(Aus der neurologischen Abteilung des st/~dt. Wenzel-I-Iancke-Krankenhauses Breslau [Prim/~rarzt: Prof. Dr. O. Foerster].)

Retrograde Degeneration an den Seitenhornzellen des Mensehen naeh Vorderwurzeldurehsehneidung*.

Von

0. Gagel.

Mit 6 Abbildungen.

(Eingeffangen am 12. Mai 1931.)

In einer friiheren ArbeiC wurde dargelegt, dab wir auf Grund eigener tierexperimenteller Untersuchungen an Affen, sowie der tierexperi- mentellen Studien anderer Autoren (Ken Kur~ 1, Biedl ~, Hoeben 3, Huet 4) die Auffassung, dab die Seitenhornzellen spinale, vegetative Zentren darstellen, als gesichert ansehen diirfen. Diese Anschauung wird, wie auch bereits erw/~hnt wurde, durch die normal-anatomisehen Studien Boks 5, Pol]aks 6, Ternis 7 gestiitzt.

Die in der Literatur angeffihrten Untersuckungen, die sick mit der Frage der vegetativen Natur der Seitenkornzellen besck/iftigen, grfinden sich ebenso wie meine eigene diesbezfigliche Untersuchung auf retro- grade Ver/~nderungen der Seitenkornzellen nack Resektion yon Grenz- strangganglien. Es erschien den bisherigen Untersuchern wakrscheinlick, dab die Neuriten der vegetativen Seitenhornzellen durck die vordere Wurzel ziehen, zumal ja auch die bereits erw/ihnten normal-anatomischen Befunde Boks, Poljaks und Ternis, die an embryonalem Material erhoben wurden, einen solchen Verlauf nahe legten. Ist die Annakme zutreffend, dab die Neuriten der Seitenkornzellen durch die vordere Wurzel das Riickenmark verlassen, so sind auch beim Menschen nach entsprechen4 lang gew/~hlter Zeitspanne zwischen operativer Durcktrennung einer vorderen Wurzel und Tod pathologische Ver/~nderungen an den zu- geh6rigen Seitenkornzellen zu erwarten und zwar solche nach Art der retrograden Reaktion, wenn man nicht annekmen will, dab die Seiten- hornzellen des Menschen auf Sch/~digung ihres Neuriten nicht reagieren, woffir nach den vorliegenden tierexperimentellen Untersuckungen kein Anhaltspunkt vorhanden ist.

* Die Arbeit wurde mit Unterstiitzung der Rocke/eller Foundation ausgefiihrt. 37*

566 O. G a g e l : R e t r o g r a d e D e g e n e r a t i o n a n d e n

Abb . 1. Se i t enhornze l l en aus dem 3. T h o r a k a l s e g m e n t lassen a n e inzelnen Ze l l exempla ren e inen deu t l i ch g c s c h r u m p f t e n Ze l lke rn e rkennen , der a m Ze l l r and gelegen is t (Nisslbild).

Abb . 2. Se i tenhornzeI len aus dem 4. T h o r a k a l s e g m e n t e r sche inen in i h re r Z a h l s t a r k v e r m i n d e r t u n d die n o c h v o r h a n d e n e n Ze l l exempla re s ind geb l~h t , wobei ihre N i s s lg ranu la

s t a u b f 0 r m i g zerfal len s ind (Nisslbild).

Seitenhornzellen des Menschen nach Vorderwurzeldurchschneidung. 567

Ich konnte der Frage nach der Reaktionsweise der Seitenhornzellen auf Vorderwurzeldurehsehneidung an einem Falle yon Vorderwurzel- durchschneidung naehgehen, bei dem das Zeitintervall zwischen Vorder- wurzeldurchschneidung und Tod 8 Tage betrug. Es handelte sich um eine 45 Jahre alte Patientin, bei der yon Professor O. Foerster wegen starker Sehmerzen, die durch eine metastatische Geschwulst in der

Abb. 3. Seitenhornzellen aus dem 6. Thoraka l segmen t , dessert vordere Wurze ln i n t a k t belassen wurden, zeigen die tFpische Anordnung in der K e r n g r u p p e und die charakter i s t i schen

Seitenhornzellen (Nisslbild).

Gegend der Cauda equina ausgel6st wurden, eine doppelseitige Vorder- seitenstrangdurchschneidung durchgefiihrt wurde. Es wurde dabei auBer der 3. und 4. hinteren Thorakalwurzel auch die 3. und 4. vordere Thorakal- wurzel durchschnitten. Erscheinungen von Kachexie waren an der Patientin nicht zu beobachten. Der Tod t ra t 8 Tage nach der Operation infolge einer Pneumonie ein. Das Rfickenmark wurde in Alkohol fixiert, in Celloidin eingebettet und naeh Nissl (Thioninf/~rbung) verarbeitet. Die entsprechenden Riickenmarkssegmente (3. und 4. Thorakalsegment), in denen die vorderen Wurzeln durchschnitten waren, wurden in Serien (15/~) geschnitten und jeder 3. Schnitt gef/~rbt.

Schon bei mittlerer Vergr61~erung erscheinen die Seitenhornzellen gebl/~ht, ihre Nisslgranula verwaschen. An einzelnen Zellexemplaren ist ein deutlich geschrumpfter Zellkern zu erkennen, der an der Peripherie

568 O. Gagel: Retrograde Degeneration an den

der Zelle gelegen ist (sieke Abb. 1). In anderen H6hen erscheint die Zakl der Seitenhornzellen vermindert, die nock vorhandenen Zellexemplare gebl/iht (sieke Abb. 2). Auf die Verminderung der Zellzahl wird aus Griinden, die bereits in fl'iiheren Arbeiten des weiten von mir aus- einander gesetzt wurden, kein grkl~eres Gewicht gelegt. Abb. 3 stellt zum Vergleich ein Seitenhorn aus einem tieferen Segment des gleichen

Abb. 4. Gibt dio Sei tcnhornzel len aus dem 3. T h o r a k a l s e g m e n t bei s t i i rkerer Vergcki~erung wieder . Es k o m m t dabei die Bl~hung u n d A b r u n d u n g der Zel l form sehr gi l t zur Anschauung , ebenso wio die Auf l6sung dot Niss lg ranu la u~d die S c h r u m p f u n g des an R a n d ger f ick ten

Zel lkerns (Nisslbild).

Falles (6. Tkorakalsegment) dar, dessen vordere Wurzeln intakt belassen waren. Die 1/~nglichen Zellen lassen einen hellen, ovalen Kern, der zentral bzw. an einem Zellpol gelegen ist, erkennen. Der Zellkern enth/ilt ein deutliches Kernk6rpercken. Die fiir die Seitenhornzellen des Menschen typische, unregelm~Bige Nisstzeickmmg (Gagel s) ist gut zu erkennen. Bei st/~rkerer Vergrkl~erung (Abb. 4 und 5) kommt die B1/ihung und Abrundung der retrograd ver/~nderten Seitenhornzellen noch besser zur Anschauung. Die Nisslgranula sind zentral aufgel6st, w~hrend sie sick in der Peripherie hOCk deutlich verklumpt abzeichnen. Der geschrumpfte Zellkern ist ganz an tier Zellperipherie liegend zu erkennen. So bieten beim Menschen die Seitenhornzellen der Thorakalsegmente, deren vordere Wurzeln d.urchschnitten worden waren, das typische Bild der retrograden Degeneration. Aul~erdem konnte im Seitenhorngebiet des 3. und 4. Brust- segments progressiv ver/~nderte Glia beobaehtet werden. Die an den

S e i t e n h o r n z e l l e n d e s M e n s c h e n n a c h V o r d e r w u r z e l d u r c h s c h n e i d u n g . 569

A b b . 5. Se i tenhornze l len aus dem 4. T h o r a k a l s e g m e n t bei s t~ rke re r VergrSBerung lassen ebenfa l l s die A b r u n d u n g u n d B l ~ h u n g der Zelle, sowie die zen t r a l e A u f l S s u n g der N i s s lg ranu la u n d die S c h r u m p f u n g des a n die Pe r i phe r i e ger t i ck ten Zel lkerns e r k e n n e n (Nisslbild) .

A b b . 5a. NormMe Se i tenhornze] len aus dem 6. T h o r a k a l s e g m e n t zcigen die fiir die mensch - l ichen Se i tenhornze l len t y p i s e h e m unregelm~tgigen Niss lg ranu la . Der ovale Zel lkern , der hi~ufig a n e inem Pol gelegen is t , e n t h h l t ein deu t l i ches K e r n k S r p e r c h e n (Nisslbild) .

(Vergl . A b b . 4 u . 5).

5 7 0 0 . Gagel : R e t r o g r a d e Degenera t ion an den

Abb. 6. Motorische Vorderhornzellen aus dem 3. Thorakalsegmenb bieten das typische Bild der retrograden Reaktion (Nisslbild). Vergl. Abb. 6a.

Abb. 6~. Normale Vorderhornzellen ~us dem 6. Thorak~lsegment zeigen die fiir die Vorder- hornzellen typische regehn~gige Nisslzeichnung (Nissbild). Vergl. Abb. 6.

Seitenhornzellen des Menschen nach Vorderwurzetdurchschneidung. 571

Seitenhornzellen erhobenen Befunde sprechen also dafiir, dab die Neuriten durch die vorderen Wurzeln verlaufen. Aul3erdem waren auch an den motorischen Vorderhornzellen, die, wie ja schon lange bekannt ist, ihre Neuriten durch die vorderen Wurzeln senden, typische retrograde Zellver/~nderungen nachzuweisen (s. Abb. 6).

Es kSnnte der Einwand erhoben werden, dab die pathologisehen Ver/s an den Seitenhornzellen ebensogut Folgen der Durch- schneidung der hinteren Wurzeln, bzw. der doppelseitigen Vorderseiten- strangdurehschneidung sein kSnnten. Dagegen 1/~I3t sieh aber sagen, dab in einem Fall von Caudatumor, bei dem eine beiderseitige Hinter- wurzeldurchschneidung im Brustmark von Prof. Foerster vorgenommen wurde, an den Seitenhornzellen keinerlei pathologische Verdinderungen zu beobachten waren, wiihrend solche an den motorischen Vorderhornzellen, an den Zellen der Clarkeschen S/iule, an den groBen Zellen des Hinter- horns und an den Intermedi/~rzellen nachweisbar waren. In dem be- treffenden Falle waren auch beide Vorderseitenstr/inge durchschnitten worden. Das vollkommene Intaktsein der Seitenhornzellen spricht dafiir, dab in dem hier mitgeteilten Falle weder die Hinterwurzeldurchschneidung noch die Vorderseitenstrangdurchschneidung ffir die Ver~tnderungen an den Seitenhornzellen verantwortlich gemaeht werden kann.

Unter Beriicksichtigung der erhobenen Befunde nach Vorderwurzel- durchsehneidung, sowie meiner frfiheren tierexperimentellen Unter- suchung nach Exstirpation des Ganglion cervicale superius des Affen (Gagel 9) 1/~l~t sich also sagen, dab die Seitenhornzellen ihre Neuriten durch die vordere Wurzel zur sympathischen Grenzstrangkette senden. Da wir sowohl nach experimenteller Hinterwurzeldurchschneidung beim Tiere sowie nach operativer Hinterwurzeldurchschneidung beim Menschen keine transneuronale Reaktion an den Seitenhornzellen beob- achten konnten, w/s eine solche transneuronale Reaktion an den motorischen Vorderhornzellen, an den groBen Zellen des Hinterhorns, an den Zellen der Clarkeschen S/~ule, sowie an den Intermedi/~rzellen festge- stellt werden konnten (Gagel), so seheint es mir wahrscheinlich, dab zwischen der durch die hintere Wurzel eintretenden afferenten Faser und der Seitenhornzelle ein Schaltneuron gelegen ist. Sonst h/~tte man auch eine transneuronale Reaktion an den Seitenhornzellen erwarten mfissen. Vielleicht sind die Ganglienzellen dieses Schaltneurons in Zellen der Intermedi/trzone zu suchen. Wir stimmen also auf Grund unserer Unter- suchungen mit Bok iiberein, der auf normal-anatomischen Befunden ful~end, ebenfalls ein Schaltneuron zwischen afferenter Faser und Seiten- hornzelle annimmt.

Am Sehlusso sei noeh kurz erw/~hnt, dab auf faradisehe Reizung des peripheren Anteils der durchschnittenen 3. und 4. Thorakelwurzel mit dem Pletysmographion eine deutliche Volumensabnahme des Armes beob- achtet wurde (Foerster u. Altenburger). Die Volumensabnahme des Armes

572 O. Gagel: Retrograde Degeneration an den Seitenhornzellen usw.

is t d u r c k eine V a s o c o n s t r i c t i o n zu erkli~ren u n d so bewe i s t diese Be- o b a c h t u n g O. Foers ters u a 4 Al t enburger s a u c k f i i r den Menschen das

V o r k o m m e n v a s o c o n s t r i c t o r i s c h e r F a s e r n in der v o r d e r e n Wurze l . Die

U r s p r u n g s s t / i t t e n d ieser v e g e t a t i v e n F a s e r n d i i r f t en n a c h d e n gesch i lde r t en

p a t h o l o g i s c h - a n a t o m i s c h e n B e f u n d e n in den Se i t enho rnze l l en zu suchen

sein.

Literaturverzeichnis.

1 Thoshihiko, Ka i : t iber die sympathischen Zellen im Rfickenmark. Z. exper. Med. 46, H. 1/2. -- ~ Biedl: ~ber die Zentra der Splanchnici. Klin. Wschr. 904. Wien 1895. -- 3 Hoeben: Over een centrum oculospinale. Diss. Utrecht 1896. -- 4 Huet: De Gefolgen der Exstirpatie van her Ggl. colli sup. Nerv. symp. Amsterdam 1898. -- 5 Bok, S .: Die Entwicklung yon Reflexen und Reflexbahnen. II. Ontogenese des Rtickenmarkreflexapparates mit den zentralen Verhi~ltnissen des Nervus sympathicus. Psychiatr. B1. (holl.) 1922, Nr 3/4. _ s Pol]ak, S .: Die Struktur- eigentfimlichkeiten des Riickenmarkes bei den Chiropteren, zugleich ein Beitrag zu der Frage fiber die spinalen Zentren des Sympathicus. Anat. 74 (1924). -- : Terni, T . : Richerche anatomische sul sistema nervoso Autonomo degli uccetti. I. I I sistema preganglionare spinale. Arch. ital. Anat. 20, H. 3, 433--510 (1923) Ref. Zbl. Neur. 37, 308 (1924). -- s Gagel, 0 . : Zur Histologie und Topographie der vegetativen Zentren im Rfickenmark. Z. Anat. 85, H. 1/2. -- 9 Gagel, 0 . : Zur Frage der vegetativen Zentren im Rfickenmark. Z. Neur. Bd. 134. Hft. 3/4.