand auf der wöchentlichen Zahlung, und mein Onkelsäckelte die Taler wieder ein.In den nächsten 2 Tagen waren wir vollauf damit be-schäftigt, unser Gerät für das Unternehmen zu überprüfen,sinnvoll zusammenzufassen und zu verteilen. Ich gebe hiereinen überblick über die hauptsächlichsten Werkzeuge, diewir uns mitgenommen hatten, weil sich gerade darüber imBuch meines Onkels keine Aufzeichnungen finden:

1. Ein Eigelsches Thermometer mit Hundertstelgradeinteilung,das bis 150° anzeigen konnte - zu wenig und zu viel, würde ichsagen. Zu viel, wenn es die uns umgebende Hitze wäre, zu wenigzur Messung von Quellen oder anderen geschmolzenen Stoffen.2. Ein Manometer zur Messung des Luftdrucks, denn je weiter wirzum Erdmittelpunkt hinabstiegen, desto größer musste ja der Druckwerden.3. Einen Chronometer (von Boissonas jr. in Genf), der die Zeit desMeridians von Hamburg anzeigte. 4. Zwei Kompasse für senkrechte und waagerechte Messungen.5. Ein Nachtglas.

Kapitel 9

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hörte ich meinenOnkel im Nebenzimmer Dänisch reden. Bisweilen unter-brach ihn eine tiefe, ruhige Stimme. Ich sprang auf, kleidetemich an und ging hinüber.Mitten im Zimmer stand ein großer, kräftig gewachsenerMann mit verschränkten Armen und sah meinen Onkel an,der um ihn herumging und gestikulierte. Der starkknochigeKopf des Mannes trug vertrauen erweckende Gesichtszügemit tiefverständigen blauen Augen. Das Haar war selbstnach englischen Begriffen rot, es fiel ihm bis auf dieSchultern. Er bewegte die Arme beim Reden nicht, wiegtenur, fast unmerklich langsam, mit dein Körper. Er schien mirnicht gerade gleichgültig, aber doch gleichmütig und völligin sich ruhend. Wenn er verneinte, sprach er ein langsames,klares Nein und zog den Kopf einmal von links nach rechts;zur Zustimmung neigte er sich leicht nach vorn.Ich konnte mir zunächst nicht vorstellen, dass der ernste,phlegmatische und wortkarge Mann, Hans Bjelke mit Namen,ein Jäger sein sollte. Aber dann erklärte mir Fridriksson, wasein Eiderjäger ist, und das passte vor-züglich auf den Mann.Anfang Sommer baut die Eidergans in den Fjordfelsen ihrNest und polstert es mit den Daunen aus ihrem Federkleid.Dann kommt der Eiderjäger und Daunenhändler und nimmtdas Nest an sich. Die Eidergans beginnt ihre Arbeit vonneuem. Anschließend ist wieder der Eiderjäger am Zug, unddas geht so lange, bis die Gans keine Daunen mehr hat. Dannübernimmt der Ganter den Nest-bau, auf dessen Federn der

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Einen weiteren Ausrüstungsgegenstand erhielten wir vonunserem Gastgeber Fridriksson geschenkt: die Islandkarte1:480.000 von Olaf Nicolas Olsen, die so viel besser ist als dieHandersonsche. Sie wird von der literarischen Gesellschaftherausgegeben und beruht auf den geodätischen Arbeitenvon Scheel Frisac und der topographischen Aufnahme vonBjorn Gumlaugsonn - für jeden Mineralogen ein kostbaresStück. Es war morgens, 6 Uhr, als wir mit unseren vierPferden aufbrachen. Mein Onkel bedankte sich auf isländisch bei unserem Gast-geber, und Fridriksson rief mir den Vergilvers nach:

Et quacumque viam dederit f ortuna sequamur.

6. Zwei Ruhmkorffsche Apparate, die mit elektrischem Strom Lichterzeugen, tragbar und sicher sind und nicht sehr viel Raum einnehmen.7. An Waffen zwei Karabiner von Purdley More & Co., dazu zweiRevolver vom Modell Colt. Außerdem bestand mein Onkel aufeiner Portion Schießbaumwolle. 8. Zwei Spitzhauen.9. Zwei Hacken.10. Eine seidene Strickleiter.11. Drei eisenbeschlagene Stöcke.12. Hammer, Beil und Nägel.13. Ein Dutzend Eisenkeile und Ringschrauben.14. Ein Knotenstrick, an dein man auf und nieder klettern konnte,rund 90 m lang.15. Ein - gar nicht mal sehr großes - Paket mit Lebensmitteln. Esenthielt für 6 Wochen getrocknetes Fleisch und Zwieback, außer-dem als einzige Flüssigkeit einen Kranawittschnaps.16. Wasser wollte mein Onkel unter Tage in unsere drei Flascheneinfüllen, er hatte sich von der Idee, dass wir Quellen finden würden, nicht abbringen lassen und setzte offensichtlich auchvolles Vertrauen in ihre Trinkbarkeit.17. Eine Reiseapotheke mit gebogenen Scheren, Bruchschienen,Mullbinden, Wunderbse und Aderlaßbecken, dazu Medikamentewie Dextrin, Wundspiritus, Bleiessig, Äther, Essig und Salmiak,alles wenig beruhigende Namen.18. Schießpulver und Zunder.19. Ein lederner Gürtel mit reichlich Gold-, Silber- und Papiergeld.20. Sechs Paar Schuhe, die wir mit Teer und Kautschukwasserdicht gemacht hatten.21. Schnupftabak.

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der Nord- und Ostküste manchmal bis in den Juni oder Julihinein. Die Tierwelt ist arm an Arten, aber reich an Indi-viduen. An nicht eingeführten Landsäugern gibt es nur zwei:den Eisfuchs und eine besondere Maus. 72 Arten Wasser-und Watvögel, 23 Arten Landvögel (davon aber nur dreilokale Rassen), eine kaum nennenswerte Insekten- undLandmolluskenwelt, dafür aber eine reichhaltige Meeres-fauna vervollständigen das Bild. Die wichtigsten Zuchttieresind Schafe, die gutes Fleisch und wertvolle Wolle liefern.Zuweilen haben sie 4 Hörner. Man darf auch das häufigeAuftreten des Hülsenwurms nicht verschweigen, der in denDärmen von 18 % aller Isländer nistet, von der Unrein-lichkeit der Schafzucht und dem innigen Zusammenlebenmit Hunden begünstigt. Bedeutend ist auch die Zucht vonPferden.«Ob du's glaubst oder nicht», sagte mein Onkel Lidenbrock,als wir uns dem Bamsefjord näherten, «kein Tier auf derErde übertrifft das Islandpferd an Verstand. Weder Schneenoch Sturm, weder Felsen nodi Gletscher halten es auf, es istmutig, vernünftig und zuverlässig. Wenn es gilt, einen Flußoder einen Fjord zu durchqueren, stürzt es sich mit demGleichmut einer Amphibie ins Wasser und trägt den Reiterans andere Ufer. Wenn man es nicht anschreit, sondern nachseinem Kopf traben lässt, kommt man mit ihm ohneSchwierigkeiten am Tag 50 km voran.»Der Fjord war an dieser Stelle mindestens einen halbenKilometer breit, das Wasser schlug tosend zwischen denspitzen Felsen hoch, an denen sich die rötlichen Tufflagerdeutlich zwischen den braunen Schichten abhoben.

Kapitel 10

Wir hatten Reisewetter: bedeckten Himmel, ohne Regen-gefahr oder ermüdende Hitze. Es tat mir gut, auf einemPferd durch die Landschaft zu reiten, das gab mir einEmpfinden des Natürlichen und Normalen und ließ michunser wenig geheures Vorhaben bisweilen vergessen. Ich be-trachtete das fremde Land, fühlte mich frei und genussfertigwie ein Ausflügler, und wenn ich an das Kraterloch imSnoeffelsjökull denken musste, schien es mir angesichts derweiten Bai und der mächtigen Felsküste so klein, dass wir eswomöglich gar nicht finden würden.Island heißt Eisland und versteht sich aus der Lage dieserInsel zwischen 63° 24' und 66° 33' nördlicher Breite, 300 kmvon Grönland entfernt. Nur 42.068 qkm von den 104.785 qkmGesamtfläche sind bewohnbar. Im Westen und Nordenschneiden tiefe, im Osten kleinere Fjorde in das Land einund bilden bisweilen ausgezeichnete Häfen. An derSüdküste steigen die Gletscher fast unmittelbar aus demMeer. Mit Ausnahme schmaler Küstenstriche und der aus-gedehnten Flachlandsbucht Faxa vor Reykjavik ist die Inselein Gebirgsland schauderhaft vulkanischer Natur, eineFläche mit aufgesetzten Bergmassen, Kegeln und Kuppen.Basalt und Tuff herrschen vor, Trachyte sind seltener. Diewarmen Quellen stehen im Zusammenhang mit den vul-kanischen Kräften. An nutzbaren Mineralien findet manZeolith, Kalkspat, Kalzedon und auch einigen Schwefel. DasKlima hierzulande ist unbeständig, feucht und, besondersim Osten der Insel, sehr neblig. Das angetriebene Eis liegt an

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Fremdenzimmer. Lidenbrock klopfte beim Durchgehen mitseinem Kopf die Decke ab, denn die Raummaße warennatürlich nicht auf seine Größe angelegt. Der Raum, in demwir schlafen sollten, erhielt sein spärliches Licht durchFenster aus Hammeldarm. Es war kalt, denn der einzigeRaum, der in diesen Hütten geheizt wird, ist die Küche. Wirlegten unser Gepäck auf dem Fußboden aus gestampfterErde ab und besahen kurz die Betten: aufgeschüttetes Moos,dessen hölzerner Verschlag rot bemalt war und den verlock-enden Spruch trug: «Nur ein Weilchen im Moose sittsam,bescheiden und rein.» Der Duft des trockenen Mooses mis-chte sich mit dem Geruch getrockneter Fische, desPökelfleisches und der sauren Milch in der Speisekammerund prägte sich meiner Nase deutlich ein.Wir wurden in die Küche eingeladen, deren Einrichtung sichseit Jahrhunderten nicht geändert hat: ein großer Stein alsFeuerstätte in der Mitte, darüber das Deckenloch als Rauch-abzug. Hier war es warm, hier hielt man sich tagsüber auf,aß und saß miteinander. Beim Eintritt kam der Hausherr aufuns zu, grüßte uns mit den Worten «Saell ver tu!», seid glück-lich! Dann küsste er uns auf die Wange. Nun trat die Frauheran, sagte das gleiche und küsste uns ebenfalls auf dieWange. Anschließend wimmelten 19 Kinder über uns her,blond und blauäugig, Engel mit schmutzigen Gesichtern, die«Saell ver tu» krähten und Küsse verteilten. Die kleinerenbeherrschten nur das Küssen und schrieen zur Begrüßung.Mein Onkel und ich waren bald mit Kindern überladen. Ichglaube, dass Lidenbrock besonders froh war, als das Essenangekündigt wurde und Stille eintrat. Da öffnet sich die Tür,

Lidenbrock machte alle Anstalten, diesen Meeresarm aufdem Pferderücken zu überqueren.«Wenn es mit dem Verstand dieser Pferde wirklich so weither ist, schwimmen sie da nicht durch», sagte ich. «Unfug!» rief Lidenbrock ärgerlich. Er galoppierte ans Uferhinunter, mit seinen langen Beinen fast auf dem Bodenscharrend und in der Entfernung einem sechsfüßigen Ken-tauren immer ähnlicher. Das Tier ließ sich bis auf die Flucht-distanz an das schäumende Wasser treiben, dann blieb esstehen. Entgegen der Behauptung meines Onkels, die erwahrscheinlich in irgendeiner Schwarte über Island gelesenhatte, entwickelte das Pferdchen keinerlei amphibischeZüge, sondern blieb mit dem Gleichmut eines Maulesels aufder Stelle stehen, bewegte sich nur, um auszuschlagen, alsmein Onkel die Peitsche schwang. Schließlich ging es sanft indie Knie, machte sich unter meinem Onkel dünn und ließLidenbrock wie den Koloss von Rhodos auf zwei Felsstückenüber dem Wege stehen.Wir legten an diesem Tag 40 km zurück und kamen bisGardär, wo wir übernachten wollten. Hans hatte das so be-stimmt. Die Hütte eines Bauern nahm uns auf, und dieseNacht wird mir im Gedächtnis bleiben. Anders als beimNaturkundelehrer Fridriksson, der recht mitteleuropäischlebte, trafen wir hier mit den Lebensgewohnheiten derEingeborenen zusammen. Wir hatten kaum vor der Hütteabgesessen, als der Bauer heraustrat, uns die Hand gab unduns folgen ließ. Ein schmaler, dunkler Gang enthielt dieZugänge zu allen vier Räumen der roh gezimmerten Hütte:der Küche, der Webwerkstatt, dem Schlafraum und dem

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wir unvermittelt einem dieser G-espenster. Die Gestalt trugeinen haarlosen geschwollenen Kopf, der ganze Leib war mitglänzender Haut überzogen, die nur von grauenhaftenWundkratern durchbrochen wurde. Das Wesen erhob sichschwarz und starr über der öde der Landschaft, und Hansgrüßte ein langsames «Sa:ll ver tu!» hinauf. Der Aussätzigeantwortete nicht. Der Anblick und die damit verbundenenGedanken ließen mir die Landschaft noch trauriger er-scheinen. Die letzten Kräuter starben mittlerweile unter un-seren Füßen, Zwergbirken blieben hinter uns zurück,einzelne Pferde, die ihr Herr nicht mehr füttern konnte, trabten über die düstere Ebene, und hoch über unsflogen Falken nach Süden. Ich wünschte, ich wäre zu Hausegeblieben.Am 19. Juni bekamen wir über eine Strecke von 10 kmLavagrund unter die Füße; wie Ankertaue verdreht durch-zog der Ausfluss den Boden, letzte Rinnsale eines unge-heuren Stromes. Der Qualm heißer Quellen drang anmanchen Erdritzen durch. Wir ritten bereits nach Westen,die Faxa-Bucht war umgangen, in rund 50 km Entfernungragte der Snoeffelsjökull mit seiner weißen Doppelspitzeempor. Die runzligen Rücken der Bergmassive mischten ihrGrau am Horizont mit dem Grau des Nebels, der von Ostenher die Insel überzog; bisweilen blitzten Schneestreifendaraus hervor, die das Streulicht sammelten und schim-mernd auf die Abhänge darüber warfen. Einzelne Spitzendurchstießen das niedrig hängende Gewölk und kamen ausden gleitenden Dunstmassen als helle Klippen vor demklaren Himmel wieder zum Vorschein.

und Hans kam herein. Er hatte inzwischen die Pferdebesorgt.«Saell ver tu» rief er, und daraufhin wiederholte sich, wasuns bereits geschehen war: der Hausherr trat ruhig auf ihnzu, um ihn zu küssen, trat dann zurück, um die Frau her-antreten zu lassen, um ihn zu küssen, die auch zurücktrat,um die Küsse der Neunzehn an ihm hochbranden zu lassen.Nun setzten sich die Erwachsenen, und auf die Erwachsenensetzten sich die größeren Kinder und auf die größerenKinder setzten sich die mittleren Kinder und auf die mittlerenKinder setzten sich die kleinen Kinder. Als der Hausherr denDeckel vom Suppentopf abnahm, wurde es sehr still, manhörte das Knistern des Feuers. Es war Moossuppe (gar nichtübel), und danach gab es getrockneten Fisch, in zerlassenerButter gebraten, und Dickmilch, Zwieback und Wacholder-beerensaft als Beilage. Dazu tranken wir Blanda, Molke mitWasser vermischt. Weizenmus war das Dessert.Nach der Mahlzeit, die ordentlich sättigte, nahm die Kinder-fülle in der Küche langsam ab, der Mann schürte die Glut aufder Feuerstelle, wo Torf, dürre Zweige, Kuhmist undFischgräten brannten, und die Frau wollte uns Strümpfe undHosen ausziehen, wie es Landessitte war. Wir lehnten stand-haft und höflich ab. Um 5 Uhr am nächsten Morgen reistenwir weiter. Schon 100 m von der Hütte entfernt wurde dieGegend wieder sumpfig und öde. Trotz der zunehmendenVerlassenheit schien es uns manchmal, als bewege sich hierund da ein menschliches Wesen zwischen den graukaltenFelsblöcken. Als wir bei einer Umgehung etwas weiter vonder Küste abkamen und ins Land hineingerieten, begegneten

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Kapitel 11

Der Stapi-Fjord, an dein sich rund 30 Hütten im kaltenSonnenlicht ducken, das der Berg reflektiert, ist von einermerkwürdigen basaltenen Kaimauer eingefasst. Bekanntlichbildet der Basalt, ein braunes vulkanisches Gestein, oftFormen von überraschender Eigentümlichkeit. Die Naturformt ihn nach den Gesetzen der euklidischen Geometrie,ganz im Gegensatz zu ihren üblichen Gewohnheiten.Während sie sonst ungeordnete Massen aufwirft, in denenman keinerlei Regelmäßigkeit entdeckt, sieht ihre Arbeit hiernach Winkelmesser, Zirkel und Senkblei aus, ein Muster anEbenmaß, das weder von babylonischen noch von griechi-schen Wunderbauten übertroffen wird. Der Damm derRiesen in Irland und die Fingalsgrotte auf einer derHebriden sind andere Beispiele, ich hatte von ihnen redenhören. Hier in Stapi aber sah ich ein solches Naturbauwerkzum ersten Mal mit eigenen Augen.Dieses Ufer von fremdartiger Schönheit besteht aus einerlangen Reihe fast 10 m hoher Basaltsäulen, über denenbasaltene Architrave liegen, die zum Wasser hin leicht vor-springen. Eine Reihe von diesen Öffnungen, die dadurchentstanden, schien mir hervorragend durchgebildet undklassisch schön. Die Wogen schäumten unter diesenArkaden hindurch und hatten bereits viele Säulen zerstört.Die zersprungenen Basaltblöcke lagen am Grunde des Fjordsverstreut wie auf einem antiken Trümmerfeld.Dieser Ort also war die letzte Etappe unserer Reise auf offen-em Land. In dem Pfarrhaus, vor dem wir Halt gemacht hat-

Am 20. Juni übernachteten wir bei Verwandten unseresFührers in Büdir. Am 21. ging der Ritt bereits über die granitenen Wurzeln des Snoeffelsjökull, die aus der Erdetraten wie bei einer alten Eiche. Wir umgingen den Fuss desVulkans und kamen gegen Mittag vors Tor des Pfarrhausesin Stapi. Der Gipfel, den wir ersteigen wollten, stand jetztunmittelbar über uns.

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«Und wo bringen wir dann die Nächte zu?» fragte ich. «In der Wand», sagte Lidenbrock kalt. Am nächsten Morgen redete er kurz mit unserem FührerHans Bielke und erklärte ihm, wohin die Reise gehen solle.Hans nickte dazu nur. Ich war niedergeschlagen, als Liden-brock mir von diesem für ihn erfreulichen Gespräch be-richtete. Bislang hatte ich noch auf die gesunde Vernunftund das unspekulative Wesen unseres Führers vertraut,hatte gehofft, ich könnte mich mit seinem Widerstand gegenmeinen Onkel stellen und so vor dem Äußersten schützen.Jetzt aber kam ich mir verlassen vor, fast wie verraten. Ichversuchte ein letztes Mal, mit meinem Onkel zu reden undihm ein Argument vor Augen zu führen, das meinerMeinung nach ganz beachtlich wog. «Du willst auf den Snoeffelsjökull», sagte ich. «Respekt. Duwillst in den Krater hinabsteigen; auch schön. Man hatdavon gehört, dass andere dergleichen überlebten. Aber nunwillst du auch noch in das verfluchte Loch hinab, das dieSonne dann und dann beleckt, in das dieser Sacknussemmangeblich eingestiegen ist. Das bedeutet, dass wir uns in denunterirdischen Gängen eines Vulkans verlieren, von demniemand weiß, wann er wieder ausbrechen wird! ««Der Gedanke kam mir auch schon», antwortete Lidenbrock.«Ich habe keine Lust, da oben plötzlich als Schlacke wiederherausgeflogen zu kommen», sagte ich. «Empedokles warein schlechter Geologe.»«Wir dürfen nicht tollkühn sein, das ist mir klar», antwortetemein Onkel bedächtig. «Seit wir in Stapi sind, denk ich da-rüber nach. Hab auch Leute gefragt. Hab den Boden be-

ten, sollten wir noch einmal übernachten, dann drohte derAufstieg; an den Abstieg mal gar nicht zu denken.Wir sahen im Hof des Hauses einen Mann in ledernerSchürze ein Pferd beschlagen. «Pfarrer», sagte Hans.«Saell ver tu, Kyrkoherde!» rief mein Onkel Lidenbrock überdas Tor. Der Mann hämmerte weiter, ohne aufzusehen.Hans trat jetzt ein, ging auf ihn zu und trug ihm unsere Bitteum ein Nachtlager vor. Auch dabei ließ der ledergeschürztePfarrer das Hämmern nicht. Er stieß lediglich einen kurzenSchrei aus, auf den eine fast zwei Meter große Furie aus demHaus kam. Ich erschrak gründlich beim Anblick dieser Frauund dem Gedanken an den isländischen Begrüßungsritus.Sie aber war so unfreundlich, dass sie gar nicht ans Küssendachte. Meine Angst verflog rasch. Das Fremdenzimmerroch übel, war eng und starrte vor Schmutz. Gastlichkeitkannte man in diesem Hause nicht. Bevor es Nacht wurde,hatte sich der Pfarrer als Grobschmied, Roßtäuscher, Fischer,Jäger und Zimmermann entpuppt, aber der geistliche Herrließ auf sich warten. Nun war's allerdings ein Werktag; beidem geringen Gehalt, das die dänische Regierung einemPfarrer dort oben zahlt, konnte es gut sein, dass er die sanften Sitten nur sonntags aus dem Schrank holte. An denWerktagen musste er für seinen Lebensunterhalt arbeiten,als Fischer, Jäger, Roßtäuscher und Zimmermann eben, danimmt man gewisse Sitten an. Das Sein bestimmt das Be-wußtsein, gewiss. Als der Mann gegen Abend auch noch zutrinken anfing, war das Maß voll, und mein Onkel Liden-brock erklärte, dass wir bereits am übernächsten Tag ab-reisen würden.

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men jeder ein Gewehr, eine Patronentasche und einen Stock,das übrige Gepäck teilten sich die 4 Isländer. Hans hattenoch einen Wasserschlauch besorgt, der zusammen mit demInhalt unserer Gürtelflaschen die Trinkwasserversorgungauf 8 Tage sicherstellte. Wir wollten uns jetzt endgültig vonallen Menschen entfernen und konnten auf niemandes Hilfemehr rechnen. Am Tor stand der Pfarrer mit seiner Frau.Mein Onkel streckte ihnen die Hand entgegen. Der Pfarrerdrückte ihm eine gesalzene Rechnung darein. Es war einGefühl wie in der Schweiz.

obachtet. Es steht kein Ausbruch bevor.» Er sah wohl, wie wenig mich diese Versicherung befriedigte,denn er bat mich jetzt, mit ihm zu kommen. Er führte micheinen Weg entlang, der durch eine Öffnung der Basaltwandam Ufer ins Land hineinführte, und machte vor einemgroßen Feld, das mit vulkanischem Auswurf bedeckt war,halt.Ich sah an verschiedenen Stellen Rauchwirbel emporsteigen,das sicherste Zeichen für vulkanische Tätigkeit. Es klangdeshalb verblüffend, als mein Onkel mit einem Hinweis aufdiesen Rauch aus der undichten Erde sagte: «Da siehst duden Beweis, dass wir vom Snoeffelsjökull nichts zu be-fürchten haben. Der Berg ist seit 600 Jahren stumm. Aber werAugen hat zu sehen, der weiß! Vor jedem Ausbruch nehmendie Rauchabsonderungen zu. Während der Berg speit, bleibtder Rauch dann aus. Und sie sind seit langem gleich, ichhabe mich umgehört. Das Wetter ist außerdem regnerisch, esgeht Wind. Also haben wir keinen Ausbruch zu befürchten.Sonst wäre nämlich die Luft ruhig und drückend.» «Aber das sind doch höchst ...» Die Wissenschaft hatte mein letztes Argument zerstört. Jetztblieb mir nur noch eine geheime, tief und mit Inbrunstgehegte Hoffnung: dass das Loch auf dem Kratergrund zu,verschüttet oder überhaupt nicht da wäre, wenn wir hin-abgestiegen kamen. Dass die ganze Verführung durch Sack-nussemm sich als böser Traum enthüllte! Dass ich heim-kehren könnte ... Am Freitagmorgen, 23. Juni, stand Hans mit drei Trägernvorm Haus und erwartete meinen Onkel und mich. Wir nah-

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Nach dem Basalt waren Lava, Aschenregen und Schlacken-hagel ausgeschleudert worden, auch aus dieser Zeit hingendem Snoeffels noch lange Strähnen wie wallendes Haar umdie Kraterränder. Wer diese Zeichen sah und glaubte, auchnur 100 m unter die Erdoberfläche dringen zu können, ohnesich gewaltig die Finger zu verbrennen, war ein Narr.Mein Onkel drängte vorwärts. Er hatte beim Frühstück dop-pelte Portionen gegessen, weil er hoffte, dann doppelt soschnell voranzukommen. Zum ersten Mal war er über Hansin Aufregung getragen, weil unser Führer eine ganze Stunderastete und den Trägern Gelegenheit zum Ausruhen gab. Ichwusste nicht, was ich von des Isländers schweigenderSicherheit halten sollte. Als ich entdeckte, dass er bisweilenSteine auflas und sie auf ganz bestimmte Art und Weisezusammenlegte, um Zeichen für den Rückweg zu setzen,nahm meine Hoffnung auf ein rasches Ende des Abenteuersnoch mehr zu. Der Anstieg führte oft über Hänge, die min-destens in einem Winkel von 36° steil anstiegen und die nurmit gegenseitiger Hilfe zu erklimmen waren. Dazu kam derGrimm über die ständig narrende optische Täuschung, diemir den Gipfel in aller Nähe erscheinen ließ, und das er-müdende Leertreten auf rutschenden Steinen der Geröll-felder - ich hatte alle Lust, wieder umzukehren. Aber balderleichterte eine merkwürdige Erscheinung unseren Anstieg.Innerhalb der Schneeregion begann eine Art Treppe, die unsbis zum Abend über 2.000 Stufen hinaufführte. Sie war beieinem der Ausbrüche entstanden und bestand aus Stein-bruchstücken, die der raue Boden des Berges am Hinab-rollen gehindert hatte. Gegen 19 Uhr abends standen wir 1.000m

Kapitel 12

Je höher wir den 1.437 m hohen Snoeffels hinaufkamen,desto ruhiger wurde ich bei dem Gedanken an den Ausgangunseres Abenteuers. Ich war überzeugt, dass es in spätestenszwei Tagen zu Ende sein würde. Der Aufstieg durch dieLava- und Geröllfelder war eine einzigartige Lektion überden vulkanischen Ursprung der Insel, über das aus Feuergeborene Eisland, nach der überhaupt keine Zweifel mehrdaran bestehen konnten, dass noch ganz knapp unter derBodendecke die glühenden Massen am Brodeln waren.Bevor die Vulkane aufbrachen, war Island ein BrockenTrapp, den der Druck aus dem Erdinnern langsam über dieFluten des Nordmeers hob. Dann riss die Insel von Süd-westen nach Nordosten ein, und Magma kam aus dem Spaltgeflossen und überzog das Land in breiten Strömen. BeimErkalten dieser Massen entstanden Feldspate, Syenite undPorphyre.Die Insel hatte nun an Umfang beträchtlich zugenommen,aber auch der Widerstand ihrer Oberfläche gegen den Druckvon innen war stärker geworden. Nach und nach wurde dieGewalt, mit der die eingeschlossenen Flüssigkeiten zumAusbruch drängten, so stark, dass sie sich durch die dün-neren Stellen der Erdrinde Kamine brach, durch welche dieglühenden Massen herausschossen. Von den Basaltaus-brüchen, die dann folgten, sah man noch jetzt die Reste aufden ansteigenden Hängen des Snoeffels. Wir umgingen undüberkletterten wuchtige graue Felsblöcke, die beim Erkaltendie Regelmäßigkeit von Oktaedern angenommen hatten.

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der Anstrengung und der verdünnten Luft geschwächt undvon der Kälte zerbissen, glitt ich über den Kraterrand undsah dabei für einen kurzen Augenblick die Mitternachts-sonne an der niedrigsten Stelle ihrer Bahn, von wo sie ihrebleichen Strahlen auf die Insel zu unseren Füßen warf.

über dem Meeresspiegel im ewigen Schnee. Es war grimmigkalt, da wir, einem scharfen Wind schutzlos ausgeliefert, amBerghang klebten.Mein Onkel sah, dass ich kaum noch konnte, und gab dasZeichen zur Rast. Aber Hans schüttelte den Kopf unddeutete zum Kraterrand hinauf.«Warum?» fragte mein Onkel.«Mistour», sagte Hans.«Ja, Mistour», wiederholte einer der Träger schüchtern.«Was heißt das?» fragte ich.Mein Onkel hatte verstanden und zeigte hinab in die Ebene.Dort bildete sich eine riesenhafte Säule aus Bimssteinpulver,Sand und Staub, die der Wind zweifellos auf den Abhangdes Snoeffels treiben würde, an dem wir uns befanden.Schon jetzt fiel ihr Schatten, da sie bis zur Sonnenscheibehochragte, an den Fuß des Hanges. Wenn wir in diesenWirbel gerieten, waren wir verloren.«Hastigt!» rief unser Führer.Ich verstehe kein Dänisch, aber was das hieß, war mir klar.Wir folgten ihm und beeilten uns, den Kraterkegel zu um-gehen, und wir hatten es auch kaum geschafft, als dieTrombe auf den gegenüberliegenden Hang niederging undmit der Wucht ihres Gesteinhagels den Berg zum Dröhnenbrachte. Ohne die Vorsicht von Hans hätte sie unsere Körperzerfetzt und wie Meteorstaub in der Ferne niedergehenlassen.Hans wollte nicht, dass wir die Nacht an der Außenseite desKraters zubrachten. Wir bewältigten bis Mitternacht diefehlenden 400 m im Zickzack-Anstieg; ausgehungert, von

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Und Hans bekam seine drei Reichstaler.Der Krater der Snoeffelsjökull hatte hier oben einen Durch-messer von rund 5 km, war vielleicht 600 m tief und maß amBoden höchstens 300 m im Durchmesser - der Abhang, denwir jetzt hinabzusteigen hatten, fiel also recht sanft. Trotz-dem fand ich am Gedanken des Abstiegs nichts Erfreuliches.Dieser Trichter kam mir, seinem Aussehen und seinemWesen nach, wie das riesig vergrößerte Rohr einer alten Donner-büchse vor, die jeden Augenblick mit ungeahnter Gewaltlosbrechen und uns alle in Stücke reißen konnte.In ellipsenförmigen Windungen führte uns Hans hinab. Oftmussten wir stehen bleiben, um angestoßene Steinehinabrollen zu lassen und zu warten, ob die Erschütterungenund die Vibrationen des lauthallenden Echos keine weiterenlösten. Ober die nach innen hängenden Gletscherzungenstiegen wir nur angeseilt, und Hans, als erster, prüfte mitseinem beschlagenen Stock Schritt um Schritt.Mittags gegen 12 Uhr waren wir unten. Ich blickte zurKratermündung hinauf und war erstaunt darüber, wie kleinmir das Stückchen Himmel schien, das sie umschloss. DieScartarisspitze ragte an einem Punkt über den Rand deroberen Krateröffnung. Meine Hoffnung auf verschlosseneSpeilöcher hatte sich nicht erfüllt. Am Boden des Kratersöffneten sich 3 Kamine, die weiter in die Tiefe führten undaus denen vor 600 Jahren zum letzten Mal die Eruptionengeschossen waren, jeder etwa 30 m im Durchmesser. Ichwagte mich nicht heran, sondern ließ mich mutlos nebenHans und den drei Trägern auf Felsblöcken nieder zumSitzen. Mein Onkel hüpfte unterdessen wie ein wilder

Kapitel 13

Am nächsten Morgen, am Samstag, 24. Juni, sah ich, wo wirgelandet waren. Tief unter uns zogen sich die Täler undFlüsse hin, die Ufer erschienen durch eine optische Täuschungviel höher zu liegen als der innere Teil der Insel. Zu meinerRechten reihten sich Gletscher und Gipfel, aus denenzuweilen dünne Rauchfäden zum Himmel zogen. Aus demglatten, ruhenden Ozean, so schien es mir, stieg ein stür-misch bewegtes Meer von Gletschern und schneeiger Gischtauf, das mitten in seiner Bewegung erstarrt war. Weit untenim Westen verschwamm das Wasser im Morgendunst mitdem Himmel. Bei diesen glücklichen und berauschtenBetrachtungen trat mein Onkel neben mich. «Siehst du das?» fragte er und deutete auf eine undeutlicheErscheinung am Horizont. «Ein Nebelstreif.»«Grönland!» «Grönland?»«Ja. Gar nicht weit, wie? 35 Stunden. Eisbären machen dieReise öfter. Kommen auf Eisblöcken sitzend nach Island. Naegal: wir stehn jetzt endlich auf dem Scartaris.» Jetzt war auch Hans neben uns getreten und grüßte durchein leichtes Nicken mit dem Kopf. «In den Krater!» rief mein Onkel und schlug Hans und mirauf die Schulter. Unser Führer aber streckte bedächtig seine Hand vor undsagte: «Es ist Samstag, Professor Lidenbrock.» «Und?» fragte Lidenbrock verblüfft. «Zahltag, Onkel!» mahnte ich leise.

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worden. Ich begriff sofort warum. Sacknussemm war nur ineinen der drei Kamine zu unseren Füßen hinabgestiegen,und zwar in den, dessen Rand «der Schatten des Scartaris inden letzten Junitagen küßt». Aber um einen Schatten zu werfen braucht ein Berg Sonne, und die war von Wolkenverdeckt. Sofort stellte sich meine Hoffnung wieder ein. Wirhatten den 25. Juni. Wenn der Himmel 6 Tage lang bedecktblieb, war ich gerettet!Der Tag verstrich in düsterem Licht, ohne dass wir ein Wortmiteinander sprachen. Auch am 26. Juni zog der Morgengrau herauf. Am späten Vormittag fiel Schneeregen, undHans ging daran, eine Hütte aus Lavabrocken zu bauen. Am27. Juni blieb der Himmel ebenfalls bedeckt, und mein Onkel be-gann Gotteslästerungen auszustoßen. Hilft Gott auch nicht zujeder Frist, so hilft er doch, wenn's nötig ist, dachte ich mir.Aber diesmal war er auf der Seite meines Onkels. AmMittwoch, dem 28. Juni, brachte der Mondwechsel auch denWitterungswechsel mit sich. Die Sonne strahlte, und derSchatten vom Scartarisgipfel fuhr wie der Zeiger einer riesi-gen Sonnenuhr unmerklich langsam über den Kraterboden.Mein Onkel drehte sich Zentimeter um Zentimeter weit mit.Um Punkt 12 Uhr streichelte, küsste, leckte, wie immer mandas «delibat» der lateinischen Geheimmeldung übersetzenwill, er den Rand des mittleren Kamins.«Hier!» rief Lidenbrock. Und zu Hans gewendet auf dänisch:«Hier entlang geht's zum Mittelpunkt der Erde.» «Forüt!» sagte Hans gelassen und stand auf.«Vorwärts, jawohl, hinab!» jubelte Professor Otto Liden-brock. Es war 13.13 Uhr.

Medizinmann von Loch zu Loch, gestikulierte, ließ unver-ständliche Worte hören und beugte sich gefährlich weit überdie Schlünde. Die drei Isländer sahen sich an, Hans guckte indie Luft, und ich fühlte mich elend. Es konnte ja nur nochkurze Zeit dauern, bis es losging. Ich fand meinen Onkelnicht komisch, ich konnte nicht über seine Bewegungenlachen. Plötzlich stieß Lidenbrock einen Schrei aus, der unsalle aufblicken ließ. Wir sahen ihn mit hochgeworfenen, aus-gebreiteten Armen vor einem Granitfelsen stehen wie einAzteke vor der Sonne. Es war bei meinem Onkel der höchsteAusdruck des Erstaunens. Jetzt drehte er sich um. «Axel, komm her!» rief er, und ich konnte sogar aus derEntfernung seine Augen leuchten sehen.Als ich neben ihm stand, sah ich es auch. Von den Jahrhun-derten zerfressen, aber noch deutlich erkennbar, zogen sichüber diesen Felsen die Runenzeichen

«Arne war hier!» rief mein Onkel emphatisch. «Immer nochZweifel, lieber Neffe?»Ich war endgültig niedergeschmettert und bettete michneben dem Felsblock, auf dem ich gerade gesessen hatte, zumSchlafen nieder, um mich von den Anstrengungen zuerholen und nicht an die kommenden denken zu müssen.Als ich wieder aufwachte, waren wir nur noch zu dritt. Hanshatte die Träger zurückgeschickt, sie waren bereits über denKraterrand hinaus. Ich sah, dass sich der Himmel bewölkthatte, und auch das Gesicht meines Onkels war düster ge-

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du nimmst die Waffen und auch Proviant. Ich nehme denRest und die Messinstrumente.» «Und die Taue, die Kleider und Decken?» «Kommen schon allein runter!»Er gab Hans die Anweisung, aus dem Rest unserer Aus-rüstung einen großen Packen zu schnüren, den er danach inden Abgrund stieß. Mit weit vorgebeugtem Ober-körperund geschlossenen Augen verfolgte er die Fallgeräusche. Schließlich wurde es still.«So. Jetzt wir!» sagte er.Ich möchte wissen, wer solche Reden ohne einen leisenSchauder mit angehört hätte.Hans stieg als erster ein, dann seilte sich mein Onkel ab,zuletzt kam ich. Wie die beiden es machten, weiß ich nicht;ich war jedenfalls bemüht, mich nicht zu stark ans Seil zuhängen, da ich ihm und dem Lavablock nicht zutraute, dreiPersonen sicher zu halten. Vielmehr verließ ich mich aufmeinen Stock, mit dem ich in dem Loch herumtastete undmich stützte.Nach einer halben Stunde gelangten wir auf einen vorsprin-genden Felsen, an dem sich die Sache mit dem Haltetauwiederholen ließ. Hans zog an einem Ende, das andere ent-glitt nach oben, wickelte sich ab und kam mit einem RegenSteinchen und Geröll durch den Schacht herunter. WährendHans das Tau neu knüpfte, machte mein Onkel sich Notizenund erklärte mir anschließend (in nur 60 m Tiefe!):«Die Theorie von Humphry Davy wird durch die Beschaf-fenheit des Gesteins um uns herum durchaus bestätigt. Wirstecken in echtem Urgestein. Hier fand die chemische Ent-

Kapitel 14

Jetzt erst begann die Reise wirklich. Bislang war sie be-schwerlich, aber nicht schwierig gewesen, das änderte sichjetzt. Noch konnte ich zurück, noch standen wir über derErde. Vielleicht hätte ich aufgegeben, wenn mich nicht derGleichmut und die ruhige Zuversicht von Hans Bjelkebeschämt hätten. Ich biss die Zähne zusammen, dachte anmeine Vierländerin und trat vor das mittlere Loch.Ich musste ins Wanken geraten sein, angezogen von der gähnenden Tiefe, denn Hans packte mich am Arm und zogmich zurück. Ich hatte wahrscheinlich nicht genügendSchwindellektionen auf der Frelsers-Kirke bekommen. Sokurz der Blick war, den ich hinabgeworfen hatte, ich wusstedoch, wie es in dem Kamin aussah. Zahlreiche Felsvor-sprünge mussten den Abstieg erleichtern. Aber sie bildeteneine Treppe ohne Geländer. Woran sollten wir uns fest-halten?Meinem Onkel fiel gleich etwas Passendes ein. Er nahmeines der zwei Finger dicken, 120 m langen Seile, ließ es zurHälfte hinab, schlang es um einen vorspringendenLavablock und warf dann die andere Hälfte hinterher. Jetztkonnten wir uns beim Abstieg mit beiden Händen sichern.In 60 m Tiefe musste der Vorgang mit dem Seil wiederholtwerden, und so fort, bis wir auf dem Grund des Kaminsangelangt waren. Anschließend teilte Lidenbrock dasGepäck auf.«Jeder wird etwas tragen», sagte er, «aber nur das Zerbrech-liche. Hans nimmt Werkzeug und einen Teil Proviant. Axel,

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blickte, sah ich durch diesen 900 m langen Tubus, den wirherabgestiegen waren, einen glänzenden Punkt am Himmelwie mit einem Teleskop. Es war ein Stern ohne alles Flim-mern, meiner Schätzung nach ß im Kleinen Bären.Aber ich konnte mich irren.

zündung der Metalle statt, als sie mit Wasser und Luft inBerührung gerieten. Von hier aus stiegen Glut und Flammennach oben. Ich weise den Gedanken der Zentralwärme kate-gorisch zurück. «Den letzten Satz notierte er, dann ging es weiter. VonFelsvorsprung zu Felsvorsprung wiederholte er seine Be-merkungen. Mich konnte er damit nicht reizen, ich wusste,dass hier nicht der Ort für Diskussionen war.Nach 3 Stunden war immer noch kein Grund in Sicht. DerHimmelsausschnitt über uns war merklich kleiner ge-worden, die Schachtwände näherten sich einander, und umuns wurde es dämmrig. Es ging immer weiter hinab. Ichzählte mit, wie oft wir das Seil neu herabließen (das dauertejedesmal eine halbe Stunde). Nach dem vierzehnten Mal,nach sieben Stunden Klettern und vielleicht drei StundenAusruhen zwischendurch, eine Stunde vor Mitternacht also,kam von Hans der Ruf «Halt!»Da trat ich auch meinem Onkel schon auf den Kopf. «Wir sind am Ziel», sagte er ungerührt. «Hast du Grund?» fragte ich. «Ja. Komm runter, wir sind am Boden angelangt.» «Und? Geht es von hier weiter?»«Das werden wir morgen früh sehen. Jetzt wird gegessen,dann geschlafen.»Wir machten es uns, so gut es ging, zwischen Steinen undLavabrocken bequem, dann langten wir in die Proviant-säcke. Man hörte das Kauen. Gesprochen wurde nicht. Wirwaren müde nach dieser ersten Etappe. Als ich mich zumSchlafen und dem Rücken niederlegte und zum Himmel

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Donnerstag, 29. JuniChronometer: 8 h 17'Barometer: 750 mmThermometer: 7,5° CRichtung: OSO

Diese letzte Kompassangabe bezog sich auf den Gang, durchden wir den Grund des Einstiegschachtes wieder verließen.Hans und mein Onkel schalteten ihre RuhmkorffschenApparate ein, luden ihre Gepäckstücke auf und schrittenvoran. Die Lampen erhellten den Gang und machten denWeg leicht.Beim letzten Ausbruch 1229 hatte die Lava die Wände desGanges mit einem dichten glänzenden Überzug versehen,der jetzt das elektrische Licht hundertfach brach und zurück-warf. Der Gang fiel in einer Schräge von vielleicht 45° ab,aber eine Art «Treppe» im Boden gab uns Halt. Das ver-schnürte große Gepäckstück zogen wir an einer Leine hinteruns her.Die «Stufen» wurden bisweilen zu veritablen Tropfsteinen,die an den Wänden hochstiegen. An der Decke des Gangestraten aus Lavadurchbrüchen häufig dunkle Quarzkristallehervor, die klare Glastropfen wie zur Zierde trugen. Manhätte bei unserem Durchschreiten das Empfinden habenkönnen, die Geister der Unterwelt illuminierten ihren Palastmit kristallnen Lüstern, um uns als Gäste von oben zu em-pfangen. Ich konnte nicht anders, ich musste das bewun-dern. Mein Onkel ließ nur ein kurzes trockenes Lachenhören. Die Wärme nahm geringfügig zu. Eine Messung

Kapitel 15

Das erste, was mich am nächsten Morgen beim Erwachen ge-fangen nahm, war der Funkenregen, zu dem der StrahlTageslicht in den Facetten der Lavawände zersprühte.«Prachtvoll!» rief mein Onkel Lidenbrock. «Hast du in derKönigstraße jemals so ruhig geschlafen?» «Für mich hat diese Stille etwas Unheimliches.»«Ach je, wie soll denn das noch mit dir werden? Wir habennoch nicht mal die Erdrinde angekratzt. Kaum Meereshöhe.Guck mal aufs Barometer.» Wir maßen jetzt rund eine Atmosphäre Druck. Lidenbrockwollte in Zukunft mit dem Manometer weitermessen, wenndas Gewicht der Luft ihren Druck in Meereshöhe merklichüberschritt.«Dieser Druck kann ja ganz schön unangenehm werden»,sagte ich.«Iwo. Da wir langsam tiefer gehen, gewöhnt sich die Lunge.Zuviel Luft ist besser als zuwenig. Hast du übrigens denPacken mit Decken und Seilen gesehen?» Er war ein kleines Stück über unseren Köpfen an einemFelsstück hängen geblieben. Hans holte ihn, und wir früh-stückten.«Aber ordentlich», sagte mein Onkel Lidenbrock. «Vielleichtsind wir lange unterwegs.»Ich fand die Mahlzeit der kargen Umgebung angepasst:Zwieback, Dörrfleisch, Wasser mit Wacholderschnaps. Hansund ich kauten noch, als Lidenbrock bereits die Daten seinerInstrumente ins Büchlein eintrug:

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schnitt, mit dem man allgemein rechnet: 33 m. Dann sind wirjetzt, den Schachtboden mal als Meereshöhe gerechnet, 379,5 mtief im Erdboden!» «Die Rechnung ist richtig, aber die Voraussetzungen sindfalsch. Geothermische Tiefenstufe. Über dergleichen hatHumphry Davy nur gelacht. Nach meinen Messungen be-finden wir uns jetzt 3.000 m unter dem Meeresspiegel.»Mit schweren Gedanken über dieses Phänomen schlief ichein.Am Freitag, 30. Juni, brachen wir bereits morgens um 6 Uhrauf. Wir folgten der Lavagalerie weiter hinab, bis exakt 12 h17'. Da blieb Hans stehen.Mein Onkel hob die elektrische Laterne. Wir waren am Endedes Ganges angekommen. Bei genauerem Hinschauen aberentdeckten wir, dass sich die Galerie von hier aus in zweiTunneln fortsetzte. Kein Zeichen half uns bei der Entschei-dung. Lidenbrock deutete deshalb nach einer kurzen Über-legung fast mit geschlossenen Augen nach vorn, und wirtraten in den Tunnel ein, auf den seine Hand wies.Diese neue Galerie fiel nur sehr flach ab und hatte sehrunterschiedliche Querschnitte. Bisweilen öffneten sich hoheGewölbebogen, die an die Architektur gotischer Kathedralenerinnerten. Alle Vorformen und Abarten des reinenSpitzbogens hatte das Gestein hier ausgebildet. Dann wiedermussten wir die Köpfe unter romanisch runden und niederenDecken beugen oder sogar durch Biberbau-Gänge kriechen.Ich litt ständig unter dem Zwang, mir die herausrollendeglühende Lava in diesen Stollen zur Zeit der Eruptionvorstellen zu müssen und fühlte unangenehme Schweiß-

2 Stunden nach unserem Aufbruch ergab 12,5°, und darausschloss ich, dass wir uns eher horizontal als vertikal be-wegten. Mein Onkel maß mit dem Winkel das Gefälle oftnach und rechnete aus, wie tief wir gekommen waren, er be-hielt das Ergebnis seiner Rechnungen aber für sich. Abendsum 20 Uhr hielten wir an. Wir befanden uns da gerade in einer Höhle, die recht groß sein musste, denn wirspürten Luftzug. Hans breitete die Esswaren auf einemLavablock aus, und wir aßen, hungrig und müde. Was mirjetzt Sorgen zu machen begann, war unser Wasservorrat. Erwar zur Hälfte verbraucht, und die Quellen, mit denen meinOnkel gerechnet hatte, waren ausgeblieben. Ich fragte ihn,wie er darüber dachte. «Kommt dir das merkwürdig vor?»«Allerdings, denn in 5 Tagen ist unser Wasser alle.»«Ich find's nicht merkwürdig. Wie soll eine Quelle denndurch diese Lavaschichten dringen? Wart's ab, bis wir durchsind.»«Aber vielleicht reicht dieser mit Lava tapezierte Gang sehrtief hinab? Und da wir dauernd in der Horizontalen vorge-hen, kann es noch sehr lange dauern, bis wir Wasser finden.»«Wieso horizontal gehen?»«Na, wenn wir in die Erde tief eingedrungen wären, müßtees hier heißer sein.»«Nach deinem System vielleicht. Schau mal aufs Thermo-meter, und dann rechne aus, wie tief wir sein müssen.»«Das Thermometer zeigt 19°, also eine Zunahme von 11,5°,seit wir den Grund des Einstiegschachtes verlassen haben.Die geothermische Tiefenstufe schwankt zwischen 11 und125 m für die Wärmezunahme um 1° C. Nehmen wir den Durch-

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immer matter und reflektierten das Licht immer schwächer.Anstelle der Lava sahen wir jetzt lebendiges Gestein in deut-lich erkennbaren Schichtungen, die oft fast vertikal verliefen.Wir durchliefen die Ablagerungen der Übergangsperiodedes Silur. «Schiefer, Kalk, Sandstein»! rief ich. «Adieu Granitkern!Dieses Sedimentgestein hier stammt aus der zweiten Epocheder Erdentstehung. Ich würde sagen, wir sind auf demHolzweg, wenn nicht ringsherum alles Schiefer wäre.»Natürlich hörte mein Onkel das, und er sah natürlich ebensogut wie ich den Schieferboden und die Kalksandstein-Schich-tungen. Mich machten meine Beobachtungen fröh-lich, aber diesmal fand mein Onkel keinen Genuß anmeinem scharfen Auge. Ich merkte, dass er trotzig schwiegund seinen Irrtum nicht zugeben wollte.Denn inzwischen war es eindeutig klar geworden, dass wirauf diesem Weg niemals auf den Grund des Snoeffelsjökullund schon gar nicht zum Mittelpunkt der Erde gelangenwürden.Zuerst machte mich sein Schweigen in meiner Überzeugungirre, aber dann traten meine Füße auf einen Staub ausPflanzenresten und Muscheln. Die silurischen Meere ent-hielten mehr als 1.500 Pflanzen- und Tierarten. Es war keinZweifel mehr möglich: wir stiegen hinauf zum Licht. An denWänden erkannte man deutliche Abdrücke von Meer-gräsern und Lykopodien. Mein Onkel vor mir musste mitgeschlossenen Augen gehen, wenn er das nicht wahrnahm ...Ich las einen vollkommen erhaltenen versteinerten Abdruckvom Boden auf, der ein Tier zeigte, das unserer Assel

ausbrüche. Mir war dabei elend zumute, denn ich wusste ja,dass ich mir bei keinem meiner beiden Begleiter Trost holenkonnte. Die Wärme blieb erträglich, aber das rasche Tempomeines Onkels ermüdete mich sehr. Gegen Abend waren wirvielleicht 3 km in südlicher Richtung vorwärtsgekommen,aber kaum ein Stück in die Tiefe. Wieder setzten wir unswortlos zum Essen und schliefen traumlos ein.Ich sollte übrigens vielleicht sagen, wie wir dort unten dieNacht zu verbringen pflegten: in eine Decke gewickelt.Sicherheitsvorkehrungen waren nicht vonnöten, da uns hierniemand, weder Mensch noch Tier, überraschen würde.Vollkommene Einsamkeit bedeutet auch vollkommeneSicherheit, niemand von uns brauchte zu wachen.Auch am nächsten Tag hatten wir Lavagrund unter denFüßen. Der Tunnel verlief immer deutlicher horizontal undstieg dann, wie ich zu merken glaubte, sogar leicht an. Gegen10 Uhr vormittags zeigte sich das ganz deutlich, denn dasGehen wurde immer mühseliger. Ich blieb zurück.«Was ist los, Axel?» fragte Lidenbrock.«Ich kann nicht rascher, das Aufwärtsgehen strengt an.»«Abwärts!»«Aufwärts!!»Mein Onkel zuckte die Achseln. Er wollte nicht glauben,dass er den falschen Weg eingeschlagen hatte, und schwiegverstockt auf alle weiteren Vorhaltungen von mir. Die warenübrigens gar nicht böse gemeint, im Gegenteil: ein aufwärts-führender Weg musste uns irgendwann wieder an die Erd-oberfläche bringen, und das wünschte ich von allen Dingenam meisten. Gegen Mittag wurden die Wände des Ganges

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Kapitel 16

Während des ganzen folgenden Tages irrten wir ohne An-haltspunkt dem Höhlengang nach, den ich für einen Irrweghielt. Ich hatte jetzt das Gefühl dafür verloren, ob wir nochweiter aufwärts schritten; der Gang konnte nur mehr ganzunmerklich steigen. Grauer Achat, von weißen Adern durch-spielt, deckte die Wände, fleischfarbener oder gelb-rotgefleckter Marmor, bis ins tiefe Braun gehend, in dem be-reits eine höher organisierte Tierwelt als noch am Tag zuvorversteinert beschlossen lag, zog öfter meine Aufmerksamkeitvon unserer bedrängten Situation ab. Das waren Erd-schichten, wie sie in der Grube von Devonshire vorherr-schten, nach der ein ganzes Erdzeitalter seinen Namen hat.Im Licht unserer Lampen schimmerte und glänzte dieserMarmorgang wie die Wände der Medicigruft.Ich erinnerte mich sofort, dass es Medicikapelle heißenmusste. Noch hatten wir Wasser, hatten zu essen und warennicht übermäßig erschöpft - wozu die Panik? Aber bereitsam nächsten Tag war die Qual so groß geworden, dass ichglaubte, ich könne mich nicht mehr unter Kontrolle halten.Ich war jeden Augenblick versucht, meine Flasche an denMund zu reißen und mir die letzten Schlucke Wasser in denHals zu gießen; nur der dumpfe Trott, in dem ich Hans undmeinem Onkel folgte, hielt mich genügend betäubt, dass ichnicht dazu kam. Lidenbrock fing jetzt an, betont mit seinemStock vor sich zu stochern, um den senkrecht abfallendenSdiacht, den er sich ersehnte, ja nicht zu verpassen. Als icheinmal den Kopf hob, bemerkte ich, dass der Schein unserer

ähnelte, und hielt es meinem Onkel, dem ProfessorLidenbrock, vor.«Sieh mal, hier!»«Ja, Aus der Gattung der Trilobiten. Gibt's heute nichtmehr.»«Und?»«Was folgt denn daraus?»«Was du daraus folgerst, meinst du wohl. Schön, wir sindaus den Granit- und Lavaschichten herausgekommen.Vielleicht irre ich mich. Das werden wir wissen, wenn wiram Ende dieses Ganges sind.» «Ausgezeichnet. Das nenne ich Empirie. Dabei können wir jagleich noch etwas ausprobieren.» «Was?»«Wie lange ein Mensch ohne Wasser leben kann. Wir habennämlich nicht mehr viel.» «Dann wird es eben rationiert, lieber Axel.»

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sein, und sie musste Pflanzen hervorgebracht haben, diekümmerlich und duftarm blühten, aber mit kraftvollenWurzeln unter der Erde wucherten. Aus all diesen Pflanzenwar Kohle geworden, mit der die Menschen alle Wärmeerzeugten, die sie brauchten. Noch 300 Jahre lang.Gegen 18 Uhr an diesem Abend war der Weg zu Ende. Erhörte vor einer senkrecht aufsteigenden Wand einfach auf,wir hatten uns 5 Tage lang durch eine Sackgasse bewegt.«Jetzt ist mir alles klar», rief mein Onkel Lidenbrock fastfröhlich. «Wir sind auf dem falschen Weg gewesen. Ich habees schon lange vermutet, aber mir fehlten die unwider-leglichen Beweise.»In mir wurde es immer stiller, als ich ihn so sprechen hörte.«Nun eine Nacht Ruhe», sagte er, «und dann morgen frischauf den Rückweg. Keine 3 Tage, dann sind wir wieder amKreuzweg, und dann wissen wir ja, dass der andere Gangder richtige sein muss.» «Ja, wenn die Kräfte reichen.» «Warum denn nicht?»«Weil morgen das Wasser ausgehen wird.»«Der Mut etwa auch?» fragte mein Onkel Lidenbrock kalt.Auf dem Rückweg, der dreieinhalb Tage dauerte, verlor ichvon Stunde zu Stunde das Gefühl für andere meiner Glieder.Ich stürzte mehrmals und schlug lang hin, aber idi spürte dieSchmerzen kaum. Meine Lippen platzten auf wie ange-stochene Kirschen, denn ich hatte mich verleiten lassen, amzweiten Tag von dem Wacholderschnaps zu trinken. DerIsländer und mein Onkel stützten mich nicht, halfen mir nurauf, wenn ich gefallen war. Ich bemerkte dann am kurzen

Lampen nur noch matt von den Wänden reflektiert wurde.«Eine Kohlengrube!» sagte ich, und ich prüfte mit gierigenBlicken die Wände nach Spuren menschlicher Bearbeitung.«Wir müssen schon wieder ganz dicht unter der Erdober-fläche sein.»«Ich sage, dass in dieser Mine noch kein Mensch gearbeitethat und damit basta. Sie ist eine Arbeit der Natur. Ohnejeden Zweck. Irgendeine Erschütterung hat das Erdreichunter dem Kohlezug weggerissen. Schätz mal die Höhe: 50 mund mehr. So große Stempel gibt's ja gar nicht. - Anhalten:Mahlzeit.» In dieser Nacht schlief ich sehr schlecht, wachte häufig auskurzen Träumen auf und wünschte dann, wir seien schonwieder unterwegs, damit die Unsicherheit ein Ende nähme.

Am Dienstag, 4. Juli, führte der Weg den ganzen Tag überdurch die Kohlenmine, auf deren Wänden sich die ganzeGeschichte des Karbonzeitalters der Erde deutlich abzeich-nete. Ein frischeres Auge als das meine hätte sich daranvielleicht erfreut. Ich nahm nur bei kurzem Aufblicken hinund wieder davon wahr, und in dieser Umgebung, vomDurst befördert, beschäftigten mich neuerliche Vorstellun-gen über die Erdwärme. Die Temperatur war in den letztenTagen weder gefallen noch gestiegen. Aber ich hielt es fürsicher, dass im Innern der Erde noch ein gewaltiges Feuerglühte. Woher denn sonst die tropische Üppigkeit der Vege-tation im Karbon? Damals lag eine dichte Dunstschicht überdem Erdball und schluckte die Strahlen der Sonne. DieWärme musste aus dem Innern des Erdballs gekommen

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und das Wasser milderte den Brand meiner Lippen. Ich konnte wieder sprechen.«Das Wasser ist jetzt ganz alle», sagte ich, nachdem auchHans und mein Onkel getrunken hatten. «Es bleibt nur einAusweg, und der führt nach oben, zurück zur Sonne, zurFreiheit.»Mein Onkel sah mich nicht an, und ich spürte, wie wenigihm solche Worte gefielen.«Es führt kein andrer Weg aus dieser Nacht!» rief ich undbestürmte ihn, als ich den stillen Widerstand fühlte. «Wirwissen ja noch nicht mal, ob wir es bis zum Kraterausgangschaffen. Aber wir würden wissen, dass wir in eine leben-dige Welt zurückkehren. Was vor uns liegt ist dunkel undunsicher. Deshalb zurück!» «Zurück!» sagte mein Onkel, und wie er es sagte, klang esfatal.«Zurück, und sofort.»«Und ich dachte schon», sagte mein Onkel hässlich langsamnach einer langen Pause, «das Wasser hätte dir Mut undKraft wiedergeben können. Wie falsch.» «Falsch?»«Ja, es war falsch, zu glauben, du seiest mannhaft geworden.Wie kannst du von mir verlangen, dass ich diese Expeditionjetzt abbreche, wo alle Anzeichen für ein Gelingen sprechen.»«Aber die Anzeichen sprechen doch nur dafür, dass wir mittenin diesem Lavakern stecken bleiben und verdursten werden. ««Natürlich. Das Leben. Daran denkst du jetzt. Du hastAngst, dass der Berg dich kaltmacht. Vom Feuer der Wissen-schaft, das in einem Menschen brennt, spürst du nichts.

Atem und am unsicheren Griff meines Onkels, dass er selbstbereits gegen mehr kämpfte, als ihm gleichgültig sein konnte. Er ließ aber kein Wort der Schwäche oder desDurstes hören. Am Sonntag, dem 8. Juli, 10 Uhr vormittags,langten wir, auf Händen und Knien uns schleppend, an derY-Gabel an. Ich blieb auf dem Lavaboden liegen wie einezertretene Masse Wurm, mein Onkel richtete sich auf denKnien vor mir auf, und Hans hatte sich mit dem Rückengegen die Wand gesetzt und lehnte den Kopf mit geschlosse-nen Augen zurück.«Da, trink», hörte ich die Stimme meines Onkels.Ich schloss die Augen und brach in ein trockenes Schluchzenaus, weil ich mich so genarrt fühlte. «Trink, Axel, aber lassuns einen kleinen Schluck übrig.» Als ich die Augen aufriß,sah ich den Schemen einer Flasche dicht vor meinen Augen,ich griff mit meinen Händen danach und spürte: die Flaschewar real, sie existierte wirklich, und mein Onkel hielt sie mirmit einer zitternden Hand entgegen.«Woher hast du das?» brachte ich mühsam hervor. «Meine Flasche», sagte er. «Halb voll. Zehnmal, hundertmalwollte ich alles austrinken. Aber ich hab gewusst, dass du'snicht weiter schaffst als bis hierher. Hab sie aufgehoben.Trink daraus, mein Axel.» Während ich jetzt trank, liefen mir Tränen die Wangenherunter und vermischten sich mit dem schalen Wasser, dasaus meinen Mundwinkeln zurückgeflossen kam. MeinSchlund hatte sich krampfartig zusammengezogen und ließnicht soviel Wasser durch, wie ich mir in den Mund goss.Die Kontraktionen in meinem Hals lösten sich allmählich,

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Granitkern durch, und die Felsart bringt Wasser mit sich. Ichfühle es, Axel. Instinkt und Logik geben mir recht. Festerkann eine Überzeugung sich nicht gründen. Wenn ich michdiesmal wieder täusche, gibt es nur noch den Weg nachoben.» «Den wird dann wahrscheinlich nur noch unsere Seeleantreten.»

Selbstverständlich sollst du deinen Tod haben, wo du ihnwillst. Hans, geh mit ihm zurück, bring ihn hinauf. Lasstmich allein. Ich schaff es auch allein, oder ich bleibe hierunten. Geht, weg, ab mit euch!» Lidenbrock hatte sich in eineAufregung hineingeredet, die mir damals zu Herzen ging.Ich war in einer verzweifelten Lage. Neffenliebe und Wasser-schlucke hatten mich in seine Schuld gebracht, aber derSelbsterhaltungstrieb drängte mich, meine Dankbarkeit inGrenzen zu halten. Ich versuchte in meinem Kopf einArgument über Vernunft und Wissenschaft zusammenzu-bringen, aber wenn ich die Gestalt meines Onkels vor mirsah, troglodytenhaft im Licht der Ruhmkorff-Lampe, schienmir, als beginne wahre Wissenschaft erst dort, wo es Begriffewie Grenzen der Vernunft nicht mehr gab, und mir fiel nichtein, was ich meinem Onkel, den ich begriff und den ichfürchtete, antworten sollte. «Hans!» rief ich schließlich. Ermusste mitbekommen haben, was zwischen uns vorging. Ichrutschte vor ihn hin und legte meine Hand auf seine Knie.Ich deutete in die Richtung, die zum Krater des Snoeffels-jökull führte.Der Isländer aber schüttelte bedächtig den Kopf und sagtenur ein Wort:«Master.»«Der Herr? Aber der Herr Lidenbrock ist nicht Herr überdein Leben!»«Axel! Du wirst mir diesen Diener nicht verderben!» riefmein Onkel scharf. «Hör mir jetzt zu. Kolumbus bat seineMannschaft um 3 Tage, um die Neue Welt zu entdecken. Ichbrauche nur einen. Gib mir einen Tag, dann sind wir bis zum

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ständliche Worte ausstoßen. Seltsamerweise arbeitete meinBewusstsein wie unstrapaziert, ich nahm alles wahr, was ummich geschah, aber meine eigenen Regungen konnte ichnicht in Bewegung umsetzen, meine Glieder versagten denDienst. «Es ist alles aus», sagte mein Onkel, und als er im Zorn seinBündel auf den Boden schleuderte, verlor ich das Gleich-gewicht und stürzte selbst nach. Das war das letzte, was ichsah, dann schlief ich erschöpft ein. Ich weiß nicht, wie viel Stunden später ich aufwachte. EineLampe brannte und ließ, mehr durch Schattenwurf als durchAusleuchten, die Höhlung des Ganges erkennen, in dem wirlagen. Ich versuchte, mich auf dem Granitlager umzudrehen,aber ich schaffte nur eine Bewegung des Kopfes. Mein Onkelund der Isländer lagen, in Decken gewickelt, nicht weit vonmir entfernt, sie schienen zu schlafen. Als mir die Wortemeines Onkels wieder einfielen: Es ist alles aus!, wurde ichmir plötzlich des Gewichts der 1.500 m Gesteinsdecke überunseren Körpern bewusst und empfand eine immer stärkerwerdende, würgende Angst. Sie wurde dadurch nochgrößer, dass ich fast bewegungsunfähig war, als laste dieseungeheure Erdmasse tatsächlich auf meiner Brust, und ichversuchte zu schreien. Es wurde Röcheln daraus, und nachder Anstrengung sank ich erneut in einen kurzen Schlaf.Eine Bewegung weckte mich diesmal: ich sah, wie sich Hanssehr langsam aus seiner Decke wickelte und erhob. Er nahmdie Lampe vorsichtig vom Boden auf, stieg über den Körpermeines Onkels und entfernte sich den Gang abwärts.Im ersten Augenblick begriff ich nicht, was geschah. Aber als

Kapitel 17

Durch die Schichten von Schiefer, Gneis und Glimmer,durch Erzgänge, Kupfer und Braunstein, Platin und Spurenvon Gold drangen wir abwärts und tiefer in die Erde hinein.Weder Hacke und Habgier noch Sonde und Neugier würdendiese Bodenschätze jemals erreichen, so tief hat sie dasRütteln und Beben in der Urzeit der Erde versenkt. Die parallelen Schichtungen der Gneisblätter und die großenGlimmerschieferstücke reflektierten das Licht unsererApparate in tausend Facetten und brachen die Strahlen ineinem Leuchtspiel, das uns hätte glauben machen können,wir reisten durch einen riesenhaften hohlen Diamanten.Gegen 18 Uhr aber begann dieser Glanz merklich schwächerzu werden, Glimmer mischte sich mit Feldspat und Quarzund bildete das härteste Gestein, das wie ein Atlasrücken diedarüber liegenden Stockwerke der Erdrinde trägt: Granit.Abends um 20 Uhr ein Halt, aber immer noch kein Wasser.Wir waren den ganzen Tag langsam gegangen, aber jetzt setzten wir auch unsere Tritte noch zaghafter, um durch dieMarschgeräusche das tiefe Murmeln und Rauschen einerQuelle womöglich nicht zu übertönen. Mein Onkel warschrecklich dünn geworden und schritt durch diese Gänge1500 m unter der Erde mit vorgerecktem Halse wie einStorch, was den Eindruck der Verirrung noch stärker underschütternder machte. Wenig später war aller Mut, alle letzte verzweifelte Zuversicht, die ich in mir zusammen-gerissen hatte, aufgebraucht, ich brach in den Knien zusam-men, blieb auf der Stelle liegen und konnte nur noch unver-

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«Wasser», sagte auch mein Onkel Lidenbrock. «Hvar?»«Nedat.»Nach etwa 2 Stunden waren wir nochmal um 600 m tiefergestiegen und vernahmen deutlich ein dumpfes Brausenhinter einer der Granitwände, wie ein fernes Gewitter-grollen. Immer wieder hielten wir jetzt inne, um den unter-irdischen Fluss, der da in unserer Nähe durch den Felsenströmte, zu orten. Wir glaubten, das Wasser über unserenKöpfen zu hören, dann stieg es hinab und begleitete unsdeutlich hörbar, in einzelnen Geräuschen zu unterscheiden,hinter der linken Wand des Ganges.Nach einer weiteren Stunde war das Rauschen vom Gangabgeschwenkt und verlor sich wieder im Massiv desGesteins. Wir mussten umkehren. Vielleicht eine halbeStunde lang patrouillierten wir auf einem kurzen Stück Weg,um die Stelle herauszufinden, an der das Geräusch desWassers am deutlichsten zu hören war. Wir fanden dieStelle, aber wir hörten auch, als wir davor standen, amerstickten Ton des Gurgelns und Plätscherns, dass uns min-destens ein halber Meter Gestein von dem Wasser trennte.Ich sank an der Wand nieder und fuhr mit meinen Händenüber den rissigen Fels, sie blieben trocken. Mein Onkel standin der Mitte des Ganges wie erstarrt.Der Isländer regte sich als erster wieder. Mit einer Lampe inder Hand trat er ganz nah an die Wand und horchte siesorgfältig ab. Schließlich legte er sich auf eine Stelle knapp 1 m über dem Boden fest. Er setzte die Lampe ab und griffsich eine Spitzhacke. «Ja!» rief Lidenbrock. «Diese Hacke ist die Idee. Unser

es ganz dunkel geworden war, packte mich der fürchterlicheGedanke, dass der Isländer, bislang der Stärkste von uns,geflohen sei, und ich stöhnte mit aller Kraft, die ich auf-brachte, um meinen Onkel zu wecken. Es gelang mir nicht.Vielleicht eine Stunde lang, oder auch länger, quälten michdie wahnsinnigsten und absurdesten Vorstellungen, indenen ich versuchte, dem Tun des Isländers einen Sinn zuunterlegen. Eine Quelle konnte er nicht gehört haben, diemüssten auch meine Ohren wahrnehmen. Oder hatte meinGehörsinn unter dem Druck bereits gelitten? War in Wirk-lichkeit Schreien, was ich nur als Stöhnen vernahm? Aberwarum hatte ich dann meinen Onkel nicht wecken können?Vielleicht, weil er gar nicht mehr hören konnte, weil derWassermangel und die Entkräftung, Enttäuschung ihn be-reits umgebracht hatten? Manche Tiere verkriechen sich,wenn sie fühlen, dass sie sterben werden: war Hans deshalbverschwunden?Da fing ein Schimmer Helligkeit unsicher aus dem dunklenTunnelende zu wachsen, und in diesem Augenblick begriffich, dass Hans nicht geflohen sein konnte: er war abwärtsgegangen. Dann hörte ich seine Tritte, und schließlich bog ermit seiner Lampe um die letzte Ecke des Ganges. Er bewegtesich nicht anders als vorher, trat sacht zu meinem Onkel,weckte ihn und sagte: «Vatten.»Und ich habe dieses Wort sofort verstanden, mein Körperverstand es, denn augenblicklich löste sich der Krampf, derbislang meine Glieder unbeweglich gemacht und an denGranitboden geschmiedet hatte, «Wasserwasser!» rief ichund gebärdete mich wie ein Wahnsinniger.

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wasser. Wir wollen tafeln.»«Um ehrlich zu sein: es schmeckt wie dicke Tinte, aber ichfinde es famos. Der Springbach sollte den Namen seinesEntdeckers bekommen.»«Hansbach!» riefen mein Onkel und ich, deuteten mit demFinger auf den Strahl, der aus der Wand kam, und sahenHans an.Er nickte leicht, das war alles. Die Gleichmäßigkeit seinesNaturells war nicht zu stören. Als der erste Rausch desWohlgefühls einer heiteren Gelassenheit Platz gemacht hatteund wir wieder reichlich gestärkt waren, schien es mirwichtig, die Quelle zu verstopfen.«Wir sollten Schlauch und Flaschen für unterwegs füllen,aber dann ...»«Bist du denn sicher, dass wir so rasch wieder auf Wassertreffen?» fragte mein Onkel.«Das allerdings nicht.»«Oder hast du Lust, dir die Hände zu verbrennen? Das Lochkann man doch gar nicht abdichten. Und wozu auch?»«Aber das Loch muss doch wieder zu, das kann doch nichtewig so ...»«Und warum nicht, lieber Axel? Das Wasser will abwärts,wir auch. Es fließt vor uns her, zeigt uns den Weg und gibtuns zu trinken.»«Eigentlich ein guter Gedanke», sagte ich. «Damit muss unsdie Sache gelingen.»Da lachte Lidenbrock und sagte: «Jetzt hast du's hinter dir,mein Junge. Ab jetzt wirst du zum Absteigen Lust bekom-men.»

Leben, Hans, ist in deiner Hand. Ja! Ja! Ja! Ja!» Weder mein Onkel noch ich wären zu der jetzt folgendenArbeit noch fähig gewesen. Wir hätten nur ziellos auf denFelsen einschlagen können, ihn dabei vielleicht so zertrüm-mert, dass ein Einsturz oder doch ein Wassereinbruch un-seren Durst ein für allemal gelöscht hätte. Hans aber, derMann ohne Leidenschaften, brachte die berechneten kleinenSchläge immer auf denselben Punkt fertig, mit denen er imVerlauf einer qualvollen Stunde ein 10 cm breites Loch inden unberührten Fels trieb. Je näher er dem Durchbruchkam, desto stärker wurde ich von einem nervösen Zappelnund Zittern geschüttelt, das seinen frenetischen Höhepunkterreichte, als mit lautem Zischen und quellendem Dampf einStrahl Wasser aus dem Loch schoss und auf die gegenüber-liegende Wand traf.Als ich in den Strahl griff, schrie ich laut auf. Das Wasser warsiedend heiß.«Es wird schon kalt werden!» rief mein Onkel. «Außerdemlöscht heißes Wasser den Durst ebenso gut wie kaltes.»In den Rillen und Schründen am Boden des Ganges entstandein Bach, der sich nach abwärts verlief. Das Wasser wurdedarin bald kühler, so dass wir trinken konnten, ohne inner-lich zu verbrennen. Welch eine Lust, welch eine Erquickung,welch Labsal: Ich kann die Freuden, die wir mit diesemWasser hatten, nicht mehr beschreiben, sie waren zu tierisch,zu ursprünglich und banal. Erst nachdem ich eine Minutelang getrunken hatte, merkte ich es:«Das Wasser ist eisenhaltig!»«Wie gut für den Magen», sagte mein Onkel. «Ein Mineral-

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Kapitel 18

Zunächst fiel auch dieser Gang nur geringfügig. Aber amMontagabend, 10. Juli, als wir 17 Tage unter Tage waren, fast150 km südöstlich von Reykjavik, in einer Tiefe von mehr als10.000 m, öffnete sich erschreckend plötzlich vor unserenFüßen eine Erdspalte, ein Schacht, der in die Tiefe führte.Felsvorsprünge an den inneren Wänden bildeten eine spiralförmig absteigende Treppe, die fast absichtsvoll kon-struiert wirkte. Hans sicherte uns derart mit den Seilen, dassder Abstieg ungefährlich schien.Alle Viertelstunden war eine Pause vonnöten, in der wir unssetzten und die Beine baumeln ließen, bis die Zittrigkeit ausunseren Kniekehlen gewichen war. Am 11. und 12. drangenwir etwa 9.000 m hinab und steckten damit rund 20 km tiefin der Erde. Am 13. gegen Mittag wurde der Gang bis auf 45°Gefälle sanft, bequem, einförmig, eintönig. Ich bemerkte dasFehlen der Landschaft.Am Abend des 15., einem Samstag, nachdem mein Onkelunseren isländischen Führer entlohnt hatte, kamen wir insGerede über die Messdaten der Chrono-, Mano- und Thermo-meter, die mein Onkel Lidenbrock gewissenhaft ablas undspäter ja alle im wissenschaftlichen Bericht dieser Reiseveröffentlichte. Zunächst fiel mir nichts Besonderes auf.«Wir sind jetzt 222,5 km in der Horizontalen vorwärts-gekommen», sagte er beiläufig. «Pro Tag 10 km im Schnitt.»«Eine ganze Menge, wenn man bedenkt, dass wir nicht Lang-,sondern Tiefstrecken laufen.» «Ach herrje!»

«Hab ich schon», sagte ich. «Es kam ganz plötzlich.» Nach dem Essen suchten wir uns drei trockene Stellen zumSchlafen aus lind wickelten uns in unsere Decken. Bevor ichdie Augen schloss, sah ich, wie Hans zu meinem Onkelhuschte, sich zu ihm hinabbeugte und ihm etwas zuflüsterte.Mein Onkel griff daraufhin nach seinem Brustbeutel, öffneteihn und gab Hans drei Reichstaler. Da wusste ich, dass esSamstag war, Zahltag.

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mal nachprüfen, was die Freunde der Zentralwärmetheoriesich für diese Tiefe ausgerechnet haben.» Ich nahm ein Blatt Papier und rechnete mit der durchschnit-tlichen geothermischen Tiefenstufe von 33 m/1° und kamauf über 22.000.«Darin müsste ja der Granit schmelzen!»«Müsste, hätte, könnte, sollte. Alles Worte, die HumphryDavy nicht kannte. Ich wusste immer, dass er recht hatte. DieZentralwärmetheorie ist wissenschaftlicher Bockmist. Siestinkt zum Himmel.»Ich wollte mich nicht mit ihm streiten, da die Umständeaugenblicklich so gegen mich sprachen. Aber im stillen hatteich mir sofort eine Möglichkeit zurechtgelegt, welche dieseMessergebnisse und meine Theorie vernünftig zusammensehen konnte: wir stiegen eine Art Vulkankamin, eine lava-überzogene Röhre hinab, welche die umgebende Wärme ab-schirmte.Aber mir schien eine andere Berechnung interessanter. «Der Erdradius ist, rund genommen, 6.300 km lang», sagteich. «Davon haben wir in zwanzig Tagen gut ein Hundertstelzurückgelegt. Bis zum Mittelpunkt sind es also noch fün-feinhalb Jahre.» Mein Onkel schwieg.«Senkrecht gerechnet», ergänzte ich.«Zum Teufel mit deinen verzagten Berechnungen! Der Gangwird uns schon ans Ziel führen. Wer viel rechnet, kriegt vielraus. Hier handelt es sich um Taten, mein Junge, Taten, dievor mir ein anderer vollbracht hat. Sacknussemm! Und daskann ich auch.»

«Was ist denn los?»«Mir fällt gerade etwas ein. Gib mir mal bitte die Karte vonIsland.»Ich sah sie mir an und fand meine Schätzung bestätigt.«Über uns liegt gar nicht mehr Island», sagte ich. «Wir laufenunter dem Meer. Über unseren Köpfen rauscht der Ozean.»«Der Ozean», sagte mein Onkel. «Ganz gut, aber doch soextra wieder nicht. Denk an Newcastle, da laufen dieKohlenflöze auch unters Meer.»Aber erst am 19. Juli, als wir schon über 3 Wochen unter derErde lebten, als durdi den Verzicht auf Straßen, Bäume,Städte, Sonnenlicht und Wolken eine Troglodytenschlicht-heit in unseren Vorstellungen und Gefühlsäußerungen herr-schte, beschloss Professor Lidenbrock, einen ganzen Tag denZahlen zu weihen. Wir waren da bis in eine grottenähnlicheErweiterung des Ganges gekommen. Mittendurch floss derBach, der hier gerade die richtige Trinkwärme hatte.«Nimm den Kompass», sagte mein Onkel nach dem Früh-stück.«Ost-quart-Südost», diktierte ich.Lidenbrock rechnete und zeigte mir das Ergebnis. Wir waren378,2 km in südöstlicher Richtung vom Einstiegloch Snoeffels-jökull entfernt.«Unter dem Atlantik also, der vielleicht gerade von Stürmengepeitscht wird ...»«Phantastereien», sagte Lidenbrock. «Hier, mein Junge: dieTiefe wird dich interessieren!»«71,2 km - und das Thermometer?»«Tja, das wird dich enttäuschen: 34,6° Celsius. Du kannst ja

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ruhig zu überlegen: War ich vorhin vielleicht in der falschenRichtung «zurück»-gegangen? Hatte ich mich in der erstenVerwirrung zu oft gedreht und umgesehen? Kein Zweifel, indiesem Gedanken lag Hoffnung. Ich schritt die Viertelstundelang kräftig aus bis zu dem mutmaßlichen Fleck meinesInnehaltens, und dann ging ich noch eine halbe Stunde langmit raschen Schritten weiter. Ich entdeckte meinen Onkelund den Isländer nicht. Ich versuchte es wieder mit Rufen,und dabei kam mir ein anderer Gedanke: War ich überhauptvor den beiden hergegangen? Nicht vielmehr am Schluß? Ichstand mit geschlossenen Augen da und versuchte, mir dasletzte Bild, das ich von uns dreien besaß, ins Gedächtniszurückzurufen. Es war ganz variabel und stellte mir keineverlässliche Wirklichkeit vor. Außerdem brachte ich dieRuhe nicht auf, zu überlegen, wie ich logischerweise jetzt zugehen hatte, wenn ich nicht vornweg, sondern hinterdreingelaufen war. Da, plötzlich fiel mir ein, dass ich ja den Bachals Ariadnefaden besaß, Gott sei Dank, den Bach, an dessenFlussrichtung ich aufwärts und abwärts feststellen konnte,der mich am sichersten wieder zu meinen Gefährten brachte.Dieser Gedanke machte mir wieder Mut, ich lachte etwas,schüttelte die Erregung von mir ab und bückte mich, um mirim Hansbach Hände und Gesicht zu waschen. Ich griff nurauf dürrtrockenen rauen Granit. Der Bach floss nicht mehrzu meinen Füßen.

Das Manometer zeigte auch bereits einen beträchtlichenDruck, der in leichten Ohrenschmerzen fühlbar wurde undsicher weiter zunahm. Irgendwo auf dem Weg zum Erdmit-telpunkt musste die Luft die Dichte des Wassers erreichenund dann sich schließlich verfestigen. Ich stellte mir das imgeheimen als ganz natürlichen Endpunkt unserer Reise vor.Weiter konnte auch der ge-lehrte Isländer damals nichtgedrungen sein. Dass er vom Mittelpunkt der Erde sprach,war phantasievoll, aber ohne Beweiskraft. Das 16. Jahrhun-dert kannte keine Manometer.Nach diesem Rasttag verlief unser Abstieg unter Schwierig-keiten, aber ohne ernste Zwischenfälle, bis zum Montag, den 7. August. Wir erreichten am Vormittag dieses Tages bei 890 km Entfernung vom Einstieg in Island eine Tiefe von133,5 km, das bedeutete 133,5 km Felsen, Meere, Kontinenteund Städte über unseren Köpfen.Der Gang fiel an diesem Tag sehr sanft. Da ich eine derRuhmkorff-Lampen trug, konnte ich mir die Gesteinsbil-dungen an den Wänden genauer anschauen. Und auf ein-mal, als ich emporsah, war ich allein. Gut, schön, kommt vor,ich bin zu schnell gegangen, oder die beiden sind irgendwostehen geblieben. Also warten. Oder besser: zurück. Damüssen sie sein.Ich lief den Weg etwa eine Viertelstunde lang zurück undtraf dabei auf keinen Menschen, hörte keinen Ton. Ich rief,meine Stimme hallte, brach sich in Echos, klang aus, und esblieb wieder still.Jetzt wurde ich unruhig und merkte es deutlich an demSchauder, der durch meinen Körper lief. Ich zwang mich,

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das Haus Fridrikssons, die Hütte des Pfarrers, den Snoeffels-anstieg, wobei sich die Beleuchtung immer stärker eintrübte,und nach dem Sturz in den Schacht, bei dem es völlig dunkelgeworden war, wurde ich beim öffnen der Augen vomStrahl der Lampe neben mir geradezu geblendet. DieseLampe war mein Freund, sie bedeutete, dass ich mich selbstsah und meiner Person vergewissern konnte. Wer hatte michhier unter die Erde gebracht? Wie oft war unter meinemGeologenhämmerdien Granit zersprungen, aber dieses Fels-gewölbe um mich stand undurchdringlich fest, unbesiegbarund Angst einflößend, ein steinernes Trauma. Wer hattemich hinabgeschickt? Hatte mir nicht Grauben den letztenAnstoß gegeben?

O Liebe, Liebe, du bist stark! Du streckest den in Grab und Sarg, vor dem sonst Steine springen,

das ging mir durch den Kopf, und ich rief:«Onkel, Onkel, warum hast du mich verlassen?»Aber ich wusste ja gar nicht, ob vielmehr ich ihn vielleichtverlassen hatte. Meine Lebensmittel und die gefüllte Flaschewürden etwa 3 Tage reichen. So lange hatte ich Zeit, denGang wieder zu finden, in dem der Bach floß, und in diesemGang würde ich zweifellos bald auf Lidenbrock und denIsländer treffen, da sie bestimmt schon jetzt nach mir suchten. Ich versuchte, durch aufmerksames Abschreitenvon 100 m Gang festzustellen, nach welcher er anstieg, undentschied mich schließlich für eine Richtung. Ich nahm meinBündel und die Lampe auf und zog los.

Kapitel 19

Kein Wort der menschlichen Sprache kann meine Empfin-dungen wiedergeben. Mir stand sofort der Schrecken desLebendigbegrabenseins und des Hunger- und Dursttodes imGehirn und verhinderte alles vernünftige Nachdenken. Ichversuchte ganz still zu sein und zu horchen, ob nicht vonirgendwoher der Ruf meiner Kameraden zu mir drang, aberalles, was mir in dieser Stille schmerzhaft bewusst wurde,war das Fehlen des Murmelgeräusches vom Hansbach.Ich musste an einer Gabelung, die mir beim Schauen nichtbewusst geworden war, einen anderen Weg genommenhaben als er. Aber wie sollte ich zu dieser Gabel zurück-finden? Einen Kompass besaß ich nicht, um mir über dieRichtung klar zu werden, ein Gefälle war kaum vorhanden,Fußspuren hatte ich auf dem harten Granitboden nicht hin-terlassen. Wie sollte ich aus dieser Verlorenheit jemalswieder herausfinden?Eine unendliche Traurigkeit kam nach der Verzweiflungund stimmte mich sanft. Ich setzte mich auf den trockenenBoden und legte den Kopf rückwärts gegen die Wand. Vormeinen geschlossenen Augen türmten sich die 133 km Fels-boden, Schieferschichten, Lava, Sand und Geröll, unddarüber tauchte in einem milden Tageslicht das weite, flach-gestreckte Weichbild Hamburgs auf, die Stadt, die König-straße, unser Haus, ganz still daliegend, und nur ein Ästeschaukeln der Ulme verriet, dass dies Bild lebendig war. Imraschesten Durchlauf erlebte ich die Vorstellungen unsererAbreise, der Überfahrt nach Kopenhagen, nach Reykjavik,

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aus der ich gekommen war, die nutzlose Lampe weit voraus-tragend, dann stieß ich an Felsvorsprünge und glitt auf demsteilen Weg aus, rutschte und rollte tiefer, bis ich nach einerZeit zerschunden und völlig erschöpft neben einer Wandniederfiel und da liegen blieb.

Ich war vielleicht 3 Stunden gegangen, als der Weg plötzlichdeutlich anstieg. Das gab mir Hoffnung, das musste michjener Gabelung näher bringen, und ich versuchte im Scheindes Lampenlichts Wandformationen und Gewölbebögenwieder zu erkennen, die ich beim Hinabsteigen schonwahrgenommen hatte. Aber ich merkte bald, dass, flüchtigbetrachtet, hier unten alles so ähnlich und ununterscheidbaraussah, dass diese Methode, mit der ich mich versichernwollte, sinnlos war. In dem Augenblick, als mir bewusstwurde, dass ich beim Hinabsteigen niemals einen so steilenAbhang überwunden hatte, hörte der Gang auf, ich stieß mitden Händen und der Lampe fast gegen die senkrechteGranitwand, die mir zeigte, dass ich in einen toten Armgelaufen war.Nur für einen Augenblick erschien mir der Gedanke: meinKörper, hier so verloren, werde ein rätselhaftes Fossilabgeben, wenn man ihn irgendwann später fände; dannüberwältigte mich der Schrecken der Verlassenheit und derDunkelheit, denn die Lampe war so angeschlagen, dass sienach kurzem Flackern ganz verlosch. Immer weiter hatte ichdie Augen bei den letzten schwachen Lichtwellen, die sievon sich gab, aufgerissen, so dass sie jetzt schmerzten, als ichins Dunkel starrte. Niemals wird es oben auf der Erde sodunkel, auch in der finstersten Nacht nimmt die Netzhautnoch ein feines Streulicht auf und unterscheidet Konturen.Hier aber war ich blind wie die Lebewesen tiefer Höhlen, diegleich ohne Augen geboren werden.Da verlor ich den Kopf und alle Beherrschung meinerGlieder. Ich sprang auf und stürzte in der Richtung zurück,

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«Sinnestäuschung! Du halluzinierst», sagte ich und wurdegleich in diesem Vorwurf unterbrochen, oder bestätigt, dennjetzt glaubte ich undeutliche Worte zu hören, ein sehr ent-ferntes Murmeln; ich raffte mich auf, hinkte, kroch entlangder Wand, als könne ich der Schallquelle näher kommen,und wirklich vernahm mein Ohr, das ich ans Gestein ge-presst hielt, immer deutlicher die unverwechselbare Arti-kulation menschlicher Stimmen, es fehlte nur noch einkleines Stückchen, bis ich jedes der gesprochenen Worteauch klar und deutlich verstand, das mussten mein Onkelund der Isländer sein, die nach mir suchten, aber wo, aberwo? Ich schrie aus Leibeskräften:«Hilfe! Hierher zu mir!»Dann beugte ich mich wieder zur Wand und lauschte, aberich lauschte lange, und nichts kam. Plötzlich begriff ich, wasgeschah: Die Stimmen pflanzten sich durch ein akustischesPhänomen fort, und was gesprochen wurde, war nur zu ver-stehen, wenn man Ohr oder Mund dicht an die Wand hielt,welche die Schallwellen wie ein elektrischer Draht leitete.Ich suchte jetzt fieberhaft nach der Stelle, an der ich die fernen Stimmen am besten vernehmen konnte, legte dortmeine Wange gegen die Wand und sprach mit übergroßerDeutlichkeit: «Mein Onkel Lidenbrock.»Und wartete in höchster Aufregung. Der Schall läuft nichtsehr schnell, und die dichtere Luft hier unten verstärkte ihnzwar, beschleunigte ihn aber nicht. Es dauerte also einigeSekunden, und dann schlugen die Worte an mein Ohr:«Axel, Axel, bist du's?»«Ja, ja!»

Kapitel 20

Als ich erwachte, kamen mir bald die Tränen, denn es wurdemir bewusst, dass ich noch zu sterben hatte, dass mein Elendsich noch so lange dehnen würde, wie die Fasern meinesKörpers mithielten. Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren, undich entdeckte, dass meine Uhr zersprungen war. Blutverlusthatte mich geschwächt, es kostete mich unendliche Mühe,den Willen und die Kraft aufzubringen, einen Schluck ausmeiner Flasche zu trinken.Während ich wieder bewegungslos im Schoß der Erdeeingeschlossen lag, musste ich an Grauben denken, die michauf dieses Abenteuer ausgeschickt hatte. Und starb ich denn,so starb ich doch durch sie, zu ihren Füßen irgendwie, aberes gelang meiner Vorstellungskraft nicht, ihr Bild zubeschwören, sie blieb ein Schemen, blond und sehr entfernt.Seit ich blind war, strengten sich meine Ohren um so stärkeran, und ich erstarrte in meiner Lage plötzlich, als unver-mittelt ein starkes Tosen und Grollen im Berg um michherum hörbar wurde und sich wieder verlief. Eine Natur-erscheinung? Begann sich die Erde zu heben und zu be-wegen? Bahnten sich glühende Massen den Weg nach obenzu einem neuen Ausbruch? Was stürzte zusammen, wasexplodierte unter/über mir? Ich lauschte vielleicht eine Viertel-stunde lang, und alles blieb still. Ich versuchte, mich auf-zusetzen und meinen Rücken an die Wand zu lehnen. Undkaum berührte mein Kopf das Gestein, da hörte ich eswieder, diesmal aber deutlicher, ein Geräusch, ein Geräuschwie ...

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Diese Worte belebten mich derart, dass ich sofort meine Ge-päckstücke an mich raffte, soviel ich im Dunkeln davonfand, und vorwärts taumelte. Ich wusste, dass wir nichtmehr miteinander würden sprechen können, bis ich die beiden gefunden hatte. Mir war das Phänomen nicht mehrrätselhaft, denn ich erinnerte mich an ähnliche Umstände,die Menschen oder die Natur gebildet hatten: die innereGalerie der St. Paul's Cathedral in London zum Beispiel,oder in der sizilianischen Flüstergrotte «Ohr des Dionys» beiSyrakus. Die Stimme meines Onkels konnte nur deshalb biszu mir dringen, weil kein Hindernis dazwischen lag. DerWeg des Schalls musste auch der meine sein.

Bald nahm die Schnelligkeit, mit der ich rutschte, zu, derabschüssige Boden des Ganges schien mich keineswegs aufden fast horizontalen Weg zu führen, den ich gekommenwar, ich schlug an spitze Gesteine an, überschlug mich fastund fühlte noch, wie der Boden unter mir plötzlich völlignachgab, bevor ich das Bewusstsein verlor.

«Wo steckst du?»«Ich weiß nicht, es ist alles so dunkel.»«Und die Lampe?»«Die Lampe ist verloschen, Onkel.» «Ist der Bach noch da?»«Nein, er ist schon lange nicht mehr mit mir.» «Wie kommen wir zu dir?»«Ich weiß nicht, ich kann nicht mehr reden, ich bin so er-schöpft.»«Nur Mut, rede nicht, mein Kind, hör mir zu. Wir haben dichin der oberen und unteren Galerie gesucht, immer entlangdem Hansbach. Schließlich sogar geschossen, in der Hoff-nung, du würdest den Knall hören. Jetzt sprechen wir mit-einander. Das ist schon etwas. Das ist großartig. Bald werdenwir da sein.»«Nimm deine Uhr, Onkel. Sprich meinen Namen und merkdir die Sekunde, ich spreche ihn sofort, wenn ich ihn hier ge-hört habe. Wenn du ihn wieder hörst, teil die Wartezeit durchzwei und multipliziere mit der Schallgeschwindigkeit ...»«Wozu erklärst du mir das so lange. Bist du bereit?» «Ja,»«Axel.» «Axel.»«40! Also 20 sec von mir zu dir. Macht knapp 7 km.» «Sieben Kilometer!»«Eine Kleinigkeit. Pass auf, wie du zu uns kommst: du musstabwärts. Wir stehen in einem hohen Saal, in den von allenSeiten Gänge und Spalten münden. Gehen alle strahlen-förmig von hier ab. Du musst also bei uns landen. Schleppdich fort, rutsche, krieche! Es führt dich alles in unsere Arme.»

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schauen sah ich, dass das Licht durch eine niedere Öffnungam Ende unserer Grotte eindrang. Ein Erdspalt, durch denTageslicht herabfiel? So riesentief? Von dem müsste mandoch gehört haben! Und als ich jetzt ganz still lag, glaubteich, auch das Aufrauschen von Wellen zu hören, diebedächtig ans Ufer schlugen, und von Wind, der darüberhinging.Ich erschrak darüber und fürchtete, meine Augen und Ohrenseien bei dein Sturz gestern beschädigt worden, vielleichtauch mein Gehirn, das mir jetzt Wellenschlag und Wehendes Windes als Zwangsvorstellung aufdrängte. Eine andereMöglichkeit war, dass ich unvorstellbar lange geschlafenhatte, dass Hans und mein Onkel mich inzwischen wiederzur Oberfläche der Erde hinaufgetragen hatten ... Aberwarum dann nicht ganz hinaus? Und woher die Wärme?Da kam von der erleuchteten Öffnung her mein Onkel in dieGrotte und trat an mein Lager heran. «Guten Morgen», sagte Lidenbrock. «Ich sehe, dir geht's gut.Du hast auch schön ruhig geschlafen, Hans und ich warensehr zufrieden.»«Ihr habt gewacht?»«Ja. Zeig mal deine Wunden. Prachtvoll verschorft. Hans hatdir eine Kräutersalbe draufgeschmiert, ein altes Geheimnisder Eiderdaunenjäger.» «Ei der Daus!»«Ja, wacker-wacker. Hab ich auch gesagt. Jetzt frühstückenwir erst mal.»Während mein Onkel die Esswaren ausbreitete, erzählte ermir, wie ich mit einer Woge von Steinen und Geröll aus

Kapitel 21

«Er lebt! Er lebt!»Das war die Stimme meines Onkels Lidenbrock.«God dag», sagte der Isländer Hans und nickte sanft mitdem Kopf.«Ja», sagte ich, «Guten Tag.»Ich sah und begriff eben noch, dass wir uns in einem weiten,dämmrigen Raum befanden, da nahm mich mein Onkel anseine Brust und tat mir weh, indem er mich an sich drückte.Jetzt wusste ich, bis zu welcher äußersten Grenze seinenüchterne Beherrschung gehen konnte und was geschehenmusste, bis er eine menschliche Regung wie diese zeigte. Alser mich wieder bettete und die Decken um mich zusammen-zog, sah ich von neuem den dämmrig erleuchteten Raum.Das Licht sah anders aus als das unserer Lampen.«Wo sind wir?» fragte ich.«Morgen, morgen», sagte mein Onkel. «Jetzt ist es 23 Uhr,schon etwas darüber, und du wirst schlafen.» «Aber sag mir, welcher Tag heute ist.» «Mittwoch, der neunte.»«Also 4 Tage lang ...»«Ja. Genug Leiden, um eine Nacht lang auszuruhen. Schlafjetzt!»Als ich am anderen Morgen erwachte, sah ich die Höhledeutlicher. Unser Lager befand sich in einer prächtigenGrotte auf feinem Sandboden. Riesige Tropfsteine verziertensie und schimmerten in einem Halblicht, das mir unerklär-lich war. Es brannte keine Lampe oder Fackel. Beim Umher-

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Eine kaum beschreibbare Unruhe hatte mich ergriffen.«Jetzt nicht, Axel, es ist zu windig. Du erkältest dich.»«Windig?»«Einen Rückfall können wir am wenigsten gebrauchen. Dumusst dich schonen, die Überfahrt wird nicht einfach sein.»«Überfahrt??»«Ich denke, dass wir uns morgen einschiffen können.» «Schiff???»Lidenbrock sah, dass er mich nicht zurückhalten konnte. Erhalf mir auf, hängte mir eine Decke um die Schultern, stützteund geleitete mich vorwärts: hinaus.

einem der senkrechten Schächte gespült kam, die in dieGrotte mündeten, bewusstlos und mit Blut bedeckt.«Eigentlich hättest du umkommen müssen», sagte Liden-

brock. «Dass du lebst, ist gegen alle Wahrscheinlichkeit. Ichverstehe das nicht.»Ich sah, dass ihn die Ungereimtheit ärgerte, und beeiltemich, seine Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu lenken.«Eine Frage, Onkel: Hast du den Eindruck, ich sei gesund?»«Ja, wieso?»«Und mein Kopf?»«Ein paar Quetschungen. Unerheblich.»«Ich fürchte, mein Gehirn hat etwas gelitten.» «Wieso das?»«Sind wir wieder an der Erdoberfläche?» «Aber nein, weit entfernt ...»«Siehst du, eben! Es hat doch etwas gelitten. Ich fühle michsonst ganz normal, aber ich sehe Tageslicht, ich höre Windund Wellenschlag.» «Sonst nichts?»«Etwas Hämmern oder Hacken vielleicht noch ... ich weißnicht, wie ich das beschreiben soll.»«Ich will dir nichts erklären, was man nicht erklären kann.Du liegst hier, in Decken gewickelt, und noch fehlen dir dieBegriffe für das, was ich dir sagen müsste. Wenn du auf-stehst, wirst du selber sehen und merken, dass es viele Dingezwischen Erdmitte und Oberfläche gibt, die sich unsereSchulgeologie nicht träumen ließ.» «Dann will ich selber sehen!» rief ich heftig und warf dieDecken von mir.

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Wassers bot der ganze Anblick den Eindruck öder Wildnisund schrecklicher Verlassenheit. Woher kam das Licht? DerSchein war hell wie der Tag, aber keineswegs mit Tageslichtzu verwechseln. Hierher drang kein Sonnenlicht, das sichgleißend und lebenspendend verströmte, die Helligkeit warauch dem Erdlichtwiderschein vom Monde nicht vergleich-bar, nein, das Licht hier lag beständig zitternd und pul-sierend in der Luft, bläulich helles und trockenes, eben«elektrisches» Licht, eine fortdauernde Nordlichtstrahlungin dieser Höhle, ein immerwährendes kosmisches Phäno-men ... Aber das Wort «Höhle» trifft die Sache nicht mehr,ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll: Erdblase,Tiefsaal, Grotte d'Azur, mit welchem Namen ich eine Weltbenennen soll, die bisher noch nicht einmal in unsererVorstellung existierte. Auch Hohlwelt passt da nicht, dasWort ist voller Theorie ...Die Decke des Gewölbes muss unermesslich hoch liegen,wie an einem Himmel zogen Wolken darunter hin, was ichnicht verstand; denn physikalisch war die Verdunstung desWassers unter dem hier herrschenden atmosphärischenDruck unmöglich. Der gleiche Druck musste jedenfallsbewirken, dass sich das geballte Gewölk innerhalb kurzerZeit regelmäßig bruchartig entleerte; jetzt aber herrschtegutes Wetter (wenn man hier unten so sagen konnte). DieLichtspiele in der Atmosphäre belebten die Wolkenbildun-gen durch Glanzlichter und Schattenbildungen, aber derGesamteindruck des Bildes war düster stimmend, da ihmWärme fehlte, ganz besonders düster. An diesem Himmelzogen niemals Sterne, das wusste ich, und das spürte ich

Kapitel 22

Zuerst sah ich nichts als schmerzende Helligkeit. Ich musstemeine Augen, die an solches Licht nicht mehr gewöhntwaren, zukneifen und konnte sie nur Stück um Stück wiederöffnen, wobei sie heftig tränten. Dann erschrak ich über das,was ich sah. «Das Meer!»«Genau», sagte mein Onkel, «das Meer Lidenbrock, wennich vorstellen darf. Ich glaube, die Entdeckung wird mirwohl niemand streitig machen.» Vor uns dehnte sich die Wasserfläche eines Sees oder einesMeeres aus, deren Grenzen in der Atmosphäre des Hori-zonts verschwammen. Wir standen auf feinem Ufersand,den die sanften Ausläufer der Wellen in die Buchten gespülthatte. Der Wind, der übers Wasser ging, trieb leichteGischtspritzer auf und wehte sie mir ins Gesicht. Links undrechts von uns wurde dieser Uferstrand in 200 m Entfernungvon aufsteigenden Felsen begrenzt, die weit ins Wasser vor-sprangen, und als ich den Kopf hob, sah ich, dass es sichdabei nicht nur um Felsnasen handelte, wie sie Buchtenbegrenzen, die wir kennen, sondern um gigantische gra-nitene Strebepfeiler, die so hoch aufsteigen, dass der Blick sieverlor. Am Fuß dieser Stützen von mehr als 100 km Erd-schale nagten unablässig die Wellen.Es war ein Meer, dessen Ufer, so weit man sie sah, dem ein-gerissenen Landsaum Norwegens glichen, mit Steilküstenund schroffen Felsvorsprüngen, ein Meer, das den Meerender Oberwelt glich, das aber doch zugleich unverwechselbaranders und fremd war. Trotz der sanften Bewegung des

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Ich nickte, er gab mir seinen Arm. Es war mir lieb, dass ichmich noch darauf stützen konnte.Links von uns bildeten abgebrochene Felsen, die sich über-einander türmten, einen gigantischen Felsschutthaufen, überden Sturzbäche herabkamen, sich in kleinen Becken sammelten,überliefen und weiter fielen. An manchen Stellen deutete auf-steigender Dampf heiße Quellen an, und mehrere Rinnsalemündeten in das Meer. Auch der Hansbach verlor sich stillins größere Wasser, hatte bereits ein leichtes Bett ausge-waschen und wirkte, als sei das seit Jahrtausenden sein Laufgewesen.Wir übersprangen diese Bäche und arbeiteten uns der Küsteentlang weiter vor, bis wir plötzlich vor einem Anblick stehen blieben, auf den wir nicht gefasst waren. In einerEntfernung von etwa 500 Schritt stand, bislang durch vor-springende Felsen verborgen, ein großer, dichter und schwererWald vor uns. Die Bäume waren nicht übermäßig lang, abersie hatten sämtlich wie abgezirkelt die Form von Regen-schirmen, der Wind bewegte keine Blätter in ihnen, siestanden vielmehr steif wie eine Masse versteinter Zedern.Ich blieb wie angewurzelt stehen. Auch für diese Erschei-nung hatte ich keine Namen. Gehörten die Bäume keiner der200.000 Arten aus dem Pflanzenreich an, die man bis jetztkennt? Sollten wir ein neues Sumpfgewächs ...Aber nein, als wir näher kamen, bestätigte sich der ersteEindruck, unser Erstaunen wurde jetzt von der Bewun-derung verdrängt. Das waren Gewächse, wie sie die Ober-fläche der Erde auch kannte, aber ins Riesenhafte vergrößert.«Champignons», sagte mein Onkel. «Ein ganzer Wald voll.»

und wurde mir des ungeheuren Drucks der Granitmassenüber uns bewusst. So riesig der Hohlraum sein mochte, erwar unser Gefängnis.Ich wusste nicht, wie ich mir das alles erklären sollte. Warbeim Erkalten des Erdballs hier nachgiebiger Boden abge-sackt und hatte den Hohlraum gerissen? Ich kannte Berichteüber berühmte Grotten, die Grotte zu Guachara (Columbia)des Alexander von Humboldt zum Beispiel, die der Gelehrte750 m weit erforscht hatte. Über den unergründlichen Seeder Mammut-Höhle in Kentucky, deren Decke sich 150 mhoch wölbt, sind Forscher über 50 km gefahren, ohne ansEnde zu kommen - aber waren das Vergleiche zu dieser hiermit ihrem Dunsthimmel voll elektrischen Lichts und demunübersehbaren Meer in ihrem Schoß?Die in mir aufgestaute Erregung über die unerwartete undunbeschreibbare Entdeckung brachte die gesunde Farbe aufmein Gesicht zurück, meine Schwäche wurde durch Er-staunen behoben, und als meine Lungen nach 47 TagenKerker in schwarzen Schlünden die sauerstoffreiche dichteLuft atmeten, kehrte die Lebenskraft und ein stärkendesGefühl der Befreiung zurück. Ich sog den leicht salzduften-den «Seewind» mit unendlichem Genuss ein.

Mein Onkel war so nachsichtig, mir den ersten Eindrucknicht zu zerstören, obwohl ihn der Anblick wahrscheinlichlängst nicht mehr berührte. Erst als ich merkte, dass erunruhig wurde, wandte ich midi ihm zu, und er sprach:«Bist du kräftig genug, um ein bisschen spazieren zugehen?»

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«Der Unterkiefer des Mastodon», sagte ich, denn die Abbil-dungen aus meinen Naturkundebüchern waren mir nochalle gegenwärtig, «Dinotheriumbackenzähne und ein Mega-theriumbecken, das größte Becken im Bereich des Leben-digen. Und dort weiter hinten, das sind keine Buschwerke,da liegen ganze Skelette. Das grenzt mir doch an Wunder!»«Wo soll da ein Wunder sein?» fragte Lidenbrock unwirsch. «Die Tiere haben hier gelebt, an den Ufern dieses Meeres, imSchatten dieser Riesenpflanzen.» «In einer Höhle aus Granit!?»«Granit, Syenit, Diorit, ganz egal!» sagte mein Onkel. «Daswaren die Gesteine im Gang, durch den wir kamen. Das magder Untergrund auch hier sein. Ich habe gestern aber Boden-untersuchungen gemacht. Schau hin, dann findest du Sand,Schlick, Riff kalk, Diatomeenschlamm und Sapropel. KlaresSedimentgestein. Lebensgrund für Seelilien, Ammoniten,Schnecken, Schmelzschupper und Reptilien, Saurier, Knochen-fische, Vögel, Schwämme, Muscheln, auch Taxodien,Gingkos, Nadelbäume ...» «Schon gut», sagte ich, «ich weiß. Aber woher die Ab-lagerungen inmitten der Magmagesteine?» «Leicht zu erklären, wenn man Geologe ist. Im Erdaltertumund noch im Erdmittelalter die starken Bodenhebungen und-senkungen. Elastische Rinde, wie du dich erinnerst. StarkeFestlandüberflutungen, Einbrüche, ein Stück Meeresbodenbricht ein, wird hinabgezogen in den Abgrund zumSchwerpunkt mit all seinem sedimentären Terrain.»«Also ein Terrarium unter der Erde, weiteren Einflüssen ausder Veränderung der Erdoberfläche entzogen? Ja, sag mal,

Es handelte sich tatsächlich um weiße Champignons, diehier in diesem Klima zu einer Höhe von 9 bis 12 m aufge-schossen waren und einen Hut von gleich großem Durch-messer trugen, Tausende und Abertausende. Sie standen sodicht, dass das Licht nicht bis zum Boden drang; unter ihrenübereinander geschobenen Kappen herrschte undurch-dringliches Dunkel.Dennoch wollte ich weiter vordringen. Aber eine tödlicheKälte schlug uns aus der feuchten Finsternis unter denFleischwölbungen der Pilzhüte entgegen, so dass wir nureine halbe Stunde darin herumirrten. Ein Wohlgefühldurchrann meinen Körper, als wir ans Ufer und ans Meerzurückkehrten.Champignons waren aber nicht alles, was diese unterir-dische Pflanzenwelt zu bieten hatte. In einiger Entfernungerhoben sich Gruppen zahlreicher anderer Bäume, die leichtzu bestimmen waren, 30 m hohe Lykopodien, riesige Sigil-larien, Farne wie Tannen so mächtig und Lepidodendren mitbehaarten Blättern. «Ist das ein Botanikerfestessen», riefmein Onkel. «Unsere Gartengewächse im Riesenformat, unddie ganze Flora des Erdmittelalters! Welch ein Herbarium,welch eine Beweismasse für die kühnen Theorien undRekonstruktionen der Gelehrten. Hier ist Material, hier istErkenntnis, welche keine Sündflut fortspülen konnte.» Alsich stolperte und fiel und dabei die Staubschicht von denUnebenheiten des Bodens wischte, sahen wir noch mehr.Unter unseren Füßen breitete sich ein mit Riesenknochenbesäter Acker, baumstarke Skelett-Trümmer, die wir jetztauch nach ihren Umrissen erkannten.

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sehen. Aber meine Fragen wurden nur deutlicher undgrößer. Wo war dieses Meer zu Ende? Und wohin führte es?Würden wir ans andere Ufer gelangen? Und was stand unsdort an Erkenntnissen bevor?

wer gibt uns denn dann die Sicherheit, dass die Tierarten,die damals hier eingeschlossen wurden, nicht prächtiggediehen sind und heute noch existieren? Wenn die Pflanzenschon so schießen?» Mich beunruhigte dieser Gedanke tat-sächlich mehr, als ich zeigen wollte. Leben hier unten, daswäre zugleich Trost und Erschrecken für Eingeschlossene,wie wir es waren. Ich ließ mich bei einem der Uferfelsennieder und sah über den Wasserspiegel. Zu meinen Füßenbrachen sich rauschend die Wellen. Ich konnte von hier ausdie ganze Bai überblicken, in der wir an die Küste diesesMeeres gekommen waren. An der innersten Stelle dieserEinbuchtung lag ein kleiner natürlicher Hafen, dessenWasser von den umgebenden Felsen vorm Wind geschütztwurde. Eine Brigg und zwei bis drei Kanonenboote hättendort bequem ankern können, ja, die Vorstellung eines aufge-takelten Zweimasters paßte so natürlich in diese Umgebungund wurde so intensiv, dass ich für einen Augenblickglaubte, gleich würde das Schiff erscheinen und mit vollenSegeln unterm Südwind in See stechen.

Die Empfindung dafür, dass die einzigen lebendigen Wesenhier unten wir drei waren, wurde nach solchen Gedankennur noch stärker. Wenn Windstille herrschte und der Schlagder immer wiederkehrenden Welle zu meinen Füßen daseinzige Geräusch war, dann senkte sich für Augenblicke eineStille über Felsen und Wasser, die weithin hörbar schien undlastender auf mir ruhte als die Lautlosigkeit der Wüste. Ichversuchte dann mit zusammengekniffenen Augenlidern denNebel der Horizontlinie zu durchdringen, um Genaueres zu

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Erde zwischen der Oberfläche und unserem jetzigen Stand-punkt befindet. ««Tja. Am 70. Breitengrad, wo Ross den magnetischen Nord-pol entdeckt hat, würde sie wahrscheinlich senkrecht stehen.Dieser geheimnisvolle Anziehungspunkt kann also nichtsehr tief liegen.»«Das hat sich die Wissenschaft bisher nicht träumen lassen.»«Die Wissenschaft, mein Junge, besteht nur aus Irrtümern.Aber diese Irrtümer muss man begehen. Es sind die Schrittezur Wahrheit.»«Wie tief sind wir?»«155,75 km.»«Da oben drüber also», sagte ich, mit einer Handbewegungvage andeutend, «das schottische Hochland, die schneebe-deckten Gipfel der Grampianberge.» Eine etwas schwereBürde, wenn man die Massive aus der Anschauung kennt,aber der Baumeister des Weltalls hatte gutes Material be-nutzt, es trug. Die Kaverne mitten in der Erde hätte keinMensch errichten können. Gegen diese Gewölbe und ihreTragkraft waren Brückenbogen und Kathedralenschiffe statische Spielereien. Was bedeuteten die riesigsten Gottes-häuser gegen diese Grotte, in der ein Meer und seine Stürmesich bequem entwickeln konnten?«Wie weiter, Onkel?» fragte ich. «Hier kommen wir nichtdurch.»«Müssen wir aber, denn am jenseitigen Ufer münden dieGänge, durch die wir weiter hinabsteigen.» «Ach so. Was glaubst du, wie weit es bis dahin ist?» « 100 bis 150 km.»

Kapitel 23

Beim Erwachen am nächsten Morgen fühlte ich mich völliggeheilt. Ich sprang aus den Decken, lief hüpfend undlachend zum Strand hinunter und nahm ein erfrischendesBad in den Fluten dieses mittelirdischen Meeres. DasFrühstück danach schmeckte vortrefflich. Hans hatte einekleine Feuerstelle eingerichtet und kochte darauf Kaffee: Niehat mir dieses Gebräu besser geschmeckt als an diesemMorgen.«Wir haben Flut», sagte mein Onkel.«Was! Der Mondeinfluss reicht so tief herab?»«Alle Körper sind der Anziehung der Massen unterworfen,warum nicht dieser Teich?» «Teich ist gut! Das ist ein ausgewachsenes Meer zwischenden Schichten der Erde. Wer hätte das ahnen oder sich aus-denken können?»«Jeder», sagte mein Onkel bissig, «dem die Theorie von derZentralwärme nicht den Verstand vernebelt hat.» Wir waren wieder beim Thema, und ich bog rasch ab. «Wo sind wir denn jetzt überhaupt?»«1.500 km südöstlich Island, mit einer westlichen Ab-weichung von 19° 42'. Ganz normal. Aber etwas anderes istmerkwürdig.»«Was denn?»«Die Kompassnadel neigt sich nicht mehr nach Norden undnach unten, sondern sie hebt sich. Ich beobachte das mit dergrößten Aufmerksamkeit.»«Das würde ja bedeuten, dass sich der Magnetpunkt der

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Um 6 Uhr am anderen Morgen begannen wir das Fahrzeugzu beladen. Eine Decke wurde als Segel zwischen dem Mastaus zwei gebundenen Stäben und der Raa aufgehängt, daswar das ganze Takelwerk. Mit reichlichen Metern Seil hatteder Isländer das übrige Floß fest zusammengeschnürt; esbesaß sogar ein Steuerruder. Wir luden Lebensmittel,Gepäck, Instrumente und einen ansehnlichen Süßwasser-vorrat ein, dann stellte sich Hans ans Steuer, und wir machten los. «Halt, halt!» rief mein Onkel plötzlich. «Der Hafen hat nochkeinen Namen. Axel, wie wär's?»Mir aber lag für diese Bucht zwischen den beiderseits her-vorspringenden Felsen mit dem dunklen Tunnelloch anihrer innersten Stelle, durch das wir angekommen warenund aus dem immer noch der Hansbach floss, ein andererName auf der Zunge:«Grauben!» sagte ich. «Hafen Grauben macht sich bestimmtgut auf der Karte.»Das trug mein Onkel ein.Der Wind kam aus Nordost, und unsere Geschwindigkeitbetrug rund 5 km/h. Wenn die Schätzung meines Onkelsrichtig war und wir die Geschwindigkeit beibehielten,mussten wir am anderen Morgen am gegenüberliegendenUfer sein.Ich saß ganz vorn auf dem Floß. Wir waren noch gar nichtweit hinausgekommen, da öffneten sich die Küstenbegren-zungen immer weiter, und um uns herum war uner-messliches Meer. Wir hatten die Sicht auf die Gestade, vondenen wir aufgebrochen waren, bald verloren. Große Wolken-

«Soweit kann ich nicht schwimmen.»«Sollst du auch gar nicht. Wir benutzen ein Fahrzeug.»«Teufel, Teufel. Ich wusste gar nicht, dass wir ein Faltboot

dabei haben.»«Wozu ein Boot? Ein gutes solides Floß tut's doch auch.» «Wo sollen denn die Baumstämme dazu sein? Oder willst duSchwimmkissen aus Champignonfleisch zusammenbinden?»«Sperr mal deine Ohren auf!»Jetzt merkte ich, dass mir das Hämmern schon eine ganzeZeit lang bewusst gewesen war.«Ach, Hans fällt Bäume? Der Ärmste, soll er sie die ganzeStrecke hierher tragen?» «Sie sind schon hier, sind auch gefällt. Komm mit.» Wir brauchten nur um den nächsten Felsvorsprung zu gehen,da sahen wir Hans an der Arbeit. Ein halbfertiges Floß lagauf dem Strand. Die Balken, aus denen es gefertigt war,schienen mir merkwürdig. «Was ist das für Holz?» fragte ich meinen Onkel. «Fichten, Tannen, Birken», sagte Lidenbrock, «aber alles fos-sil. Durch Seewasser mineralisiert.» «Aber wenn es versteinert ist, muss es doch untergehen!»«Richtig. Manche Stücke sind auch vollkommen zuAnthrazit geworden. Aber nimm dies hier!» Er hob ein kürzeres Stück auf und zeigte es mir. «Hier hat die Umbildung erst angefangen. Pass mal auf, wiedas schwimmt!»Er warf es in hohem Bogen aufs Wasser. Zuerst versank es,dann stach es wieder aus der Oberfläche hervor und schau-kelte gemächlich auf den Wellen des Meeres Lidenbrock.

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Art sonst nur aus Fossilien. Das nennt man Sammlerglück.»«Kannst du ihn einordnen?»«Ordnung: Ganoiden, Familie: Cephalaspiden, Gattung: tja.»«Na?»«Ich möchte schwören: Pterichtys. Nur eins ist merkwürdig.Siehst du nichts?»Er hielt mir das Tier vor. «Nein.»«Der Fisch auch nicht, mein Junge. Er ist blind. Er hat über-haupt kein Sehorgan.».«Wie alle Bewohner unterirdischer Gewässer ...» «Kann aber ein Sonderfall sein. Fangen wir noch mehr undsehen wir nach, bevor wir repräsentative Angaben machen.»Innerhalb von 2 Stunden hatten wir einen kleinen BergFische gefangen, Pterichtys vor allem, aber auch Exemplareaus der Dipteridenfamilie, alles Fische ohne Augen. Alsoenthielt dieses Meer nur fossile Gattungen, Lebewesen, dieuns auf der Erdoberfläche als ausgestorben gelten? Warumnur Fische? Warum nicht Saurier, deren Bild sich derMensch bislang nur nach einer Rippe, einem Kiefer machenkonnte? Warum nicht auch Urvögel, welche die schwereLuft mit ihren Flügeln schlugen?Auf dem Floß über ein Meer Hunderte von Kilometern unterder Erde dahingleitend, träumte ich im Wachen den paläon-tologischen Traum, sah Riesenschildkröten wie schwim-mende Inseln durch die Wellen treiben und am imaginärenStrand wandeln die Großsäuger der Urzeit, Leptotheriumund Mericotherium, auferstanden aus brasilianischenHöhlen und sibirischem Eis, der Riesentapir Lophiodon

bänke breiteten graue Schatten über die Wasseroberfläche,nur bisweilen fingen die Tropfen im schäumenden Fahr-wasser des Floßes ein Zucken des elektrischen Lichts auf,brachen es und spiegelten es glitzernd wider. Das Wasser laghier draußen merkwürdig still, und nur das Rauschen desFloßes verriet seine Bewegung.Gegen Mittag sah ich ungeheure Massen von Seetang in denWellen vorbeitreiben. Ich kannte die Berichte über dieVitalität dieser Algen, wusste, dass sie in 4.000 bis 5.000 mTiefe zu finden waren und sich bisweilen unter 400Atmosphären Überdruck fortpflanzen, ich wusste, dass sieBänke bilden, in denen sich oft Schiffe verfangen; aber ichglaube, keinem Menschen sind sie jemals in solchenUnmassen begegnet wie uns. Viele Kilometer fuhren wir anden seeschlangenartigen Bändern entlang, ohne dass wir einEnde sahen, und mir begann sich ein Begriff von derNaturkraft zu bilden, die hier und in den frühen Epochender Erde solche Lebewesen in die Welt setzte.Hans hatte die Angel ausgeworfen und einen Fisch aus demWasser gezogen, der gewaltig zappelte. «Ein Stör!» rief ich.Mein Onkel rümpfte die Nase und sah sich das Tier genaueran. Der Fisch hatte einen platten, abgerundeten Kopf und einMaul ohne Zähne. Knochenähnliche Plättchen bedecktenden Vorderleib, er bewegte sich mit kräftigen Brustflossen,besaß aber keinen Schwanz. Er gehörte wohl in die Klasse,der die Naturforscher auch den Stör zuordnen, aber es warvoreilig gewesen, ihn mit unserem Stör gleichzusetzen.«Ein Fisch der Urzeit», sagte mein Onkel. «Man kennt die

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mir im Zentrum und fortgerissen in Planetenräume fort-gerissen ...«Axel, was ist dir!? Du fällst!» rief mein Onkel, ich spürte,wie mich die Hand des Isländers ergriff und hielt, sank amMast nieder und schloss verstört die Augen.«Bist du närrisch geworden?» fragte Lidenbrock. Ich schüttelte den Kopf.«Bist du krank?» Ich verneinte.«Ich weiß nicht, was du hast», sagte Lidenbrock ärgerlich.«Wir haben guten Wind und gutes Meer, machen prächtigeFahrt und werden bald landen.» «Ja, guter Wind und gutes Meer», sagte ich.

lauert dem Anoplotherium auf, dem Fabeltier aus den erstenSchöpfungsstunden, probeweise zusammengeklatscht, späterverbessert und in den Einzelausführungen Nashorn, Pferd,Flusspferd und Kamel geliefert. Das Mastodon windet denRüssel und brockt mit seinen Hauern dem Meere Felsblöckeein, erdeaufwühlend brüllt das Megatherium und füllt mitseinem Laut die granitene Höhle aus, der Uraffe Proto-pithecus springt von Fels zu Fels, und drüber rauscht derPterodactylus wie eine Riesenfledermaus, der Archäopterixund andre ungeheure Vögel, stärker als der Kasuar, größerals der Strauß, stoßen mit Schwingen und Köpfen gegen diesteinerne Decke dieser Tierhohlwelt. Meine Phantasie ziehtmich hinab in die Erdzeitalter, Menschen, Säugetiere, Vögelverschwinden und bleiben eingebettet in ihre Zeiten übermir zurück, während ich falle von Jura zu Trias und Dyas,auch Perm, durch 230.000.000 Jahre, wo sich die Trilobitenzum Sterben legen, ebenso Seelilien und Armfüßer, insKarbon, wo Schachtelhalme, Farbe, Spinnen, Krebse mir ent-gegenschlagen, aber spärlich werden, kaum erweckt ausdem Gestein und dann noch gar nicht vorhanden sind,durch Devon und Silur ins Kambrium, in die Jugend derTrilobiten, Urbecher und Ringelwürmer, die Molluskenvergehen, das letzte Lebendige sind Schwamm-reste, dannist das Leben tot, noch ungeboren und liegt beschlossen inEruptiv- und Sedimentgesteinen dieser Erde, im vulkanis-chen Schmelzfluß, im Magma, das glühend flüssig Kugel-form hat hatte erstrebt und in den Nebelhaufen zerstiebt denGasball glänzend glühend und groß wie die Sonne 1.400.000mal größer als die Erde die einmal daraus werden wird mit

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sagen mir, dass ich mir unnötige Sorgen mache. NichtsNeues. Gleiches Wetter, der Wind vielleicht etwas frischer.Mein Onkel Lidenbrock ist wieder mit Tiefenmessungenbeschäftigt. Unsere schwerste Spitzhacke wird dazu an einSeil gebunden und hinabgelassen. 360 m und kein Grund. Eskostet Mühe, diese Sonde wieder einzuholen. Hans findetam Eisen der Spitzhacke starke Druckstellen und zeigt siemeinem Onkel. Lidenbrock achtet nicht darauf, er trägt dieZahlen ein. Der Isländer kommt zu mir und macht mir mitMund und Händen klar, was «Tänder!» heißt.«Zähne!?»Allerdings, wenn man genau hinsah, erkannte man, dass dieEindrücke von Zähnen stammten, und ich versuchte mir dieKraft der Kinnladen vorzustellen, in denen diese Zähne saßen.Mir fällt mein Traum der Erdzeitalter wieder ein und beun-ruhigt mich. Leben dort unten Tiere, Ungeheuer unterge-gangener Gattungen, haifischgierig, walfischgroß? Ich mussimmer wieder zu der Spitzhacke sehen.

Donnerstag, 17. AugustNichts Neues, aber ich muss dauernd an die Tiere der Urzeitdenken, an die Reptilien, die den Weichtieren undSchalentieren folgten und den Säugetieren vorangingen. Be-herrscher der Meere, gebaut wie die Riesen, mit unvorstell-barer Kraft ausgestattet, an denen gemessen unsereKrokodile und Alligatoren lächerliche Restchen sind ...Ich erinnere mich noch genau an den Besuch des HamburgerMuseums, in dem ich ein über 10 m langes Skelett, nach fos-silen Funden rekonstruiert, sah und erklärt bekam. Trifft

Kapitel 24

Dienstag, 15. AugustDas Meer ist eintönig wie zuvor, nirgends ist Land in Sicht.Mein Onkel ist übelgelaunt, die Unruhe überwältigt ihn undpeinigt ihn um so stärker, als er auf diesen kleinen Fleck Floßgefesselt ist. Er nimmt allerhand Messungen vor, notiert undrechnet und hat auch mir, weil er mich so untätig sitzen undstarren sah, befohlen, ein Tagebuch zu führen.Seine Ungeduld ist verständlich: er hat sich verschätzt. Wirsind nun schon 500 km unterwegs ohne die Aussicht aufLand. Die Richtung geht immer nach Süden. «Ich bin doch nicht hier heruntergestiegen, um auf diesemTeich eine Vergnügungsfahrt zu machen. Was soll die Lust-partie? Das bringt uns doch alles nicht tiefer hinab!»«Aber Sacknussemm ist doch auch», warf ich ein, « ...» «Das ist die Frage! Sind wir auf dem Weg geblieben, den ereinschlug? Hat er dieses Meer überhaupt erreicht? Hat unsder Bach nicht überhaupt in die Irre geführt?» «Was nicht ganz so zu bedauern wäre, da wir doch immer-hin dieses Schauspiel sondergleichen ...» «Es handelt sich hier nicht um Schauspiele, mein Junge, son-dern um das Ziel! Das hab ich mir gesetzt, das will ich er-reichen!»

Mittwoch, 16. AugustWie jeden Morgen versuche ich, mir darüber klarzuwerden,ob die Helligkeit des Lichtes nachgelassen hat oder nicht. Ichfürchte mich vor der Dunkelheit, aber meine Beobachtungen

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Richtung. Hans wollte das Steuer zur Flucht herumwerfen,denn jedes dieser Seeungeheuer konnte unser Floß miteinem einzigen Biß zermalmen, aber da sahen wir auf deranderen Seite Krokodil und Schlange von ebenfalls so unge-heuerlichen Ausmaßen sich jagen und dabei dem Floßimmer näher kommen, die übrigen Tiere flüchteten vordiesen beiden Kämpfern, und unser Floß schien verloren.Aber Schlange und Krokodil schossen knapp 100 m entferntan uns vorüber, und noch mal 100 m weiter kam es zumKampf. Ihre Angriffswut war so groß, dass sie uns nichtbemerkt hatten. Mir schien, als mischten sich in dasSchlachtgetümmel, das die beiden Feinde im Wasser entfes-selten, auch andere Tiere, jenes Meerschwein, der Walfisch,Eidechse, Schildkröte, aber mein Onkel, der den Kampf mitdem Glas verfolgte, klärte uns genau auf«Das ist kein Krokodil, das hat wohl ähnliche Zähne, abereinen Eidechsenkopf ... das ist das fürchterlichste allerReptilien: der Ichthyosaurus.»«Und das andere?»«Der Plesiosaurus, sein fürchterlichster Feind!»Wie konnte ich mich täuschen lassen? War das die Angst?Natürlich kenne ich das mannskopfgroße blutige Auge desIchthyosaurus, gegen den enormen Druck in den Wasser-tiefen unempfindlich, kenne seine Riesenform und Schnellig-keit, die ihm den Namen «Walfisch der Saurier» eintrug. DasExemplar von gestern maß mindestens 30 m, in der enormenKinnlade sollen 182 Zähne stecken. Und ich kannte auch denPlesiosaurus: kurzer Schwanz, zylindrischer Leib, der ganzin einer Schildkrötenschale gekleidet ist, Rudertatzen, ein

mich das Schicksal so hart, dass mir die Begegnung miteinem derartigen Vieh bevorsteht? Die Zahnabdrücke aufdem Eisen sind konisch. Wie beim Krokodil. Warum musstemein Onkel die Tiere aus der Ruhe aufstören, indem er ihnenden Eisenpickel auf die Nase fallen ließ?Waffen gereinigt und geladen. Das Meer wird unruhig. Wirteilen Wachen für die Schlafenszeit ein.

Freitag, 18. AugustDas ständige leuchtende Licht ermüdet die Augen schreck-lich. Wir sind froh, häufig schlafen zu können. Ich habeheute «abend» die erste Wache. Am Steuerruder ist nicht vielzu regeln, obwohl die See unruhig geworden ist, viel stärkerals gestern. Ganze Wasserflächen heben sich und machendas Schreiben schwer, es ist, als steige der Meeresboden ingroßen Brocken emp ...

Samstag, 19. AugustIch hatte die Gefahr mehr geahnt als gesehen und war be-reits an den Waffen, als das Floß gestern abend von einemfurchtbaren Stoß empor- und vorausgeschleudert wurde,wohl 50 m weit. Mein Onkel und Hans waren sofort wachund übernahmen ihre Waffen.In etwa 400 m Entfernung sahen wir eine schwarze Masse inden Wellen, die regelmäßig auf- und abtauchte. Ich schrie entsetzt: «Ein kolossales Meerschwein!» «Und eine verflucht große Eidechse da drüben!» sagte meinOnkel.Dann stieg prustend ein Walfisch auf und kam in unsere

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«An dem sich das Wasser bricht. Endlich.» Wir hören das Brausen jetzt seit 3 Stunden, aber von Land istnichts zu sehen.«Vielleicht ein Wasserfall, ein Abgrund, in den die Wasser-massen dieses Meeres stürzen, und wir mit?» Mein Onkel Lidenbrock schüttelt bei diesen Fragen unwilligden Kopf. Ich vermute, ihm ist alles recht, was abwärts geht.Hans klettert schließlich den Mast empor und forscht denganzen Gesichtskreis aus. Und er entdeckt etwas.«Der nere!»Er deutet mit der Hand nach «dort unten». Dann steigt erherab, und von meinem Onkel erfahre ich, dass er einenriesigen, senkrecht aufsteigenden Wasserstrahl gesehenhabe.«Wie weit entfernt?»«Schlecht zu schätzen. Mindestens 50 km.» «Noch ein Seeungeheuer!»«Vielleicht.»«Halten wir uns mehr nach Westen, damit wir dem Tiernicht begegnen!»«Wir fahren geradeaus wie bisher.»Wenn man den Strahl dieses Tieres schon aus 50 km Ent-fernung sieht, muss es selber übernatürliche Größe besitzen.Lohnt es sich da vielleicht nicht, vorsichtig zu sein?Aber wir sind nicht hergekommen, um vorsichtig zu sein,das stimmt. Gegen 20 Uhr sind wir bis auf 10 km heran. Istes Täuschung oder Schrecken? Mir scheint der enormedüsterschwarze Körper des Tieres so groß zu sein wie eineInsel im Meer, mindestens 2.000 m in der Länge, und die

Schwanenhals von 10 m Länge... Die beiden Tierebekämpften sich mit unbeschreiblicher Wut, sie warfen dasWasser berghoch auf und füllten die Luft mit Schaum, dasswir minutenlang nichts sahen. Unter den Kampfgeräuschenunterschieden wir ein merkwürdiges starkes Zischen, aberdie Tiere hatten sich schon derart ineinander verbissen, dasswir nicht mehr ausmachen konnten, von welchem es kam.Wir standen bewegungslos um den Mast unseres Floßesgedrängt, die Gewehre in der Hand. Nach 2 Stunden endlichschlugen die Wellen plötzlich über den beiden Riesenzusammen. Das Wasser unter unserem Floß brodelte auf-gewühlt, aber an der Oberfläche bleibt es still. Da plötzlichschoss der grässliche Kopf des Plesiosaurus hervor, derlange Hals peitschte im Todeskampf die Wogen, krümmtesich, wand sich wie ein zerrissener Wurm und versankschließlich immer tiefer, immer schwächer zuckend, in denFluten...Bis zum Morgen ereignete sich nichts mehr; der kräftigeWind brachte uns heute rasch vom gestrigen Kriegsschau-platz fort.Hans steht am Steuer, mein Onkel liest verbissen seine bis-herigen Notizen durch, und die Reise hat ihre alte Mono-tonie wiedergewonnen. Heute Zahltag Hans.

Sonntag, 20. AugustWind aus Nordnordost, ziemlich ungleich. Geschwindigkeitimmerhin 15 km/h. Gegen Mittag vernehmen wir ein fernesGetöse.«Ein Felsen, eine Insel, ein Stück Land», sagt mein Onkel.

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einem unterirdischen Glutherd kommen. «Warm!» sagte ich zu meinem Onkel. «Und?»«Heiß! Und da drinnen, wo der herkommt, ist's noch heißer.Je tiefer, desto heißer. Je zentraler, desto ...» «UND?» fragte mein Onkel Lidenbrock, und ich schwieg.Wir kletterten wieder zur Anlegestelle des Floßes hinab undstiegen ein. Bevor wir ablegten, deutete mein Onkel mitseinem Zeigefinger auf die Insel. «Axelinsel!» sagte er barsch.

Montag, 21. AugustDas Geysir ist schon nicht mehr sichtbar, als ich aufwache,auch kaum noch hörbar. Das Meer ist ruhig. Aber die Luft istschwül. Man sieht förmlich, wie sich in der dichtenAtmosphäre Dünste und Dämpfe zusammenballen, dieWolken senken sich herab und färben sich drohend undlangsam olivgrün, das helle elektrische Licht wechselt überin eine Theaterbeleuchtung zum Sturm.Ich beobachte diesen Himmel und die Zusammenballungender Wolken, deren schwarze Bänke von Süden her immernachdrängen, mit einem unheimlichen Gefühl. Auch Ge-witter auf der Oberfläche jagen mir, wenn sie besonders ent-fesselt und heftig toben, Angst ein. «Es gibt ein Unwetter»,sage ich, aber niemand antwortet mir. Gegen Abend ist dieLuft dermaßen von Elektrizität gesättigt, dass meine Haarebereits knistern und ich kleine Schläge bekomme, wenn ichetwas anrühre. Mein Onkel Lidenbrock hat die übelsteLaune. «Wir bekommen ein Gewitter, ist das jetzt klar!?»

Wassermengen der empor geschleuderten Säule rauschenaus 150 m Höhe auf den schwarzen Rücken herab ...Ich gebe zu, dass mich der Schreck vor diesem neuen Untierüberwältigte. Ich steckte mein Tagebuch ins Gepäck undsprang auf, um das Segeltau zu zerhauen, damit wir nichtlänger auf unser Unglück zufuhren, aber Lidenbrock hieltmich zurück und zwang mich mit eisernem Griff, am Maststehen zu bleiben.Plötzlich kam dann der Ruf von Hans, der alles änderte:«Holme.»«Eine Insel. Ein Geysir. Na selbstverständlich», sagte meinOnkel, als habe er das alles gewusst. Sein Griff lockerte sich,er ließ mich los, wir betrachteten jetzt alle drei das Inselchen,das einem Walfisch wirklich täuschend ähnlich sah. Von Zeitzu Zeit wurde der Strahl etwas schwächer, um dann miterneuter vulkanischer Kraft und tiefem Gerumpel aus demUntergrund in die elektrisch zitternde Atmosphäre zusteigen und unter den Wolken in einen Tropfenregen zu zer-sprühen, der in allen Farben des Prismas funkelte.«Landen», sagte mein Onkel, und mit einem geschicktenManöver brachte uns der Isländer ans äußerste Ende derInsel, wo wir vor dem Wasserauswurf des Geysirs leidlichsicher waren.Lidenbrock und ich sprangen an Land, Hans, nicht weiter ander Sache interessiert, blieb am Steuer stehen.

Der Boden bestand aus Granit, mit Kieseltuff vermischt. Alsich ihn berührte, verbrannte ich mir die Finger. Offenbar warauch das Wasser des Geysirs siedend heiß und musste aus

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Mittwoch, 23. AugustIch kann kaum schreiben ... Das Unwetter dauert unvermin-dert an - wohin verschlägt es uns? Wir können nicht mit-einander reden, es ist zu laut. Die Blitze leuchten das Granit-gewölbe bis zur Decke aus. Sie fahren gegen die Decke.Wenn sie bricht!? Andere Blitze spalten sich und tanzen alsFeuerkugeln durch die Luft ... sie platzen wie Bomben ...Unaufhörliche Entladungen ...Wassersäulen türmen sich in die Atmosphäre und sinkenbrechend und schäumend zurück ...Wohin ...?Jetzt heißer als vorher ...L. befiehlt festzubinden, wir, das Gerät ...

Donnerstag, 24. August«Weg mit unserem Segel!»Er nickt ...Ich wollte auf, da kam der Feuerball. Vom Himmel diefeurige Kugel aufs Floß gefallen, halb weiß, halb blau, rolltelangsam hin und her, auf den Proviantsack, glitt herab,streifte die Pulverkiste, aber die war dicht, die grauenhafteKugel kroch auf Hans zu, auf meinen Onkel, die Luft stanknach Salpeter, auf meinen Fuß kroch sie zu, den ich nichtwegziehen konnte, da die Nägel und alles Eisen an Bordmagnetisch geworden, die Schuhe an den Gewehren hingen,zwischen Gepäck verklemmt, und als mir's mit höchsterAnstrengung gelang, zerplatzte sie mit hellem Lichtglanz,wir waren Augenblicke lang mit Flammen übergossen, dannerlosch alles ...

Er zuckt nur die Achseln. Es ist alles still um uns, auch derLuftzug fehlt. Auf dem Mast sitzt plötzlich ein winzigesSankt-Elmsfeuer. Das Segel fällt schlaff herab. Das Floß liegtunbeweglich auf dem Wasser. Die Atmosphäre ist zumErsticken geladen.

«Das Segel weg!» ruf ich. «Wenn der Sturm beginnt, reißt esuns ins Verderben!»«Nein, zum Teufel!» schreit Lidenbrock und kehrt sich heftigzu mir. «Hundertmal nein! Soll er uns fortreißen, der Wind,der Sturm! Endlich! Dann werden wir endlich Ufer sehen!Und wenn wir dran zerschellen!»

Da beginnt der Himmel im Süden sich in Wasser aufzulösen,in die frei werdenden Räume der Atmosphäre strömt Luftnach, es entsteht ein Orkan, in den wir hineingerissen wer-den ... mein Onkel wird geworfen, klammert sich fest aneinem Tau, Hans steht fest am Steuer, rückt und rührt sichnicht, und der Sturm peitscht ihm seine langen Haare vonhinten um den Kopf, an ihren Spitzen sitzen leuchtendeStrahlenbüschel, und am Horizont hat der niedergehendeRegen einen brausenden Katarakt gebildet, auf den wirzusausen, haltlos, wehrlos, das Meer ist in Aufruhr geraten:da zerreißt die Wolkendecke über uns, die drüber ge-speicherte Elektrizität kommt mit ins Spiel, Blitze, unzähligeBlitze, Donnerschlag auf Schlag, die Atmosphäre glüht, undHagel wie Leuchtspurgeschosse schlägt auf uns herab ... dasWasser brennt ...

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Kapitel 25

Ich weiß nicht, ob alle die vorangegangenen Tagebuch-notizen richtig wiedergegeben sind, sie waren unter denUmständen ihrer Entstehung fast unleserlich ausgefallen.Manche Sätze habe ich beim Abschreiben ergänzt, anderemussten unvollständig stehen bleiben. Das entspricht mein-er Erinnerung, die ich an die Ereignisse jener Tage habe. Ichweiß heute kaum noch, was damals an Schrecklichemgeschah.Wir erlitten Schiffbruch, oder vielmehr eine gewaltsameLandung, wir scheiterten an den Felsen einer Küste, die nachall den Reisetagen doch noch aufgetaucht war. Ich wurde insWasser geschleudert, wo ich elend ertrunken wäre, wennder Isländer mich nicht gerettet hätte. Er trug mich an Landund stürzte sich sofort wieder in die Wellen, um von unsererAusrüstung zu retten, was er retten konnte. Daruntermeinen Gepäcksack mit dem Tagebuch, reichlich durch-nässt.Es regnete immer noch in Strömen, aber da es an dieserKüste überhängende Felsen gab, fanden wir einigen Schutz.Hans versuchte, uns einige Bissen aufzudrängen, aber wirwaren zu erschöpft zum Essen und fielen in einentodestiefen Schlaf.Am nächsten Tag herrschte prachtvolles Wetter. Himmelund Meer hatten sich geeinigt. Die Umgebung wirkte klarund heiter auf mich, als ich die Augen aufschlug. «Guten Morgen, Axel, mein lieber Junge», hörte ich Liden-brock sagen. Er war fürchterlich fröhlich. An einem solchen

Fr., 25.Alles dauert fort ...Wir haben schon Gepäck verloren ...Der Himmel hängt voller Blitze, die sich unaufhörlich ent-laden. Der Orkan reißt uns mit unmessbarer Schnelligkeitübers Meer. Unter England ... Frankreich ... vielleicht unterganz Europa hindurch ... Wohin ...Wie lange noch ...?

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Während wir schliefen, war Hans bereits an die Arbeitgegangen; er hatte unsere Gepäckstücke, soweit er sie rettenkonnte, zum Trocknen am Strand ausgebreitet und wardabei, das Floß zu reparieren. Mein Onkel ging auf ihn zu,entlohnte ihn, versetzte ihm noch einen Handschlag auf dieSchulter und besah sich dann unsere Ausrüstung.Die Gewehre waren verloren gegangen, aber die KistePulver hatte Hans gerettet. Auch das Manometer war nochda.«Vielleicht das wichtigste Instrument», sagte mein Onkel miteiner Heiterkeit, die mir auf die Nerven ging. «Ohne daswüsste ich nicht, wie tief wir sind, und auf einmal wären wirbei den Antipoden wieder heraus, hahaha!» «Und der Kompass?»«Auch noch da, hehä! Da liegt er auf dem Felsen, neben Uhrund Thermometer. Ein wertvoller Mensch, unser Hans.»Bei der Überprüfung der Lebensmittel stellte sich heraus,dass wir mit Zwieback, Fleisch, Branntwein und Fisch nochauf 4 Monate hinaus versorgt waren. «Massenhaft», sagte Lidenbrock. «Reicht für hin und zurück,und mit dem Rest geb ich noch ein Diner am Johanneum. ««Denk ich an Essen», sagte ich, «...»«Meine Meinung! Gehen wir erst mal frühstücken.»Im Windschatten eines Felsvorsprungs tischte er Dörrfleisch,Zwieback und Tee auf, und ich erinnere mich, dass mir keineMahlzeit in meinem Leben so gemundet hat wie diese.Hunger, frische Luft und Ruhe nach dem Sturm trugen zumeinem ausgezeichneten Appetit bei. «Und wo sind wir jetzt?» fragte ich nach dem Essen.

Tag vielleicht die Hochzeit, dachte ich mir. Dieses Wetter,das Haus in der Königstraße, ich, zum Frühstück die Treppeherabsteigend, am Morgen des Hochzeitstages.«Ob du gut geschlafen hast??»«Jaja. Etwas zerschlagen noch, aber sonst guten Muts.»Er sah mich forschend an, wahrscheinlich hatte ich eineFrage von ihm überhört.«Aber du bist munter, Onkel», sagte ich. «Natürlich. Wirsind da.» «Wo? Am Ziel?»«Nein, aber am Ende dieses endlosen Meeres. Jetzt wiederLandweg. Und dann wirklich zum Mittelpunkt der Erde!»Es entstand eine Pause, in der ich versuchte, die Begeiste-rung aufzubringen, die er offensichtlich von mir erwartete.Es gelang mir nicht.«Eine Frage hätte ich doch: Wie kommen wir eigentlichzurück?»«Wieso zurück, bevor wir da sind?» «Ich frage ja nur.»«Na, ganz einfach. Entweder finden wir im Mittelpunkteinen anderen Weg. Oder wir nehmen den, den wir gekom-men sind.»«Und das Floß?» «Wird repariert.» «Lebensmittel?»«Können wir gleich mal nachschauen. Hans hat eine Mengegerettet. Ach richtig, heute ist Zahltag.»Er fischte drei Reichstaler aus seinem Brustbeutel und gingdann mit mir zum Strand hinunter.

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gebreitet lagen, «liefen» ist für meinen Onkel nicht gutgesagt: er hüpfte vor Ausgelassenheit. Er legte den Kompasshorizontal und sah auf die Nadel. Nach einigen Sekundenhatte sie sich eingespielt.Ich sah, wie sich Lidenbrock mit der Hand über die Augenstrich. Dann zog er die Stirn in Falten und beugte sich wiederüber das Instrument, fuhr aber gleich zurück. Jetzt trat ichheran und sah nach der Nadel: ich war in der Tat erschrock-en und überrascht. Sie zeigte Norden da, wo wir Süden ver-muteten, zeigte zum Ufer, statt zum Meer.Ich schüttelte den, Kompass, legte ihn auf den Boden, hieltihn in der Hand und drehte mich mit ihm. Die Nadel bliebunbeirrbar, und die Tatsache stand fest, dass offensichtlichwährend des Sturmes der Wind gedreht hatte und unserFloß an genau das Ufer zurückgeworfen hatte, von demmein Onkel wähnte, er habe es glücklich hinter sich.

«Genau berechnen kann man's nicht», antwortete er. «Wirhaben während des Sturms die exakten Anhaltspunkte ver-loren.»«Auf der Geysirinsel ...»«Axelinsel, mein Junge. Die Ehre, dass die erste Insel, dieunter der Erde entdeckt wurde, nach dir benannt ist, darfstdu nicht von dir weisen.««Also schön. Auf der Axelinsel hatten wir eine Strecke vonrund 1.200 km zu Wasser zurückgelegt. Und wir waren über2.500 km von Island entfernt.»«Schätzen wir von da aus: 4 Tage Sturm mit mindestens 350km pro 24 h - also 1.400 km dazu: 3.900 km, rund 4.000.»«Das Meer Lidenbrock hat also 2.600 km Durchmesser ...und das sogar vielleicht nur in der Breite. Womöglich ist esja länger als breit!?» «Kann gut sein.»«So groß ist das Mittelmeer!»«Kann gut sein», sagte mein Onkel bescheiden.«Und wenn unsere Berechnungen stimmen, dann befindenwir uns jetzt auch unter dem Mittelmeer - 4.000 km vonReykjavik entfernt: das kommt hin.»«Ob wir unter dem Mittelmeer, unterm Atlantik oder derTürkei sind, mein Junge, sagt uns allein der Kompass. Weißtdu denn, ob sich unsere Richtung nicht geändert hat?»«Mir schien der Wind immer aus der gleichen Richtung zukommen. Ich bin überzeugt, dass dieses Ufer südöstlich vomHafen Grauben liegt.» «Wir werden nachschauen gehen.» Wir liefen zu dem Felsen, auf welchem die Instrumente aus-

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weißer Knochen, ein Totengrund der Generationen aus Jahr-tausenden, die hier langsam zu Staub wurden. Die Grenzender Stätte waren nicht auszumachen, noch am Horizontschienen Berge heller Trümmer aufzusteigen.Zum ersten Mal auf unserer Reise bemerkte ich auch anmeinem Onkel Anzeichen der Erschütterung. Wir stolpertenmit weichen Knien zu den Gebeinen hinunter, die dortlagen, als sei die riesenhafte Seite eines Naturkundebuchsaufgeschlagen worden und zeige die Entwicklungsge-schichte der Tiere in einem einzigen Oberblick. Unsere Füßezertraten krachend die Reste, stießen an Knochen und Rip-pen, die zu Staub zerfielen, und wir berührten mit unserenHänden vorsichtig diese Stücke, um die sich alle Museen derErdoberfläche gerissen hätten. Mein Onkel hatte nur einigeSchritte in das Feld hinein getan, da blieb er stehen und warfdie Arme in die Luft, und sein weitoffener Mund, die leuch-tenden Augen unter der Brille und der fassungslos bewegteKopf verrieten seine völlige Sprachlosigkeit. Er beugte sichhinab auf den Boden, zog mit der Hand aus dem Modereinen nackten Hirnschädel hervor, hielt ihn mit ausgestreck-tem Arm weit von sich und rief: «Ah Milne-Edwards! Ah Quatrefages! Warum seid ihr nichthier, wo ich bin, Otto Lidenbrock!» Seine Stimme zitterte dabei, und man wird die Erregung ver-stehen, wenn man weiß, dass erst kurz vor unserer Ab-reiseaus Hamburg, nämlich am 28. März 1863, in den Stein-brüchen von Moulin-Quignon bei Abbéville 4 m unter derErdoberfläche ein menschlicher Kinnbacken gefunden wor-den war. Die Herren vom Institut francais, darunter Milne-

Kapitel 26

«Aufs Floß! Zurück!» schrie mein Onkel in hellem Zorn. Eswar leicht zu erkennen, dass er den Lauf der Dinge als gegensich persönlich gerichtet empfand und ihn als unverschämteHemmung übel nahm. «Die Elemente verschwören sich gegen mich! Luft, Feuerund Wasser wollen mich am Vordringen hindern!? Lächer-lich. Soll das ein Kräftemessen sein? Mensch gegen Natur?Ich habe Willensstärke genug, um nicht ein Iota zurückzu-weichen. Aufs Floß!» Hans war mit den Ausbesserungs-arbeiten fast fertig. Mein Onkel ließ mich alles Gerät am Uferzusammentragen und verschnüren. Aber noch bevor wiraufladen konnten, hatte er es sich anders überlegt. «Wir fahren erst morgen. Dieser Küstenstrich muss erst aus-gekundschaftet werden, wir kennen ihn noch nicht. Axel,mach dich fertig.»Es stimmte, wir waren sicher weiter östlich gelandet, als wirabfuhren. Durchaus möglich, dass dieser neue Landstrichneue Überraschungen und Erkenntnisse barg. Wir warenetwa 2 km über Sedimentgestein und Muscheln am Ufer desMeeres Lidenbrock entlang geschritten, als der Boden plötz-lich sein Aussehen änderte. Die Kalkschichten schienen voninnen heraus aufgebrochen und verworfen, so dass wirgroße Mühe hatten, über die Felsbrocken, Vertiefungen undErhebungen, die durch die Verrenkung der Erde entstandenwaren, hinweg zu steigen. Dahinter aber bot sich uns einAnblick, wie ich ihn nicht vergessen werde. Dort dehnte sichdas riesigste Gebeinfeld aus, das ich kenne, eine Ebene voll

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Finger- und Zehennägeln. Zunächst schwieg ich, schwiegmein Onkel, schwieg der Professor Lidenbrock, und wirstarrten die Erscheinung aus uralten Zeiten an. Dann tippteder Finger des Professors vor und berührte die gespannteHaut des Leichnams, mein Onkel schob seine Ergriffenheitbeiseite, packte an, hieß mich anpakken und stellte denKörper erst mal aufrecht, wie es sich für den ersten Men-schen gehörte. «Da hört sich denn doch aller Zweifel auf!» sagte erschließlich. «Lass gut sein, er steht. Ich bin in der Paläontologie wahrlichkein Waisenknabe. Aber hier braucht's ja nicht mal Skelett-bestimmungen: der ganze Leichnam ist noch da. Vor dirsteht er. Du kannst ihn sehen, anfassen, schmecken, riechen:ein kompletter Corpus, der sich zu anthropologischenZwecken erhalten hat. Liegt seit 100.000 Jahren im Staub!Wenn ich den mal waschen würde, mit etwas Schwefel-säurelösung ... all die Erd- und Muschelkruste runter ... aberleider hab ich ja nichts dabei.»Er begann jetzt, vor dem Jenseitsmann auf und ab zu gehen,beäugte ihn von allen Seiten und wies mir ab und zu mitdem Zeigefinger irgendeine Besonderheit. «Kaukasische Rasse, ohne Zweifel. Weißrasse. Unsere Rasse!Eiförmiger Schädel, ohne stark ausgeprägte Bakkenknochen.Kein vorspringendes Kinn, der Winkel Ohr-Nasenspitze-Stirn fast 90°. Ich deduziere weiter: Ich behaupte sogar fest,dass diese Probe Mensch, die wir dem Staub der Jahrtau-sende entnommen haben, auf der Homo-Stufe des Neander-talers steht, also 110.000 bis 170.000 Jahre alt sein dürfte. Wie

Edwards und de Quatrefages, besahen sich den Fund undhielten ihn für zweifellos echt. Auch unter den Geologen desVereinten Königreichs von England gab es eine Reihe vonEchtheitsverfechtern: Falconer, Busk, Carpenter und andere.Unter den deutschen der enthusiastischste war Otto Liden-brock, Hamburg.Nun hatte die Sache aber noch eine andere Seite, und diehieß Elie de Beaumont. Dieser Gelehrte behauptete mit allseiner Autorität, dass das Terrain von MoulinQuignon nichtaus dem Diluvium, sondern einer weitaus jüngeren Schichtstamme. Mit Cuvier teilte er die Ansicht, dass die erstenMenschen nicht ins Quartär gehörten. Gegen ihn hatte meinOnkel geschrieben, geredet und gewettert, bei unsererAbreise stand Beaumont schon ziemlich allein mit seiner An-sicht da, aber wir wussten doch nicht, wie der Streit inzwi-schen weitergegangen war.Hier lag nun die endgültige Antwort zu unseren Füßen.Deutlicher als die übrigen Kinnbacken, die man in französis-chen, Schweizer und belgischen Höhlen noch gefundenhatte, als Waffen, Werkzeug, Kindergebein, Männer-knochen, Greisengezähn, beredter als die von Menschen-hand geritzten Bein- und Hüftknochen fossiler Tiere machtendie Funde auf diesem Gebeinfeld vor uns den Menschenzum Zeitgenossen des elephas meridionalis, machten ihn aufeinen Schlag 100.000 Jahre alt. 20 Schritt weiter lag einerdieser Hunderttausendjährigen. Wir hatten das Exemplarzuerst nicht bemerkt, aber plötzlich standen wir vor «ihm»,einem Kerl mit Haut und Haaren, einem Lederrumpf mitkomplettem Gebiss und schrecklich lang gewachsenen

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Kapitel 27

Etwa 2 km weiter kamen wir an den Rand eines Waldes, derdiesmal nicht aus Champignons, sondern aus Palmen, Fich-ten, Eiben und Zypressen in tropischer Wachstumsfülle be-stand, von Lianen netzartig durchsponnen und zu einem Ur-wald verflochten. Moos und Leberkraut bedeckte den Bo-den, Farnkräuter standen am Bachufer, aber all diese Vege-tation, alle Bäume, Büsche und Pflanzen waren nicht grün,sondern verwaschen bräunlich - ihnen fehlte die Sonne, diesie hätte beleben können. Das elektrische Licht hier untenerzeugte auch keine Schatten; der Wald und die Felsen, dieKnochen und Leichen erschienen deshalb merkwürdig kör-perlos, in einem undramatisch milden Licht, aber vielleichtgerade deshalb so erschreckend fremd.Mein Onkel wagte sich in dieses Gehölz und zog mich mit.Mir war der Gang nicht geheuer, denn warum sollten ineinem Wald voll üppiger Nahrung nicht auch ebenso großgeratene Säugetiere stecken? Leguminosen, Rubiaceen - der-gleichen fraßen Wiederkäuer aller Zeiten gern.Plötzlich blieb ich stehen und hielt meinen Onkel mit derHand zurück. Da auch in der Tiefe des Waldes nichts inSchatten gehüllt war, drang unser Blick weit hinein, und wasich dort zu sehen glaubte ... nein, was ich wirklich sah, wareine Herde von Riesentieren, Mastodonten, leibhaftige,lebendige Urelefanten, deren Rüssel wie Schlangen durchdas Laub fuhren, deren Hauer die alten Stämme durch-bohrten. Die Zweige krachten, und die herabgerissenenLaubmassen verschwanden in den Rachen der Ungeheuer.

er hier hergekommen ist? Darüber kann ich leider nichtssagen. Nicht das Geringste. Mit herabgestürzt, als diesesTerrain beim Erkalten absackte? Oder nur wie ich als Tourist?» Als wir weitergingen, stießen wir auf immer neue Muster-knochen, welche die Theorien bestätigten, die mein Onkelverfocht. Er nahm sich die besten Stücke davon mit, um demStreit oben auf der Erde endlich ein Ende zu machen.

Hier hatten Menschen gelebt, unter diesem künstlichenHimmel, am Ufer des Meeres, dessen Tiere wir bereitslebend kennen gelernt hatten. Wir fragten uns, etwas unsich-er, ob nicht auch von den menschlichen Wesen einige amLeben waren?

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versuchten mein Onkel und ich uns darüber klarzuwerden,an welcher Stelle der Küste wir wieder gelandet waren.Mehrmals glaubten wir Felsvorsprünge, Wasserfälle undBäche wieder zu erkennen, aber ...«Wir müssten dann doch wenigstens unsere eigenen Spurenfinden!» sagte mein Onkel. «Wir haben doch lange genug amHafen Grauben kampiert und gearbeitet. Und davon seheich nichts.»«Aber ich! Ich sehe etwas, dort im Sand.» «Zeig her!»Ich reichte meinem Onkel einen verrosteten Dolch, den ichaufgehoben hatte.«Hast du den mitgenommen?»Ich schüttelte den Kopf.«Aber du vielleicht ...?»«Was soll ich mit so einem Dolch?»«Das ist mir aber höchst merkwürdig!»«Wieso denn? Er wird Hans gehören.»Aber ich schüttelte wieder den Kopf. Diesen Dolch hatte ichbei Hans nie gesehen.«Vielleicht eine urweltliche Waffe? Ein Freund vom Masto-dontenhirten hat sie verl... aber Moment mal, das ist ja nichteinmal Bronze, das ist bester Stahl!» Mein Onkel schlug sich vor den Kopf.«Wie konnte ich nur so blind sein! Zeig mal her: natürlich!Der Dolch ist eine Waffe aus dem 16. Jh. Die Edelleute be-nutzten ihn für den Gnadenstoß. Er kommt übrigens ausSpanien, und er gehört weder dir noch mir noch einemMenschen aus dem Schoß des Erdballs, seine Klinge ist nicht

Mein Onkel sah die Tiere sofort, und sein erster Impuls war:«Hin, Axel! Vorwärts! Schauen!»«Auf keinen Fall! Wir sind waffenlos. Kein menschlichesWesen darf es wagen, ungestraft den Zorn dieser Tiere her-auszu ...»Mein Onkel war bereits wieder stehen geblieben und hieltmich nun fest.«Kein Mensch? Da irrst du, mein Junge. Schau mal genaudort hin. Dort steht ein menschliches Wesen, ein Mensch, einRiese!»Ich sah, was ich nicht glauben wollte, und musste michüberzeugen lassen. An einen riesigen Kauris-Stamm gelehntstand ein menschliches Wesen und hütete seine Herde vonMastodonten, mehr als doppelt so groß wie der Mensch,dessen Leichnam wir gefunden hatten, ein Riese mit demKopf eines Büffels, dessen Züge unter dem Gewirr deswilden Haupthaars verborgen lagen. Er stand ruhig, aufeinen Baumast gestützt, da. Hatte er uns bereits bemerkt,gesehen oder gerochen? Wir mussten fliehen, solange esnoch Zeit war, und zum ersten Mal leistete mein Onkelkeinen Widerstand, als ich ihn mit mir zog.Jetzt, heute, Monate danach, wo ich dies niederschreibe, ver-mag ich nicht mehr so recht an die Wahrhaftigkeit unseresErlebnisses zu glauben. Es muss eine Sinnestäuschunggewesen sein, entstanden aus der Überreizung unsererNerven nach dem langen unterirdischen Leben. Dort untensollen Menschen sein? Nonsens. Affen, ja, Affen vielleicht,ein Dryopithecus ... allerhöchstens jedenfalls ein Pithecan-thropus!! Auf dem Rückweg aus dem Wald am Ufer entlang

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Kapitel 28

Ich war überzeugt, dass es nichts Unerwartetes mehr gebenkonnte, was ich auf dieser Reise nicht mehr erleben würde.Mich konnte kaum noch etwas schrecken, und die Wieder-entdeckung der Spuren unseres Vorgängers entzündete inmir eine ähnliche Begeisterung wie in meinem Onkel. Ichstürzte auf die Tunnelöffnung zu, wollte eindringen, aberLidenbrock hielt mich zurück. «Erst Hans und das Floß!» rief er. «Dann hierher und weiter.»Wir wandten uns jetzt eilig nach unserem Landeplatz, abernach wenigen Schritten hielt mein Onkel wieder an. Erwandte sich den Felsklippen zu, zwischen denen wir denEingang gefunden hatten, warf seine Linke in einer allum-fassenden Gebärde hoch und rief: «Kap Sacknussemm!»Dann hasteten wir weiter, zurück zum Floß, von einermächtigen Unruhe gepackt, jetzt, da sich ein neuer Weg auf-getan hatte.«Alles wird gutgehen», keuchte mein Onkel. «Der Sturm,der Schiffbruch, göttliche Fügung. Die Horizontalreise hörtendlich auf, es geht weiter, tiefer ... nur noch 6.150 km biszum Mittelpunkt der Erde. Axel, dann haben wir's endlichgeschafft.»«Bah. Sonst nichts?»Vier Stunden später hatten wir unser Floß über einigeUmwege (denn nahe am Ufer stand das Wasser voll ge-fährlicher Felsen) bis ans Kap Sadknussemm gebracht. Ichschlug in einem Anflug von Größe vor, «unsere Schiffe zu

vom Morden schartig, der Rost, der sie bedeckt, ist 300 Jahrealt, und wir sind einer großen Entdeckung auf der Spur.»«Von wem stammt er?»«Von dem Mann, der mit ihm in einen dieser Felsen seinenNamen eingegraben hat, um noch einmal den Weg zumMittelpunkt der Erde zu weisen.»Wir suchten fieberhaft das Gestein ab und kamen so an eineStelle, an der zwischen Meer und Felsen nur 2 m Ufersandlagen. Zwischen zwei vorspringenden Klippen gähnte dasLoch eines Tunnels. An der einen Wand standen unüberseh-bar in schon verwitterter Schrift die beiden Buchstaben

«A-S!» rief mein Onkel. «Arne Sacknussemm. Stets ArneSacknussemm!»

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10 min Zeit blieben, bis der Funke die Schießbaumwolleerreicht hätte, in denen ich zum Floß zurücklaufen und mitmeinen Gefährten so weit wie möglich ins Meer hinaus-rudern musste. Ich stand mit einem brennenden Glimmspanvor der dunklen Tunnelöffnung und sah zurück. Lidenbrocklehnte am Mast und hatte eine Hand erhoben. Ich blicktewieder in die schwarze Öffnung.«Feuer, mein Junge!» rief Lidenbrock.Da bückte ich mich, zündete die Lunte an, warf den Span zurSeite und rannte zum Floß. Hans stieß sofort ab und brachteuns ins freie Wasser. Lidenbrock stand hoch aufgerichtetund sah von seinem Chronometer auf den Tunnel, vom Uferauf die Uhr. Plötzlich rief er: «Die 10 min sind um! Nun berste, Granitberg!» Ich erinnere mich nicht, dass ich das erwartete Krachen derExplosion vernommen hätte. Ich erinnere mich an ein laut-loses Aufspringen des Felsmassives über dem Strand, derBerg riss auseinander und gab eine klaffende Schlucht frei,das Meer wurde vom Druck der Detonation zu einer mäch-tigen Woge zusammengeschoben, auf deren Kamm unserFloß tanzte, das Licht erlosch am Himmel, und wir wurdenmit einer Macht hinabgerissen, die unbeschreiblich ist. Eswar, als sinke das Floß mit rasender Geschwindigkeit, aberohne dass die Wogen über uns zusammenschlugen. DasTosen der stürzenden Wasser war so stark, dass ich michnicht verständlich machen konnte. Aber ich begriff, wasgeschehen war: Wir hatten die Trennwand zu einemAbgrund aufgesprengt, und in diesen Schlund ergoss sichdas Meer als reißender Strom. Wir duckten uns auf dem Floß

verbrennen», damit wir nicht mehr zurück konnten. Liden-brock aber wollte den Tunnel erst untersuchen, um dasrichtige Seilmaterial mitzunehmen. Die fast kreisrunde Öffnung hatte etwa 1,5 m Durchmesser, und der Gang da-hinter führte nur 6 Schritt weit. Dann versperrte ein unge-heurer Felsblock den Weg, links, rechts, oben, unten keinDurchlass, keine Lücke. «Aber Sacknussemm!» rief ich. «Der muss doch auch durch-gekommen sein! Wahrscheinlich ist diese Granitwand erstherabgestürzt, nachdem er seine Reise gemacht hatte, ent-weder durch Erdbeben oder durch magnetische Kräfte her-abgerissen. Oder der Druck aus dem Erdinnern hat mitLavamassen diesen Block in die zu schmale Öffnung ge-drängt, die er jetzt verstopft. Wir müssen ihn beseitigen.»«Die Spitzhacke her!»«Dafür ist er doch viel zu hart und zu dick. Wir müssensprengen», sagte ich.«Hans, ans Werk!» rief Lidenbrock. «Ein Sprengloch in denFelsen!»Während Hans das Loch hieb, das 50 Pfund Schießbaum-wolle aufnehmen sollte, verfertigten mein Onkel und ich dieLadung mit der Lunte. Gegen Mitternacht war die Mine fertig und wurde placiert. Die Lunte lief durch den kurzenGang bis nach draußen. Ein Funke genügte ...«Bis morgen», sagte mein Onkel. «Jetzt wird geschlafen.»Am 27. August, einem Sonntag, morgens um 6 Uhr legtenwir Feuer an die Lunte, deren Ladung das letzte Hindernisvorm Mittelpunkt der Erde wegsprengen sollte. Ich hatte dieEhre der Zündung übernommen, ich wusste, dass mir

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Aber all das dauerte nur Sekunden. Das Floß schoss aus demWasser empor, tanzte fast leicht wie ein Korken; es trug unsnoch alle drei, die Raserei war vorüber, ich konnte atmen, eswar ruhig geworden, ganz still. Als die Fackel aufflammte,sahen wir, dass es 22 Uhr war. Mein Onkel entdeckte zuerst,was mit uns geschah. «Wir fahren zu Berg. Das Wasser fließt aufwärts.»Ich sah an den vorüberfliegenden Wänden, dass wir rascheFahrt machten. Aber bergauf? Das war mir paradox.«Hydrostatisches Paradoxon», erklärte Lidenbrock. «DasWasser aus dem Meer ist bis auf den Grund des Einbruchsgestürzt und füllt den Abgrund jetzt an. Wir sind in einenvom Boden aufsteigenden Kanal gedrückt worden. DasWasser hebt uns jetzt so hoch, wie später das allgemeineNiveau sein wird.»«Oder so hoch, wie der Gang reicht. Wenn den plötzlich eineWand abschließt, hat auch das hydrostatische Paradoxonausgespielt.»«Ich gebe zu, unsere Lage ist etwas fatal», sagte Lidenbrock.«Obwohl natürlich das Wasser nie bis ans Ende des Gangesschlagen würde. Die Luftblase ist dazwischen, wir brauchenalso nicht zu ertrinken.»«Ersticken soll ja auch interessanter sein.»«Was sollen die defätistischen Reden? Wir haben ebensovielAussicht auf Erfolg wie auf den Untergang. Daran wirddurch Diskutieren nichts geändert. Ich bin dafür, dass wirjetzt etwas Ordentliches essen und dann weitersehen.»«Essen?»«Ja, dann kannst du wenigstens nicht reden.»

um den Mast, denn wir konnten nichts sehen, spürten nur anden Erschütterungen, dass unser Gefährt dauernd Felseckenin den Wänden rammte. Es ging hinab, wir waren auf Sack-nussemms Weg, aber diesmal hatten wir ein Meer als Begleiter.Ich war überrascht, als plötzlich Licht aufflackerte. Hans wares in dieser Lage trotz der widrigen Umstände doch ge-lungen, eine Fackel anzuzünden. Ich sah im schwachenFeuerschein, dass die Galerie, die wir hinuntersausten, breitwar, sah die Strömungsgeschwindigkeit des Wassers,welche die der reißenden Ströme Amerikas übertraf, ichmerkte, dass der Untergrund sehr uneben sein musste, dennfortwährend bildeten sich mächtige Wirbel, in denen unserFloß steuerlos trudelte, bis es wieder ausgespuckt wurde. Ichglaube, unsere Geschwindigkeit betrug damals mehr als 100 km/h, mein Onkel und ich mussten den Rücken zurFahrtrichtung drehen, um überhaupt atmen zu können.Die entsetzliche Fahrt ging über Stunden ohne Milderungweiter. Es gelang mir, unsere Vorräte zu untersuchen, dennbei der Explosion hatten wir einiges Gepäck verloren. AllesWerkzeug fehlte, von den Lebensmitteln konnten wir unsnoch einen Tag lang ernähren: ein Stück getrocknetes Fleischund eine Handvoll Zwiebäcke.Plötzlich nahm die Geschwindigkeit noch zu, verdoppeltesich, die Fackel verlosch, wir stürzten, und ich kniff wie einKind meine Augen zu, um die Finsternis und den Fall nichtzu sehen, unsere Arme griffen ineinander und verwirrtensich, da wir uns jetzt alle um den Maststumpf klammerten ...dann der Stoß, das Wasser, das über uns zusammenschlug,die Luft, von der wir abgeschnitten waren ...

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«Jawohl!» schnauzte Lidenbrock. «Das ist meine Überzeu-gung! Und eine andere gibt es auf diesem Floß nicht, ver-standen!? Für ein Geschöpf, das über Willenskraft verfügt,existiert keine Verzweiflung. Solange das Herz schlägt, so-lange das Fleisch zuckt, wird gehandelt, nicht erlitten. «Er teilte die Vorräte unter uns auf und begann selber, sofortzu essen. Das beruhigte ihn offenbar, während ich kaumeinen Bissen hinunterbrachte. Zum Schluss war er fast fröh-lich.«Vielleicht unser letztes Essen», sagte er. «Auf jeden Fall hates für eine Weile wieder Menschen aus uns gemacht.» Hans nestelte eine Flasche von seinem Gürtel, es war Wacholder-schnaps drin. Er bot sie uns an. «Vortrefflich», lobte mein Onkel und schnalzte mit der Zunge.

«Tut mir leid, aber wir haben fast nichts mehr.»«WAS?» Nur dieses eine Wort lang verlor mein Onkel dieKontrolle über sich, er schrie es heraus und war mit seinemGesicht ganz nah an dem meinen. Dann wandte er sich abund schwieg.Der Höhenunterschied, den wir überwanden, setzte unsfortwährend neuen Luftdruckverhältnissen aus und nahmuns oft den Atem. Dazu kam eine sehr beunruhigendeTatsache: es wurde fortlaufend wärmer um uns. Die Hitzeweckte die alten Überzeugungen von der Zentralwärme inmir, und ich verfluchte den Umstand, dass ich nicht anHumphry Davys und Lidenbrocks Theorie glauben konnte,vielleicht hätte ich dann bei aller Hitze einen kühlen Kopfbehalten. So aber führten meine Gedanken immer wieder zuder gleichen unausweichlichen Konsequenz: dass wir in eineSchicht glühenden, flüssigen Gesteins kommen mussten, inder wir elend verbrennen würden.Mein Onkel brach das Schweigen.«Wir müssen bei Kräften bleiben. Jeden Augenblick kann dieMöglichkeit der Rettung kommen, dann dürfen wir nicht zuschwach sein, sie zu nutzen. Was wir noch zu essen haben,wird jetzt gegessen.» «Und was essen wir dann?» fragte ich.«Nichts», antwortete mein Onkel. «Aber wirst du vielleichtjetzt davon satt, dass du das Fleisch und den Zwiebackfortwährend anstarrst? Du scheinst in Panik zu geraten, dadu nicht mehr vernünftig urteilen kannst.» «Hast du denn etwa noch Hoffnung?» «Selbstverständlich.»«Du glaubst, dass wir ...»

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«Ja. Einen Vulkanausbruch. Glücklicher konnten wir's ja nunnicht mehr treffen.»«Was?» sagte ich. «Glücklicherweise? Durch Glück sind wirin einen tätigen Vulkan geraten, sind selber Lava, sindSplitter im Feuer, siedendes Wasser und donnernder Aus-wurf von Asche, von Schlacken?»«Durch den Schacht zum Licht», sagte mein Onkel. «Es istder kürzeste Weg nach oben.»Niemals ist mir mein Onkel kühner vorgekommen als indiesem Augenblick, als er den Ausbruch kommen sah unddabei seelenruhig unseren Vorteil erfaßte. Wir fuhren dieNacht hindurch und wurden gegen Morgen immerschneller. Dass wir in einem Vulkan saßen, der tätig war,konnte niemand mehr bezweifeln. Unter dem siedendenWasser wälzte sich ein Lavateig von Felsstücken bergan, diebei der Eruption in alle Himmelsrichtungen verschleudertwerden würden. In dem erweiterten Schacht war es so heißgeworden, dass man fast nicht mehr atmen konnte. AmMorgen tauchten die ersten Schwefelflammen an denWänden auf, ein gespenstischer Anblick.«Ich wüsste nicht, was bei einem Ausbruch natürlicherwäre», sagte mein Onkel.Dann entdeckte ich, dass wir nicht mehr auf Wasser, son-dern auf der Lavamasse selbst fuhren, die unter unsbrodelte. Und plötzlich, gegen 8 Uhr morgens, hörte alleBewegung auf.«Was jetzt? Ist die Eruption zu Ende?»«Ich hoffe nicht. Der Vulkan speit, glaube ich, in Stößen, undwir machen gerade eine Verschnaufpause mit. Wahrschein-

Kapitel 29

Als ich bereits kein Hemd mehr trug, langte ich zufällig mitder Hand ins Wasser: es war siedend heiß. Wir waren durchGranit, durch Gneis und Glimmerschieferschichten aufwärtsgestiegen und mussten bald ins oberste Erdreich kommen,ich wollte den Kompass befragen, wohin ...... und der Kompass war irre. Die Nadel sprang wüst hinund her, lieferte keine Richtung mehr, schien von elek-trischen Stößen geschüttelt und kreiselte dann wieder. EineIdee begann in mir zu wachsen, die ich nicht unterdrückenkonnte, die Ahnung einer bevorstehenden Katastrophe, wiesie keine Phantasie vorstellen konnte. Die Kompassnadelwar nur ein Indiz. Aus unbestimmbaren Fernen in der Erd-rinde drang Gepolter, als führe eine Anzahl Karren überPflastersteine, ein beständiges Donnerrollen, die Wände desGanges schienen mir nicht mehr so fest wie zuvor, schienenzu wanken oder sich zu spalten.«Die Hitze», rief ich, «das kochende Wasser, der Kompass,der Donner, das sind doch alles Zeichen für ein Erdbeben!Die Erdrinde verschiebt sich und wird uns zwischen denGesteinsschichten zu kleinen Atomen zermalmen! ««Sei ruhig, mein Junge, du irrst dich», sagte mein OnkelLidenbrock.«Ja siehst du denn nicht ...»«Natürlich, alles. Aber ich leite was Besseres draus ab!»«Was soll das heißen?»

«Wir geraten in einen Ausbruch.»«Ausbruch?»

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und Bimssteinregen. Der Fuß des Berges aber verlor sich ineinem Garten grüner Bäume von unendlichen Ausmaßen,und ich konnte von hier oben Ölbäume, Feigenbäume undWeinreben erkennen. Nordische Länder sehen so nicht aus,das stimmt. Das grünbebaute Landstück war nicht breit: da-hinter kam Wasser, Wasser eines Sees oder Meeres, aus demsich dieser Vulkan auf einer Insel zu erheben schien. Wirsahen auch Häuser und einen Hafen mit eigentümlichenSchiffen, weiter aufs Wasser hinaus lagen kleinere Insel-gruppen verstreut, und ganz in der Ferne schimmerte einKüstenstreifen. All das war nach dem, was wir in den letzten 2 Monaten gesehen hatten, überraschend und sowunderbar schön, dass wir das Bild stumm, und ohne es zubegreifen oder einordnen zu können, betrachteten. «Egal, wie der Berg heißt», sagte Lidenbrock schließlich. «Ichhabe Hunger. Außerdem möchte ich keinen Felsblock aufden Kopf bekommen, wenn ich gerade einen Ausbruchglücklich überstanden habe.» Der Abstieg ging nicht so einfach voran, da unsere Gliederso geschwächt waren, dass sie uns nicht mehr recht ge-horchten.«Wir sind vielleicht in Asien», schlug ich einmal vor.Niemand fand Gefallen an dem Gedanken. «Oder inIndien!»Wir mussten Lavaströmen ausweichen, die wie feurigeSchlangen den Berg hinunterkrochen. «Malayische Inseln!?»«Und die Magnetnadel?» fragte Lidenbrock.Er hatte recht. Das war die Grenze der Phantasie. Die Magnet-nadel hatte eindeutig gesagt, dass unsere Marschrichtung

lich geht es schon in wenigen Minuten ...»Aber da riß es uns bereits wieder fort, wir mussten uns anden Maststumpf klammern, um nicht in den kochendenSpeiteig zu stürzen.Dann hielt die Bewegung wieder ein. Dann ein neuer Stoß.Wie oft sich das wiederholte, kann ich nicht sagen. Mitjedem Mal wurden die Stöße heftiger, und wir durchmaßendie Strecke rascher, in den Pausen war ich dem Erstickennah, beim Fortgerissenwerden spürte ich, wie glühend dieLuft bereits war, und konnte nicht atmen, und so verlor ichStück für Stück, ohne dass ich dagegen ankämpfen konnte,meine Besinnung. Das letzte, woran ich mich erinnere, istdas Gesicht des Isländers. Als ich erwachte, war alles anders.Ich saß am Hang eines Berges, und mein zerschlagenerKörper wurde von der Hand des Isländers gestützt. Mit deranderen hielt er die Gestalt meines Onkels und bewahrte unsbeide davor, einen Abgrund hinabzustürzen, der sich unmit-telbar zu unseren Füßen hinabsenkte. «Wo sind wir?» fragte mein Onkel mit schwerer Stimme. «In Island», sagte ich.«Nej», sagte Hans.Wir sahen uns um, und es stimmte. Wir waren nicht inIsland. Der Vulkan trug keinen schneebedeckten Gipfel. DieSonne brannte auf unsere fast nackten Leiber mit sengenderKraft. Nach allem, was wir erlebt hatten, hielt uns ein letztesgroßes Rätsel gefangen: in welchem Teil der Welt waren wirwieder ans Tageslicht gekommen?Knapp 200 m über uns donnerten aus dem gezacktenVulkankrater alle Viertelstunden Flammensäulen mit Asche-

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Stromboli im Mittelmeer! Auf der Insel des Aolus standenwir, und was wir im Osten verschwimmen sahen, waren dieBerge Kalabriens.«O Stromboli», rief ich, «o wunderbare Reise! Nieder-gefahren im Snoeffels, verloren, verlaufen und im drittenMonat wieder ausgespieen mit der Lava. 5.000 km unter denlieblichsten Gegenden der Erde, aus dem ewigen Eis insewige Grün, nach dem ewigen Dörrfleisch saftiges Obst ...»«Zum Hafen!» befahl mein Onkel Lidenbrock.

nach Norden ging. Der Nordpol ... aber das war ein lächer-licher Gedanke.Wir gelangten am Fuß des Berges auf eine saftiggrüne Ebeneund brauchten nicht lange zu laufen, bis wir Oliven- undGranatäpfelbäume fanden, Weinreben und eine klareQuelle. Wir tranken und wir aßen und wir wuschen uns. Wirhatten das so lange entbehrt, dass wir nicht gerade leisedabei verfuhren, und plötzlich rannte ein Hirtenjunge, dersich hinter einem Gebüsch in der Nähe versteckt gehaltenhatte, erschreckt davon. Hans setzte ihm nach und brachteihn zurück. Er schrie, zitterte und sträubte sich.«Glücklicher Bewohner einer gesegneten Landschaft!»redete ich ihn deutsch an, aber er nahm nicht die geringsteNotiz von mir. Mein Onkel nahm ihn sich vor: «Wie heißt dieser Berg, mein lieber Junge?» Das war auch deutsch gefragt und brachte ihm keine An-twort ein.«In Deutschland sind wir also nicht», sagte Lidenbrock undversuchte es englisch.«Where are we, my dear boy?»Keine Antwort. Lidenbrock begann die Sache zu genießenund suchte die nächste Sprache hervor: «Où sommes nous, mon petit?»Wieder keine Antwort.«Dove sono?»Der Junge begann zu weinen.«Er reagiert!» rief Lidenbrock. Und er fragte weiter auf italienisch nach dem Namen der Insel.«Stromboli», heulte der Junge, riss sich los und lief davon.

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tuell sogar als Kälte. Sobald sich die erste Welle der Erregunggelegt hatte, begann mein Onkel sein Buch, in dem er alle wis-senschaftlichen Daten des Unternehmens veröffentlichte.Mitten in diese Arbeit fiel die Abreise von Hans, den eswieder nach Island zog.Während fortwährend Zeitungen aus dem In- und AuslandBerichterstatter zu uns schickten, die meinem Onkel die Ge-schichte unserer Expedition abkauften, vollendete er seineArbeit. Das heißt, er vollendete sie bis auf einen Punkt, derzwischen uns tabu war.Durch einen Zufall fand ich die Lösung, und ich erinneremich genau daran, denn es war der Tag, als mein Onkel denBrief von Barnum bekam, der ihn in seinem Zirkus gegen einhohes Honorar in allen Städten der Vereinigten Staatenzeigen wollte. Darüber war er noch wütender und nochweniger ansprechbar geworden. Grauben, Martha und ichfragten uns, wie wir es weiter mit ihm aushalten sollten -und dann entdeckte ich zufällig die Sache mit dem Kompass.Ich suchte nach einem Mineral und sah dabei absichtslos aufdas Instrument, das in einem der Regale lag. Die Magnet-nadel zeigte nach Süden!Ich schrie vor Verwunderung so laut, dass mein Onkel sofortangelaufen kam.«Sieh mal auf das Ding», sagte ich.Er beugte sich vor und schlug dann mit der Faust auf diePlatte, dass die Minerale tanzten.«Das Mistding ist überhaupt dejustiert!»«Aber erst seit dem Sturm. Und ich weiß, glaube ich, auch,wodurch.»

Kapitel 30

Mein Onkel hatte uns eingeschärft, den Fischern auf Strom-boli nicht großartig unsere Ankunft zu schildern, da sie aber-gläubisch seien und den Krater des Vulkans leicht für denAusgang der Hölle halten könnten. So hielten sie uns fürSchiffbrüchige und nahmen uns freundlich auf. Wir beka-men Kleider, Lebensmittel und eine Unterkunft. Bereits 2Tage später brachte uns ein Boot nach Messina. Von dort ausnahmen wir am 4. September ein Postschiff nach Marseilleund waren schließlich am 9. September in Hamburg und zuHause. Wir kamen etwas unerwartet, Grauben aber fasstesich sofort, und ich erinnere mich deutlich an den Satz, mitdem sie mich empfing:«Nun, da du ein Held bist, brauchst du mich nicht mehr zuverlassen.»Ich sah sie an, sie weinte. Ich trug das Gepäck ins Haus.Unsere Rückkehr erregte in Hamburg das größte Aufsehen,was sich in Banketten und Ehrungen ausdrückte, nachdemdas anfängliche Misstrauen überwunden worden war.Lidenbrock schenkte das Sacknussemm-Dokument demStadtarchiv und stiftete damit Wohlwollen. Selbstver-ständlich kam aus allen Ländern, die von der Sacheerfuhren, Kritik. Leider muss auch ich hier sagen, dass ichmich der Theorie vom Erdaufbau, die ohne Zentralwärmeauskommt, nicht anschließen kann, auch nach all dem nicht,was ich gesehen habe. Ich gebe allerdings zu, dass die(unzweifelhaft vorhandene) Zentralwärme der Erde unterbestimmten Umständen modifiziert auftreten kann, even-

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«Sprich dich aus, mein Junge.»«Durch den Kugelblitz, der über das Floß rollte und allesmagnetisierte.»Von diesem Augenblick an war Professor Otto Lidenbrock,korrespondierendes Mitglied sämtlicher geographischenund mineralogischen Gesellschaften der Welt, auch einglücklicher Mensch.

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