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Renate Schoof Blauer Oktober

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Roman, Mainz 2012

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Renate Schoof

Blauer OktOBer

Roman

Verlag André Thiele

Leseauszug

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ainz.de

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© VAT Verlag André iele, Mainz am Rhein 2012Umschlag: gestaltungsmerkmal.de, DresdenLektorat: Petra Seitzmayer, MainzSatz: Felix Bartels, OsakaDruck: Winterwork, BorsdorfAlle Rechte vorbehalten.Umschlag unter Verwendung eines Bildes von Christian Strahl

www.vat-mainz.de

isbn 978-3-940884-76-3

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Die Berechtigung von Kunstist ihre eigene Art der Welterkenntnis und ihr

ebenso vieldeutiger wie präziser Ausdruck für etwas,dem wir uns nur anzunähern vermögen.

Künstlerisch arbeiten heißt für mich: Verstehen lernen.

Ricardo Maag

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Für Wolfgang

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Die Olii-ven gedei-hen. Der Krieg ist vorbei-ei. Ein kleines Lied,das so beginnt, hat er im Radio gehört, es begleitet ihn. Immerwieder singt er die Zeilen aus Aristophanes’ Frieden vor sich hin,summt froh gestimmt die Melodie. Wir würzen den Wei-ein mitZimt und Salbei-ei … Freudige Erwartung hat ihn aus innererEmigration und Verzweiflung befreit. Auch wenn noch immerkein Brief und keine Mail von Ruth da sind, ist er sicher: Sie wirdkommen.

Ricardo sitzt an der Fensterfront seines Ateliers, kehrt der auf-geräumten Leere, Spiegel einer schier endlosen kreativen Durst-strecke, den Rücken und schaut in sich türmende Wolken, die einNordwest über das Wattenmeer treibt, geradewegs auf ihn zu, überihn hinweg. Er hängt Tagträumen nach, träumt von Ruth unddenkt an Haprecht, an Pläne, die ihn seit der unerwarteten Begeg-nung beschäftigen.

Die Gegenwart der Vergangenheit. Immer wieder hatte Hap-recht von früher gesprochen, von ihrer Studentenzeit und den An-fängen, ihren ersten zögerlichen und zugleich enthusiastischenkünstlerischen Versuchen. Geradezu leidenschaftlich hatte er dieseVergangenheit beschworen, und zwar in seltsamem Kontrast zuseinem Auftreten als einer, der es geschafft hat. Günni Haprecht.Ricardo war der Name auch nach zehn Jahren, in denen man sichnicht begegnet war, sofort eingefallen.

Jetzt stand allerdings »Professor Günther B. Haprecht« auf derVisitenkarte und eine noble Adresse am Alsterufer. Er lehrte wahr-haftig Malerei an der Hochschule und war als der Besondere, fürden er sich hielt, sofort zu erkennen: auf dem vorspringenden Bauchruhte ein Strahlenkranz aus Hufnägeln, gediegener Designer-schmuck, Sterlingsilber. Den spätestens seit Beuys obligatorischenHut behielt er auch im Café Engel – einer angesagten Location mitschmalen Jugendstilspiegeln an den Wänden – auf dem Kopf, wahr-scheinlich galt es kahle Stellen zu bedecken. Und keiner seiner Le-bensäußerungen fehlte die Attitüde: Schaut her, wer bin ich!

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Es hatte Ricardo merkwürdig berührt, den inzwischen überSechzigjährigen noch genauso verquollen und unfertig zu findenwie bei der ersten Begegnung vor mehr als fünfunddreißig Jahren.Das war bei der politischen Arbeit in der Studentenselbstverwal-tung: Unzuverlässig, fixiert auf »Frischfleisch« und andere Genüsse.»Hedonistisch«, wie Haprecht selber es nannte. Immer die richtigeParole auf dem Schnullermund, aus dem jede noch so richtigeAussage zweideutig und unappetitlich klang; so hatte Ricardo esdamals empfunden, und so empfand er es noch.

Später, bei Kunstaktionen und Symposien, zu denen man siebeide einlud, war er dem »Riesenbaby« unauffällig aus dem Weggegangen. Es erstaunte ihn immer noch, dass er sich auf ein ge-meinsames Projekt mit ihm eingelassen hat. Denn obwohl er denehemaligen Studienkollegen abstoßend findet, ließ er bei der Be-gegnung vor ein paar Monaten seine Besorgungen in der Großstadtausfallen, um stundenlang über alte Zeiten zu plaudern.

Den Ausschlag gab dabei, dass Günni – die Frage, ob er weiter-hin »Günni« sagen dürfe, war positiv beschieden worden – anfing,von Ruth zu erzählen. Ruth lebe seit Jahren getrennt von ihremMann. Er habe sie neulich auf Rolfs Beerdigung getroffen. Ach,das wisse er noch gar nicht? Rolf sei an Lungenkrebs gestorben,hätte sich buchstäblich zu Tode gequalmt. Während er das sagte,hatte Günni ungerührt weitergenuckelt an seiner teuren kubani-schen Zigarre, natürlich kubanisch, was denn sonst? Auf solcheDetails legte der ehemalige Kämpfer für Gerechtigkeit großenWert, ganz so als trüge das Rauchen kubanischer Zigarren zumSieg der Weltrevolution bei. Auch er hatte sich den Genuss seinerGauloises nicht vermiesen lassen.

Der Gedanke daran weckt Appetit. Er greift nach dem Päckchenund lässt die Flamme vor dem Anzünden übermütig aufschießen,atmet dann den Rauch entspannt aus, wobei er amüsiert feststellt,dass auch er die Sucht notfalls ideologisch, vielleicht sogar erotischoder sonst wie begründen könnte. Außerdem hat er Lust auf Kaffee,verlässt für einen Moment seinen Ausguck.

Froh, sich vor einiger Zeit die Küchenecke eingerichtet zu haben,hantiert er mit der Kaffeemaschine. Hellen fand die Anschaffungunnötig. Die Küche sei doch nur eine Treppe und keine zwei Mi-

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nuten entfernt, argumentierte sie, ahnte wohl nicht, dass eineTreppe eine unendliche Entfernung sein kann, fast wie zwischenHimmel und Erde, dass ihm das Atelier in guten Zeiten wie einMutterbauch erschienen war, wo er sich verpuppen konnte, bisder innere Schmetterling dem Wind da draußen gewachsen war.In schlechten Zeiten versteckt er sich hier wie ein krankes Tier inseiner Höhle.

Während der Kaffee mit anheimelndem Duft und leisem Ge-räusch durch den Filter läuft, kehrt er zurück auf seinen Fensterplatzzu den schnell ziehenden Wolken, lässt sich von ihrem Strömenanstecken, spürt eine Art Aufregung, lustvolle Schauer. Etwas gerätin Bewegung.

Also Ruth. Sie hat inzwischen Bücher veröffentlicht. »Wusstestdu das nicht?« Günni wirkte scheinheilig, als er von Ruth sprach –oder haben er und die anderen damals gar nichts bemerkt? Solange Haprecht von seiner Karriere sprach, hatte Ricardo Zeit zumNachdenken gehabt. Er erinnerte sich, wie es war, als er Ruth zumersten Mal sah, an einem Frühsommermorgen auf dem Geländeeiner stillgelegten Zeche; wie er ihr geholfen hatte, Maschendrahtmit weißer Farbe anzupinseln, nur um in ihrer Nähe zu bleiben.Ihm steht das vor Augen, als ob er es vorgestern erlebt hätte. Dabeiliegt es unendlich lange zurück, das spektakuläre, aber wie er schondamals fand, ziemlich nervige Symposion im Ruhrgebiet mit Sau-fen, Klamauk und Mutproben. Ruth bemerkte er erst relativ spät,weil sie einfach still ihr Ding machte und bei den Veranstaltungen,die meist in Besäufnissen endeten, gar nicht auftauchte. Wahr-scheinlich hatte er sie überhaupt nur kennengelernt, weil er nacheiner solchen Nacht nüchtern genug war, die Wirkung der Mor-gensonne auf die Objekte wahrzunehmen. Als die anderen schlafengingen, hatte er seine Kamera geholt.

Beim Fotografieren sah er sie dann frühmorgens um kurz nachfünf. In einer Ecke des Geländes hantierte sie zwischen kümmerli-chen Bäumen mit Drahtrollen, Holzlatten und weißer Farbe, völligvertieft in ihre Arbeit. Wenn er daran denkt, spürt er wieder dieganz besondere Stimmung des Sommermorgens. Bereitwillig hattesie ihm ihr Projekt erklärt und es ergab sich von selbst, dass erauch von ihr einige Aufnahmen machte. Noch nie hätte sie sich

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von Fotos so erkannt gefühlt, sagte sie später. Es war ein Sonnabendgewesen. Das weiß er noch so genau, weil Hellen mittags angereistkam; auf seinen Wunsch natürlich und nun plötzlich gar nichtmehr so erwünscht. Auch Ruths Ehemann traf ein. Sie hattenkeine Chance gehabt.

Als er sich neulich im Café innerlich zur Ordnung rief undHaprecht wieder seine volle Aufmerksamkeit schenkte, erfuhr ervon Galerien in Madrid und Barcelona, von betuchten Sammlernund anschmiegsamen Studentinnen. Nur zu gern tauchte er noch-mals ab in die Vergangenheit, besann sich auf erneute Begegnungen.Ruth und er waren sich immer wieder über den Weg gelaufen,meist auf ähnlichen Veranstaltungen, Land-Art war damals inMode. Manchmal arbeiteten sie sogar zusammen. Ihn hatte es er-wischt, und nur zögernd konnte er sich damit abfinden, dass erihr nicht mehr als ein guter Freund sein durfte. Er hatte das the-matisiert. »Es prickelt eben nicht«, hatte sie gesagt, »stell dir einfachvor, ich sei lesbisch.« Aber das war sie nicht. Und deshalb gab esdiese Wette, geschlossen auf einem Berg, mitten in der Nacht. Mitzwei Kollegen beobachteten sie einen Stahlabstich im Tal – wiegenau das abgespeichert ist – und beim Aufleuchten des Himmelshatte er sich getraut, mit ihr unhörbar für die anderen um eine ge-meinsame Nacht zu wetten. Für ihn war die Sache feierlich wieein Heiratsantrag gewesen. Sie hatte leise lachend angenommen,in der spürbaren Gewissheit zu gewinnen.

»Tausendmal berührt, tausendmal ist nichts passiert …« Solchverrückte Schlagertexte hatten ihm plötzlich Mut gemacht. Er er-kannte sich selbst kaum wieder, ging durch Himmel und Hölle,durchlebte eine Art Wahnsinn. Zu seinem Symposion am Meerkam ihr Ehemann vorsichtshalber gleich mit. Das war im Jahrnach dem Kennenlernen gewesen. Dieser Martin hatte sich extraUrlaub genommen, und die beiden verstanden sich glänzend mitHellen.

Nun ist sie also geschieden und schreibt Bücher. Die hat er sichper Mausklick bestellt, diskret und schnell. Er wollte wissen, obsie ihn darin erwähnt. Seine Wette. Warum war er sich damals ei-gentlich so sicher gewesen, geradeso als sei es ein Naturgesetz. Hater sich wirklich vorgemacht, ihre Zurückhaltung sei Rücksicht auf

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ihren Martin oder auf Hellen? Die kontrollierte Ruth, einfachnicht locker genug für einen Seitensprung, vielleicht eine neueLiebe? Womöglich ist er nicht ihr Typ. Er kennt schließlich aucheine Menge Frauen, die er schätzt, die ihn aber nicht im Geringstenin Versuchung bringen.

Das war ihm klar geworden, während er diesen Zuhörmarathonabsolvierte. Dann war es Haprecht gewesen, der meinte, man solltedas Symposion am Meer noch einmal veranstalten. Ein echtes Re-vival. Wäre doch nett, die anderen wiederzutreffen. Ob er dasnicht organisieren könnte. Er wohne doch da draußen, oder etwanicht mehr? Haprecht wuchs über sich selbst hinaus: Kein Problem,Sponsoren aufzutreiben, er sei mit einflussreichen Leuten befreun-det, auch mit den Kulturtypen von der Landesregierung stünde erauf vertrautem Fuß. Die Finanzierung sei also so gut wie gesichert,falls Ricardo überhaupt Lust hätte, die Details vor Ort zu regeln.»Anständiges Quartier, bisschen Werbung, kleines Konzept, Adres-sen der Kollegen herausfinden, alle einladen und so.« Dazu fehltees ihm an Zeit, kurzer Lacher: »Du weißt doch …«

Sie waren sich einig gewesen, dass Lizzy und Albert dabei seinsollten, Paul und Harry selbstverständlich, und Ruth, vielleichtnoch Gudrun oder Joseph – mit den beiden seien sie dann schonacht oder neun. Viel mehr brauchten es eigentlich gar nicht zusein. Er würde ihm da freie Hand lassen.

Das war im Mai gewesen. Die Beschaffung des Geldes erweistsich als viel schwieriger, als Günni es so leichthin behauptet hat.Noch ist längst nicht genug beisammen – doch er will Ruth wie-dersehen, bemüht sich nun selber um Sponsoren, damit seine frei-schaffenden Kollegen ein ordentliches Honorar bekommen. Diesind nicht abgesichert wie Haprecht oder durch eine Ehepartnerinim Staatsdienst wie er.

Nachdenklich betrachtet Ricardo die Schwarzweißfotos von da-mals, die er vor sich auf der Fensterbank ausgebreitet hat, Braun-weißfotos, die noch immer ein wenig nach Fixierbad riechen. Süch-tig nach Tagträumen von ihr, verbringt er Stunden im Atelier. Mitdem Daumen wischt er behutsam einen Fussel von ihrem Gesicht.Ob sie das dunkle Haar noch immer schulterlang trägt? Ob esüberhaupt noch dunkel ist? Er sieht die Geste vor sich, mit der sie

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die glatten, in der Mitte gescheitelten Haare nach hinten wirft,mädchenhaft, eine ganz eigene Mischung aus romantisch und ei-genwillig. So sind auch ihre Texte, seltsam magische Geschichten,gnadenlos realistisch und gleichzeitig surreal und verspielt. Er hattegleich zwei Bücher bestellt, und Hellen war genauso begeistert wieer. Ob sie etwas ahnt? Und wenn? Würde es sie verletzen? Bis vorkurzem hatten sie es beide mit der Treue nicht so genau genommen.Klar, mit den Jahren waren sie ruhiger geworden. FreundschaftlicheBeziehungen, bei denen das Prickeln folgenlos blieb, ließen sicheinfach besser händeln, brachten keine emotionalen Einbrücheund unvorhersehbaren Erschütterungen. Vielleicht waren sie er-wachsen geworden. Oder nur bequem. Bereitwillig gesteht er sichein, dass er seiner Frau das Verhältnis mit dem Schulleiter nochnicht wirklich verziehen hat. Aus den verschiedensten Gründennicht.

Ruth muss die Einladung längst vorliegen, falls sie sich nichtirgendwo in der Welt herumtreibt. Eine merkwürdige Scheu hältihn davon ab, auf ihren Anrufbeantworter zu sprechen. Ihm wirdbewusst, wie sehr er sie braucht, um endlich einmal wieder etwasTragfähiges auf die Beine zu stellen. Die alte Wunde blutet. SeitMai verursacht ihm der Gedanke an sie wieder Herzklopfen. Oftliegt er nachts wach.

Auf einem Foto steht sie zwischen Lizzy und Hellen. Im Hin-tergrund sind Albert, Paul, Harry, Rolf und Leute, deren Namener vergessen hat, zu sehen. Diese langen indischen Kleider warendamals modern. Gut sah sie darin aus, mehr hip als Hippie. »PeggySu. Peggy Su. Oh Peggy-Su-u-u ...«, Musik, eingelagert in altenBildern. Erhitzt und atemlos von halsbrecherischem Rock’n’Roll,konnte man mit ihr übergangslos Marxtexte diskutieren und überAktionen von Fluxuskünstlern sprechen.

Wenn sie sich nicht meldet oder absagt, wird er die ganze Sacheabblasen. Mit klarem Kopf müsste er das ohnehin, ist im Begrifffinanzielle Verpflichtungen einzugehen, ohne die nötigen Mittelbeisammen zu haben. Normalerweise würde er sich niemals aufdie Versprechungen eines Hochstaplers wie Günni einlassen. Dochirgendwie ist ihm das alles egal, dieses Drumherum. Noch bestehtHoffnung.

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Eine Wetterfront zieht auf. Abenddunkelheit und drohendesWolkenblau machen die Glasscheibe zum Spiegel. Er sieht seinGesicht: ein wenig zu konturiert, die Haare immer noch voll unddunkel. Seine Frau findet ihn nach wie vor attraktiv, ihm sindschöne Männer zuwider. Ach Hellen, denkt er traurig, wahrschein-lich wartet sie schon wieder vergeblich mit dem Abendessen aufihn. Er wehrt sich gegen die Vorstellung, weiß: Menschen engenihn ein; Nähe kann er im Grunde nur in Phasen großer Leiden-schaft ertragen.

Mit leisem Stöhnen erhebt er sich. Der Kaffee ist längst durch-gelaufen und füllt den Raum mit aufmunterndem Duft. Aus derFinsternis da draußen schlagen Tropfen gegen die Fenster. Undweil er sich vor der Helligkeit der Neonröhren fürchtet, knipst erdie kleine Tischlampe an.

Einen Becher schwarzen, leicht gesüßten Kaffee in der Hand,startet er den Apple, fühlt sich in Stimmung, endlich die Ideen fürseinen Symposionsbeitrag zu skizzieren, zu sortieren, auszuarbeiten.Bilder, die schon seit Tagen in seinem Kopf wetterleuchten. In derheißen Phase wird ihm kaum Zeit für Eigenes bleiben, da muss ersich mit tausend anderen Sachen beschäftigen. Eigentlich brauchter Helfer, das geht ihm nicht zum ersten Mal durch den Kopf. Ambesten schon jetzt, aber spätestens, wenn es so richtig losgeht; einkleines Team, Sekretärin und so weiter. Haprecht hat alles ganzseelenruhig ihm aufgeladen. Typisch. Er wird ihm mailen. Wahr-scheinlich kann man ein paar Studenten anheuern.

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»Etwas Besseres als den Tod findest du überall«. Dieser Satz fälltRuth beim Aufwachen ein, früh morgens beim verdächtig zu frühenAufwachen, als sie zögert, sich dem Strömen der Gedanken zuüberlassen, die niedergeschrieben und in Form gebracht werdenwollen. Es ist ihr nie zuvor aufgefallen, dass ein Abschied darinliegt, sich der Arbeit an einem Roman zuzuwenden. Ihr wird be-wusst, was es heißt: alles andere, alles sonst noch Mögliche, nichtzu tun. Eine euphorische Aufbruchsstimmung hat das früher über-deckt.

Der Wecker zeigt kurz nach vier. Unverkennbar ihre Schreibzeit.Früher. Sonst. In anderen Jahren. Draußen regnet es, rauscht, tröp-felt töt töt töt in die Dachrinne. Kein Amselgesang. Sonnenaufgangfrühestens halb sieben – wenn überhaupt. Heute muss sie nichtrasch die Fenster öffnen, um Morgenkühle hereinzulassen. Sie hatden Sommer verpasst, neben dem Leben gelegen wie ein Wasser-vogel mit ölverschmiertem Gefieder, die Welt als Dreck wahrge-nommen und sich selber als unfähig, flügellahm.

Zu wach um wieder einzuschlafen, bleibt sie im Dunkeln liegen,erinnert sich an einen Traum: In der Hamburger U-Bahn war siemit einer freundlichen Frau unterwegs, die begleitet wurde vonihrem Mann, zwei halbwüchsigen Töchtern und einem kleinenSohn. Gemeinsames Ziel sind die Landungsbrücken. Dort willdie Traumfreundin sie fotografieren; ja, auch die Kinder, den Mann,die Elbe, Schiffe, wer weiß was, aber vor allem sie. Als die U-Bahnhinauffährt ins helle Tageslicht und der Fluss sichtbar wird, mussRuth weinen: Das Wiedersehen nach so langer Zeit berührt etwasin ihr. Und weil sie die sentimentalen Tränen zurückhält, werdendie Augen rot, schwellen hässlich an, das spürt sie. Warum über-haupt sollte sie sich fotografieren lassen? Wozu braucht sie Fotosvon sich? Um wieder und wieder ein neues Gesicht zu sehen? Umsich das alte bestätigen zu lassen? Sie fotografiert dann die Kinder.Die Familie posiert so breit, draußen vor der gläsernen Front derS-Bahn-Station, dass sie nur den kleinen Jungen ganz in der Mitte

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ins Bild bekommt, die Mädchen machen Faxen, rechts und linksaußen. Es wird dunkel vor dem Objektiv – und sie liegt da, aufge-wacht mit der Einladung den festen Grund hinter sich zu lassen,sich einzuschiffen.

Nein, nicht an den Landungsbrücken, nicht über eine Gangwayim Gedränge, nicht Oberdeck, Unterdeck, Flussufer bei Kartoffel-salat mit Würstchen, getrennt durch dicke Scheiben vom graugrü-nen Wasser. Nicht Teufelsbrück, Blankenese, Wittenberge, Rissen.Rissen … ist Rissen vom Fluss aus zu sehen? Glücksstadt vielleicht,Otterndorf, Brunsbüttel, Cuxhaven, die Seehundsbänke und aufder Rücktour: Disko im Bauch des Dampfers, säuerlicher Toilet-tengeruch. Nein, nein, nicht so.

Den Roman zu beginnen kommt ihr vor, als sollte sie mit einemFloß aufs Meer hinaus, mit und ohne Ziel vom Wind getrieben.Sich aussetzen, sich anvertrauen; von Strömungen gezogen, vorbeian Untiefen, Wracks und Sandbänken. Und nachts die eigenenGespenster über dem Wasser tanzen sehen. Windjammer heulend,und dann wieder still, ganz still. Allein in der dunkelblauen Him-melshöhle. Am Tellerrand des Horizonts stürzt niemand mehr ab.Und doch wird sie sich an den Großen Wagen klammern, dankbarfür die Zwischendecke, die Mütter und Väter eingezogen haben,damit niemand verloren geht, da oben, da draußen. Vielleichtwirft der Himmel mit Schnuppen. Verlockende Bilder. Fürchtetsie etwa Einsamkeit? Was hätte sie groß aufzugeben – außer Be-quemlichkeit, Morgenschlaf, Ängsten und den sorgenvollen Grü-beleien ihres unterbeschäftigten Gehirns? Sie fühlt sich so unvor-bereitet, geradezu überrumpelt. Vermutlich ist es das. Bevor sieeine größere Arbeit beginnt, meint sie, sie müsse, ja sie könnevorher alles andere beenden, vollkommen aufräumen im Innerenund Äußeren; die Schreibfedern geschnitten, die Bleistifte ange-spitzt, die Bögen gekauft. Als ob nicht alles mit Knopfdruck ge-startet wird.

Seit langem schreibt sie nur noch Geschichten. Das ist anders.Da gerät das Land nicht außer Sicht, da ist beim Ablegen das ge-genüberliegende Ufer bereits sichtbar, erreichbar ohne Orientie-rungsverlust. Rudern über eine Bucht, mal näher zur Küste, dannwieder ins Offene, ein bisschen Himmel, sicher auch unerwartete

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Strömungen, hektische Manöver, Herzklopfen und Aufatmen nachder gelungenen Ankunft. Doch wirkliche Gefahr?

Allerdings gibt es einen handfesten Grund zu zögern: Die Ein-ladung zu dem Nordsee-Symposion. Geldverdienen. Nette Kollegentreffen. Merkwürdigerweise ernährt die Seite ihres Schaffens, diesie selber nicht wirklich ernstnimmt, sie mindestens ebenso wiedas Schreiben. Eigentlich ist sie keine Künstlerin. Belustigt denktsie an den Anfang dieser Karriere. Als Kind hat sie im Wald mitder Natur gespielt und niemals damit aufgehört. Irgendwann hatein Freund ihre so entstandenen Nester aus Ginster, die Gebildeaus Waldrebe und käferzerfressener Baumrinde fotografiert undkonnte die Fotos gut platzieren. Aus dem Spiel wurde über NachtKunst. Sie bekam Stipendien, Geld, Aufenthalte in schönen Ge-genden, auch auf Industriebrachen – und jetzt die bestens dotierteEinladung zum Revival eines Symposions, an dem sie vor mehr alszwanzig Jahren teilgenommen hat. »Künstler vor dem Deich«, hießdas damals und soll es jetzt wieder heißen.

Natürlich wird sie zusagen. Bisher hat nichts dagegen gespro-chen, sich ein paar schöne Wochen am Meer zu machen, Leute zutreffen, ein Projekt auszudenken. Ein paar Monate finanziell abge-sichert zu sein. Sie wird mitmachen. Es bleibt ihr gar nichts anderesübrig.

Warum wacht sie gerade jetzt früh um vier auf. Warum sind dadiese Bilder, verbunden mit einem ungeheuren Sog? Kein konkretesema drängt. Etwas hat sie geweckt, damit sie an den Computergeht und schreibt; Nebel, die ihr Denken und Fühlen grau undtrübe gemacht haben, sind einem offenen klaren Raum gewichen.

Der Wecker zeigt schon fast fünf Uhr. Da sagen sie vor denNachrichten im Radio »Guten Morgen«. Sie muss sich beeilen, indie Küche zu kommen. Und dann: Tee kochen, während es draußennoch dunkel ist, unter der Lampe hantieren. Bewegungen, Ver-richtungen, morgendlich normal und gleichzeitig neu. Ist Schreibendenn Aufhören zu leben, Umsteigen auf ein Gleis daneben? Dar-unter? Darüber? Rausschwimmen, um den inneren Sirenen zuzu-hören, nicht länger an den Mast gebunden sein.

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Einen Moment hält Ruth das Gesicht in den Wind, der schonnach Salz riecht, lässt gräbendurchzogenes, flaches Land an sichvorbeigleiten, jede Wiese eine Wölbung zwischen schmalen Gräben,die etwas breiteren Wasserläufe eingefasst von struppigem, blondemRiet. Dann beschleunigt der Zug nach einem Halt, das Ziel derReise rückt näher.

Mit einem Kribbeln im Bauch zieht sie das Fenster wieder hochund setzt sich auf den Platz im fast leeren Großraumwagen. Bisauf das Fahrtgeräusch herrscht Stille. Eine junge Frau ordnet einenWust von Papieren, streicht immer wieder konzentriert ihre langenHaare zurück, liest. Ein Mann schläft in den Mantel vergraben.Draußen bringt der Sonnenschein gelbe und rote Blätter einzelnerBaumgruppen zum Leuchten. Und jenseits kirchturmbewehrterSpielzeugdörfer ist das Meer zu ahnen. Über Gruppen von Kühen,die trotz der Blechmarken an den Ohren so etwas wie Frieden aus-strahlen, drehen sich stromerzeugende Windräder, beeindruckendehellgraue Riesinnen, von denen es heißt, dass sie die Landschaftverschandeln.

Verschandeln, ein Vaterwort. Möglicherweise wäre auch er gegenAtomkraft gewesen, wenn er länger gelebt hätte. Und sie hat ver-mutlich aus ideologischen Gründen nichts gegen Windräder, gibtsie kompromissbereit zu. Seltsamerweise fällt ihr eine Abend -unterhaltung ein, die ein halbes Leben zurückliegt. Die Frau einesFreundes suchte einen Namen für das Kind in ihrem Bauch. Mansaß in kleinem Kreis gemütlich bei Rotwein; Gesichter, die sieewig nicht gesehen hat. Doch die ganze Atmosphäre, das ganzeDrum-und-dran ist wieder da. Jemand sagt: »In der UdSSR nannteman seine Kinder in den zwanziger Jahren ›E-Werk‹, ›Staudamm‹oder ›Traktor‹.« Wahrscheinlich klangen die Wörter im Russischenangenehmer. Jedenfalls lagen sie den Rest des Abends unter demTisch vor Lachen, toppten: »Mischmaschinchen Müller« mit demkleinen »Trafo Meyer«. Damals wusste sie nicht, dass es Indiane-rinnen mit dem so harmlos schön anmutenden Namen »Syphilis«

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gibt und amerikanische Eltern ihre Kinder auch schon mal »Ar-mani« oder »Porsche« nennen.

Sie ruft ihre vagabundierenden Gedanken zur Ordnung unddenkt an Ricardos Freude über ihren Entschluss sofort anzureisen.Das Quartier stehe bereit – obwohl der offizielle Start mit Redenund dergleichen erst etwas später geplant sei. Paul und Harrywären dabei, das Haus bewohnbar zu machen. Nur zu gern hat siesich gegen den Roman entschieden, gegen den Sog zu schreiben,gab der besonderen Stimmung, dem Ideenfluss keinen Raum insich, sondern organisierte die Fahrt. Ganz altmodisch hat sie sichin die Warteschlange am Bahnhof eingereiht, die Fahrkarte gekauft,den Koffer gepackt. Belustigt konnte sie sich bei alldem zuschauen,das Gefühl praktischer Lebensbewältigung genießen. Wie gut estut, etwas Richtiges, Vernünftiges zu machen, unterwegs zu sein,Geld zu verdienen, wie die anderen; zu sein wie die anderen, wiedie, deren Ziele erreichbar scheinen.

Neben einem Symposion schreiben zu können, wäre eine Illu-sion, verrückt geradezu, die Erfahrung hat sie gemacht. MehrereVersuche waren nervenaufreibend und zum Scheitern verurteiltgewesen. Es gab solche Leichen in ihrem Keller, wie es so schönheißt. Bei ihr verfaulte die Leiche in der eigenen Seele, im Tiefpar-terre des Bewusstseins, führte zu Schreiblockaden, Selbsthass, irra-tionalen und rationalen Ängsten.

Sie kennt die Truppe, lässt die Kolleginnen und Kollegen lie-bevoll ironisch vor ihrem inneren Auge Revue passieren. Ricardohat, wohl in einem Anflug von Nostalgie, noch einmal den altenHaufen um sich geschart. Die machen die Nacht zum Tage, ho -cken bis zum Morgengrauen zusammen und schlafen bis Mittagihren Rausch aus. In der Crew morgens um vier am Laptop zusitzen – und vor neun am Abend todmüde ins Bett zu sinken,würde sie zur Außenseiterin machen. Es wäre unklug, ja direktfanatisch.

Nur noch wenige Minuten trennen sie von der Ankunft. Dochstatt Vorfreude breitet sich Unruhe in ihr aus. »Ich hol dich ab«,hat Ricardo gesagt. »Das Camp liegt diesmal recht einsam, dafahren gar keine öffentlichen Verkehrsmittel hin.« Und: »Ich freuemich so auf dich.«

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Sie freut sich auch auf ihn, aber völlig unaufgeregt, ohne Kni-stern, schätzt seine zupackende Frau; ja, freut sich fast genauso aufHelene. Fast genauso. Mit ihm gibt es seltsame Übereinstimmun-gen, einen oft geradezu übermütigen Gleichklang – wenn sein Be-gehren die Harmonie nicht stört. Er, der sonst alles Esoterischeablehnt, brachte es auf die Formel: Wir kennen uns aus einem an-deren Leben. So fühlt sich das an, so vertraut.

Die ersten Häuser der Stadt schieben sich vor Wiesen, Weidenund Deiche; der Zug wird langsamer. Wieder öffnet sie das Fen -ster – und erkennt ihn schon von weitem. Natürlich! Da steht er,dunkelhaarig, gut anzusehen – und knapp zwei Meter groß. Nebenihm wirken alle anderen klein. Dass er so gut aussieht, hatte sievergessen. Geradezu störend attraktiv. Auch er entdeckt sie, winktihr zu, will ihr die hohen Tritte herabhelfen, den Koffer nehmen –und schließt sie auf eine Art in seine Arme, als wäre sie endlich an-gekommen. Sie entwindet sich lachend, möchte ihm keine Hoff-nung machen, obwohl es gut tut, so umarmt zu werden.

Auf dem Parkplatz neben dem Bahnhof wartet ein Smart. Ri-cardo verstaut ihr Gepäck. Erstaunt nimmt sie wahr, wie bequemman in das kleine Auto einsteigen kann und wie viel Platz es imInnern gibt. Beim Umdrehen des Zündschlüssels ertönt dann un-verschämt laut »I can’t stop loving you«. Erschrocken dreht Ricardoleise, und sie bemerkt, dass das Alter auch an ihm nicht spurlosvorübergegangen ist, nimmt Falten auf seiner Stirn wahr und einenneuen Zug um den Mund, Resignation vielleicht, Enttäuschung.Zwischen seinen dunkelbraunen Haaren gibt es ein paar graue.Selbst seine Art sich zu bewegen erscheint ihr ein wenig fremd,auch der Smart irritiert sie. Um etwas zu sagen, fragt sie betontheiter: »Seit wann fahrt ihr einen Sportwagen?«

»Hellen ist mit der Pritsche unterwegs«, antwortet er, hält aneiner Ampel und versucht, ihren lockeren Ton aufzunehmen. »Indiesem Fahrzeug würdest selbst du es schaffen, rückwärts einzu-parken.«

»Mir wären die Knautschzonen zu kurz«, sagt sie trocken. Bevorer Gas gibt, schaut er sie von der Seite an. Sie bereut die Bemerkung,denkt: nun ist ihm wieder eingefallen, warum ich nicht Auto fahre.Der schwere Unfall. Beiläufig hatte sie ihm davon erzählt, als er

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nach den Narben auf ihrer Brust fragte. Damals waren sie nacktdurchs Watt gewandert, völlig unbefangen und selbstverständlich,jedenfalls war es ihr so erschienen. Doch jetzt möchte sie ihn nichtan diese Situation erinnern und findet es geradezu peinlich, ihndarauf hingewiesen zu haben, dass sie früher einmal dem Tod vonder Schippe gesprungen ist.

»Was macht Helene?«, fragt sie, um ihn auf andere Gedankenzu bringen, weg von nackten Körpern und Verkehrsunfällen. »WieSchule so ist«, antwortet er, offensichtlich dankbar für den e-menwechsel. »Sie hat wieder eine erste Klasse. Das macht ihr ja ei-gentlich Freude. Aber die Bedingungen werden von Jahr zu Jahrübler. 29 Kinder in einem ersten Schuljahr, das musst du dir malvorstellen! Sogar die Vorklasse wurde abgeschafft, so dass ein paarziemlich schwierige Kinder dabei sind. Aber das erzählt sie dirbesser selber.«

Aus dem Fenster schauend erkennt Ruth die Stadt wieder, weißnicht mehr so genau, wann sie zum letzten Mal hier war. An diezweispurige Umgehungsstraße erinnert sie sich, rechts Häuser mitVorgärten, links Wiesen, auf denen Pferde grasen. Ricardo zündetsich eine Gauloises an. »Du auch?«, fragt er. Sie ahnt, dass sie»Nein« sagen sollte, greift aber zu, nimmt auch sein Feuerzeug,lehnt sich entspannt zurück, und er dreht die Musik laut. DieBeatles verbreiten Sorglosigkeit. Durch ein Wäldchen mit herbst-lichen Buchen geht es, vorbei an einem Friedhof, hinaus aus derStadt. Schilder werben für Pferdehöfe, vom Sturm gekrümmteChausseebäume und Möwen lassen das Meer ahnen. Und durchden gläsernen Dachhimmel schaut sie in die Wolken.

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Von einem Wirtschaftsweg hinter dem Deich biegen sie ab in eineflache Heidelandschaft. Einer Fata Morgana gleich erscheint mittendarin ein von Kiefern umgebenes Schloss. Mit seinen vier weiß-grauen Türmen erinnert es Ruth entfernt an Neuschwanstein: ro-mantisch, morbide, verrückt. Nur die Berge fehlen, und es istnicht halb so grazil.

Ricardo, der im Schritttempo Schlaglöcher umfährt, schaut sietriumphierend an. »Harry hat es Villa K getauft«, berichtet er undzündet sich eine neue Zigarette an. »K wie Kaos.« Er lacht. »Wurdein den zwanziger Jahren gebaut. Ein Bauernsohn schickte die Plänevon jenseits des Atlantiks; war in den Staaten reich geworden. Sollaber kein Jahr drin gewohnt haben, dann wurde es ihm zu eng imalten Europa. Über ihn und auch über das Gebäude kursierenmerkwürdige Gerüchte.« Ein verfallener Holzzaun zeigt die Grund-stücksgrenze an. Torflügel hängen schief in den Angeln. Die guthundert Meter lange Auffahrt zur Villa ist mit roten Klinkern ge-pflastert.

»Anfang der Siebziger wollten engagierte Typen daraus etwasAlternatives zaubern«, erzählt er weiter. »Jetzt gehört es einem neu-reichen Ehepaar. Denen schwebt eine noble Ferienanlage vor, mitGolfplatz und so. Haben aber noch keine Baugenehmigung, istnämlich alles Landschaftsschutzgebiet hier. Die waren froh, dasDing für ein paar Wochen vermieten zu können, allerdings zu ei-nem gesalzenen Preis.« Wohl weil er sich aufregt, bringt er dasAuto etwas zu abrupt zwischen dem Schloss und einer Art Garagezum Stehen. »Vor allem, wenn man bedenkt, dass es keine Heizunggibt und das Haus im Grunde erst wieder bewohnbar gemachtwerden muss«, beendet er seine Ausführungen. Er hat sich schonwieder gefangen, lacht ihr beim Aussteigen zu. »Hauptsache, esgefällt dir.«

Ja, es gefällt ihr. Das helle Gebäude mit den aufragenden Türmenhat etwas märchenhaft Dekadentes. Aus der Tiefe der Zeit meldensich Rilke und Eichendorff wie Zeugen bewohnbarer Romantik.

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Ruth bleibt, die Autotür in der Hand, stehen, schließt für einenMoment die Augen, spürt den Wind. Er riecht nach Schlick undSeetang, rauscht hoch über ihrem Kopf zwischen den Kiefern -nadeln.

Behutsam stellt Ricardo den Koffer neben sie und legt seinenArm um ihre Schultern; nimmt ihn jedoch sofort zurück, scheintihre innere Abwehr zu spüren, denkt vielleicht: »später« oder auchnur, ihr sei seine Annäherung vor anderen peinlich, denn geradeerscheint Paul in der Tür der Garage.

Sein immer schon graumeliertes Haar kräuselt sich um dasblasse Gesicht, wird ergänzt durch einen Bart, den Ruth so ein-drucksvoll nicht in Erinnerung hatte. »Prinzessin, nun weiß ichendlich, für wen ich die Badewanne repariere«, juxt er zum Emp-fang und klappert mit der Rohrzange.

Stimmt, er nennt sie Prinzessin, das ist sein Spiel. Und obwohlsie ihn eigentlich nur im Blaumann kennt, den er auch jetzt trägt,wirkt er auf sie wie ein Mönch, ein gemütlicher, rundlicher Mönch,irdischen Freuden ebenso zugetan wie himmlischen.

Ricardo holt eine Kiste mit Ersatzteilen für »die Baustelle« ausdem Auto; und während Ruth im weiten Himmel Möwen entdeckt,tauschen sich die Männer über Fortschritte beim provisorischenInstandsetzen des Hauses aus. Von einem Stromgenerator ist dieRede, von alten Öfen und Boilern.

Ein dezenter Gong ertönt. »Es ist angerichtet«, ruft Harry vonder obersten Stufe der Freitreppe herüber, mimt mit komischemErnst den Butler.

Manchmal stellt Ruth sich vor, dass die Menschen von fünf-tausend Sternen kommen und sich die vom gleichen Stern ähneln.Jedes Mal, wenn sie Harry sieht, oder jemanden der Harry ähnelt,denkt sie an den Stern der Ingenieure. Manchmal sind es Intellek-tuelle, Philosophen, manchmal Handwerker, Lehrer oder ebenKünstler; sie erkennt sie überall, selbst auf der Straße im Vorüber-gehen. Diese Männer sind erfinderisch, fantasievoll, kreativ, vorallem aber praktisch. Und sie sehen so aus wie Harry: kurze Haare,Dreitagebart, Jeans, Hemd, Pullover, unauffällige Lederjacke. Siemachen nichts von sich her, sind mittelgroß, nicht dick, nichtdünn und nicht eitel; ihr Interesse ist auf Wesentliches oder Nahe-

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liegendes gerichtet, sie wissen auf eine ruhige Art Bescheid. Paulhat Glück gehabt mit Harry, davon ist sie überzeugt. Und sie hatGlück gehabt mit Paul! Denn er war der erste, der sie zu einemLand-Art-Happening einlud, durch ihn ist sie in diesen Kreis ge-raten.

Nach der Begrüßung gehen sie durch eine leere, hohe undschrecklich kalte Eingangshalle. »Hier werden bald Stühle stehen«,verkündet Ricardo mit einer raumgreifenden Handbewegung.»Und da vorn ein Rednerpult.« Zusammenschauernd nimmt Ruthwahr, wie unangenehm sich diese Kälte anfühlt, nicht zu vergleichenmit der Herbstluft draußen. Auf einmal hat sie Filmszenen vorAugen; ein Psychologe (wurde er nicht von Bruce Willis dargestellt?)weiß nicht, dass er tot ist und agiert – unsichtbar für die Lebenden– weiter. Sie meint zu erinnern, dass Kälte von ihm ausging. SeineFrau zog fröstelnd eine Strickjacke an, wenn er sich zu ihr aufsSofa setzte. So eine Kälte strömt das graue Licht der Halle aus: dieAntimaterie unruhiger Seelen. Sie muss lachen. Der Schlossgeisthat sie voll erwischt, das Gespenst von Canterville.

Harry öffnet die Tür zu einer geräumigen Küche, in der ein gutgeheizter Großmutterherd wärmt und Gemütlichkeit verbreitet.Auf dem gedeckten Tisch am Fenster duftet sogar Pflaumenkuchen.»Hat Harry gebacken«, sagt Paul. »Zur Feier des Tages.« Und fragt:»Ist Tee okay für dich? Wir halten uns hier mit Tee und Rum überWasser.« Während Paul sich die ölverschmierten Hände wäscht,ermuntert Harry die beiden Ankömmlinge: »Setzt euch doch.«

Das vermeintliche Fenster ist die obere Hälfte einer Doppeltürnach draußen, stellt Ruth fest, als sie auf dem altmodischen Lehn-stuhl Platz nimmt. Ricardo möchte »gleich wieder los«, hat es aufeinmal eilig – und sie spürt, wie recht ihr das ist, atmet leise auf.

»Immer noch nichts?«, erkundigt sich Paul. Ricardo hockt sichnun doch für einen Moment auf eine Stuhlkante. Es stellt sichheraus, dass die Finanzierung des Symposions nicht gesichert ist,er wartet auf die rettende Mail. Harry gießt Tee ein. Nein, Ricardohat nun wirklich keine Zeit mehr. Nach einem »Ich komm morgenNachmittag wieder vorbei« schließt sich die Tür hinter ihm.

Das Licht im Stövchen flackert, dann kehrt Ruhe ein. Es istmit einem Mal so still, dass man die Holzscheite im Herd knacken

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hört. Die Teetasse zwischen den klammen Fingern beider Händewandert Ruths Blick durch den Garten, wo auf einer Wiese zwi-schen alten Obstbäumen Brennnesseln wuchern. Nachmittagssonnelässt aus gelben Blättern an schwarzen Ästen und Wiesengrün einimpressionistisches Gemälde entstehen. Honigsüß der heiße Tee;zimtzuckriger Pflaumenkuchen unter Schlagsahnehaube.

»Hast du schon Pläne?«, erkundigt sich Paul nach einer Weiledes Schwelgens. Sie gibt zu, sich vom Meer inspirieren lassen zuwollen. »Bevor es dunkel wird, würde ich am liebsten noch malüber den Deich schauen«, sagt sie, schätzt den Weg auf kaumlänger als fünf Minuten. »Ansonsten könnt ihr über meine Ar-beitskraft verfügen. Allerdings hacke ich lieber Holz, als zu kochen«,fügt sie gut gelaunt hinzu. »Und dann würde ich gern den Ortkennen lernen, an dem ich schlafe.« Zweifellos denkt sie dabei anein Zimmer mit Bett und Stuhl, mit Schrank und Schreibtisch,mit einem Spiegel über dem Waschbecken, vielleicht oben imTurm mit Meerblick.

»Schön, dass du das so vorsichtig ansprichst«, meint Paul. »Wenndu einen Schlafsack dabei hast, kannst du es dir hier in der Küchebequem machen. Da lassen wir nämlich das Feuer nie ausgehen.Im Schuppen hinter dem Haus stehen Gartenliegen, falls du nichteine Isomatte auf dem Fußboden vorziehst.«

Harry wirft einen Blick auf ihr Gepäck, das nur aus einem klei-nen Rucksack und einem nicht sehr großen roten Koffer besteht.»Schlafsack und Isomatte kannst du von uns haben«, sagt er eherbeiläufig und hilft ihr damit aus der Verlegenheit, denn Ricardohatte mit keinem Wort die spartanischen Bedingungen der Unter-kunft erwähnt. Er wollte sie wahrscheinlich mit dem romantischenSchloss überraschen. Bereitwillig lässt sie sich auf das Abenteuerein, genehmigt sich noch ein Stück Pflaumenkuchen mit einemdicken Klacks Sahne, noch einen Tee mit viel Honig, beginnt los-zulassen, anzukommen, nichts mehr zu wollen, nichts mehr zufürchten oder zu müssen. Die Wärme macht ihren Körper ange-nehm schwer und träge. Nicht anders scheint es den beiden Män-nern zu gehen. Paul hat für sich das Mischungsverhältnis von Teezu Rum auf zwei Drittel/ein Drittel verändert, trinkt diesen »Pha-risäer«, wie er es nennt, aus einem graublauen Bierseidel. Harry

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legt Holz nach, und sie sind sich einig: das Meer kann warten,auch die Arbeit, überhaupt kann alles bis morgen warten.

Während es draußen dunkel wird, beginnt Harry von Ideen zuerzählen, die seine Arbeit in den nächsten Wochen bestimmensollen. »Für mich ist das Spannende am Wattenmeer das Kommenund Gehen des Wassers; wie es scheinbar ungerührt, von allemwas passiert, einer, sagen wir mal, ewigen Gesetzmäßigkeit folgt.Ebbe und Flut lösen sich in immer gleicher Folge ab; selbst Extremewie Nipptide und Springflut entsprechen Naturgesetzen. DerMensch kann die Gezeiten erforschen, sich vor Sturmfluten mitDeichen schützen, in den Rhythmus eingreifen kann er nicht.«

Harry ist in seinem Element, und Ruth hört fast andächtig zu,als er den Gedanken weiterspinnt. »Ich glaube, jeder, der sich aufsMeer einlässt, spürt so etwas wie tiefe Ruhe in der immerwährendenBewegung. Die Wasserfläche bis zum Horizont mit dem Himmeldarüber gibt einem die menschliche Dimension zurück.« Er lächeltversonnen. »Wunderbarerweise schrumpfen die Probleme gleichmit. Es entsteht eine ganz eigentümliche Stille.«

In das zustimmende Schweigen hinein sagt er: »Möglicherweisefällt mir der Zeitfaktor auf, weil Paul und ich so abgehetzt waren.Monatelang haben wir quasi nebenbei an einem Katalog für einegemeinsame Ausstellung gearbeitet und waren dabei wahnsinnigunter Zeitdruck geraten. Grässlich.«

»Wir haben uns dauernd gestritten«, bestätigt Paul, »was sonstnie vorkommt. Auf Zeitstress reagieren wir beide allergisch.«

Harry zündet die Kerzen des dreiarmigen Leuchters auf demTisch an und schenkt mit der Ruhe eines Zenmeisters Tee nach,bevor er weiterspricht. »Beim Surfen im Internet entdeckte ichdann unter dem Stichwort ›Zeit‹ lauter aufregende Begründungenfür die Beschleunigung des Lebens in den letzten Jahrhunderten.«

»Auch hier natürlich wieder der Krieg als der grausame Vateraller Missgeburten«, wirft Paul ein.

»Es war tatsächlich die Konkurrenz zwischen den Staaten umMärkte und Kriegsmaschinen, die aus der Zeit einen Faktor machte,mit dem man rechnet«, stimmt Harry zu und referiert: »Doch erstDampfmaschinen, mechanische Webstühle und ähnliche Errun-genschaften brachten Europäer und Amerikaner so richtig zum

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Rotieren. Einige Autoren verfolgen diese Entwicklung bis hineinin Stadtplanung und Innenarchitektur. Schnurgerade Straßen, diedamals entstanden, animierten die Menschen nicht nur zum schnel-leren Fahren sondern sogar zum schnelleren Gehen!«

Darüber hat Ruth noch nie nachgedacht. Es mutet sie seltsaman, hier im Windschatten der Zeit über Geschwindigkeit zu spre-chen. Chronos denkt sie, Kronos und Kairos. Ehe sie ihre Gedankenin Worte fassen kann, spricht Harry weiter: »Es gibt hochinteres-sante Untersuchungen über Sehgewohnheiten. Mich beeindrucktdie ese, dass Menschen anderer Jahrhunderte unseren Filmengar nicht hätten folgen können. Auch heute sollen medien-gewohnte junge Leute schneller sehen und hören, als die ältereGeneration. Schneller sehen und schneller hören, das musst dudir mal vorstellen!«

Betroffen geht Ruth durch den Kopf, in welcher Rekordzeit sieKunstmuseen in aller Welt durchquert. Selbst eins der blauenBilder von Yves Klein im Centre Pompidou konnte sie nur wenigeMinuten fesseln, bevor eine unerklärliche Unruhe sie weitertrieb.Sogar Bilder, auf denen es gewissermaßen mehr zu sehen gibt, ab-solviert sie rasch, registriert Information, Maltechnik, möglichstnoch den geschichtlichen Zusammenhang, Eindruck, kurze Ver-beugung zur Bestätigung von Maler und Titel auf dem Schildchendaneben. Bisher hat sie solchen Umgang mit Kunst befremdetund kritisch beobachtet, sich eine Banausin geschimpft. Vielleichtbin ich nur eine Schnellseherin, denkt sie erleichtert.

»Sie versuchen mit allen Mitteln unsere Wahrnehmung auf Trabzu bringen«, ergänzt Paul. »Selbst wir Veteranen sollen uns ansSchnell-Glotzen gewöhnen. Und die Öffentlich-Rechtlichen rennendabei mit den Privaten um die Wette. Mir haben sie neulich einenFilm durch gnadenlose Schnitte verhunzt. ›Bei so langen Einstel-lungen zappen doch alle weg‹ hieß es.« Mit einem melancholischenSeufzer lässt er Ruth wissen: »Ich hab das Ding zurückgezogen.Wirs’te nich glauben, aber vorher lag ich die ganze Nacht wach.Da wurde mir klar, dass Langsamkeit im Grunde das ema desVideos ist. Wär mal was Neues, Langsamkeit blitzschnell darzu-stellen.« Auf sein Gesicht fällt ein Schatten. »Konnten wir uns ei-gentlich gar nicht leisten, hatten das Geld schon eingeplant.«

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»Wenn du das Video dabei hast, kannst du es doch hier zeigen«,versucht Ruth seine Stimmung wieder zu heben.

»Kein ema; wird dir gefallen. Und ich werd’s denen bei Ge-legenheit noch mal unterjubeln: Im Zeitraffer. Das merken die garnicht!« Er hat seinen heiteren Ton wiedergefunden.

»Interessante Idee, den Erfolg der Chaplin-Filme mal unterdem Aspekt der Hektik und des Zeitraffens zu betrachten«, sin -niert Harry und nimmt dann seinen Faden wieder auf. »Ist schoneine zwiespältige Angelegenheit. Schneller Kochen zu können, darüber waren Hausfrauen zu allen Zeiten froh. Niemand konnteahnen, dass diese Entwicklung schließlich zu Fastfood und denungesunden Auswüchsen der Nahrungsmittelindustrie führenwürde …«

Ruth neckt ihn: »Deinen Pflaumenkuchen würd’ ich sofort alsKunstwerk anerkennen!«

»Als nächstes brät er einen Ochsen am Spieß!« Paul kann seineBegeisterung kaum zügeln. »Schön gemächlich am Feuer gedrehtund gewendet, knusprig braun. Eine Art rituelles Happening.«

Wie ein Lehrer, der Übermut geduldig integriert, meint Harry:»Kein schlechter Einfall, das mit dem Ochsen. Allerdings hatteich bisher andere Projekte geplant.«

»Einen Wettlauf zur Kneipe«, verrät Paul glucksend.»Im Gegenteil«, berichtigt Harry. »Ein Langsamgehen.«Paul kichert. »Wer als erster die Kneipe erreicht, muss einen

ausgeben«, vertraut er Ruth an. Seine Liebenswürdigkeit nimmtmit zunehmendem Alkoholspiegel nicht ab, gar nicht. Sein Gesichtbekommt einen schelmischen Ausdruck und sie kann sich gut vor-stellen, wie er als Junge ausgesehen und agiert hat, immer einWitzchen auf der Zunge, nur ja nichts zu ernst werden lassen. Soein sonniges Naturell erbt man wahrscheinlich, denkt sie fast nei-disch. Denn leicht hat Paul es eigentlich nie gehabt.

»Eine Wette muss nichts mit Schnelligkeit zu tun haben«, gibtHarry zu bedenken. »Man kann um alles Mögliche wetten. Ichstelle mir einen Erkundungsgang vor. Vier oder fünf Gruppen, jenachdem wie viele Menschen mitmachen, starten zu einem Gasthof.Gewonnen hat die Gruppe, die den Ort als letzte erreicht unddabei die interessantesten Dinge von unterwegs mitbringt. Das

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können Eindrücke sein, die erzählt werden, aber auch so handfesteSachen, wie …«

»… Möwenkadaver oder Schafsködel …«, wirft Paul grinsendein.

»Zum Beispiel.« Harry lässt sich nicht beirren. »Für die lang-samste Gruppe mit den originellsten Mitbringseln bezahlen danndie Schnelleren das Abendessen …«

»… und einen Köm zum Aufwärmen«, vollendet Paul den Satz.Ruth amüsiert sich über das perfekte Zusammenspiel der beiden.Sie könnte ihnen stundenlang zuhören. »Aber das ist noch längstnicht alles, was er vorhat«, erklärt Paul im Ton eines Marktschreiers.»Das ist mehr so das volkstümliche Belustigungsprogramm. Erzählmal, was du dir noch Feines ausgedacht hast.«

Harry reagiert etwas verlegen. »Das andere ist eher eine hand-werkliche und vor allem eine logische Tüftelei«, sagt er. »Ich fandim Internet unter dem Stichwort ›Uhr‹ Hinweise auf eine Wasser-uhr, die zweitausend Jahre vor unserer Zeitrechnung in China er-funden wurde. Das hat mich zu Vielerlei inspiriert. Du kennstdoch die Sanduhr, das Stundenglas«, wendet er sich an Ruth. »Dasfunktioniert genauso, wenn Wasser anstelle von Sand durch einenEngpass fließt. Mir schwebt ein Röhrensystem vor, das sich selbstam Laufen hält und in der Lage ist, Minuten und Stunden anzu-zeigen. Natürlich ist mein Ehrgeiz, das Ganze optisch möglichstattraktiv in Szene zu setzen …«

Paul wischt sich pantomimisch den Schweiß von der Stirn,»Zulaufen, abfließen … Ich kriege abwechselnd Kopf- und Bauch-weh, wenn er mit mir seine neuesten Überlegungen zu dem emaerörtern will. Da repariere ich doch lieber so was Handfestes wiedie Regenrinne oder den Stromgenerator.«

»Das Ding hat’s wirklich in sich«, gibt Harry zu. »Wenn ich’sgar nicht hinkriege, lasse ich sie wie eine Wasseruhr im häuslichenKeller funktionieren. Nur dass sie nicht verbrauchtes Wasser, son-dern Zeit misst. Das Problem in dieser Form nicht nur physikalisch,sondern gleichermaßen ästhetisch befriedigend zu lösen …«

»… hat uns schon mehr als eine schlaflose Nacht bereitet«, se-kundiert Paul. »Dabei sind wir darauf gekommen, ein Happeningzum ema Chronometer zu organisieren. Sonnenuhren, Tau-

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cheruhren, Kuckucksuhren, Kirchturmuhren, Zwiebeln, Wecker,Metronome, meinetwegen auch Rolexschnickschnack – Zeitmesserjeder Couleur sind zugelassen. Wir müssen nur noch Spielregelnerfinden, um das Ganze in eine irgendwie künstlerische Form zubringen – und einen sinnlichen Bezug zum Meer herstellen.«

Die alte Pendeluhr in der Stube der Großeltern lässt Ruths Ge-danken in die Kindheit wandern, als das geruhsame Tak – Takeine scheinbar völlige Freiheit des Tuns oder Lassens begleitete.Oft hat sie eine lange Weile einfach so dagesessen in einer freund-lichen Leere und in der unendlichen Fülle aller erdenklichen Mög-lichkeiten. War die Zeit nicht wie ein großes Haus gewesen, in dassie mit dem Aufstehen am Morgen eintrat. Dessen Räume sichweiteten und aus dem sie nachts leise hinausschlief? Jeder Taggleich und jeder Tag anders, doch ganz so, als stände die Zeit undsie liefe mit den anderen Menschen darin herum und hindurch;sie änderte sich, aber die Zeit verweilte, damals, in der Welt derGroßeltern. Vielstimmiger Vogelgesang bei Sonnenaufgang, heißeAugustnachmittage zwischen den Feldern auf dem Weg zum Milch-holen, das Abendgurren der Tauben, so viel Dauer, so viel Wieder-kehr.

Als Harry mit den Worten »Kirchturmuhren finde ich übrigensreligionsphilosophisch höchst spannend« eine Art Vortrag beginnt,taucht Ruth aus ihrer Träumerei wieder auf. Ihr fällt ein, dass erEnde Mai geboren ist, im Sternzeichen Zwilling. Belustigt denktsie an eine Passage aus dem Astrologiebuch: »Zwillinge sind aufdem Nanga Parbat ebenso zu Hause wie in einem Antiquariat. Siekennen sowohl den angenehmsten, als auch den kürzesten Wegüberall hin.«

Die ruhig brennenden Kerzen werfen Harrys Schatten an Wandund Decke. Ein Zwillingsmensch vermesse Schritt für Schritt dieErde, stand dort, doch seine zweite Hälfte gehöre zum Himmel.Mit Wärme und Rum breitet sich Müdigkeit in ihr aus. Sie möchtenur noch einfach so dasein, zuhören, das Jetzt und die Ewigkeitspüren. Es ist ihr neu, dass das Straßburger Münster 174 eineTurmuhr bekam. »Wohl kein Zufall«, vermutet Harry und referiert:»Straßburg, eine Hochburg des Humanismus, schloss sich nämlich122, gerademal fünf Jahre nachdem Luther seine esen plakatiert

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hatte, der Reformation an. Meine Vermutung ist: Mit der Refor-mation breiteten sich Uhren in Europa aus. Peter Henlein hatteschon 110 eine dosenförmige Uhr gebaut, die man bei sich tragenkonnte, aber so richtig in Fahrt kam die Verbindung von Zeit undUhr meines Erachtens durch die evangelische Art des Glaubens.«

»Das ist sein neuestes Hobby«, feixt Paul. »Religionskritik. Passmal schön auf, Ruth, kanns’te von lernen.«

»Naja«, verteidigt sich Harry. »Paul hat ein eher sinnliches Ver-hältnis zum Glauben. Dabei distanziert er sich so stark von denbeiden großen Kirchen, dass er nicht einmal bereit ist, mitzudenken,wenn ich …«

»He he he«, unterbricht Paul. »Das ist unfair. Ich bin zu besoffen,um mitreden zu können. Und du verbreitest hier komische Ge-rüchte.«

»Hast ja Recht, wird Zeit schlafen zu gehen«, beschwichtigtHarry. »Außerdem durchschaue ich die Zusammenhänge selbernoch nicht. Denn Luthers Kernaussage war ja wohl, die Menschenkönnten allein durch ihren Glauben – und nicht durch Werke –das ewige Seelenheil erlangen. Der Widerspruch dazu liegt auf derHand. Herrscht doch gerade in vom Protestantismus geprägtenUS-amerikanischen Gesellschaftsschichten der Glaube, Gott be-vorzuge die Macher, die Reichen und Schönen; bei den anderenzeige schon ihre Armut, dass es mit ihrer Gottgefälligkeit nichtweit her sei.«

Paul, der in einem katholischen Elternhaus im Ruhrgebiet auf-gewachsen ist, lächelt mit der Miene eines allwissenden Mönchleins.»Wahrscheinlich hat Luther gesagt, niemand käme durch guteWerke in den Himmel«, ulkt er. »Da haben selbst die größtenSchweine Chancen.« Dann kommt er auf den Punkt zurück, derihn doch etwas erzürnt zu haben scheint. »Sinnliches Verhältnis!«Er macht ein angeekeltes Gesicht. »Wie darf ich denn das bitteverstehen?«

Ruth fällt ein, dass er sich früher mal als durch eine katholischeErziehung Beschädigten beschrieben hat, der sich am ehesten einenPantheisten nennen könne. Auf alles, was Papsttum, Herrschafts-anspruch der katholischen Kirche und Doppelmoral betrifft, rea-giert er wie ein Stier auf das rote Tuch. Wenn er so richtig in Fahrt

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ist, nennt er den Klerus auch schon mal eine Kinderschänder-bande.

»Sinnlichkeit verschieben wir auf morgen«, bestimmt Harry,der augenscheinlich die Uferlosigkeit des emas kennt, und stehtauf. »Vor lauter Reden haben wir ganz vergessen, Abendbrot zuessen«, registriert er belustigt, während er den Pflaumenkuchen ineine leere Keksdose legt und die Sahneschüssel mit Alufolie ab-deckt.

»Kam mir auch so vor, als ob was fehlte«, bestätigt Paul ki-chernd.

Ruth rückt beiseite, damit Harry die Küchentür zum Gartenöffnen kann. Frische Luft strömt herein, weckt die Lebensgeister.Von der obersten Stufe der kleinen Treppe nimmt er eine Kühlta-sche, stellt sie auf den Tisch, verstaut die Sahne, dabei lässt erRuth in die Tasche gucken. »Wenn du Hunger hast, bediene dich:Käse, Dauerwurst, alles da.«

»Und morgen krieg ich den Generator zum Laufen. Dann kön-nen wir den Kühlschrank benutzen«, verkündet Paul. Demonstrativschwenkt er eine Taschenlampe. »Und elektrisches Luxuslicht!«Mit guten Wünschen für die Nacht verlässt er leicht schwankenddie Küche.

»Taschenlampen stehen übrigens hier.« Harry zeigt auf ein Regal,auf dem tatsächlich Lampen in verschiedenen Größen versammeltsind. »Und das Klo befindet sich gegenüber, du gehst einfach querdurch die Halle.« Sorgfältig schreibt er eine vielstellige Zahl auf ei-nen Zettel. »Meine Handy-Nummer, damit du dich nicht so ver-lassen fühlst – oder falls du etwas brauchst. Wir haben uns imOstturm eingerichtet.«

Rasch holt er noch die versprochene Isomatte und einen Schlaf-sack, füttert geschickt das Herdfeuer mit einem in Zeitungen ein-gewickelten Brikett – dann ist Ruth allein.

Die Kerzen brennen ruhig weiter. Sie fühlt sich auf einmal sehrviel mehr allein als in ihrer kleinen Stadtwohnung; auf eine exi-stentielle Art allein. Allerdings mit dem ungewohnten Gefühl, Teileiner Familie zu sein, ganz so als gehörte sie irgendwie ein bisschenzu Harry und Paul. Ein paar Stunden unkomplizierte Nähe; Ver-trautheit, die hält und wärmt. Es ist, als ob der abgelegene Ort

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dazu beiträgt, wesentlich zu sein; zu sein, einfach zu sein, wederschön, noch klug, noch sonst etwas, sondern von innen herauswesentlich; endlich wieder richtig zu Hause in sich selbst.

Bevor sie einen Platz für die Isomatte sucht, öffnet sie nocheinmal die Tür nach draußen, geht ein paar Schritte in den Garten,kein Stern, nicht einmal der Mond durchdringt die Nachtschwärze.Vom Meer her schreien Möwen durch die leicht neblige Windstille,nicht laut, nicht aufdringlich, weit entfernt, die Einsamkeit ver-tiefend. Am liebsten würde sie gleich jetzt ihren Rufen folgen.Doch schon beim Herumstreifen im Garten, verbrennt sie sichdie Finger an Brennnesseln. Es ist zu dunkel, sie ist zu müde.

Zurück in der Küche, wäscht sie sich die Hände am Ausguss,ist froh über fließendes Wasser, Seife und Handtuch, nichts isthier selbstverständlich, kramt ihre Zahnbürste hervor, tupft Spuckeauf die juckenden Quaddeln an den Händen.

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ISBN 978-3-940884-76-316.90 EUR [D]

Und mein emotionaler Trugschluss ist, dass Sexualität au-tomatisch Nähe bedeutet, näher geht’s ja eigentlich kaum noch ... Inzwischen ist mir bewusst, dass vor allem meine Seele scharf ist. Ich weiß nicht, wie es dir geht. Wo bist du krank vor Sehnsucht? Im Schoß? Mir jeden-falls brennt’s das Herz weg. Als wäre meine Speiseröhre verätzt. Da brennt das Höllenfeuer, in meiner Brust. Und da verbrennt’s mich, wenn der, den ich begehre, mich nicht umarmt.