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RELIGION IN DER VOLKSREPUBLIK CHINA EINE HISTORISCHE BETRACHTUNG Die chinesische Führung hat sich das Ziel gesetzt, eine „harmonische Gesellschaft“ zu schaffen. Dieser Begriff stammt aus der alten konfuzianistischen Weisheitslehre, die das Land bis heute prägt. Bart Dessein zeigt auf, was dieses Denken für den Umgang mit Religionen bedeutet und wie angreifbar es die Führung macht, wenn deren Politik scheitert. Buddha Vairocana (rechts), Longmen-Höhlen bei Luoyang in der Provinz Henan, VR China

RELIGION IN DER VOLKSREPUBLIK CHINA - tibet.de · tische Opposition in einem institutionalisierten System hrten immer wieder dazu, dass die politische Opposition sich in religiös

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RELIGION IN DER

VOLKSREPUBLIK CHINAEINE HISTORISCHE BETRACHTUNG

Die chinesische Führung hat sich das Ziel gesetzt, eine „harmonische Gesellschaft“ zu schaffen.Dieser Begriff stammt aus der alten konfuzianistischen Weisheitslehre, die das Land bis heuteprägt. Bart Dessein zeigt auf, was dieses Denken für den Umgang mit Religionen bedeutet undwie angreifbar es die Führung macht, wenn deren Politik scheitert.

Buddha Vairocana (rechts), Longmen-Höhlen bei Luoyang in der Provinz Henan, VR China

CHINA

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m einschätzen zu können, welche Stellung die Re-ligion heute in der Volksrepublik China hat, mussman zunächst einmal die kulturellen und histori-schen Besonderheiten verstehen, die zur Gründungder Volksrepublik gehrt haben. Zum besserenVerständnis dieser Entwicklung möchte ich im

Folgenden einige ihrer philosophisch-religiösen, politischenund staatsrechtlichen Aspekte erläutern.

In wirtschalicher und politischer Hinsicht zeichnet sichdie sogenannte ‚Ära der Philosophen‘ (⒌ bis ⒊ vorchristlichesJahrhundert), die die Anfänge der ‚Philosophie‘ in China mar-kiert, als eine Periode der Instabilität und Unruhe aus. Alle Phi-losophien, die in dieser Zeit formuliert wurden, versuchten, dieGröße und Herrlichkeit einer vergangenen historischen Epochezu rekonstruieren. Sie beriefen sich dabei auf die Worte derWeisen des Altertums. Die einzige Ausnahme von diesem Mus-ter ist der Legalismus. Die Tatsache, dass diese philosophischeSchule zum einen keinen historischen Vorläufer anerkannte unddass sie zum anderen r die strenge Einhaltung der Gesetzeeintrat, um die soziale und politische Stabilität zu gewährleis-ten, machte sie zur bevorzugten Philosophie des ersten chine-sischen Kaisers, der 221 v. Chr. das Einheitsreich der Qin-Dynastie gründete.

Dass die Qin-Dynastie nach kaum 15 Jahren stürzte, warin den Augen der Konfuzianisten ein Beweis dar, dass einePhilosophie, welche die moralische Autorität der gelehrten Kö-nige des Altertums verneint, als politische Leitlinie ungeeignetist. Die Herrscher der Han-Dynastie (206 v.Chr. bis 220n.Chr.) bevorzugten daher den Konfuzianismus, der 136 v. Chr.zur offiziellen Staatsdoktrin erhoben wurde. Der Konfuzianis-mus der Han-Zeit sah das Universum als einen Organismus an,in dem jedes Teil – Himmel, Erde und Mensch – mit jedemanderen Teil verbunden ist. Die Aufgabe des Herrschers (chin.wang) ist es, durch Befolgung der weisen Lehren der Vorfah-ren die harmonischen Beziehungen zwischen all diesen ver-schiedenen Teilen sicherzustellen.

Diese gesellschaliche Har monie bezieht sich auch auf daspolitische Verhältnis zwischen China und den nicht-chinesi-schen Gebieten an seinen Grenzen, den sogenannten Tribut-staaten. In dieser Beziehung wird China als der ,ältere Bruder’gesehen, der ein moralisches Vorbild r den ,jüngeren Bruder’ist, den Tributstaat. Streitigkeiten in den Beziehungen zwischendiesen beiden ,Brüdern’, dem einheimischen und dem auslän-dischen Mitglied der ,Familie’, werden als Versagen des Herr-schers, des ,älteren Bruders’, interpretiert.

Das chinesische kaiserliche Recht ist durch dieses Weltbildgeprägt: Es ging nicht darum, die Rechte eines Individuumsoder einer Gruppe gegen ein anderes Individuum oder eine an-dere Gruppe zu verteidigen – und völlig außer Frage stand es,die Rechte eines Individuums oder einer Gruppe dem Staat ge-

genüber zu verteidigen. Geahndet wurden in erster Linie Ge-waltverbrechen und Verstöße gegen die Moral, weil diese alsFreveltat gegen die kosmologische Harmonie angesehen wur-den. Dem Herrscher, dem „Sohn des Himmels“, oblag es, rdiese Harmonie zu sorgen und sie zu bewahren. Jedes Anzei-chen von gesellschalichem Unieden galt als Zeichen dar,dass er seiner Aufgabe nicht gerecht wurde.

Die Konzentration der Macht in Händen der konfuzianis-tischen Elite und fehlender Raum r eine offizielle poli-tische Opposition in einem institutionalisierten System

hrten immer wieder dazu, dass die politische Opposition sichin religiös – daoistisch und buddhistisch – inspirierte Bewe-gungen kanalisierte. Den Gesetzgeber stellten religiös motivierteGemeinschaen daher vor eine kaum lösbare Schwierigkeit: Wonämlich endete das Religiöse, und wo begann der organisiertepolitische Widerstand? Die Tatsache, dass buddhistische Klös-ter auch das Kapital der Grossgrundbesitzer anzogen und zuFluchtburgen r potenzielle Steuerzahler und Arbeitsdienst-pflichtige wurden, hrte schließlich dazu, dass an den Eintrittin buddhistische und daoistische Ordensgemeinschaen strengematerielle und formelle Bedingungen geknüp wurden.

VON SUN YATSEN ZU MAO TSEDONG

Chinas Niederlage im Opiumkrieg (1839–1842) und die darauffolgende massive Präsenz westlicher Mächte in China waren rdie jungen chinesischen Intellektuellen nicht nur ein Beweisder Schwäche der 1644 gegründeten letzten kaiserlichen Qing-Dynastie der Mandschus, sondern auch ein Beweis dar, dassder Konfuzianismus als politisches System gescheitert war unddurch ein neues System ersetzt werden musste. Sie wiesen demin dieser Zeit in China populären Sozial-Darwinismus eine eth-nische Komponente zu und interpretierten ihn als Zusammen-wirken aller Han gegen die Mandschus – dies sei die einzigeLösung r das Überleben der Han als Gruppe. Eine solcheethnische Charakterisierung der neuen nationalen Republikwurde in den Nicht-Han-Gebieten des Qing-Reichs, zu demdie Mandschurei, die Mongolei, Tibet und der muslemischeTeil Zentralasiens gehörten, als eine Bedrohung empfunden.

Bedingt und inspiriert durch die einstige Politik der Qing-Herrscher, die die verschiedenen Nicht-Han-Gebiete des Im-periums von der jeweils einheimischen Elite hatten regierenlassen – diese hatten dadurch ihre eigenen Tradition und Spra-chen bewahren können –, wuchs in diesen Regionen nun eineigenständiger ethnischer Nationalismus heran, der dazu hrte,dass einige dieser Gebiete ihre Unabhängigkeit laurieren: Ost-turkestan im Jahr 1864 und erneut 1933 und 1944, die Äußere

VON BART DESSEIN

U

Mongolei 1911, und in Tibet war China zwischen 1905 und1930 praktisch nicht mehr präsent.

Der Vertrag von Versailles (1919), der die Rechte über diechinesische Provinz Shandong von Deutschland auf Japan über-trug, hat die nationalistischen Gehle weiter gestärkt. So setzteSun Yatsen (auch: Sun Zhongshan, 1866–1925) Ethnizität

(chin. minzu) mit dem Staat und mit seiner Nationalen Volks-partei (chin. Guomindang) gleich. Dies bedeutete, dass die ein-zige Möglichkeit, zum Aufbau des nationalen Staates bei-zutragen, darin bestand, sich dieser Partei anzuschließen. Ausdieser Situation heraus entstand der neue Begriff ,Einparteien-staat’ (chin. dangguo). Die schwache Reaktion der NationalenVolkspartei auf die japanische Aggression in den ühen 1930erJahren aber überzeugte einen wachsenden Teil der Bevölkerungdavon, dass es nicht die Volkspartei, sondern die chinesischeKommunistische Partei (KP) war, die sie gegen die Angriffe derJapaner schützen und diesen Paroli bieten konnte.

Die KP, die sich bei ihrem Widerstand gegen Japan auf einenationalistische Rhetorik berief, wendete sich, nachdem sie 1949an die Macht gekommen war, dem Marxismus-Leninismus zu,um den Staat aufzubauen. Wie die liberalen Denker des ⒚Jahrhunderts war auch Marx der Meinung, dass die Zukun derMenschheit mit großen Nationen verbunden sei, die sich durchin hohem Maße zentralisierte politische und ökonomischeStrukturen auszeichneten. Nur solche Strukturen ermöglichtendie Entwicklung einer Bourgeoisie. In einer späteren Phase derhistorischen Entwicklung, so Marx, vollzöge sich in diesen Na-tionen eine proletarische Revolution, der Reichtum würdegleichmässig verteilt und sowohl die Nation als solche als auchder Staat würden historisch überflüssig werden. Das hieß imUmkehrschluss, dass kleinere Nationen als rückständig be-trachtet wurden und als unfähig, in dieser historischen Ent-wicklung eine selbständige Rolle zu spielen. Ihre einzige Optionsei es deswegen, mit einer größeren Nation zu assimilieren.

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Für die Nicht-Han-Gebiete des ehemaligen Qing-Imperi-ums bedeutete diese Theorie zwangsläufig die Assimilierung mitdem Han-Staat. Im Einklang mit dem marxistischen Dogmawurde der Aufbau eines neuen Nationalstaates aus dem Restbe-stand des Qing-Imperiums als Klassenkampf deklariert: Nur derKlassenkampf konnte den neuen Staat aufbauen, weil er keinenUnterschied macht zwischen den verschiedenen ethnischenGruppierungen und den Han. Der Klassenunterschied, der in-nerhalb einer jeden ethnischen Gruppe besteht und aufgehobenwerden muss, macht die ethnischen Gruppen einander gleich.Die Nation wird hierbei als größer gesehen als die Summe ihrerindividuellen Bürger. Folgerichtig sind daher die Individuen demStaat untergeordnet. Dieser Standpunkt ist sowohl der konfu-zianistischen Auffassung, die den Staat über das Individuumstellt, wie auch dem nationalistischen Konzept des ,dangguo’ sehrähnlich. Der Ruf der KP – eine allerdings in dieser Zeit vorallem Han-dominierte Organisation – der Vorreiter der Mo-derne zu sein, hrte hierbei aufs Neue in gewisser Weise denalten kulturalistischen Gedanken ein, dass die Han der ältereBruder sind, zu dem die verschiedenen ethnischen Gruppen ineinem ,älterer Bruder-jüngerer-Bruder’-Verhältnis stehen.

DER ÖKONOMISCHE UND POLITISCHEAUFBAU HAT VORRANGNach dem Tode Mao Zedongs 1976, kreierte Deng Xiaoping(1904–1993) eine neue Variante des Marxismus: eine Art ,Ent-wicklungsnationalismus’, dessen Strategie es war, das marxisti-sche Konzept der ,produktiven Kräe’ zu betonen, um China zumodernisieren. Diese neue ökonomische Politik war nicht mög-lich, ohne den Provinzen und den autonomen Gebieten grö-ßere regionale Autonomie und individuelle Freiheit zu ge-währen. Sie hrte aber auch zu einer wachsenden sozialen Un-gleichkeit und hat damit den Führungsanspruch der Kommu-nistischen Partei bei einem Teil der Bevölkerung geschwächt.Statt auf die Modernität der KP zu vertrauen, setzen daherimmer mehr Menschen ihr Vertrauen in die Tradition, d.h.auch in die Religion. Die wachsende Anhängerscha der ver-schiedenen Religionen und der durch die ökonomische Ent-wicklung zunehmende westliche Einfluss in China ließ beieinem Teil der herrschenden Schicht böse Erinnerungen an dieAktivitäten ausländischer Missionare und den Verfall des Ein-heitsreichs der Qing im ⒚ Jahrhundert hochkommen. Auchder Zerfall der ehemaligen Sowjetunion ist in diesem Zusam-menhang ein beängstigendes Beispiel. Aufgrund ihrer religiö-sen, territorialen und historischen Besonderheit sind Tibet undXinjiang in dieser Hinsicht besonders sensible Gebiete.

Vor diesem Hintergrund – zunehmende Anerkennung derindividuellen Freiheiten und Rechte der Bürger einerseits undempfundene Bedrohung der Einheit des Nationalstaates durch

„DIE STELLUNG DER RELIGION IN CHINA IST GEPRÄGT VON EINEM KONFUZIANISTISCHENWELTBILD”

CHINA

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die Gewährung eben dieser Rechte andererseits – muss die chi-nesische Religionspolitik der post-Mao-Ära verstanden wer-den. Seit dem späten ⒚ Jahrhundert schon wurden ver-schiedene Versuche unternommen, das konfuzianistischeRechtssystem, das in der von anhaltendem Chaos geprägtenZeit zwischen dem Untergang des Qing-Reiches und der Grün-dung der Volksrepublik China entstanden war, umzugestalten.Die ersten Jahrzehnte der jungen VR China zeichneten sich ju-ristisch dadurch aus, dass in der Gesetzgebung jene Akzentebetont wurden, die günstige Voraussetzungen r den ökono-mischen und politischen Aufbau schufen – und damit aber aucheine Herausforderung r die traditionellen chinesischen Volks-religionen waren. So erkennt das 1982 erlassene ,Dokument 19’nf Religionen an: Daoismus, Buddhismus, Islam, Katholizis-mus und Protestantismus. Dabei geht der Staat davon aus, dassdie Religionspolitik in China eine Politik des Respekts und desSchutzes der Religionseiheit ist, dass die Religion Privatsacheeines jeden Bürgers ist und dass es kontraproduktiv ist, Zwanganzuwenden, um die Religionsausübung zu verbieten. Artikel36 der Verfassung vom ⒋ Dezember 1982 lautet:

„Die Bürger der Volksrepublik China genießen dieGlaubenseiheit. Kein Staatsorgan, keine gesellschali-che Organisation und keine Einzelperson darf Bürgerdazu zwingen, sich zu einer Religion zu bekennen odernicht zu bekennen, noch dürfen sie jene Bürger be-nachteiligen, die sich zu einer Religion bekennen odernicht bekennen.

Der Staat schützt die normalen religiösen Tätig-keiten. Niemand darf eine Religion dazu benutzen, Ak-tivitäten durchzuhren, welche die öffentliche Ordnungstören, der körperlichen Gesundheit der Bürger scha-den oder das Erziehungssystem des Staates beeinträch-tigen. Religiöse Organisationen und religiöse Angele- genheiten sind keiner ausländischen Dominanz unter-geordnet.‟

Diese Politik zeigt sich u.a. in einer zunehmenden Zahl vonPriestern und Mönchen verschiedener daoistischer und buddhi-stischer Orden, einer wachsenden Zahl von Klosterschulen und

Forschungsinstituten im Bereich Religion und einer steigen-den Zahl von Anhängern der verschiedenen Religionen. Dassdie Religionseiheit der Politik der KP untergeordnet ist – Ar-tikel 33 der Verfassung –, macht die Ausübung der Bürger-rechte von der Befolgung der Bürgerpflichten abhängig. DieKP behält sich das Recht vor, die Erziehung zu kontrollierenund den Atheismus zu propagieren. Das Verbot der Unterord-nung unter ausländische Dominanz ist eine Bedingung, die so-wohl durch die lang zurückliegende wie auch durch die neuerechinesische Geschichte zu erklären ist: die Furcht vor dem Zer-fall des Einheitsstaates.

All dies zeigt, dass die Stellung der Religion in China ge-prägt ist von einem konfuzianistischen Weltbild, nach dem dasIndividuum dem Staat und die Nicht-Han-Kulturen der kon-

fuzianistischen Han-Kultur untergeordnet waren. NachdemMao Zedong versucht hat, mithilfe eines Klassenkampfes, inden alle ethnischen Gruppen einbezogen wurden, einen neuenEinheitsstaat zu bilden, wurde seit den 80er Jahren eine größereindividuelle Freiheit – religiöse Freiheit inbegriffen – zugelas-sen. Die Frage nach der Stellung der Religion ist aber eine be-sonders komplexe Frage, weil Religion und ihre Ausübung zwareinerseits eine strikt individuelle Angelegenheit sind, anderseitsaber auch Implikationen in Bezug auf die Legitimität der Kom-munistischen Partei haben und, wenn wir die Identifizierungder KP mit dem Staat voraussetzen, auch r die Legitimitätdes Staates.

PROF. BART DESSEIN ist Professor für chinesische

Sprache und Kultur an der Universität Gent, Belgien.

Sein Forschungsgebiet ist die frühbuddhistische

Philosophie und die Frühgeschichte des Buddhismus

in China. Er ist Vorsitzender der Forschungsgruppe

East Asian Culture in Perspective: Identity –

Historical Consciousness – Modernity.

� Overmyer, Daniel L. Religions of China. The World as

a Living System. Long Grove: Waveland Press, 1986

� Overmyer, Daniel L. (ed.). Religion in China Today. The

China Quarterly Special Issues. New Series, No. 3.

Cambridge: Cambridge University Press, 2003

� Yang, Fenggang. Religion in China. Survival and Revival

under Communist Rule. Oxford: Oxford University

Press, 2012

� Yu, Anthony C. State and Religion in China. Historical

and Textual Perspectives. Chicago and La Salle: Open

Court, 2005

LITERATURHINWEISE

„DIE AUSÜBUNG DER BÜRGERRECHTE IST ABHÄNGIG VON DER

BEFOLGUNG DER BÜRGERPFLICHTEN”