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IST LITURGIE EIN SPIEL? Arnold Angenendt 1. Was ist Liturgie? Menschen haben seit jeher Kult praktiziert, das heißt: zu den Über- mächten gebetet und ihnen geopfert. Größeres wollten die Menschen erreichen, als es ihnen von sich selbst aus möglich ist, solches nämlich, was nur die Übermächte zu bewirken vermögen: Lebensschutz, Ernte- segen, Krankheitsheilung, Zukunftssicherung, insgesamt Lebenssteige- rung. Für dieses den Menschen Unmögliche, aber doch Wesentliche wird gebetet und geopfert. Vor allem erkennt der Mensch den ihn be- drohenden Tod und will doch weiterleben, möchte sogar Ewiges Le- ben. Gerade dieser Ewigkeit gelten Gebet und Opfer: „Unsterblichkeit und Ewiges Leben sind die wirkungsvollsten Ideen in der Verheißung vieler Religionen”. 1 Infolgedessen geht es im Kult um zwei Bestrebun- gen: Einmal will man in existentieller Not Bedrohungen überwinden und zum anderen im ekstatischen Verlangen Ewigkeit erreichen. Gebet und Opfer kennzeichnen auf diese Weise den Menschen in seinem Transzendenzverlangen und geben allem Kult seinen „Ernstcharak- ter”. 2 Die Anstrengungen um ein nachtodliches Weiterleben, haben im Nebeneffekt zu immensen Kulturleistungen geführt. Denn, so Jan Assmann, „Kultur entspringt dem Wissen um den Tod und die Sterb- lichkeit”. 3 Insofern erweist sich der Kult als Zentralakt nicht nur des Lebens, sondern noch des Todes. Immer ist intendiert, „Unheil abzu- wehren, Krisen zu bewältigen und Heilszustände herbeizuführen”, 1 Walter BURKERT, Kulte des Altertums. Biologische Grundlagen der Religionen, Mün- chen 1998, S. 49. 2 Ibidem, S. 47. 3 Jan ASSMANN, Der Tod als Thema der Kulturtheorie. Todesbilder und Totenriten im Alten Ägypten (Edition Suhrkamp 2157: Erbschaft unserer Zeit 7), Frankfurt a. M. 2000, S. 13. Brought to you by | St. Petersburg State University Authenticated | 134.99.128.41 Download Date | 12/19/13 9:16 AM

Religiosus Ludens (Das Spiel als kulturelles Phänomen in mittelalterlichen Klöstern und Orden) || IST LITURGIE EIN SPIEL?

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Page 1: Religiosus Ludens (Das Spiel als kulturelles Phänomen in mittelalterlichen Klöstern und Orden) || IST LITURGIE EIN SPIEL?

IST LITURGIE EIN SPIEL?

Arnold Angenendt

1. Was ist Liturgie?

Menschen haben seit jeher Kult praktiziert, das heißt: zu den Über-mächten gebetet und ihnen geopfert. Größeres wollten die Menschen erreichen, als es ihnen von sich selbst aus möglich ist, solches nämlich, was nur die Übermächte zu bewirken vermögen: Lebensschutz, Ernte-segen, Krankheitsheilung, Zukunftssicherung, insgesamt Lebenssteige-rung. Für dieses den Menschen Unmögliche, aber doch Wesentliche wird gebetet und geopfert. Vor allem erkennt der Mensch den ihn be-drohenden Tod und will doch weiterleben, möchte sogar Ewiges Le-ben. Gerade dieser Ewigkeit gelten Gebet und Opfer: „Unsterblichkeit und Ewiges Leben sind die wirkungsvollsten Ideen in der Verheißung vieler Religionen”.1 Infolgedessen geht es im Kult um zwei Bestrebun-gen: Einmal will man in existentieller Not Bedrohungen überwinden und zum anderen im ekstatischen Verlangen Ewigkeit erreichen. Gebet und Opfer kennzeichnen auf diese Weise den Menschen in seinem Transzendenzverlangen und geben allem Kult seinen „Ernstcharak-ter”.2 Die Anstrengungen um ein nachtodliches Weiterleben, haben im Nebeneffekt zu immensen Kulturleistungen geführt. Denn, so Jan Assmann, „Kultur entspringt dem Wissen um den Tod und die Sterb-lichkeit”.3 Insofern erweist sich der Kult als Zentralakt nicht nur des Lebens, sondern noch des Todes. Immer ist intendiert, „Unheil abzu-wehren, Krisen zu bewältigen und Heilszustände herbeizuführen”,

1 Walter BURKERT, Kulte des Altertums. Biologische Grundlagen der Religionen, Mün-

chen 1998, S. 49. 2 Ibidem, S. 47. 3 Jan ASSMANN, Der Tod als Thema der Kulturtheorie. Todesbilder und Totenriten im

Alten Ägypten (Edition Suhrkamp 2157: Erbschaft unserer Zeit 7), Frankfurt a. M. 2000, S. 13.

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und mit diesen Momenten sind Kulthandlungen „über historische und kulturelle Grenzen hinweg erstaunlich konstant”.4

Beide Elemente, Gebet wie Opfer, lassen sich religionsphänomeno-logisch näher bestimmen. So ist Gebet „ein Interaktionsritual, das man rein formal als die verbale Hinwendung des Menschen zu eben dieser Unverfügbarkeit fassen kann”.5 Im Gebet erfährt sich der Mensch als hilfsbedürftig und unvollendet. Er sucht „die Unverfügbarkeit zu be-einflussen”, sie zur gewünschten Handlung, zum geforderten Ergebnis „zu verpflichten oder gar zu ‚zwingen’.”6

Stärker noch ist das Opfer herauszustreichen. Walter Burkert hat uns die Macht, die sich in der langen Geschichte der von Menschen dargebrachten Opfer kundtut, neu verstehen gelehrt: Der Mensch op-fert das Letztmögliche, wenn es um sein und der Seinigen Leben geht; sogar sich selbst kann er dabei einsetzen, sofern nur das eigene Heil wie das der Nächsten gesichert wird.7 Ein Beispiel bietet das ‚Fingerop-fer’, dass nämlich Mütter einen eigenen Finger opfern für das Wohl ihres neugeborenen Kindes,8 oder dass Eltern im Extremfall sich sogar selbst für ihre Kinder opfern, beides ein weltweites Phänomen. Anders gelagert ist das ‚Überlebensopfer’, nämlich bei Bedrohung des eigenen Lebens einen Anderen zu opfern, etwa jemanden aus dem von Wölfen verfolgten Winterschlitten hinauszustoßen oder den anderen nach Schiffbruch von der Rettungsplanke wegzudrängen.9 Möglicherweise beruht dieses Opfer auf einem instinktiven Programm: ‚Nimm einen anderen, nur nicht mich’.10 Beide Weisen, das Fingeropfer wie das Ver-drängungsopfer, lassen sich als „das pars pro toto-Opfer” verstehen.11 Opfere etwas von dir selbst oder aber einen Anderen als dich selbst, um dadurch das Ganze zu retten.

Einem personalen Gott gegenüber drängt es zum „Dankbarkeitsop-fer”. Vorausgesetzt ist hierbei der Ausgleich, der eine „kulturelle In- variante”, eine „homöostatische Forderung” ist, um ein verlorenes Gleichgewicht wiederherzustellen: „Eine Gabe verlangt eine Gegenga-

4 Martin RIESEBRODT, Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen,

München 2007, S. 14. 5 Rainer FLASCHE, Gebet, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe 2

(1990), S. 456–468, S. 461. 6 Ibidem, S. 467. 7 BURKERT, Kulte des Altertums (wie Anm. 1), S. 29. 8 Ibidem, S. 54 55. 9 Ibidem, S. 50–73. 10 Ibidem, S. 72. 11 Ibidem, S. 52.

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be”.12 Bestimmte Schulden können dabei rein rechnerisch beglichen werden: „Eine Beleidigung, ein Schaden oder sogar ein unfreiwilliger Mord lassen sich wie eine gewöhnliche Rechnung mit einer Geldsum-me begleichen”.13 Gott gegenüber aber ist eine solch gewöhnliche Rechnung nicht möglich. Angemessen ist hier die Dankbarkeitsschuld, die gratia oder charis, nämlich die Anmut und Freude, hervorgegangen aus der Erfahrung des göttlicherseits zuteilgewordenen Überglücks. Die Dankbarkeitsschuld geht aus „von einem vorherigen Überfluß, einer Großzügigkeit des Lebens, die als dessen Wahrheit empfunden wird, als die Gabe von niemandem”.14 Gnade ist hier jene Gabe, „die von dem, der sie empfängt, nicht nur in keiner Weise verdient ist, son-dern vor allem unmöglich erwidert werden kann”.15 Aus dem von Gott her erfahrenen Übermaß entsteht dann ob des erfahrenen Überglücks der Dank, der alle symmetrische Reziprozität hinter sich lässt: „Deshalb ist der Ausdruck der Dankbarkeit gleichgültig gegen alles, was ein Spiel der Symmetrie oder die Erwartung einer Entsprechung wäre. Er ist Aufblühen, Überfülle – wie die Sprache, wenn sie zum Gesang wird und sowohl in der lyrischen Feier – […] wie in der Hymne an die Gott-heit oder im Gebet des Mystikers zum Ausdruck kommt”.16 Hier geht Kult in Festlichkeit mit Gesang und Tanz über, kann sich sogar zu Spiel und Ekstase steigern.

Somit spiegelt Kult sowohl Ernst wie Freude des Lebens. Einmal wird angesichts menschlicher Fragilität und nicht erlöschender Hoff-nung das Äußerste aufgeboten: immer das Wertvollste in zugleich voll-endetster Darbringung. Zum anderen ist Kult angesichts sich auftuen-der Hoffnung höchster Jubel: ‚Gott mit uns! Welche Unheilsmacht kann uns etwas anhaben’?

Aller Kult, so auch Gebet und Opfer, tendieren allerdings nicht zu-erst zum ekstatischen Spiel, sondern zum festen Ritus, das heißt: zur verbindlichen Form. Diese Verfestigung oder besser Verstetigung be-ruht auf dem prinzipiell überirdischen Charakter des Ritus: Im allerers-ten Anfang haben die Himmlischen selbst den Irdischen den Ritus übergeben: Die Irdischen sollen wissen, was die Himmlischen fordern, nämlich einerseits wie und wann die Himmlischen zu geben bereit sind und andererseits wie sich die Menschen ihnen gegenüber zu verhalten haben. Insofern ist der Ritus eine Art religiöse Gebrauchsanweisung für 12 Marcel HÉNAFF, Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, Frank-

furt a. M. 2009, S. 316. 13 Ibidem, S. 319. 14 Ibidem, S. 325. 15 Ibidem, S. 372 373. 16 Ibidem, S. 325.

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das Leben. Im Blick auf den Ritus selbst gilt: Er ist überirdisch und dauert seit jeher. Ihn abzuändern bringt ihn um seine Wirkung. Auch braucht man ihn nicht zu verstehen; er muß nur altehrwürdig sein und die Aura des Ewigen ausstrahlen.

2. Die christliche Liturgie

Christlicherseits ergeben sich mehrere Überraschungen. So hat Jesus zu taufen angeordnet, aber keinen Taufritus geschaffen. Auch sein letztes Mahl mit den Jüngern, das Abendmahl, hat Jesus zwar zu wiederholen beauftragt: „Tut dies zu meinem Gedächtnis”; aber er hat keinen Mess-ritus geschaffen und seinen Aposteln kein Hochgebet diktiert. Für lan-ge Zeit blieb die christliche Liturgie tatsächlich „frei”. Das heißt: Die Riten waren im Gesamtrahmen festgelegt wie auch in einzelnen Voll-zügen und Wortformeln vorformuliert, im übrigen aber frei auszuge-stalten. Seit der Spätantike verfestigte und ritualisierte sich die Liturgie, überraschenderweise als erste die römische. Man hat diesen Prozess beschrieben als eine Bewegung „from freedom to formula”.17

a) Der Wort-Gottesdienst: lectio et oratio

Eine erste Grundform der Liturgie ist der Wortgottesdienst, strukturiert nach lectio et oratio. Der „Glaube kommt vom Hören”, sagt Paulus, was die Vulgata einprägsam wiedergibt mit: fides ex auditu (Röm. 10, 17). Im Hören des Gotteswortes und im Glauben daran geschieht das Heil. Infolgedessen „stellt das Hören auf das aus der Heiligen Schrift vorge-tragene Wort Gottes einen wesentlichen kultischen Akt im alt- und neutestamentlichen Gottesdienst dar”.18 Der Wortgottesdienst gründet sich mit seinem Hören auf eine so einfache wie einleuchtende Struktur, auf die Abfolge von Lesung und Gebet. Bündig heißt es bei Hierony-mus († 420): Nunc deum audit, cum diuina relegit, nunc cum deo loquitur,

17 Allan BOULEY, From Freedom to Formula. The Evolution of the Eucharistic Prayer

from Oral Improvisation to Written Texts (Studies in Christian Antiquity 21), Wa- shington D.C. 1981.

18 Anthony Ronald SEQUEIRA, Gottesdienst als menschliche Ausdruckshandlung, in: Hans Bernhard MEYER et al. (Hgg.), Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgie- wissenschaft, Teil 3: Gestalt des Gottesdienstes. Sprachliche und nichtsprachliche Aus-drucksformen, Regensburg 1987, S. 7–39, bes. S. 20.

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cum dominum rogat19 – Nun hört er Gott, wenn er Göttliches liest, dann spricht er mit Gott, wenn er zum Herrn betet.

Die schon im synagogalen Gottesdienst vorgegebene Abfolge Ge-setz – Psalm – Prophet ergänzten die Christen um neutestamentliche Lesungen. Idealtypisch umfasste ihre Lesungsreihe Gesetz – Propheten – Psalmen – Apostelbrief/Apostelgeschichte – Evangelium. Zumeist freilich begnügte man sich mit einem dreigliedrigen oder auch nur zweigliedrigen Schema, wobei der Psalm seinen Lesungscharakter ver-lor und sich zu einem Vorbereitungs- bzw. Zwischengesang, zu einer „Einstimmung” und zum „Nachklang” wandelte. Seit dem 5. Jahrhun-dert dürfte es Perikopenlisten gegeben haben, welche die an bestimm-ten Tagen oder an bestimmten (Fest-)Zeiten zu verlesenden Texte enthielten. Bald folgten Perikopen-Bücher, welche allein die zu verle-senden Texte boten, diese damit endgültig festlegten und kanonisier-ten.20

b) Taufe

Schon zum Ende des 2. Jahrhunderts lag jene Taufform vor, die für alle Zukunft grundlegend wurde, nämlich in der Traditio Apostolica, der wichtigsten altchristlichen Kirchenordnung. Die Vorbereitung, die auf drei Jahre konzipiert war, begann mit einer Negativprüfung, dass be-stimmte Berufe (Gladiatoren, Götzenbildverfertiger, Zauberer, Bordell-besitzer, Strichjungen und Dirnen) nicht zugelassen wurden. Bei der Positivprüfung wurde der Lebenswandel überprüft, dazu eine Reihe von Exorzismen erteilt.21 In der letzten Intensivphase hatten die Kandi-daten sich die Glaubenslehre anzueignen, dabei das Glaubensbekennt-nis und das Vater unser auswendig zu lernen, auch die christliche Le-bensweise bis zur Sozialpraxis einzuüben. Unmittelbar vor der Eintauchung wurde die freie Entscheidung eigens erfragt: „Willst du getauft werden?”

19 Hieronymus, Epistulae, 3, 4, in: Sophronius Eusebius Hiernomymus. Opera Sect. I, 1, hg.

v. Isidor HILBERG (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 54), Wien 1910, p. 1615.

20 Eric PALAZZO, Histoire des livres liturgiques. Le moyen age. Des origines au XIIIe siècle, Paris 1993; Theodor KLAUSER, Das römische Capitulare evangeliorum. Texte und Untersu-chungen zu seiner ältesten Geschichte, Bd. 1: Typen (Liturgiegeschichtliche Quellen und Forschungen 28), Münster 1935.

21 Traditio Apostolica, 15-20, in: Didache. Zwölf-Apostel-Lehre, hg. v. Georg SCHÖLL-GEN / Wilhelm GEERLINGS (Fontes Christiani 1), Freiburg. i. Br. et al. 1991, S. 244–257. Vgl. auch Wilhelm GEERLINGS, Einleitung zur Traditio Apostolica, in: Ibidem, S. 180–191.

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Dann erfolgte die Taufe. Ihr Verlauf war dialogisch, wobei das „ich glaube” des Taufwilligen das entscheidende Wort bildete.22 Die Traditio Apostolica beschreibt hier ganz genau:

„Sobald der Täufling ins Wasser hinabgestiegen ist, legt der Täufer ihm die Hand auf und fragt: Glaubst du an Gott, den allmächtigen Vater? Und der Täufling soll antworten: Ich glaube. Und sogleich, während die Hand auf seinem Haupt liegt, tauft er ihn zum erstenmal. Und darauf fragt er: Glaubst du an Christus Jesus, den Sohn Gottes, der geboren ist vom Heiligen Geist aus der Jungfrau Maria, der unter Pontius Pilatus gekreuzigt wurde, gestorben, am dritten Tage lebend von den Toten auferstanden und zum Himmel aufgestiegen ist, zur Rechten des Vaters sitzt, der kommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten? Und wenn jener geantwortet hat: Ich glaube, soll er ein zweites Mal getauft werden. Erneut fragt er: Glaubst du an den Heiligen Geist, in der heiligen Kirche und an die Auferstehung des Fleisches? Der Täufling soll sagen: Ich glaube. Und so soll er ein drittes Mal getauft werden. Wenn er dann wieder heraufgestiegen ist, soll er vom Presbyter unter fol-genden Worten mit dem Öl der Danksagung gesalbt werden: Ich salbe dich mit heiligem Öl im Namen Jesu Christi. Ein jeder soll sich abtrocknen und wieder ankleiden.”23

Der Taufakt erweist sich als theologisch wohl überlegt und als litur-gisch klar gestaltet. Zugrunde liegen die beiden Taufbefehle. Das markinische „wer glaubt und sich taufen läßt” verlangt vorausgehen-den Glauben; das matthäische „taufet im Namen des Vaters, des Soh-nes und des Heiligen Geistes” strukturiert die Abfolge mit den drei Fragen: Glaubst du an den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist? Diese drei Fragen sind dann biblisch und dogmatisch noch weiter prä-zisiert. Auf jede soll der Täufling antworten mit „ich glaube”, worauf-hin er jeweils untergetaucht wird. Es wird also die Taufe nicht ‚verord-net’, sondern im Glauben erfragt. Der Täufling muß sich nicht einer liturgischen Prozedur unterwerfen, die er, zum Objekt gemacht, über sich ergehen lassen müsste. Vielmehr ist er selbst das Subjekt dieser

22 Wolfram KINZIG / Christoph MARKSCHIES / Markus VINZENT (Hgg.), Tauffragen und

Bekenntnis. Studien zur sogenannten „Traditio Apostolica”, zu den „Interrogationes de fide“ und zum „Römischen Glaubensbekenntnis” (Arbeiten zur Kirchengeschich-te 74), Berlin/New York 1999.

23 Traditio Apostolica, 21 (wie Anm. 21), S. 260 263.

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Liturgie. Sein „ich glaube” bildet nicht nur den Rhythmus der Abfolge, ist vielmehr das Wort, auf das es ankommt; spräche der Täufling dieses Wort nicht, wäre der Ritus damit abgebrochen. Noch bewirkt nicht ein hoheitlich-priesterlicher Amtsakt diese Taufe; ein „ich taufe dich” des Taufliturgen fehlt, ein solches kommt erst später auf.24

c) Die Eucharistie

Die Bezeichnung ‚Eucharistie’ ist wörtlich zu verstehen, als Dank. Es ist der Dank an Gottvater für Jesus Christus, der seine Jünger aufgefordert hat, im Gedächtnis an ihn Mahl zu halten. Die ältesterreichbare Form des eucharistischen Hochgebets bringt dies so deutlich wie kurz zum Ausdruck. Es beginnt mit dem Ruf: „Empor die Herzen” (sursum corda). Darauf folgt der Dank an Gott für Jesus Christus (gratias agamus), der zur versammelten Gemeinde kommt und in ihr anwesend ist (benedic-tus qui venit). Im Abendmahlssaal hatte Jesus Brot und Wein genom-men und das Deutewort darüber gesprochen: „Mein Fleisch – mein Blut”; überdies hatte er dazu beauftragt, ein solches Mahl zu wiederho-len. In Erinnerung an diesen Auftrag nimmt nun auch die Gemeinde Brot und Wein (unde et memores offerimus), bittet um den verwandeln-den Gottesgeist, auf dass die Gaben Leib und Blut Jesu Christi werden und dadurch die Kommunizierenden an dessen Leben, Tod und Aufer-stehung teilhaben.25 Das ist das Opfer der Christen. Es verstand sich betont als geistiges Opfer, als oblatio rationabilis.

Mit dieser Deutung ist die griechische ‚thysia logike’ aufgegriffen, wie es die griechische Philosophie als ‚geistiges‘, als ‚immaterielles’ Opfer gedeutet hatte, nämlich sich selbst für Wahrheit und Ethos ein-zusetzen, nötigenfalls bis zur Selbsthingabe.26 Paulus mahnt im Römer-Brief, „euch leibhaftig darzubringen als lebendiges, heiliges, Gott wohl- gefälliges Opfer – das ist euer Gottesdienst im Geist (logike latreia)” (Röm. 12, 1). Er benutzt hier „mit der Deutung des Brotes auf seinen Leib (soma) einen ‚anthropologischen Ganzheitsbegriff‘, der im Unter-schied zur sarx (‚Fleisch’) die gesamte Person bezeichnet”.27 Für Hein-rich Schlier ist es „das Opfer meiner selbst, meines leiblichen Ichs in

24 Joseph RATZINGER, Taufe und Formulierung des Glaubens, in: Ephemerides theologicae

Lovanienses 49 (1973), S. 76–86. 25 Traditio Apostolica (wie Anm. 2), Apostolische Überlieferung, 4, S. 223–227. 26 Paul VEYNE, Die griechisch-römische Religion. Kult, Frömmigkeit und Moral, Stutt-

gart 2008, S. 86–98. 27 Bernhard HEININGER, Das letzte Mahl Jesu. Rekonstruktion und Deutung, in: Winf-

ried HAUNERLAND (Hg.), Mehr als Brot und Wein. Theologische Kontexte der Eu-charistie, Reinheim 2005, S. 10–49, bes. S. 34.

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seiner gesamten Leiblichkeit”, ja „eine leibhaftige Selbsthingabe” als „eine Darbringung meines ganzen Lebens”.28 Für Ulrich Wilckens ist es „die Leiblichkeit […], die Paulus als den Bereich herausstellt, in dem sich der ‚geistige Gottesdienst’ vollziehen soll”, was ein Affront gegen eine nur ‚geistige’ Religion sei, „die sich sei es in der Nichtachtung, sei es im Verlassen des Leibes vollziehen soll”.29 Ähnlich hatte die israeli-tisch-prophetische Kritik gefordert, statt der Blut- und Brandopfer sich sowohl in Hör- und Zeugnisbereitschaft für Gott wie dessen Wort zu opfern, zusätzlich aber noch in Sozialbereitschaft für die Armen. Der Prophet Hosea († etwa 725 v. Chr.) hat dafür die Kurzformel geprägt „Liebe will ich, nicht Schlachtopfer, Gotteserkenntnis statt Brandopfer” (Hos. 6, 6). Von der griechischen Auffassung her waren also die unbe-dingte Wahrheit und das reine Gewissen gefordert, von der israeliti-schen her das Hören und Befolgen des Gotteswortes wie obendrein die Fürsorge der Armen. Eine Trias entstand, die zwar durch Opfermeta-phorik beschrieben wird, aber Geistiges meint: „das Lobopfer, die ge-genseitige Hilfe, das (Selbst-)Opfer des Märtyrers”.30

Der eigentliche Inhalt des eucharistischen Mahles – so lässt sich der exegetische Befund zusammenfassen – ist Jesus selbst, nämlich „der in Brot und Wein vergegenwärtigte […] Kreuzesleib des Herrn”.31 Oder ausführlicher: „Im Brot gibt Jesus sich selbst”, und zwar als der ans Kreuz Gehende und in der Feier der Gemeinde als Gekreuzigter.32 In-dem Jesu Opfer „ein Selbstopfer” ist,33 soll im Gedenken daran jeder Christ ebenso sich selbst als geistiges Opfer darbringen, jeweils aus der Bereitschaft heraus, wie Jesus „den Kelch zu trinken” (Mk. 10, 38) und das „Kreuz auf sich zunehmen” (Mt. 10, 38 u. ä.). Jesu Tod als Hingabe, „ein Zerbrechen seines Leibes”34, soll sich gleicherweise an den Jüngern

28 Heinrich SCHLIER, Der Römerbrief (Herders theologischer Kommentar zum Neuen

Testament 4), Freiburg i. Br. et al. 21979, S. 350 (Übersetzung) u. S. 355. 29 Ulrich WILCKENS, Der Brief an die Römer, Bd. 3: Röm 12–16, in: Evangelisch-

Katholischer Kommentar zum Neuen Testament IV/3, Zürich et al. 1982, S. 6. 30 Gerd THEISSEN, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums,

Gütersloh 32003, S. 218. 31 Hans-Josef KLAUCK, Religion und Gesellschaft im frühen Christentum. Neutesta-

mentliche Studien (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 152), Tübingen 2003, S. 195.

32 Gerhard DELLING, Abendmahl (II. Urchristliches Mahl-Verständnis), in: Theologi-sche Realenzyklopädie 1 (1977), S. 47–58, S. 5339.

33 Ferdinand HAHN, Das Verständnis des Opfers im Neuen Testament, in: Karl LEH-MANN / Edmund SCHLINK (Hgg.), Das Opfer Jesu Christi und seine Gegenwart in der Kirche. Klärungen zum Opfercharakter des Herrenmahles (Dialog der Kir-chen 3), Freiburg i. Br./Göttingen 21986, S. 51–91, bes. S. 79.

34 Ibidem, S. 69.

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vollziehen, auf dass die Kommunizierenden mit ihm ein Selbstopfer werden. „Das Ganzopfer unserer leibhaftigen Existenz in konkreter Entsprechung zu Gottes Barmherzigkeit, in der er sich uns hingab, ist jenes wahre Wesen des Opfers, das […] eine ungleich radikalere Hin-gabe ist: die Hingabe unserer selbst im leibhaftigen Gehorsam gegen den Willen der Liebe”.35

Indem das Christentum das geistige Opfer aufnahm und dieses al-lein nur gelten ließ, tat es einen gewaltigen Schritt: Die Blutopfer, wie sie im Judentum und Griechentum neben dem geistigen Opfer fortbe-standen hatten, mußten ein Ende haben. Nicht mehr im Kult gründete das Selbstverständnis der neutestamentlichen Gemeinden, „sondern in einer bestimmten ethischen Lebensführung und in der korrekten Aus-legung einer überlieferten Lehre”.36 Damit zielte das paulinische Ethos „auf ein neues, alternatives Gesellschaftsmodell, wozu es in dieser Form keine antiken Parallelen gibt”.37 Die Antike hatte immer umge-kehrt gedacht, dass Theologie und Ethik zur Philosophie gehörten, nicht aber zum Kult, wo es um den korrekten Vollzug des Rituals und um sakrale Reinheit ging. „Die frühen Christen distanzierten sich sehr bewusst vom jüdischen als auch vom hellenistischen Kult; letzterer wurde sogar als dämonisch verworfen”.38 Ja, die Christen zogen hier sogar einen Schlußstrich: „Die Opferpraxis wurde nach urchristlichem Selbstverständnis durch den einmaligen Opfertod Jesu beendet. Aber dieser Opfertod wird um die Auferstehung erweitert, die den Tod überwindet”.39

3. Musik, Spiel und Tanz

„Heilig ist der Gesang”40, so konstatiert Friedrich Heiler († 1967). Die Musik wollte in Ekstase versetzen und den Tanz rhythmisieren, was aber die Christen ablehnten. Ihr Gottesdienst, verstanden als geistig-geistliches Opfer, wollte Geist und Wahrheit bezeugen, obendrein

35 WILCKENS, Brief an die Römer (wie Anm. 29), S. 8. 36 Edwin A. JUDGE, Kultgemeinde (Kultverein), in: Reallexikon für Antike und Chris-

tentum 22 (2007), Sp. 393–438, Sp. 394. 37 Ibidem. 38 Ibidem. 39 THEISSEN, Religion der ersten Christen (wie Anm. 30), S. 211. 40 Friedrich HEILER, Erscheinungsformen und Wesen der Religion (Religionen der

Menschheit 1), Stuttgart et al. 21979, S. 266.

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Dankbarkeit gegen Gott.41 Denn, so Paulus, „ist Zungenreden ein Zei-chen nicht für die Gläubigen, sondern für die Ungläubigen”; es müsse vielmehr „prophetisches Reden” (1. Kor. 14, 22) sein, dann werde, „was in seinem [des Ungläubigen] Herzen verborgen ist, aufgedeckt” (1. Kor. 14, 25). Prophetie sollte das Ekstatische überwinden, und Dankbarkeit sich in Lobgesängen und Hymnen kundtun: „Singt Gott in eurem Herzen Psalmen, Hymnen und Lieder, wie sie der Geist eingibt […]. Alles, was ihr in Worten und Werken tut, geschehe im Namen Jesu, des Herrn. Durch ihn dankt Gott, dem Vater!” (Kol. 3, 16 f.). Ge-genüber den antiken Kulten schuf das eine klare Distanz, die schon Clemens von Alexandrien († 216) aufzeigte:

„Das taumelnde Umherschwanken aber beim Klang der Flöten und Saiten-instrumente und in Reigen und Tänzen und beim Lärm der ägyptischen Klappern und mit anderem leichtfertigem Wesen derart ist im höchsten Grad zuchtlos und unschicklich und ungebildet, von Zimbeln und Pauken umtönt und von den Instrumenten des Irrwahns (des heidnischen Kultes) umlärmt […]. Die Pfeife sei nun den Hirten zugewiesen und die Flöte abergläubischen Menschen, die dem Götzendienst ergeben sind. Denn in der Tat sind auch diese Instrumente von einem nüchternen Gastmahl fern-zuhalten.”42

Als Weiteres folgte die Forderung der „Einstimmigkeit”: Im Gesang vereinten sich die Himmlischen und die Irdischen.43 In den Himmels-gesang einzustimmen ist als spezifisch christlicher Neuansatz zu be-zeichnen.44 Bereits Johannes schaute in seiner Offenbarung, wie eine Tür sich auftat und er den Himmelssaal mit dem Thron Gottes sehen durfte, wo das „heilig, heilig, heilig” erklang (vgl. Offb. 4, 1-11). Insbe-sondere beim Opfer, so Gregor der Große († 604), „tun sich die Himmel auf, daß bei diesem Geheimnis die Chöre der Engel zugegen sind, daß Oben und Unten sich verbinden, daß Himmel und Erde sich vereini-gen, Sichtbares und Unsichtbares eins werden”.45 Wahrer Engelgesang

41 Johannes QUASTEN, Musik und Gesang in den Kulten der heidnischen Antike und

christlichen Frühzeit, Münster 1930, S. 69 80. 42 Clemens von Alexandreia, Der Erzieher, Buch II, cap. 4, 40.2 und 41.1, in: Des Cle-

mens von Alexandreia Der Erzieher, hg. v. Otto STÄHLIN (Bibliothek der Kirchenväter, Zweite Reihe 8), München 1934, S. 51.

43 QUASTEN, Musik und Gesang (wie Anm. 41), S. 91 102. 44 Reinhold HAMMERSTEIN, Die Musik der Engel. Untersuchungen zur Musikanschauung

des Mittelalters, Bern/München 1962, S. 30. 45 Gregorius Magnus, Dialogi, IV, 60, 3; in: Grégoire le Grand. Dialogi, hg. v. Adalbert DE

VOGÜE (Sources chrétiennes 265), Paris 1980, S. 20221.

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war sofort schon bei Jesu Geburt erklungen, das ‚Gloria in excelsis Deo‘46, „der Hymnus der Engel und der Menschen”47. In den Gesang der Himmlischen einzustimmen bot weiter das ›Heilig‹ des Hochgebetes, dessen Präfation mit der Bitte endet: „Mit ihnen [den Engeln] laß, so flehen wir, auch uns einstimmen und voll Ehrfurcht bekennen: Heilig, Heilig, Heilig, Herr, Gott der Heerscharen. Himmel und Erde sind er-füllt von deiner Herrlichkeit. Hosanna in der Höhe!” Der Gesang mit den Himmlischen erforderte Einstimmigkeit aller Gläubigen auf Erden: das Ideal des Gotteslobes wie aus einem Munde.48 Die Einheit der Vie-len, die aus der Vieltönigkeit und Zerstreuung zur göttliche Harmonie gelangt, wird „wird zu einem Einklang, dem Chorführer und Lehrer folgend und in der einen Wahrheit ausrufend: Abba Vater”.49 Das ver-einte Singen der Himmlischen und der Irdischen ist süßer Gesang:

„Die […] Konsonanz der Stimmen der Engel und der Heiligen im Himmel mit den Stimmen der Sänger im Chor der Kirche, […] forderte von der Li-turgie der Kirche eine Süße derart, daß in ihrem Alleluia das Alleluia der Engel und der Sphären mitzuhören wäre.”50

Für Jahrhunderte blieb der einstimmige gregorianische Choral die kirchliche Gesangspraxis. Erst im Umbruch des 12. Jahrhunderts, als die Mönche nicht mehr allein die Gottesdienstpraxis bestimmten, bilde-te sich in Paris, dem Ort der neuen Theologie, auch der mehrstimmige Gesang aus.51 War bei den geistlichen Autoritäten das Lachen, weil als zu ausgelassen empfunden, verpönt geblieben,52 sollte der Gesang um so freudiger sein.

46 Josef Andreas JUNGMANN, Missarum Sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen

Messe, Bd. 1: Messe im Wandel der Jahrhunderte. Messe und Kirchliche Gemeinschaft. Vormesse, Bonn 52003 (ND 1962), S. 446 461.

47 Ruperti Tuitiensis Liber de divinis officiis, I, 30, hg. v. H. HAACKE (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 7), Turnhout 1967, S. 24.

48 QUASTEN, Musik und Gesang (wie Anm. 41), S. 96 97. 49 Clément d‘Alexandrie, Le Protreptique, IX, 88, hg. v. Claude MONDESERT / Andrè PLAS-

SAR (Sources chrétiennes 2), Paris 1949, S. 147. Vgl. Des Clemens von Alexandreia Mahnrede an die Heiden, übers. v. Otto STÄHLIN (Bibliothek der Kirchenväter, Zweite Reihe, Bd. 7), München 1934, S. 165.

50 Friedrich OHLY, Süße Nägel der Passion. Ein Beitrag zur theologischen Semantik (Saecula spiritalia 21), Baden-Baden 1989, S. 78 79.

51 James MCKINNON, Musik und Religion (III. Alte Kirche und Mittelalter), in: Theologi-sche Realenzyklopädie 23 (1994), S. 425–457, bes. S. 455 456.

52 Basilius STEIDLE, Das Lachen im alten Mönchtum, in: ID., Beiträge zum alten Mönchtum und zur Benediktusregel, hg. v. Ursmar ENGELMANN, Sigmaringen 1986, S. 30–39.

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52 Arnold Angenendt

„Die Gebärde der das Lachen verdrängenden christlichen Heiterkeit [war …] das Singen […]. Das Mittelalter ist eine singende Epoche. Sein Lachen war sein Singen.”53

So sehr die christliche Musik sich von der Antike absetzte, so gab es doch auch Berührungspunkte, etwa in der Auffassung von der Sphä-renmusik. Bei Clemens von Alexandrien sind die Grundelemente Was-ser, Erde, Feuer und Luft in musikalischer Harmonie geordnet, desglei-chen die ganze Welt und der Mensch.

“Dieser [Christus] gab auch dem All eine harmonische Ordnung und stimmte den Mißklang der Elemente zu geordnetem Wohlklang, damit die ganze Welt ihm zur Harmonie werde; […]. Und dieses reine Lied, die feste Grundlage des Alls und die Harmonie der Welt, die sich von der Mitte bis an die Enden und von den äußersten Grenzen bis in die Mitte erstreckt, hat dieses All harmonisch gemacht […]. Der göttliche Logos aber, der von Da-vid stammt und doch vor ihm war, verschmähte Lyra und Harfe, die leblo-sen Instrumente, erfüllte durch den heiligen Geist diese Welt und dazu auch die Welt im Kleinen, den Menschen, seine Seele und seinen Leib, mit Harmonie und preist Gott mit diesem vielstimmigen Instrument und singt zu dem Instrument, dem Menschen.”54

Zur Musik gehört der Tanz. Wiederum Friedrich Heiler stellt fest: „Ne-ben dem Opfer ist er die wichtigste Kulthandlung, ja, bei den primiti-ven Völkern noch wichtiger als dieses”.55 Aber auch hiergegen richte-ten die Christen schärfste Kritik.56 Ihnen wurde der Tanz „schlechthin zum Ausdruck heidnischer Frömmigkeit”.57 Das Mittelalter sah darin Teufelswerk.58

Wohl aber brachte die Liturgie das Geistliche Spiel hervor – „eine ursprüngliche Schöpfung des Mittelalters”.59 Im 10. Jahrhundert ist das 53 Friedrich OHLY, Rezension von R. Warning, Funktion und Struktur. Die Ambivalenz

des geistlichen Spiels (1979), in: ID., Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturge-schichte und zur Bedeutungsforschung, hg. v. Uwe RUBERG / Dietmar PEIL, Stutt-gart/Leipzig 1995, S. 123.

54 MONDESERT / PLASSAR, Clément d‘Alexandrie (wie Anm. 49), I, 5, S. 46 47. Vgl. STÄHLIN, Des Clemens von Alexandreia Mahnrede (wie Anm. 49), S. 75 76.

55 HEILER, Erscheinungsformen (wie Anm. 40), S. 239 240. 56 Otto Gerhard OEXLE, Conjuratio und Gilde im frühen Mittelalter. Ein Beitrag zum Prob-

lem der sozialgeschichtlichen Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter, in: Berent SCHWINEKÖPER (Hg.), Gilden und Zünfte. Kaufmännische und gewerbliche Genossen-schaften im frühen und hohen Mittelalter (Vorträge und Forschungen. Konstanzer Ar-beitskreis für Mittelalterliche Geschichte 29), Sigmaringen 1985, S. 154 155.

57 Carl ANDRESEN, Altchristliche Kritik am Tanz. Ein Ausschnitt aus dem Kampf der alten Kirche gegen heidnische Sitte, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 72 (1962), S. 237.

58 HAMMERSTEIN, Musik der Engel (wie Anm. 44), S. 38 93. 59 Günter BERNT, Geistliches Spiel (I. Ursprung. Lateinische geistliche Spiele), in: Lexikon

des Mittelalters 4 (1989), Sp. 1192.

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Osterspiel entstanden und in der Folgezeit zunehmend erweitert wor-den. Den Anfang bildete die dramatisch aufgeführte Visitatio sepul- chri (Besuch des Grabes), und man benutzte dafür einen Tropus, eine melodische, oft über den Text hinausgehende Erweiterung der norma-len Liturgie:

Interrogatio: Frage:

Wen sucht ihr im Grab, c Christgläubige? Responsio: Antwort: Iesum Nazarenum cruxifixum Jesus von Nazareth, den o caelicolae. gekreuzigten, ihr Himmelsver-

ehrer. Non est hic, surrexit sicut pre- Es ist nicht hier, er ist auf dixerat; standen, wie er gesagt hat. ite, nuntiate quia surrexit de Geht, verkündet, dass er vom sepulchro. Grabe erstand.60

Entsprechend schuf man für Weihnachten eine Visitatio praesepis (Be-such der Krippe).61 Das geistliche Spiel, einmal etabliert, gestaltete noch andere Themen, seit dem 12. Jahrhundert die Passion und weitere bib-lische Stoffe, etwa die Anbetung der Könige oder Joseph und seine Brüder, dazu noch Marien- und Nikolausspiele.62 Eine spezielle Er-scheinung sind die Fronleichnamsspiele Englands; die dabei aufgeführ-ten Spiele zeigten das Leben Jesu und übernahmen die inzwischen etablierten Darstellungen der Krippen- und Grabbesuche; aufgeführt wurden sie bei der Prozession, zumeist auf Bühnenwagen.63

4. Die Klosterliturgie

a) Psalmen und Eucharistie

Von seinem Ursprung her verstand sich das Mönchtum als eine Ge-meinschaft, die das im Neuen Testament gebotene unablässige Gebet vollziehen wollte: oportet semper orare (Lk. 18, 1); sine intermissione orate (1. Thess. 5, 17). Bei diesem ‚ewigen Gebet‘ (laus perennis) sollte der 60 Theo STEMMLER, Liturgische Feiern und geistliche Spiele. Studien zu Erscheinungsfor-

men des Dramatischen im Mittelalter (Buchreihe der Anglia 15), Tübingen 1970, S. 47. 61 Ibidem, S. 72–96. 62 Ibidem, S. 98–102 u. 111–114. 63 Ibidem, S. 209–246.

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Einzelne gestützt werden durch siebenmaliges gemeinschaftliches Be-ten, gemäß dem Psalmenwort septies in die laudem dixi (Ps. 119, 164). Daraus entstand das Stundengebet, benannt nach den Tageszeiten: am Morgen die Matutin (später Laudes), während des Tages dann Prim, Terz, Sext, Non, am Abend Vesper und Komplet, obendrein in der Nacht die Vigilien (später Matutin).64 Dieses „Stundengebet” erachteten die Mönche als ihren eigentlichen Dienst (officium), als opus Dei. Aber dieses Gebet erscheint nicht in erster Linie als ein Akt der Gemein-schaft, „sondern als eine persönlich zu erfüllende Pflicht”.65 Erst später verliert sich das Ziel des persönlichen Gebets zugunsten eines primären Gemeinschaftscharakters, wobei das Gebet dann bedeutet: „Gott die Ehre zu geben”.66 Für die Mönche bedeutete das: „Die Hörer des Wor-tes Gottes haben sich in Sänger seiner Majestät verwandelt”.67 Das Ge-bet wird officium, wie es jetzt auch bezeichnet wird.

Die Eucharistie stand im Kloster – für uns erstaunlich – anfangs zu-rück. Die Mönche verstanden sich zunächst laikal und feierten keine regelmäßige Kloster-Eucharistie. Der französische Benediktiner Adal-bert de Vogüé hat hier neuartige Einsichten eröffnet, so anhand der Regeln des Magisters wie Benedikts. Obenan steht der Abt, der die Stelle Jesu Christi einnimmt und doch nur Laie ist, als solcher nicht die Eucharistie zelebriert und dennoch bischofsgleich zu sein beansprucht:

„Der Abt ist ein Laie, der eine dem Bischof ähnliche Funktion ausübt. Wie dieser gehört er zur Kategorie der ‚Lehrer’, d. h. zu den Dienern, die Chris-tus in der Endzeit […] an die Spitze der Kirche gestellt hat.”68

Nach der Regula Magistri versteht sich die Mönchsgemeinde als zwar kleine, doch gegenüber der Amts- und Massenkirche als die wahre und darum überlegene Kirche. Dennoch findet die obligate Sonntagsmesse „nicht im Klosteroratorium, sondern in der Gemeindekirche statt”, zu der man vom Kloster aus hingeht; wochentags findet nur „eine Kom-munionfeier im Oratorium des Klosters statt […], der der (Laien-)Abt präsidiert”.69 Dank dieser sonntäglichen Gemeinde-Eucharistie bekennt sich die Mönchsgemeinde zur Großkirche.

64 Angelus A. HÄUSSLING, Stundengebet, in: Lexikon des Mittelalters 8 (1997), Sp. 260–

265. 65 Adalbert DE VOGÜÉ, Die Regula Benedicti. Theologisch-spiritueller Kommentar (Regu-

lae Benedicti Studia Supplementa 16), Hildesheim 1983, S. 163 164. 66 Ibidem, S. 175. 67 Ibidem, S. 176. 68 Ibidem, S. 79. 69 Angelus A. HÄUSSLING, Mönchskonvent und Eucharistiefeier. Eine Studie über die

Messe in der abendländischen Klosterliturgie des frühen Mittelalters und zur Ge-

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Benedikt von Nursia († 547) hat die Verbindung zur Großkirche verstärkt: Die „wichtigste” der von ihm vorgenommenen Neuerungen ist de Vogüé zufolge „die Schaffung eines monastischen Klerus, beste-hend aus Klerikern, die Mönche geworden sind, und aus Mönchen, die auf Verlangen des Abtes die Weihen genommen haben”.70 Auf diese Weise etabliert sich das Kloster als eucharistische Gemeinde, die sozu-sagen zu einer eigenen Pfarrgemeinde wird und sich damit direkt der Hoheit des Bischofs unterstellt. Dennoch spricht de Vogüé auch hier nur von einer „Randstellung, die […] der eucharistischen Liturgie zu-kommt”; ja, er lässt angesichts der mittelalterlichen Klosterliturgie den nur erstaunlichen Satz folgen: „Auf jeden Fall scheint es ausgeschlossen zu sein, daß jeden Tag eine Konventsmesse stattfand”; eine solche wird „nicht im benediktinischen Zeitplan und auch sonst nirgendwo in den alten monastischen Regeln erwähnt”.71 Die Messe fällt überhaupt „nicht unmittelbar unter ihre Zuständigkeit. Sie ist ein Gut der ganzen Kirche”.72

Halten wir fest: Anfangs waren die monastischen Gemeinschaften asketische Laiengruppen, deren eigentliche Liturgie das Gebet war. Für die Eucharistie nahmen sie an den Gemeinde-Gottesdiensten teil. Die eigentliche Liturgie, das Mönchsgebet, wurde zum Dienst vor Gott.

b) Die karolingische Klosterliturgie

Benedikt von Aniane († 821), der im Auftrag Ludwigs des From-men († 840) ein reichseinheitliches Mönchtum herbeizuführen unter-nahm, schuf die für das ganze weitere westliche Mönchtum verbindli-che Grundlage von täglichem Gebet und täglichen Meßfeiern: jeden Tag 137 Psalmen und jeden Tag gleich zwei Konventsmessen, dazu die Privatmessen.73 Angelus Häußling hat in seinem Buch ›Mönchskonvent

schichte der Messhäufigkeit (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 58), Münster 1973, S. 26 28; DE VOGÜÉ, Regula Benedicti (wie Anm. 65), S. 196.

70 Adalbert DE VOGÜÉ, Regula S. Benedicti, in: Lexikon des Mittelalters 7 (1995), Sp. 603 605, bes. Sp. 604.

71 ID., Regula Benedicti (wie Anm. 65), S. 196; siehe auch HÄUSSLING, Mönchskonvent und Eucharistiefeier (wie Anm. 69), S. 29 31.

72 DE VOGÜÉ, Regula Benedicti (wie Anm. 65), S. 199. 73 Hans Bernhard MEYER, Benedikt von Aniane (ca. 750-821). Reform der monastischen

Tagzeiten und Ausgestaltung der römisch-fränkischen Meßfeier, in: Martin KLÖCKE-NER / Benedikt KRANEMANN (Hgg.), Liturgiereformen. Historische Studien zu einem bleibenden Grundzug des christlichen Gottesdienstes, Teil 1: Biblische Modelle und Liturgiereformen von der Frühzeit bis zur Aufklärung (Liturgiewissenschaftliche Quellen und Forschungen 88), Münster 2002, S. 239 261.

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und Eucharistiefeier‹ dieses neue System offengelegt,74 in Fortführung dann Dominique Iogna-Prat auch für die Liturgie Clunys.75

Vergegenwärtigen wir uns das anianische Kloster-Offizium, das dann in Cluny weiter ausgebaut wurde:

1. Dreiergebet I 2. 15 Gradualpsalmen 3. Nokturnen (Vigilien) 4. mit je 2 Zusatzpsalmen

(In der Quadragesima zu jeder Hore je zwei weitere so genann-te psalmi prostrati)

5. Totenvigil 6. Matutin (später: Laudes) 7. mit 2 Zusatzpsalmen 8. Totenmatutin 9. Allerheiligenmatutin 10. Dreiergebet II (im Winter vor der Terz) 11. Prim 12. mit 2 Zusatzpsalmen und 13. Kapitel 14. Terz 15. mit 2 Zusatzpsalmen 16. Sext 17. mit 2 Zusatzpsalmen 18. Non 19. mit 2 Zusatzpsalmen 20. Vesper 21. mit 2 Zusatzpsalmen 22. Totenvesper 23. Allerheiligenvesper 24. Komplet 25. mit 10 (Winter) bzw. 5 (Sommer) Zusatzpsalmen 26. Dreiergebet III76

Diese in der Karolingerzeit gegenüber dem frühen Mönchtum bereits stark regulierte Klosterliturgie steigerte sich weiter durch neue Zusätze, vor allem durch regelmäßige Zusatz-Offizien, so das Marien- und To-ten-Offizium. Sowohl das cluniazensische wie gorzische Benediktiner-

74 HÄUSSLING, Mönchskonvent und Eucharistiefeier (wie Anm. 69). 75 Dominique IOGNA-PRAT, Ordonner et exclure. Cluny et al société chrétienne face à

l’hérésie, au judaïsme et à l’islam (1000-1150), Paris 1998. 76 Erläuterung: Benediktinisch, voranianisch, vermutlich voranianisch, anianisch. Siehe

MEYER, Benedikt von Aniane (wie Anm. 73), S. 253.

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Ist Liturgie ein Spiel? 57

tum erreichten hier eine Höhe, die noch bis ins Spätmittelalter weiter wirkte.

5. Von der Eucharistie zur Messe

Was die christliche Liturgie im Frühmittelalter tief veränderte, war die Ausrichtung hin zu Fürbitte und Sühne. Die in der Spätantike auf-kommende Bezeichnung ‚Messe’ zeigt diese Veränderung an, leitet sie sich doch von dem Segen her, der am Schluß der Eucharistiefeier erteilt wurde. Fortan gilt die Messe als heilbringend für alle Lebenssituatio-nen und darum jetzt die zahlreichen Votivmessen mit ihren Bitten um Beistand und Sühne. Und nicht nur für die Lebenden wirkte die Messe heilbringend, auch für die Toten. Hatte man zuerst angesichts eines Toten für dessen Leben und Wirken gedankt, so überwog bald die Bitte um Bewahrung vor dem Tartarus. Seit Augustinus war klar, dass Für-bitte und Meßopfer den Toten irgendwie von Nutzen seien; seit Gregor dem Großen war zusätzlich klar, dass die kirchliche Binde- und Löse-gewalt bis ins Jenseits reiche, allerdings nicht für schwere Sünder. Da-bei wurde das tarifierte Bußsystem des Frühmittelalters auf die Jensei-tigen übertragen. Die damals aufkommenden Bußbücher quantifizieren und geben an, wie viele Messen, Psalmen und Gebete wielange Bußzei-ten zu ersetzen vermochten. Das wurde nun auch auf die im Fegefeuer noch Büßenden angewandt: Die im Jenseits noch abzubüßenden Buß-zeiten konnten durch sozusagen von Erden her nachreichbare Bußwerke, und darunter vor allem Gebet und Messen, verkürzt wer-den. Potente Stifter machten sich diese Möglichkeiten für sich und ihre Angehörigen zunutze. Die Adressaten waren die gebetsmächtigen Klöster. Wer hier Schenkungen machte, erhielt dafür Anteil an deren geistlichem Verdienst und durfte sich des Heils sicher sein. Cluny brachte dieses System zur Vollendung.77

Überdies ist die Liturgie jetzt perfekt ritualisiert. Wilhelm von Hirsau († 1091), ein Cluniazenser auf deutschem Boden, beschreibt als erster die monastische Privatmesse und fordert eine minutiöse Zelebra-tion. Genau vorgeschrieben sind Stehen und Knien, die Stellung vor und am Altar, wer welche Handreichung vollzieht und wer welches Gebet spricht, wie mit Buch und vor allem mit Kelch und Patene um-zugehen ist. Ein durchgehender Zug ist die Angst vor kultischer Un- 77 Arnold ANGENENDT, Missa specialis. Zugleich ein Beitrag zur Entstehung der Pri-

vatmessen, in: ID., Liturgie im Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze zum 70. Geburts-tag, hg. v. Thomas FLAMMER und Daniel MEYER (Ästhetik – Theologie – Liturgik 35), Münster 22005, S. 111 190.

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reinheit, weswegen immer neue Waschungen und jeweils neue Kelch- und Reinigungstücher zu verwenden sind, wie noch die Finger nach Berührung der heiligen Hostien rein zu halten sind.78 Selbstverständ-lich sind auch alle für die Zelebration erforderlichen Utensilien rein zu halten. Ein Schrank ist im oder beim Hauptaltar angebracht, der mit reinem Tuch ausgekleidet ist und sorgfältig alles Altar- und Meßgerät behütet, so für die Hochämter des Konvents zwei Kelche mit Patenen verschiedener Größen und zusätzlich mehrere Korporalien.79 Sogar noch das Zubereiten der Hostien machte Cluny zu einer reinen Litur-gie.80

6. Der Protest gegen Cluny

Gegen die Stiftungsliturgie, gegen den Austausch von Gebet und Schenkung, stellten sich erstmals die jungen Zisterzienser; sie verwei-gerten das Gedächtniswesen und ziehen es als simonistisch.81 Verzich-ten wollten sie gänzlich auf Stiftungen für Messen, für Beichte und Sepultur. In der Gründungserklärung heißt es:

„Kirchen, Altäre, Begräbnisse, Zehntleistungen aus fremder Arbeit oder Viehzucht, Dörfer, Hörige, Erträge von Grundstücken, Einkünfte von Backhäusern und Mühlen und ähnliche andere sind mit der monastischen Reinheit unvereinbar. Deshalb verbieten sie unser Name und die Verfas-sung unseres Ordens […]. Zur Beichte, heiligen Kommunion und zum Be-gräbnis nehmen wir keinen Außenstehenden an außer den Gästen und un-seren Taglöhnern, falls diese im Kloster sterben. Auch nehmen wir keine Opfergaben für die Konventmesse an.”82

78 Wilhelm von Hirsau, Constitutionum Hirsaugiensium, I, 50: De priuata missa, in:

Willehelmi Abbatis Constitutiones Hirsaugienses, hg. v. Pius ENGELBERT (Corpus Consuetudinum Monasticarum 15, 1), Siegburg 2010, S. 442 455.

79 Ibidem, S. 424 425. 80 Bernardus, Ordo Cluniacensis I, 53; in: Vetus disciplina monastica, hg. v. Marquard

HERRGOTT (ND der Ausgabe Paris 1726), Siegburg 1999, S. 249; Wilhelm von Hirsau, Constitutionum Hirsaugiensium (wie Anm. 78), I, 27: De sacerdote ebdomadario, S. 156 158; Udalricus Cluniacensis, Antiquiores Consuetudines Cluniacensis Monaste- rii, III, 13, in: MIGNE, Patrologie Latina, Bd. 149, Sp. 757 758.

81 Joachim WOLLASCH, Neue Quellen zur Geschichte der Cistercienser, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 84 (1973), S. 188–232.

82 Exordium Cistercii, XXVIII, 23-24, in: Hildegard BREM / Alberich M. ALTERMATT (Hgg.), Einmütig in der Liebe. Die frühesten Quellentexte von Cîteaux. Lateinisch-Deutsch (Quellen und Studien zur Zisterzienserliteratur 1), Langwaden/Turnhout 21998, S. 55–57.

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Zwar gewährte man anfangs noch jedem der eigenen verstorbenen Mönche ein Einzelgedenken, bald aber allein nur den Äbten, während aller anderen kumulativ gedacht wurde.83 Konsequenterweise redu-zierten die Zisterzienser ihre Gebetsleistung von den in Cluny täglich gesungenen 200 Psalmen auf das benediktinische Maß von 37.84 Aber nicht nur den ‚heiligen Tausch’, den Cluny mit Gebet für Schenkungen praktizierte, lehnten die Zisterzienser ab, ebenso alle Einkünfte aus der Arbeit anderer oder aus Herrschaftsrechten über andere; ausdrücklich wollten sie keine Kirchen mit den profitablen Altargaben inkorporie-ren, ebensowenig einen Zehnt annehmen.85 Vielmehr sollten alle mit eigenen Händen arbeiten und die Äbte nicht als weltliche Herren auf-treten.86 Das war tatsächlich ein Bruch mit dem Austausch-System von Gabe und Gegengabe, wie es Cluny bislang praktiziert hatte. Im Ergeb-nis ist allerdings festzustellen, dass sowohl Citeaux wie alle sonstigen neuen Orden dem Andrang der Stifter wieder erlagen.

7. Visionäre Liturgie

Im Hochmittelalter, als die irdische Liturgie, die immer auch als Teil-habe an der himmlischen verstanden worden war, als eröffnender Blick ins Jenseits gefeiert wurde, bildeten sich neben dem liturgischen Spiel noch weitere Spielelemente aus. Als Beispiel sei Mechthild von Hacke- born († 1299) angeführt:

„Von alldem wurde Mechthild stark von dem Wunsch erfasst, und sie bat den Herrn, ihm zu Lob und Herrlichkeit für seine himmlische Familie ein großartiges Festmahl zu bereiten. Sogleich sah sie dieses vorzügliche Fest-mahl bereitet. Der Herr war mit einem Hochzeitsgewand bekleidet – in grüner Farbe mit goldenen Rosen besetzt –, und er sprach zu ihr: ‚Bin ich

83 Franz NEISKE, Cisterziensische Generalkapitel und individuelle Memoria, in: Gert

MELVILLE (Hg.), De ordine vitae. Zu Normvorstellungen, Organisationsformen und Schriftgebrauch im mittelalterlichen Ordenswesen (Vita regularis. Ordnungen und Deutungen religiosen Lebens im Mittelalter 1), Münster 1996, S. 280 281.

84 Alberich Martin ALTERMATT, Die erste Liturgiereform von Cîteaux (ca. 1099–1133), in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 4 (1985), S. 119–148.

85 Constance B. BOUCHARD, Sword, Miter and Cloister. Nobility and the Church in Burgundy, 980–1198, Ithaca/London 1987, S. 177–183.

86 Klaus SCHREINER, Zisterziensisches Mönchtum und soziale Umwelt. Wirtschaftlicher und sozialer Strukturwandel in hoch- und spätmittelalterlichen Zisterzienserkon-venten, in: Kaspar ELM (Hg.), Die Zisterzienser. Ordensleben zwischen Ideal und Wirklichkeit, Ergänzungsband, Köln 1982, S. 79–135; Georges DESPY, Les richesses de la terre. Cîteaux et Prémontré devan l'économie de profit aux XIIe et XIIIe siècles, in: Revue de l’Université de Bruxelles 5 (1975), S. 400 422.

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auch als eine Rose ohne Dornen geboren, wurde ich doch von so vielen Dornen durchbohrt‘. Die ganze himmlische Familie war mit ähnlichen Gewändern bekleidet. Als das Hochzeitsmahl bereitet war, sprach der Herr: ‚Wer wird uns denn bei diesem Festmahl für Unterhaltung sorgen?‘ Und kaum gesagt, nahm er die Seele Mechthilds in seine Hände und ließ sie einen Tanz aufführen. Alle Teilnehmer des Mahls wurden hierdurch von ganz besonderer Fröhlichkeit und Fülle der Freude angeregt, sie dank-ten Gott, dass er sie mit der Seele Mechthilds unterhalten hatte. Die Seele aber umfasste in innigster Liebe ihren Liebhaber Christus mit einer Umar-mung und führte ihn hin an den Tisch der Gäste. Da sah sie ein nicht beschreibbares Licht und einen wunderbaren Glanz vom Antlitz des Herrn ausgehen. Dieser erfüllte den ganzen himmlischen Saal mit Licht, und er füllt auf dem königlichen Tisch alle Becher. So wurde der herrliche Glanz seines lieblichen Angesichts zur Sättigung aller, zu ihrem Vergnügen und aller Annehmlichkeit. Ohne Überdruss zu erzeugen, sättigte er sie ohne Ende, machte sie fröhlich und erfüllt von Jubel.“87

Hier entwickelt sich eine Liturgie, die als ‚Spiel’ bezeichnet werden könnte. Aber sie war ‚visionär‘. An der vorgeschriebenen Liturgie än-derte sich nichts.

8. Zum Schluss

Die monastische Liturgie hat ihre eigene Geschichte und kulminierte in Cluny. Kassius Hallinger hat das cluniazensische Übermaß als „bleier-ne Gebetslast” bezeichnet. Das ist freilich modern geurteilt; denn wir können uns eine solche Liturgie nicht mehr vorstellen. Aber der Blick auf moderne Schulungs-, Trainings- und Berufsmethoden mit stunden-langer Dauer und totaler Konzentration sollte vor Schnellurteilen war-nen. Das mönchische Selbstverständnis, im Angesicht Gottes zu leben, machte die Liturgie zum Faszinosum: Sie war der Weg des Lebens, weil Weg zum Ewigen Leben. Des inne zu werden veranlasste zum Jubilus: Ostern als großes Lachen der Erlösten. In der Volksfrömmig-keit wurde daraus der risus paschalis, wie überhaupt die Volksfröm-migkeit, aus der strengen Liturgie herausdrängte: die Passionsspiele, die Osterspiele, die Fronleichnamsprozession. Trotz aller Weltlichkeit blieben diese Spiele Schau des Ewigen.

Zum Schluss zurück zur Ausgangsfrage: Ist Liturgie Spiel? Liturgie ist Spiel insofern, als sie wie jedes Spiel feste Regeln einhält; wer im Spiel die Regeln hintergeht, verdirbt alles. Aber die Regeln des weltli- 87 Mechthild von Hackeborn. Das Buch der besonderen Gnade, hg. v. Klemens

SCHMIDT (Quellen der Spiritualität 2), Münsterschwarzach 2010, S. 69 (Teil 1, cap. 19).

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Ist Liturgie ein Spiel? 61

chen Spiels sind menschengemacht, sind aufgestellt, um die eigene Geschicklichkeit zu beweisen oder das Glück herauszufordern. Die Regeln der Liturgie sind von anderer Qualität: Sie sind göttlich gestif-tet. Das Spiel der Liturgie dient nie und nimmer der eigenen Geschick-lichkeit. Die Liturgie dient der letzten Ernsthaftigkeit: dem Leben und dem Tod. Und weil die Menschen weder Leben noch Tod in ihrer Hand haben, darum beten und opfern sie. Das ist einerseits ihr Ernst – das ist andererseits aber auch ihre Freude.

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