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WARUM BILDUNG? WARUM REVOLUTION? THEMA, FAKTEN, HANDLUNGSFELDER: HINTERGRüNDE ZUR KAMPAGNE

REVOLUTION BILDUNG – Warum Bildung? Warum Revolution?

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Die Bildungskampagne der IG Metall Jugend.

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Warum bildung?

Warum revolution?

thema, Fakten, handlungsFelder: hintergründe zur

kampagne

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1. thema »bildung« im umFeld

1.1 das thema bildung im politischen raum6

1.2 die leitlinien der aktuellen diskussion10

1.3 kommunikative ansätze und chancen 16

2. der begriFF »bildung«

2.1 entWicklungsgeschichte22

2.2 kritik am bürgerlichen bildungsbegriFF25

2.3 das bildungsverständnis der geWerkschaFten28

3. Facts and Figures

einzelne studien, projekte, themen32

4. die vier dimensionen der kampagne

4.1 Qualität38

4.2 geld42

4.3 zugang45

4.4 zeit48

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revolution bildungeine kampagne der ig metall jugend

Unsere Welt braucht Bildung. Bildung ist Persönlichkeitsentwicklung. Bildung befähigt zu Selbstbestimmung, Mitbestim-mung und Solidarität. Bildung macht unsere Demokratie stark, unsere Arbeit produktiv, unsere Gesellschaft zukunftsfähig. Bildung schafft Chancen. Für jede/n einzelne/n. Für uns alle.

Bildung braucht eine Revolution. Bildung muss besser werden: Der Schmalspur-Trend bringt uns nicht weiter. Gute Bildung braucht Zeit: Ständiger Druck tut uns nicht gut. Bildung muss allen offen stehen: Uns fehlt Ge- rechtigkeit, keine Eliten. Bildung muss solide finanziert sein: Unsere Zukunft braucht Inves- titionen. In jede/n einzelne/n. In uns alle.

Die Revolution braucht Dich. Bildung betrifft die ganze Gesellschaft. Azubis, Beschäftigte, Schüler/innen, Studierende und unsere Kinder – wir alle haben ein Recht auf gute Bildung. Dafür kämpft die IG Metall. Mit 2,3 Millionen Mitgliedern. Mit 220.000 Jugendlichen. Deine Unterstützung bringt die Kampagne voran. Jede/n einzelne/n. Uns alle.

WWW.revolutionbildung.de

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thema »bildung«

imumFeld

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thema »bildung« im umFeld

1.1 das thema

bildung im

politischen raum

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das thema bildung im politischen raum

Wenige Themen in der politischen Diskussion erscheinen gleichermaßen so breit und diffus wie das Thema Bildung. Es gibt keine Akteure im gesamten nationalen und internationalen politi- schen Spektrum, die dem Thema Bildung in Pressemeldungen und Programmen nicht aller-höchste Priorität einräumen würden. Dabei ist „Bildung“ ein weites Feld, das von vorschulischer Erziehung bis zu Erwachsenenbildung reicht, alle gesellschaftlichen Gruppen angeht und je nach politischer Orientierung sehr unterschiedliche Implikationen und Bedeutungen haben kann.

Auf internationaler Ebene sind es insbesondere die UN-Organisationen ILO, UNESCO (Welt- bildungsbericht) und UNICEF, die Weltbank und die OECD, die sich dem Thema in unterschied- licher Weise widmen. Während die UN in erster Linie die Zusammenarbeit mit bestehenden Strukturen sucht, fördert die Weltbank in bewährter Manier eine Vielzahl von Projekten – immer verbunden mit der Auflage, die nationale Politik entsprechend den marktorientierten Vorstel- lungen des Hauses auszurichten. Die OECD ist Auftraggeber der PISA-Studien und gibt weitere Publikationen wie z. B. „Bildung auf einen Blick“ heraus. Darüber hinaus gibt es auch zivil-gesellschaftliche Initiativen wie die internationale Bildungskampagne, an der Gewerkschaften und NGOs maßgeblich beteiligt sind.

Auf europäischer Ebene geht es vor allem darum „zur Entwicklung einer qualitativ hoch stehenden Bildung beizutragen, in dem die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten ge- fördert und deren Tätigkeit erforderlichenfalls unterstützt und ergänzt“ wird. Vier Einzelpro-gramme („Comenius“ in der Vorschul- und Schulbildung, „Erasmus“ in der Hochschulbildung, „Leonardo da Vinci“ in der Berufsbildung und „Grundtvig“ in der Erwachsenenbildung) sol- len dies neben politischen Maßnahmen wie dem Bologna-Prozess unterstützen. Die Europäische Kommission strebt die Herstellung eines europäischen Bildungsraums an. Dazu dienen die gleichermaßen umstrittenen Prozesse wie „Kopenhagen-Prozess“ (Berufsbildung), Bologna-Pro- zess (Studium) und der europäische Qualifikationsrahmen (EQR). Die Prozesse sollen die Transparenz erhöhen. Bildung und Qualifikation dienen der Steigerung von Wettbewerbsfähigkeit. Europa soll im Wettbewerb der großen Regionen eine führende Rolle behalten und ausbauen.

Zudem ist die EU ein maßgeblicher Akteur in den GATS-Verhandlungen („General Agree-ment on Trade in Services”, eigentlich ein WTO-Vertragswerk), in denen Bildung als „service“ verstanden und damit die Tür zur Kommerzialisierung von Bildung aufgestoßen werden sollte. Bildung sollte umfassend zur Ware werden. Nach einer ersten Verabschiedung 1995 stocken die Verhandlungen zur zweiten Runde seit über 10 Jahren.

Auf nationaler Ebene sind nahezu alle politischen und gesellschaftlichen Akteure mit dem Thema betraut. Von den im Bundestag vertretenen Parteien über die großen Verbände bis zu Gewerkschaften, von privaten Stiftungen wie Bertelsmann und Mercator über Lobby-Ein- richtungen wie die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft bis zu bundesweiten Netzwerken wie dem „Bildungsstreik“, von Rechtspopulisten wie Sarrazin bis zu den Nazis bei der NPD: Alle räumen sie der Bildung einen hohen Stellenwert ein, alle stimmen zu, dass Bildung von zentraler Bedeutung für eine gute Zukunft ist, so radikal unterschiedlich die Vorstellungen auch sind.

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thema »bildung« im umFeld

Bildung als Quotenbringer und trojanisches Pferd

Darüber hinaus ist Bildung ein Thema, dem auch bundesweite Massenmedien viel Aufmerk-samkeit widmen. Von RTL über „Bild“ und „Günther Jauch“ bis zur „Zeit“ räumen die großen Medienmarken dem Thema regelmäßig viel Platz ein, natürlich entsprechend ihrer jeweiligen formalen und politischen Orientierung.

Damit erscheint das gesellschaftliche und politische Handlungsfeld Bildung als Meta-Thema, das unzählige Berührungspunkte mit tagesaktuellen Diskussionen aufweist und grundsätzlich über ein hohes Mobilisierungs- und Emotionalisierungspotenzial verfügt, vergleichbar etwa mit den Bereichen „Arbeit“ und „Klima“ oder Themen wie Religion oder Migration.

Für die Gewerkschaften hat Bildung einen hohen Stellenwert. Sie setzen sich für den Abbau von Bildungsarmut, für Chancengleichheit und mehr soziale Durchlässigkeit ein. Niemand soll aufgrund der sozialen Herkunft von Bildung ausgeschlossen werden. Allgemeine und beruf- liche Bildung sind im Verständnis der IG Metall gleichwertig. Deshalb legen sie Wert auf die Umsetzung des Deutschen Qualifikationsrahmens, in dem z. B. Bachelorabschlüsse und Fort-bildungsberufe auf eine Stufe gestellt werden

Bildungspolitik ist im Verständnis der IG Metall Gesellschaftspolitik. Deshalb steht sie im Zentrum der gewerkschaftlichen Mobilisierung. In und durch Bildungspolitik lassen sich die gewerkschaftlichen Ideale wie gute Arbeit, Gerechtigkeit und Demokratie thematisieren. Gute Bildung ist Bestandteil einer gerechten Gesellschaft.

Links– www.europa.eu/pol/educ/index_de.htm

– www.oecd.org/berlin/publikationen/bildungaufeinenblick2012.htm– www.bildungskampagne.org/

– www.denk-doch-mal.de/– www.de.wikipedia.org/wiki/Allgemeines_Abkommen_%C3%BCber_den_

Handel_mit_Dienstleistungen#GATS_und_EU

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das thema bildung im politischen raum

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Kampagnen, Projekte und Initiativen (Auswahl):

Gewerkschaften– „Initiative Schule und Arbeitswelt“ (DGB) (www.schule.dgb.de)

– Inklusion (www.gew.de)– Gewerkschaftliches Gutachternetzwerk (www.gutachternetzwerk.de)

Initiativen– www.arbeiterkind.de

– Occupy Union (GEW)– Aktionsbündnis gegen Studiengebühren

– Bundesweiter Bildungsstreik– Intelligenzija Moving - www.intelligenzija.jimdo.com– Globale Bildungskampagne (GEW, UNICEF, NGOs)

befasst mit der Bekämpfung von „Bildungsarmut“– BaföG rauf! (freier zusammenschluss von studentInnenschaften e.V.,

Jusos, Grüne Jugend, Junge GEW)

Initiativen der Bundesregierung– Kampagne „Aufstieg durch Bildung“ (BMBF)

– Projekt Offene Hochschulen (BMBF)– Deutschlandstipendium

– Es fehlt die Berufsbildung!– Fast Track Initiative/Global Partnership for Education (World Bank)

Hintergrundinformationen– Bildungsbericht der Bundesregierung (www.bildungsbericht.de)

– „Bildung auf einen Blick“ (OECD)– Bundesinstitut für Berufsbildung (www.bibb.de)

– Hochschulrektorenkonferenz (www.hrk.de)– Politik und Kommunikation Ausgabe Februar/März 2013

(www.politik-kommunikation.de)

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thema »bildung« im umFeld

1.2 die

leitlinien der

aktuellen diskussion

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1.2 die

leitlinien der

aktuellen diskussion

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die leitlinien der aktuellen diskussion

Während die grundsätzliche Bedeutung von Bildung von allen Akteuren anerkannt wird, verlaufen die Linien der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskussion um und über Bildung wenig überraschend:

Auf der einen Seite steht das wirtschaftsliberale Lager, das mehr privates Engagement im Bil-dungssektor befürwortet und die vermittelten Inhalte an den unmittelbaren (und kurzfristigen) Bedürfnissen der Wirtschaft orientieren will. Hier wird das traditionelle bürgerliche Bildungs-ideal mit humanistischem Anspruch zunehmend durch wirtschaftlich verwertbares, natur- und betriebswirtschaftliches Wissen abgelöst. Daraus folgt die Tendenz, allgemeine soziale und kulturelle Dimensionen und Fächer wie etwa Musik, Kunst oder Sozialkunde zu vernachlässigen. Prinzipiell wird die Leistung und Leistungsfähigkeit des Einzelnen in den Vordergrund gestellt, anstelle eines breiten Bildungszugangs setzt man auf Elitenförderung und Exzellenz-Initiativen, denen großzügig Mittel gewährt werden. Vertreter des wirtschaftsliberalen Lagers etwa in der FDP oder den Industrieverbänden fordern noch immer eine weitere Ausdifferenzierung des Bil- dungssystems in Spitzenangebote und Breitenversorgung, die flächendeckende Wiederein- führung von Studiengebühren, die Verkürzung der Ausbildungszeiten oder die Einführung eines eigenständigen Faches Wirtschaft in den allgemeinbildenden Schulen.

Bildung als Markt und Wirtschaftskennzahl

Ein Ziel ist, das finanzielle Engagement des Staates zugunsten privater Bildungsanbieter weiter zu reduzieren. Ein anders Ziel ist, die Lernzeiten in der Schule, in Ausbildung oder im Studium zu verkürzen, um Auszubildende und Studierende so schnell wie möglich dem Arbeitsmarkt zuführen zu können.

Grundsätzlich wird der Zugang zu Bildung nach marktkonformen Regeln (Leistungsprinzip, Gebühren) organisiert. Das wirtschaftsliberale Lager diskreditiert staatliches oder öffentliches Engagement als restriktiv und setzt sich für mehr direkte Mitsprache der Wirtschaft bei der Erarbeitung von Lehrplänen und Studiengängen ein, angeblich um diese „praxisnäher“ zu ge- stalten.

Auch die Finanzierung von Bildung soll mindestens teilweise von Schülern; Studenten und bei der verstärkten Einführung von zweijährigen Berufen letztendlich von den Beschäftigten getragen werden, da die Weiterbildungskosten traditionell die Arbeitnehmer selbst finanzieren. Für ärmere Schichten soll dies durch private Finanzierungsmodelle wie etwa „Bildungssparen“ oder durch Studienkredite profitorientierter und geldmarktbasierter „Bildungsfonds“ ermög-licht werden. Das bestehende BaföG wird derzeit nicht infrage gestellt, ein weiterer Ausbau öffentlicher Förderprogramme aber ebenso wenig in Betracht gezogen und der Ausbau des „Deutschland-Stipendiums“ vorangetrieben.

Liberale und wirtschaftsnahe Think-Tanks und Initiativen wie etwa das Walter-Eucken-Institut, der „Aktionsrat Bildung“, das Forschungsinstitut Betriebliche Bildung (F-BB), die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, Bertelsmann oder das Centrum für Hochschulentwicklung

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(CHE) leisten die Grundlagenarbeit, liefern die Argumente für die Deregulierung des Bil-dungssystems und schlagen konkrete Maßnahmen vor. So ist eine verbreitete Forderung die Einführung eines Schulfachs „Wirtschaft“ in den allgemeinbildenden Schulen, damit sich die Menschen eine „fundierte Meinung über die diskutierten und vollzogenen Maßnahmen“ in der „europäischen Staatsschuldenkrise“ (Econwatch) bilden könnten und, „wirtschaftsliberal-konservatives Denken in die Schulen bringen soll“ (Gegenblende). Dabei fallen die genannten Akteure durchaus mit solider wissenschaftlicher Arbeit auf.

Auch internationale Institutionen wie Weltbank oder OECD, Auftraggeber der vieldiskutier- ten PISA-Studien, stellen den wirtschaftlichen Nutzen von Bildung in den Vordergrund und betonen die gesteigerte wirtschaftliche Stabilität einer Volkswirtschaft mit hohem Bildungs-durchschnitt, wenngleich die OECD vergleichsweise differenziert argumentiert und seit Jahren die mangelnde soziale Mobilität in Deutschland in den Vordergrund ihrer Studien stellt. Hintergrund dieser Argumentation ist die sog. Humankapitaltheorie, die den Wert von Qualifi-kation in der sog. Wissensgesellschaft ausdrücklich anerkennt, Bildung zugleich aber auch den wirtschaftlichen Prozessen unterordnet.

Neben den marktkonformen und neoliberalen Sichtweisen existiert darüber hinaus eine wert-konservative Strömung insbesondere in den Sozialausschüssen oder Verbänden wie dem konser- vativen Hochschullehrerverband. So ist etwa auf der Internetseite der konservativ-liberalen „Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft“ in einem Abschnitt zur beruflichen Ausbildung zu lesen: „Das Maß der Wirtschaft ist der Mensch; das Maß des Menschen ist sein Verhältnis zu Gott“. Auch die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung widerspricht dem „PISA-Konzept einer auf Funktionalität angelegten ‚Bildung’“ und spricht vom „geistigen Potential und den ethischen Ressourcen der nachwachsenden Generation“ als den zentralen Säulen von Bildung.

Hier zeigt sich, dass das Verständnis von Bildung als reiner Dienstleistung im Markt auch im bürgerlich-liberalen Lager keineswegs konsensfähig ist, sondern vielmehr eine radikale Ver- kürzung des traditionellen (konservativen) bürgerlichen Bildungsbegriffs darstellt, zumindest insoweit die konservative Ordnung der bürgerlich-christlichen Familie durch den Neoliberalis-mus in Frage gestellt wird. Der wirtschaftsliberale Ansatz erscheint in diesem Licht keines- wegs als stringente Übersetzung von Bildungspolitik im bürgerlichen Lager, da sich dieses in kultureller Hinsicht zum Teil auf die gleichen Wurzeln wie seine politischen Gegner beruft.

Mündigkeit vs. Marktkonformität

Entsprechend lässt sich dem wirtschaftsliberal-bürgerlichen Lager mit seinem marktkonfor- men Bildungsverständnis kein geschlossenes linkes oder linksbürgerliches Lager gegenüberstel- len. Vielmehr gibt es mehrere Ansätze, die alle darin übereinstimmen, dass Bildung weit mehr als nur Qualifikation für das Erwerbsleben ist. Von der linksbürgerlichen Böll-Stiftung über die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung bis zur Linkspartei wird Bildung als zentrale Säule einer funktionierenden Demokratie und eines selbstbestimmten Lebens gesehen. So sieht die Böll-Stiftung „Bildung, Wissen und Kreativität als Schlüsselressourcen“ auf dem Weg von

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die leitlinien der aktuellen diskussion

der „Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft“, die Friedrich-Ebert-Stiftung und „Die Linke“ betonen Bildung als „Voraussetzung für eine erfolgreiche Teilhabe aller an der Gestal-tung der gesellschaftlichen Verhältnisse“. Die Diskussion wird aber auch jenseits der Parteien und ihrer Einrichtungen auf gesellschaftlicher Ebene geführt.

Zahlreiche Vereine und Netzwerke wie jüngst etwa das Bündnis „Bildungsstreik“ fordern, Bildung als „öffentliches Gut“ zu erhalten. Sie fordern damit, dass der Anteil privater Bildungs- einrichtungen nicht ausgebaut und die Bildungsinhalte sich auf das Gemeinwohl orientieren. In der Auseinandersetzung mit neuen Steuerungsmodellen an den Hochschulen, beispielhaft an der Einführung der Hochschulräte, entzündete sich eine aktuelle Diskussion über die Demo- kratisierung der Hochschulen. Die in den 1970er-Jahren begonnene „Demokratisierung des Hoch- schulzugangs“ soll weiter ausgebaut werden, indem etwa alle Zulassungsbeschränkungen aufgegeben und neue Möglichkeiten des Hochschulzugangs („Dritter Bildungsweg“) geschaffen werden sollen.

Im Zentrum der Kritik steht stets eine weltweite Politik, „die nicht mehr gemeinwohlorien-tiert, sondern den sogenannten Gesetzen des Marktes unterworfen“ wird und die so auch den Zugang zu Bildung und Ausbildung als Marktbeziehung regeln will. Dem wird die Forderung nach freiem Zugang zu Bildung für alle entgegengesetzt. Im Unterschied zum wirtschaftslibera- len Lager wird neben der ökonomischen Bedeutung guter Qualifikation stets die kulturelle und soziale Funktion von Bildung als Fundament einer modernen, aufgeklärten und offenen Gesellschaft betont.

Eine relativ neue Stimme in der politischen Diskussion sind die Piraten, die beim Thema Bildung vergleichsweise qualifizierte Positionen vorweisen können, da ihre Akteure den Dis-kussionen um „open knowledge“ und „Wissensallmende“ traditionell nahestanden oder sie selbst geprägt haben. Entsprechend fordern sie einen kompromisslos freien Zugang zu Wissen und Wissensvermittlung und lehnen jede Art von Deregulierung und Privatisierung im Sinne einer Ökonomisierung strikt ab.

»Open Knowledge« vs. Verwertungszwang

Auf gewerkschaftlicher Seite stehen naturgemäß die berufliche Qualifikation und insbesondere die Bildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten für Arbeiter und Angestellte sowie der Zugang zu beruflicher und akademischer Bildung für alle im Vordergrund. Dabei konzentriert sich der DGB auf die Bereiche Aus-, Weiterbildung und Hochschulpolitik, während die Hans-Böck- ler-Stiftung unter anderem auf betriebliche Weiterbildung und die Studienförderung fokus-siert. Das DGB-Online-Magazin „Gegenblende“ und das Böckler-Magazin „Mitbestimmung“ beschäftigen sich regelmäßig auf hohem wissenschaftlichem und/oder journalistischem Ni-veau mit allen Aspekten von Bildung. Innerhalb des DGB sind hier die Einzelgewerkschaften mit der Erstellung von Aus- und Weiterbildungsverordnungen und insbesondere die GEW („die Bildungsgewerkschaft“) mit Themen schulischer und akademischer Bildung, aber auch mit Belangen der beruflichen Bildung betraut. In gesellschaftspolitischer Hinsicht unterscheiden

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thema »bildung« im umFeld

sich die gewerkschaftlichen Positionen kaum von den bereits genannten bei SPD, den Grünen, Linken und Piraten, jedoch können die Gewerkschaften gemeinsam mit der SPD auf eine über hundertjährige Tradition in der politischen und ökonomischen Erwachsenenbildung – mit all ihren Höhen und Tiefen – zurück blicken: Die Wurzeln der Gewerkschaftsbewegung liegen in den Arbeiterbildungsvereinen des 19. Jahrhunderts. Darüber hinaus verfügen die Gewerk-schaften über eine bundesweite professionelle Infrastruktur an Schulungs- und Tagungszentren und geschultes, erfahrenes Personal für (politische) Bildungsarbeit.

Ein Honorar für Bildung

Insbesondere junge Akteure des linken Spektrums etwa bei Grünen oder beim Bund demokra- tischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi), bei der GEW und bei ver.di setzen sich in jüngster Zeit verstärkt mit einer Aktualisierung des Konzeptes eines „Studienhonorars“ auseinander, das häufig als „Bildungsgeld“ diskutiert wird. Ungeachtet einzelner Unterschiede hinsichtlich der Höhe und genauen Ausgestaltung wird darunter eine bedingungslose und garantierte Finanzierung der Ausbildung junger Menschen verstanden, die ihnen ein selbstbe- stimmtes und unabhängiges Leben bis zum Ende der Ausbildung bzw. zum Eintritt in das Be-rufsleben ermöglicht. Dabei werden ausdrücklich alle Ausbildungswege von der Berufsschule bis zum Studium eingeschlossen.

Dieses Konzept wurde bereits in den 1960er-Jahren im Zusammenhang mit der BAföG-Ein- führung unter der Kanzlerschaft Willy Brandts diskutiert, unter anderem in einem viel diskutier- ten Papier des SDS („Hochschule in der Demokratie“, 1965), in dem ein elternunabhängiges „Studienhonorar“ gefordert wurde. Auch der UN-Sozialpakt von 1966 verlangte Gebührenfrei-heit und Stipendiensysteme, um das 1948 formulierte Menschenrecht auf Bildung verwirkli-chen zu können. Die Wurzeln dieser Idee reichen zurück bis ins Jahr 1946, als die französische Studierendengewerkschaft UNEF ein „Ausbildungsgehalt“ forderte (Blätter 5/2008).

Im aktuell vom DGB-Bundesvorstand beschlossenen Hochschulpolitischen Programm wird die Forderung nach eine Reform der Studienförderung in die gewerkschaftliche Forderung nach einem „Bildungsförderungsgesetz“ integriert. Damit soll der Tatsache Ausdruck verliehen werden, dass nicht nur Studierende, sondern auch Schülerinnen und Schüler sowie Teilnehmer- innen und Teilnehmer von Fortbildungs- und Weiterbildungsgängen berechtigte Ansprüche auf eine finanzielle Förderung des Staates haben. So soll das „Bildungsförderungsgesetz“ die Stu- dienfinanzierung, das Nachholen schulischer und beruflicher Abschlüsse sowie die Förderung der Aufstiegsförderung (Meister-Bafög) zusammenführen und je nach zu förderndem Bildungs- gang und individueller Ausgangslage unterschiedliche Förder- und Finanzierungsansätze beinhalten.

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die leitlinien der aktuellen diskussion

Links– www.asm-ev.de/

– www.econwatch.org/themab.php– www.kas.de/wf/de/21.35/

– www.aktionsrat-bildung.de/index.php?id=77– www.gegenblende.de/09-2011

– www.bildungsstreik.net/ – www.fortschrittsforum.de/tag/Bildung.html

– www.denknetz-online.ch/spip.php?page=denknetz&id_rubrique=116&design=1&lang=de– www.piratenpartei.de/politik/wissensgesellschaft/bildung/

– www.bdwi.de/forum/archiv/archiv/fowi_3_2011.html– www.stefan-ziller.de/wp-content/.../das_gruene_bildungsgeld.pdf

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1.3 kommuni-

kative ansätze

und chancen

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kommunikative ansätze und chancen

1.3 kommuni-

kative ansätze

und chancen

Angesichts der geschilderten Breite des Themas erscheint es evident, dass das Thema Bil- dung in kommunikativer Hinsicht in sehr unterschiedlicher Weise aufgeladen werden kann, von Bildung als der „sozialen Frage des 21. Jahrhunderts“ bis zu Bildung als freiem und offenem Gemeingut werden unterschiedlichste, auch ideologische Ansätze unter dem Etikett Bildung transportiert. Wer Bildung will, gibt sich stets zukunftsorientiert, nachhaltig und fortschrittlich, Bildung ist immer ein „Aufstiegsversprechen“, erst recht in der Globalisierung, in der „die Chinesen uns die einfachen Jobs wegnehmen“. Das Thema ist populär, geht es doch um „unsere Kinder“, die bekanntlich die Zukunft sind oder mindestens darum, die indi- viduelle Lebensgestaltung in die Hände des Einzelnen zu legen, es erscheint schlechterdings unmöglich, „bessere Bildung“ abzulehnen. Daher ist es geboten, einen genaueren Blick auf die kommunikativen Potenziale des Themas und auf die Fallen zu werfen, die dem Bildungsdis-kurs gegenwärtig immanent sind.

So bezeichnet etwa die FDP auf ihrer Internetseite Bildung als „die soziale Frage des 21. Jahr-hunderts“ – eine Formulierung, der auf den ersten Blick kaum widersprochen werden kann. Erst bei genauerem Hinsehen zeigt sich der neoliberale Spin: Denn damit wird nicht nur latent ge-sagt, die soziale Frage des Industriezeitalters habe sich erledigt oder sei keiner weiteren Aus- einandersetzung wert (was angesichts der aktuellen Eigentumsverhältnisse und Lohnentwick-lungen nicht behauptet werden kann), es steckt auch die Aussage darin, dass, wer sich nicht bildet, keine Unterstützung der Gesellschaft verdient habe. So wird über eine Aussage, die soziale Verantwortung suggeriert, geschickt latenter Sozialdarwinismus transportiert. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff der „Bildungsferne“, der nicht nur bürgerliche und arbeitsmarktkonforme Bildung als gesellschaftliches Normativ setzt, sondern gesellschaftliche Verantwortung für die betroffenen Gruppen auf die Verantwortung reduziert, Bildungsangebote bereit zu stellen.

Nicht zuletzt wurden die Potenziale des Themas hinsichtlich rassistischer und nationalchau-vinistischer Haltungen in der Diskussion um Thilo Sarrazzins Buch „Deutschland schafft sich ab“ offensichtlich, in dem behauptet wurde, der Durchschnitt der deutschen Bevölkerung „verdumme“, weil Migranten nicht nur weniger Ehrgeiz sondern auch minderwertige geneti-sche Dispositionen hinsichtlich ihrer Bildung hätten.

Oftmals wird Bildung im politischen Alltag auch verwendet, um Konzeptlosigkeit zu ver-schleiern und dennoch mit wohlklingenden Initiativen an die Öffentlichkeit zu gehen. So er- scheint etwa die von Kanzlerin Merkel ausgerufene „Bildungsrepublik“ als Rohrkrepierer, der dem Thema im Nachhinein mehr Schaden als Nutzen zugefügt hat.

Bildung als Kampagnenthema

All das zeugt von den großen kommunikativen Potenzialen des Themas. Wenn es möglich ist, Bildung in der eben genannten Weise zu verwenden, dann muss das Thema in entgegenge- setzter Richtung nicht nur genauso einsetzbar sein, so dass eine glaubwürdige und thematisch fundierte Kampagne das Potenzial haben sollte, eine breite Mobilisierung und gesellschaftliche Unterstützung zu erzeugen.

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thema »bildung« im umFeld

Dabei liegt es nahe, Bildung auch für die Vermittlung der gewerkschaftlichen Idee einer gerechten Gesellschaft einzusetzen, die über das Thema vermittelt wird. Bildung unterscheidet sich in der öffentlichen Kommunikation also deutlich vom Thema „Bildungssystem“.

Erste Ansätze zu einem neuen gewerkschaftlichen Bildungsbegriff finden sich im NRW- Tarif „Zukunft in Arbeit“, wenngleich dieser sich im Wesentlichen am Konzept des Bildungs-gutscheins orientiert, das, dies sei am Rande erwähnt, von Milton Friedman kommt.

Zugleich bietet das Thema die Möglichkeit, an die lange Tradition der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit anzuknüpfen und diese öffentlich wirksam werden zu lassen. Dabei bietet es sich an, den aufklärerischen Impuls aus der Geschichte aufzunehmen und beispielsweise auf die Idee eines Schulfachs Ökonomie und insgesamt auf Ökonomische Bildung als Äquivalent zur Politischen Bildung anzuwenden. Dabei ist es von zentraler Bedeutung, mit höchster politischer und inhaltlicher Genauigkeit zu arbeiten und vorhandene Ansätze intelligent zu verknüpfen.

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der begriFF »bildung«

2.1 ent-

Wicklungs-ge-

schichte

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entWicklungsgeschichte

„Bildung bezeichnet die Formung des Menschen im Hinblick auf sein ‚Menschsein‘, seine geistigen Fähigkeiten. Der Begriff bezieht sich sowohl auf den Prozess (‚sich bilden‘) als auch auf den Zustand (‚gebildet sein‘). Dabei entspricht die zweite Bedeutung einem bestimmten Bildungsideal (zum Beispiel dem humboldtschen Bildungsideal), das im Laufe des Bildungs- prozesses angestrebt wird. Ein Zeichen der Bildung, das nahezu allen Bildungstheorien ge- mein ist, lässt sich umschreiben als das reflektierte Verhältnis zu sich, zu anderen und zur Welt. Der moderne dynamische und ganzheitliche Bildungsbegriff steht für den lebensbegleiten- den Entwicklungsprozess des Menschen, bei dem er seine geistigen, kulturellen und lebens-praktischen Fähigkeiten und seine personalen und sozialen Kompetenzen erweitert.“ (Aus Wikipedia: „Bildung“)

Die Genese des modernen europäischen Bildungsbegriffs gründet im Wesentlichen in der europäischen Aufklärung, mit der zugleich die moderne Konzeption des Subjekts und seiner staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten formuliert wurde. Bildung bezeichnet in dieser Tra- dition nichts weniger als „Menschwerdung“ im gesellschaftlichen Zusammenhang und ein reflektiertes Verhältnis zu sozialer Umgebung und zur Welt. Der Deutsche Idealismus etwa bei Johann Gottlieb Fichte verstand Bildung als „Harmonie zwischen Herz, Geist und Hand“ und das „Ich als Werk meiner Selbst“.

Bildung als »Menschwerdung«

Mit der Ausprägung der bürgerlichen Nationalstaaten in Europa wurde Bildung zunehmend zum Attribut des „mündigen Bürgers“, der erst qua Bildung in der Lage ist, seine Individualität zu formen und seine Position in der Gesellschaft einzunehmen. Wilhelm von Humboldt trug maßgeblich dazu bei, dieses Verständnis von Bildung erstmals in institutionelle Strukturen zu überführen, indem er Bildung im Rahmen eines strukturierten Schulsystems messbar machte.

Auf Basis dieser Tradition entwickelte der führende Erziehungswissenschaftler Wolfgang Klafki sein Konzept der kategorialen Bildung, basierend auf „dem Gedanken des wechselsei-tigen Aufeinander-bezogenseins von Welt und Individuum“. Im Zentrum stehen hier die drei grundlegenden Ziele Selbstbestimmungsfähigkeit, Mitbestimmungsfähigkeit und Solida-ritätsfähigkeit.

Mit der Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 wurde das Recht auf Bildung weitgehend im Sinn der genannten Tradition als Menschenrecht erklärt.

Vor dem Hintergrund der im ersten Kapitel mehrfach genannten Bestrebungen zur Deregulie-rung von Bildung und Privatisierung von Bildungsinstitutionen wird Bildung in jüngster Zeit insbesondere im Umfeld von Protestinitiativen und NGOs vermehrt als Gemeingut diskutiert. Dabei ist Bildung meist nur ein Aspekt einer größeren Debatte um offenes Wissen („open know- ledge“) und die so genannte „Wissensallmende“. Wissen und die Vermittlung und Aneignung

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von Wissen, also Bildung, wird hier neben Gesundheit, Transport, Energie und Kommunikation als Gemeingut verstanden, das nicht als Ware („good“/„commodity“) behandelt werden darf, sondern einen rechtlichen Status als öffentliches Gut erhalten soll, der sich an der bis ins Mittel- alter wirksamen Rechtsfigur der Allmende orientiert.

der begriFF »bildung«

Links– www.wikipedia.org/wiki/Bildung

– www.vsa-verlag.de/detail/artikel/wissensallmende/

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der begriFF »bildung«

2.2 kritik am bürger-lichen

bildungs-begriFF

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der begriFF »bildung«

Vor dem Hintergrund der bereits erwähnten Entstehung des europäischen Bildungsbegriffs parallel zur Aufklärung und der Entstehung der europäischen Nationalstaaten fokussiert insbe- sondere linke Kritik Bildung als Abgrenzung der bürgerlichen gegenüber „unteren“ Klassen. Einer der profiliertesten Kritiker des bürgerlichen Bildungsbegriffs ist Erich Ribolits, der auf die „Verzweckung“ des Menschen auch im Bildungssystem verweist und den emanzipativen Gehalt von Bildung allenfalls einer kleinen Oberschicht zugestanden sieht. Ribolits zufolge ist es vor allem die Aufspaltung in „Berufsbildung – der „blinde“ Erwerb verwertbarer Qualifika- tionen – und in Allgemeinbildung – die abgehobenen Beschäftigung mit dem „Wahren, Guten und Schönen“, die der Bildung ihren emanzipatorischen Gehalt nimmt, also die „Befähigung zum Entwickeln systemsprengender Utopien, die über gesellschaftliche Strukturen und entspre- chende Werte, Normen und Verhaltensweisen hinausweisen“.

Eine weitere Kritik bezieht sich auf die Differenz zwischen „Bildung“ und „Erziehung“, die im deutschen Sprachraum häufig miteinander konkurrieren. Damit wird eine Unterscheidung gemacht, die die deutsche Sprache mit slawischen Sprachen, nicht aber mit der englischen und französischen Sprache teilt, die mit „education“ bzw. „éducation“ je nach Verwendung Allge- meinbildung, berufliche Bildung, schulische und akademische Bildung bezeichnen. Dennoch kennen beide westeuropäischen Sprachen eine ähnliche Unterscheidung zwischen schulischer Bildung und dem gesellschaftlichen Kulturgut Bildung, etwa in der Unterscheidung zwischen „éducation“ und „civilisation“. Die deutsche „Erziehung“ hingegen ist im Unterschied zur Bildung stets ein Prozess, der am zu Erziehenden von außen vollzogen wird, während die Bildung ein emanzipatives und eigeninitiatives Projekt ist.

Bildung war und ist immer auch eine „Klassenfrage“. Während die besitzbürgerlichen Schich- ten das Gymnasium als ihren Bildungsort schufen, blieb für die Kinder der Arbeiterfamilien die Volksschule. Humane, an dem Humboldtschen Bildungsideal ausgerichtete Bildung für die ökonomische und staatliche Elite einerseits, an der Arbeit in der Fabrik oder den Schreibstuben ausgerichtete Ausbildung für die Mehrheit der Bevölkerung auf der anderen Seite. Diese, z. B. von Ludwig von Friedeburg, dem ehemaligen hessischen Kultusminister hervorragend nachge- zeichnete, auf Klassenunterschieden beruhende Struktur des Bildungssystems wirkt in Deutsch- land bis heute. Beispiele sind die nach wie vor existente Gegenüberstellung von Bildung und Ausbildung, die Herabwürdigung von Berufsbildung in Teilen der Gesellschaft, das nach wie vor gegliederte Schulwesen und der soziale Skandal des sog. „Bildungstrichters“, der Kindern aus sozial schwachen Familien massiv Bildungsgänge verwehr und Bildungs- und Erwerbs-chancen nach sozialen Gesichtspunkten zuweist.

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kritik am bürgerlichen bildungsbegriFF

Links– www.studentenwerke.de/main/default.asp?id=02401

– www.budrich-verlag.de/upload/files/artikel/00000299_010.pdf

Literatur– Ludwig von Friedeburg, Bildungsreform in Deutschland, Frankfurt/Main 1989

problem bildungsmobilität QUELLE: DSW/HIS-HF 20. SOzIALERHEBUng

kinder von akademikern

100 kinder

übergangsQuote übergangsQuote

übergangsQuote

79 kinder 43 kinder

übergangsQuote

77 kinder 23 kinder

schWelle 2: sekundarstuFe ii

schWelle 4: hochschulzugang

kinder von nicht-akademikern

100 kindergrundschule

77 %

79 %43 %

23 %

Page 30: REVOLUTION BILDUNG – Warum Bildung? Warum Revolution?

der begriFF »bildung«

2.3 das

bildungs-verständ-

nis der geWerk-

schaFten 28

Page 31: REVOLUTION BILDUNG – Warum Bildung? Warum Revolution?

29

Die Auseinandersetzung für mehr Chancengleichheit in der Bildung ist so alt wie ihr Eintreten für eine gerechte Gesellschaft. Dabei lassen sich die Gewerkschaften nicht nur von dem Recht auf eine gute berufliche Qualifizierung leiten („Ausbildung für Alle“. Berufliche Qualifizie-rung, allgemeine, politische und kulturelle Bildung werden immer im Zusammenhang gesehen. Zu dem Recht auf Qualifizierung gehört deshalb auch das Recht auf Persönlichkeitsbildung im Sinne der umfassenden Entfaltung von Neigungen, Begabungen und Interessen. Da Bildungs- chancen immer auch abhängig sind von sozialem und kulturellem Kapital, haben die Nicht- besitzenden auch ein besonderes Recht der Förderung.

Bildung ist Teil von Gesellschaftspolitik. Daher ist Bildung nicht nur auf gesellschaftliche, technologische und ökonomische Herausforderungen gerichtet, sondern soll Menschen auch befähigen, Gesellschaft und Wirtschaft mitzugestalten. Daher hat Bildung für die Gewerk- schaften auch einen emanzipativen Charakter, da die Individuen befähigt werden, ihre sozialen Interessen zu erkennen, soziale und wirtschaftliche Zusammenhänge zu durchschauen und ihre Interessen zu vertreten. Sozialkompetenz verstehen die Gewerkschaften auch in diesem umfassenden Sinn. Bildungspolitik ist aber auch Teil einer Gesellschaftspolitik, die Armut und Ungerechtigkeit abbauen will. Deshalb setzen sich die Gewerkschaften für weitreichende Bildungsreformen ein. Die Forderungen nach mehr Chancengleichheit, nach mehr sozialer Durchlässigkeit, die Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung, der Erhalt von Bildung als öffentliches Gut und die Demokratisierung des Bildungswesens stehen an oberer Stelle.

Die Gewerkschaften wenden sich entschieden gegen eine einseitige Unterordnung von Qualifizierung unter die instrumentellen Anforderungen des Arbeitsmarktes. Gehört zum neo- liberalen Konzept die Verkürzung von Bildungszeiten und über die Modularisierung von Bildungsprozessen die Auflösung von Erosion von Berufen, stellen die Gewerkschaften die „Beruflichkeit“ von Arbeit in das Zentrum ihrer Bildungspolitik.

Beruflichkeit zielt dabei auf ein weit über Verwertung hinausgehendes Bildungskonzept. Unter dem „Leitbild moderne Beruflichkeit“ hat die IG Metall folgende Forderungen subsumiert:

1. Offene, dynamische Berufsbilder auf der Basis einer breiten Qualifizierung,2. Kernberufe, die unnötige Spezialisierung vermeiden,

3. Orientierung an einer „ganzheitlichen“ und handlungsorientierten Berufsbildung,

4. Gestaltungskompetenz, um Arbeitsbedingungen zu verändern,5. Förderung von Mündigkeit, Selbstständigkeit und Verantwortlichkeit.

Zurzeit überarbeitet die IG Metall dieses Leitbild. Damit soll die Beruflichkeit angesichts der zunehmenden Prekarisierung geschützt, die berufsbiografischen Kompetenzen gestärkt und eine gemeinsame, auch das Studium umfassende Berufsbildungspolitik entwickelt werden.

das bildungsverständnis der geWerkschaFten

Page 32: REVOLUTION BILDUNG – Warum Bildung? Warum Revolution?

3.

Facts & Figures

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3.

Facts & Figures

Page 34: REVOLUTION BILDUNG – Warum Bildung? Warum Revolution?

32

Bildungsgipfel 2008 in Dresden, auf Initiative der Bundesregierung, Angela Merkel rief die „Bildungsrepublik“ aus: Damals hatten sich Bund und Länder geeinigt, bis 2015 die Ausgaben für Bildung und Forschung auf zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) zu erhöhen. Das wären je nach BIP-Entwicklung zwischen 25 und 60 Milliarden Euro mehr als heute. Sieben Prozent BIP sind für Bildung vorgesehen, drei Prozent für Forschung.

nationaler Bildungsbericht des BMBF und der KMK, erscheint zweijährlich und ist die wichtigste regelmäßige Studie in Deutschland. Schwerpunkte der empirischen Untersuchungen waren bisher „Bildung und Migration“ (2006), „Bildungsübergänge im Anschluss an den Sekundarbereich II“ (2008), „Bildung und demografischer Wandel“ (2010) sowie „Kulturelle Bildung“ (2012).

Bildung auf einen Blick (OECD) ist eine jährlich erscheinende Sammlung mit grundle-genden Daten zu den Bildungssystemen der OECD-Länder. Der Bericht erfasst alle Aspekte der Bildungspolitik, wie zum Beispiel Abschlussquoten, Beteiligung an Weiterbildung sowie Finanzausstattung und Ressourcenverteilung in den Bildungssystemen.

PISA (OECD): Das „Programme for International Student Assessment“ ist die internationale Schulleistungsstudie der OECD. Die Studie untersucht, inwieweit Schülerinnen und Schüler gegen Ende ihrer Pflichtschulzeit die Kenntnisse und Fähigkeiten für eine volle Teilhabe an der Wissensgesellschaft erworben haben. Im Zentrum der Untersuchung steht, was im englischen Sprachraum als „literacy“ bezeichnet wird, also die kombinierte Fähigkeit, zu lesen, das ge- lesene kritisch und im Kontext zu reflektieren, zu schreiben und rechnen zu können.

TIMSS - Trends in International Mathematics and Science Study ist eine international ver-gleichende Schulleistungsuntersuchung, die seit 1995 im vierjährigen Turnus von der Interna-tional Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA) durchgeführt wird.

IgLU (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) ist eine Studie der International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA), die das Leseverständnis von Schülern der vierten Jahrgangsstufe international vergleichend testet.

CIVIC Education Study ist eine international vergleichende Studie zur politischen Bil- dung 14- bis 19-Jähriger. Sie wurde 1999 – 2000 von der International Evaluation Association durchgeführt.

zukunftsfähig durch Bildung – McKinsey im Auftrag der Robert Bosch Stiftung: 2009 vorgelegtes Investitionsszenario, das erstmals durchrechnete, welche zusätzlichen Ressourcen dem Bildungssystem bis 2015 jährlich zur Verfügung stehen, wenn die Zusagen der Merkel-Regierung eingehalten werden.

zukunftsvermögen Bildung – McKinsey im Auftrag der Robert Bosch Stiftung: 2008 vor-gelegte Vorgängerstudie von „Zukunftsfähig durch Bildung“

Facts & Figures

Page 35: REVOLUTION BILDUNG – Warum Bildung? Warum Revolution?

33

Bildungsstudie Deutschland – 2007 vom Magazin „Focus“ gemeinsam mit Microsoft durch- geführte Studie zu „Schule und Bildung in der Wissensgesellschaft“, die keine weitere Wirkung erzielen konnte und im Rückblick als missglückte PR-Aktion betrachtet werden muss.

Facts & Figures

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QUELLE: OECD

investition in die grundschulausbildung pro jahr in us-dollar 2008

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2246

7153

5929

QUELLE: OECD

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4.

die vierdimensionen

der kampagne

Page 37: REVOLUTION BILDUNG – Warum Bildung? Warum Revolution?

4.

die vierdimensionen

der kampagne

Page 38: REVOLUTION BILDUNG – Warum Bildung? Warum Revolution?

die handlungs-

Felder

die vier dimensionen der kampagne

36

Page 39: REVOLUTION BILDUNG – Warum Bildung? Warum Revolution?

37

Um Bildung als gesellschaftspolitisches Thema im Rahmen einer Kampagne erfolgreich zu bearbeiten, ist eine klare und trennscharfe Abgrenzung aller relevanten Dimensionen Vorausset- zung. Dabei geht es auch um die Unterscheidung zwischen gesellschaftspolitischen Forderun- gen und gewerkschaftlicher Handlungsmacht. Daher soll Bildung im Folgenden in einer analy- tischen Matrix betrachtet werden, die die Zuordnung gewerkschaftlicher Fragen und Forde-rungen erleichtert und das Thema auf einen Blick erschließt.

In funktionaler Hinsicht lassen sich die vier Dimensionen Zeit, Zugang, Qualität und Kosten unterscheiden. Hinsichtlich gewerkschaftlicher Politik wird zwischen den Dimensionen Gesell- schaftspolitik, Tarifpolitik, Betriebspolitik und Organisationspolitik unterschieden.

die handlungsFelder

gesell-schafts-

politisch

tarif-politisch

betriebs-politisch

organisa-tions-

politisch

QualitätSinkt das deutsche Bildungsniveau?

Deutschland: zukunft ohne Fachkräfte?

Bildungsqualität gleich Produktqualität?

Setzt Beteiligung politische Bildung voraus?

geldWo besteht Investitions-bedarf?

Wie wird Förderung geregelt?

Lohnt sich Investition in »Bildung«?

Deckt unser Angebot den Bedarf?

ZugangWer fällt aus dem deutschen Bildungssystem?

Wie »gleich« sind die zugangs-Chancen?

Wem bleibt »Bildung« verwehrt?

Sorgt »Bildung« für Chancen-gleichheit?

ZeitWie viel zeit bleibt für »Bildung«?

Bestehen Bildungszeit-Vereinbarungen?

Wer verhindert mehr zeit für Bildung?

Wann brauchen wir politische Bildung?

»bildung« – die research-matrix

Page 40: REVOLUTION BILDUNG – Warum Bildung? Warum Revolution?

4.1 Qualität

die vier dimensionen der kampagne

38

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39

Qualität – gesellschaftspolitischsinkt das deutsche bildungsniveau?

Zu kleine Hörsäle und Klassenräume, marode Universitäten und Schulen, schlecht ausge- stattetet Ausbildungsbetriebe, überlastete und zu wenige und oft nicht ausreichend qualifizierte Lehrerinnen, Dozenten und betriebliches Ausbildungspersonal, und gestresste Studentinnen, Schüler und Auszubildende – das Bildungssystem in Deutschland weist zahlreiche Missstände auf. Insbesondere internationale Studien der letzten Jahre haben offen gelegt, dass die Abhän-gigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft nirgendwo so groß ist wie hierzulande.

Nach dem „PISA-Schock“ von 2001 war die Bildungsdiskussion in Deutschland geprägt von der Angst, der deutsche Bildungsdurchschnitt sei im Sinkflug begriffen. In der Zwischenzeit stellt sich das Bild differenzierter dar: Der aktuelle Bildungsbericht 2012 zeige, dass „Qualität und Umfang des Bildungs- und Betreuungssystems zugenommen haben“, so der Präsident der Kul- tusministerkonferenz, Hamburgs Schulsenator Ties Rabe. Weitere Ergebnisse des Papiers: Es gebe mehr Abiturienten und Studenten, gleichzeitig gehe die Zahl der Schulabbrecher zurück. Zudem hätten Jung-Akademiker auf dem Arbeitsmarkt gute Chancen und auch die Lage auf dem Lehrstellenmarkt entspanne sich langsam.

Kritiker aus Gesellschaft und Wirtschaft interpretieren die Erfolgsmeldungen der Regierungs- seite teilweise unter Bezugnahme auf die gleichen Zahlen jedoch anders: So gibt es dem Bericht zufolge unter den Jugendlichen immer noch einen harten Kern von bis zu 20 Prozent Bil-dungsverlierern: Diese können nicht richtig lesen oder Texte verstehen, brechen die Schule,

Qualität

100 %

76 %

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bildungsbarrieren: die FünF schWellen der bildungsbeteiligung 2008

QUELLE: gEW

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40

Studium oder die Lehre ab und nehmen auch nicht an Weiterbildungen teil. Auch Jugendliche mit zweijährigen Berufsabschlüssen zeigen im gleichen Maß kaum Weiterbildungsaktivitäten und merken erst bei Bewerbungen, dass sie auf dem Arbeitsmarkt ein schlecht verwertbares Zertifikat in den Händen halten. Ein falscher Weg der Bundesregierung, hier auf Weisung der Arbeitgeber in zwei Jahren kostengünstig aus arbeitslosen Jugendlichen arbeitslose Facharbei- ter zu produzieren.

Als ein „Armutszeugnis für die Bildungspolitik in Deutschland und Alarmsignal“ hat die GEW eine der Kernaussagen der OECD-Studie „Bildung auf einen Blick 2012“ gewertet: Laut der Un- tersuchung haben 22 Prozent der 25 bis 34jährigen Erwerbstätigen einen niedrigeren Abschluss als ihre Eltern – und nur 20 Prozent einen höheren. Grund dafür sei, dass die Bildungsmobilität durch eine Fehlsteuerung von Mitteln eingeschränkt werde. So würde etwa das Geld für BAföG reduziert und stattdessen ein Stipendiensystem nach dem Lostopf-Prinzip aufgebaut.

An den Universitäten wird neben der „Verschulung“ des Studiums insbesondere kritisiert, dass seit der Bologna-Reform die Allgemeinbildung der Studierenden auf der Strecke bleibe. „Die Unternehmen brauchen Persönlichkeiten, nicht nur Absolventen“, beschreibt etwa der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), Horst Hippler das Problem: „Man muss sich entscheiden, ob man eine Hochschulausbildung rein berufsbezogen will, wie sie die Fach-hochschulen bieten – was dort gut funktioniert. Oder ob man eine andere Art der Ausbildung will wie an den Universitäten“, so Hippler. Ein Bachelor in Physik „ist nie im Leben ein Physiker“, so der HRK-Präsident.

Qualität – tarifpolitischdeutschland: zukunFt ohne FachkräFte?

Im internationalen Vergleich liegt Deutschland mit seinem Anteil an Hochqualifizierten mitt- lerweile weit hinten. Das geht aus dem aktuellen Bildungsbericht „Bildung auf einen Blick“ der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hervor. So haben wichtige Konkurrenten auf dem Weltmarkt in den vergangenen zehn Jahren die Zahl ihrer Studenten und Hochschulabsolventen weitaus stärker steigern und die Zahl der Gering- qualifizierten stärker reduzieren können als die Bundesrepublik.

Die OECD definiert als hochqualifizierte Arbeitskräfte diejenigen, die einen Hochschul- oder Fachhochschulabschluss oder einen Meisterbrief haben. In der älteren Arbeitsgruppe, die jetzt oder in den nächsten Jahren aus dem Erwerbsleben ausscheidet, liegt Deutschlands Anteil an hochqualifizierten Arbeitskräften insgesamt bei noch 6,3 Prozent. Bei den 25- bis 34-Jährigen, die jetzt in den Arbeitsmarkt eintreten, ist Deutschlands Anteil mit 3,1 Prozent nur noch halb so groß. In der Altersgruppe der 55- bis 64-Jährigen gibt es 2,46 Millionen Akademiker. Bei den 25- bis 34-Jährigen ist diese Zahl mit 2,48 Millionen nur geringfügig höher.

Gleichzeitig ist aber die Nachfrage nach Hochschulabsolventen auf dem Arbeitsmarkt wegen der gestiegenen Qualifikationsanforderungen in der Wirtschaft weltweit erheblich gestiegen.

die vier dimensionen der kampagne

Page 43: REVOLUTION BILDUNG – Warum Bildung? Warum Revolution?

41

Die Anzahl der Hochschulabsolventen in Deutschland wächst also unterproportional. Wäh-rend sich in etlichen anderen Ländern der Anteil von Akademikern an den 25 bis 34-jährigen vervielfacht hat, sind diese in Deutschland in 50 Jahren um nur 7,3 Prozentpunkte gestiegen. In Kanada hat sich der Anteil der Akademiker an der gesamten Altersgruppe im gleichen Zeit-raum verdoppelt, in Südkorea sogar verzehnfacht. Deutschland ist hier Schlusslicht aller 36 OECD-Staaten. Beim Ausgangsniveau 1959 lag Deutschland im Mittelfeld. Doch es fehlen in Deutschland nicht nur Akademiker, sondern auch Meister, Techniker sowie andere qualifi- zierte Fachkräfte, heißt es in dem Bericht.

Qualität – betriebspolitischbildungsQualität gleich produktQualität?

Wissen gilt in unserer heutigen Gesellschaft als der vierte Produktionsfaktor neben den klas- sischen Produktionsfaktoren Kapital, Natur und Arbeit. In vielen Unternehmen gerade in Indus- trieländern ist Wissen eine Ressource, die für über 50 Prozent der Gesamtwertschöpfung eines Unternehmens verantwortlich ist.

Zugleich werden die Wissenszyklen immer kürzer. Nach Schätzungen verliert Hochschul- wissen und berufliches Fachwissen nach zehn bis fünf Jahren 50 Prozent der vormaligen Be- deutung, die Hälfte des nutzbaren technologischen Wissens verfällt nach zwei bis drei Jahren und IT-Wissen besitzt zurzeit nur noch eine „Halbwertszeit“ von weniger als zwei Jahren. Es erscheint evident, dass in dieser Situation nur hochqualifizierte Mitarbeiter und eine Kultur der stetigen Weiterbildung dazu beitragen können, auch in Zukunft Produkte von höchster Qua- lität herstellen und absetzen zu können.

Qualität – organisationspolitischsetzt beteiligung politische bildung voraus?

„Ziel von politischer Bildung ist es, Zusammenhänge im politischen und gesellschaftlichen Geschehen zu erkennen, Toleranz und Kritikfähigkeit zu vermitteln und zu stärken, demokra- tische Spielregeln zu verankern und damit zur Herausbildung und Weiterentwicklung von aktiver Bürgerschaft, gesellschaftlicher Partizipation und politischer Beteiligung beizutragen.“ (Wikipedia, „Politische Bildung“)

„Menschen werden nicht als politisches Wesen geboren, aber sie leben immer in politisch bestimmten Räumen. Deshalb ist politisches Urteilsvermögen eine Voraussetzung jeder huma-nen Gesellschaft.“ (Oskar Negt)

Beschäftigte müssen heute auf ihre eigene Kraft vertrauen. Das gewerkschaftliche Selbstver-ständnis fordert konsequent beteiligungsorientiertes Denken und Arbeiten. Mitglieder müssen mitbestimmen können. Und zwar wenn es wichtig ist, bei Angelegenheiten, die sie betreffen. Besonders auf betrieblicher Ebene ist die Expertise von Beschäftigten eine entscheidende Kom- petenzressource. (Aus „Acht Thesen zur Erneuerung der Gewerkschaftsarbeit“)

Qualität

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4.2 geld

die vier dimensionen der kampagne

42

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43

geld – gesellschaftspolitischWo besteht investitionsbedarF?

„Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung eines Landes wird in einem erheb- lichen Maße durch den Bildungs-, Wissenschafts- und Forschungsbereich geprägt. Die Ausgaben für diese Bereiche leisten einen Beitrag zur Humankapitalbildung und werden gemeinhin als Zukunftsinvestitionen angesehen.“ verkündet das Statistische Bundesamt bei der Vorstellung des „Budgets für Bildung, Forschung und Wissenschaft 2009/2010, Ausgabe 2012“.

Tatsächlich werden die Mittel in absoluten Zahlen von Jahr zu Jahr erhöht, im Zeitraum von 1995 bis 2005 von 128,2 Milliarden auf 141,6 Milliarden Euro. Dennoch: Die Bildungsausgaben liegen in Deutschland nach internationalen OECD-Kriterien immer noch deutlich unter dem Schnitt der anderen Industrienationen. 1995 gab Deutschland 5,1 Prozent seines Bruttoinlands- produktes für Bildung aus. 2008 waren dies laut Bericht nur 4,8 Prozent. Der OECD-Schnitt lag im Jahre 2012 bei 5,9 Prozent. Damit lag Deutschland auf Platz 30 unter 36 Industrienationen.

Verschärft wir diese Entwicklung noch durch die andauernd sinkenden Realeinkommen der Beschäftigten in Deutschland. Zahlen doch die Beschäftigten fast immer ihre Weiterbildungs-kosten aus der eigenen Tasche. Für Leiharbeiter zum Beispiel wird damit eine berufliche Ent- wicklung unerreichbar. Insgesamt verschärft dieser Missstand die schlechteren Teilnahmequo-ten an Weiterbildung noch drastisch.

Laut der Studie „Zukunftsvermögen“ der Bosch-Stiftung im Auftrag von McKinsey aus dem Jahr 2008 ist weder der Arbeitsmarkt noch das Bildungssystem auf die steigende Nachfrage nach hochqualifizierten Arbeitskräften vorbereitet. Selbst bei einem moderaten Wachstums- ziel von 1,5 Prozent pro Jahr droht uns dadurch 2020 ein Fehlbestand in Höhe von 2,4 Millio- nen Fachkräften. Der bis 2020 auflaufende volkswirtschaftlicher Schaden wird auf 1,2 Bil- lionen Euro beziffert. Dieser Einnahmeausfall durch entgangene Wertschöpfung trifft Arbeit-nehmer, Arbeitgeber, den Staat wie auch die Sozialkassen.

Die bildungsökonomische Formel ist simpel: „Mehr Geld am Anfang, weniger am Ende.“ Dann greift der sich selbst verstärkende Bildungseffekt, den der Chicagoer Wirtschaftsnobel- preisträger James Heckman als „skill multiplier“ beschreibt: Frühe Bildungsinvestitionen erhöhen wie ein Multiplikator auch die Rendite aller späteren Bildungsinvestitionen.

geld – tarifpolitischWo Wird FÖrderung geregelt?

Einzelne Modelle wie etwa der Tarifvertrag „Qualifizierung“ oder der „Zukunft in Bildung“ in NRW zeigen, wie Maßnahmen der beruflichen Bildung zwischen den Tarifparteien vereinbart und aufgeteilt werden und mit einer Sicherung von Perspektiven für junge Beschäftigte ver-

geld

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44

bunden werden können. Hier geht es um Umsetzung und Einführung betrieblicher Weiterbil-dung als strategisches Handlungsfeld „Zukunfts- und Beschäftigungssicherung“.

geld – betriebspolitischlohnt sich investition in bildung?

In der klassischen Volkswirtschaft fußen so genannte „Humankapitaltheorien“ auf der These, dass Bildungsaktivitäten das Arbeitspotenzial des Einzelnen so verändern, dass sowohl Arbeits- qualität und -leistung steigen. Diese bildungsbedingt höhere Produktivität soll der Theorie zufolge im Arbeitsmarkt durch höheren Verdienst entgolten werden. Damit behaupten Human- kapitaltheorien eine kausale Wirkungskette, die sich von den Bildungsaktivitäten über die gestiegene Produktivität zu höherem Einkommen erstreckt.

Zugleich halten Humankapitaltheorien eine im Prinzip einfache Lösung für volkswirtschaft- liche Probleme wie zu große Einkommensungleichheit und niedriges Wirtschaftswachstum be- reit: Steigerung der Investitionen in Bildung und Verringerung ihrer Streuung. Vor dem Hin-tergrund weltweiten Wettbewerbs kann eine hochentwickelte Volkswirtschaft wie die Deutsch-lands nur mit massiven und dauerhaften Investitionen in umfassende Bildung überleben.

geld – organisationspolitischdeckt unser angebot den bedarF?

IG Metall- und DGB-Seminare bieten Arbeitnehmern und Auszubildenden ein umfangreiches Angebot von Bildungs- und Weiterbildungsmaßnahmen in zahlreichen organisationseigenen Bildungsstätten. Das Spektrum reicht von gesellschaftspolitischen Themen wie etwa Anti-Rassismus über umfangreiche Qualifikationsangebote für betriebliche Interessenvertreter bis zu Work-Life-Balance und Nachhaltigkeit. Darüber hinaus arbeiten die gewerkschaftlichen Organisationen auch daran, Beschäftigten ohne Abitur und „bildungsfernen“ Gruppen ein Studium an Fachhochschule und Universitäten zu ermöglichen. Böckler-Stiftung und DGB haben mehrere Initiativen aufgelegt, die Beschäftigten mit Berufserfahrung ein Studium ermöglichen sollen. Die IG Metall hat ein eigenes Informations- und Beratungsangebot ge- schaffen: www.uni-ohne-abi.de. Die Hans-Böckler-Stiftung hat ein „Modellprojekt Dritter Bildungsweg“ aufgelegt, mit dem gezielt Stipendien an gewerkschaftlich engagierte Studien- interessierte des Dritten Bildungsweges vergeben werden. Über die Studierendenarbeit exis-tiert eine Reihe von Seminarangeboten für Studierende und betriebliche Interessenvertretungen.Für Beschäftigte in der Textilindustrie werden sogar fachliche Seminare mit berufsqualifizie-renden Inhalten angeboten. Auch pädagogische Qualifikationen für die Mitbestimmung in der betrieblichen Bildung (AEVO) stehen auf dem Seminarprogramm der IG Metall.

die vier dimensionen der kampagne

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45

4.3 zugang

die vier dimensionen der kampagne

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46

zugang – gesellschaftspolitischWer Fällt aus dem deutschen bildungssystem?

In kaum einem anderen Industriestaat entscheidet die sozio-ökonomische Herkunft so sehr über den Schulerfolg und die Bildungschancen wie in Deutschland. Zugleich gelingt es in Deutschland im internationalen Vergleich deutlich schlechter, Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund gute schulische und berufliche Kompetenzen zu vermitteln. Dabei wei-sen alle relevanten Studien, allen voran die OECD, explizit darauf hin, dass dies nicht an den Migranten, sondern am deutschen Schulsystem liegt.

In Deutschland erreichen 22 Prozent der jungen Menschen nicht das Bildungsniveau ihrer Eltern. Umgekehrt schaffen nur 20 Prozent einen höheren Abschluss als ihre Eltern. Deutsch-land liegt damit ganz weit hinten: Im OECD-Durchschnitt fallen nur 13 Prozent der jungen Menschen hinter das Bildungsniveau ihrer Eltern zurück. Entsprechend sinkt in Deutschland die Akademikerquote: Mit 42 Prozent beginnen 20 Prozent weniger als im OECD-Durchschnitt ein Studium. Die Abschlussquote liegt mit 30 Prozent neun Prozent unter dem Durchschnitt und der Anteil der Studienabbrecher ist im Vergleich zu 2006 um zehn Prozent gestiegen.

Die Studien des UN-Menschenrechtsrats, der OECD und vieler Stiftungen wie zum Beispiel der Vodafone Stiftung zeigen immer wieder den gleichen Befund: Bildungsherkunft entscheidet in Deutschland stärker als in nahezu allen anderen Ländern über Bildungszukunft und beruf- liche Entwicklung. Von hundert Akademiker-Kindern werden 77 Akademiker und von hundert Nicht-Akademikerkindern eben nur 23, so die letztverfügbaren Zahlen der 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes.

zugang – betriebspolitischWem bleibt bildung verWehrt?

Auf der Ebene betrieblicher Aktivitäten und Vereinbarungen zu Bildung und Weiterbildung von Auszubildenden und Beschäftigten ergibt sich ein differenziertes Bild. Insgesamt kümmern sich nach einer Studie der Stiftung „neue verantwortung“ und der Vodafone-Stiftung 39 Pro- zent aller Unternehmen „gar nicht“ oder „geringfügig“ um die Weiterbildung von Nichtakade- mikern.

Rund 30 Prozent hingegen engagieren sich stark in diesem Bereich. Aufholbedarf scheint in erster Linie in mittelständischen Unternehmen gegeben zu sein, insbesondere Industriebetriebe und Betriebe mit über 5.000 Mitarbeitern fielen hingegen positiv auf. Grundsätzlich ist der Zugang zu betrieblicher Weiterbildung im Rahmen von Normalarbeitsverhältnissen deutlich besser als im Rahmen etwa von Leiharbeit, wo derartige Angebote, von einigen Best-Prac- tice-Beispielen abgesehen, zumeist gar nicht vorhanden sind oder nicht über den von den Be- schäftigten zu zahlenden Gabelstaplerschein hinaus gehen. Um ungelernte Fachkräfte in einen Facharbeiterstatus zu bekommen, gibt es fast keine betrieblichen Aktivitäten.

die vier dimensionen der kampagne

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47

zugang

zugang – organisationspolitischsorgt bildung Für chancengleichheit?

Was auf der gesellschaftspolitischen Ebene durch zahlreiche Studien eindeutig belegbar er- scheint – die Verbesserung von Chancengleichheit durch Zugang zu Bildung – stellt sich auf der Ebene gewerkschaftlicher Handlungsoptionen insbesondere mit Blick auf ein Studium für Beschäftigte mit Berufserfahrung aber ohne Abitur als Herausforderung auch für die IG Metall dar. Dabei steht der direkte Weg ins Studium auch beruflich Qualifizierten ohne Abitur offen, seit die Kultusministerkonferenz 2009 einen entsprechenden Beschluss fasste. Damit soll nicht nur dem zunehmenden Fachkräftemangel begegnet, sondern auch die Durchlässigkeit zwi-schen beruflicher und akademischer Bildung in Deutschland verbessert werden – so wie es die europäischen Bildungsreformen vorsehen.

Doch trotz beträchtlicher finanzieller Förderung durch die öffentliche Hand blieb der „Dritte Bildungsweg“, das Studieren ohne Abitur, bisher im Schatten. Unter den Studienanfänger/-innen 2010 waren bundesweit nur 2,1 Prozent, die kein Abitur vorweisen konnten. Mehr noch: die Zahl der Studienabsolventen ohne Abitur verharrte zwischen 2007 und 2010 unter 1 Prozent (2007: 0,66 Prozent, 2010: 0,79 Prozent).

Nur durch den Ausbau eines attraktiven Stipendienprogramms können mehr Studierende für den „Dritten Bildungsweg“ gewonnen werden. Derzeit bietet aber nur die Hans-Böckler Stiftung ein spezifisches Stipendienprogramm für berufserfahrene Studierende im Rahmen eines Modellprojektes an. Auch unter den Stipendienprogrammen der Länder, Unternehmen und Wirtschaftsverbände ist nichts dergleichen zu finden.

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4.4 zeit

die vier dimensionen der kampagne

48

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49

zeit – gesellschaftspolitischWie viel zeit bleibt Für bildung?

Ein wesentliches Ziel von bildungspolitischen Reformen wie dem Bologna-Prozess oder die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur von 13 auf 12 Jahre („G8“ für „Achtjähriges Gym- nasium“) war es, junge Menschen schneller auszubilden und dem Arbeitsmarkt zuführen zu können. Die aktuelle Bildungspolitik folgt damit dem allgemeinen Trend zur Verdichtung und Beschleunigung mit dem Argument, andernfalls international die Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren. Das gleiche Argument wird aktuell in der Berufsbildung bei der angestrebten Ver-kürzung und „Modularisierung“ von Ausbildungszeiten gebraucht.

Mit dem Bologna-Prozess sollte ein einheitlicher europäischer Hochschulraum bis zum Jahr 2010 geschaffen und die Mobilität, die internationale Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigungs- fähigkeit von Absolventen gefördert werden. In Deutschland wurde dies zum Anlass genom- men, zugleich die größte Studienreform der Nachkriegsgeschichte durchzusetzen, die nach Ver- lautbarungen ihrer Befürworter die angeblich zu lange Studienzeit in Deutschland verkürzen und das Studium stärker an den Bedürfnissen der Wirtschaft orientieren solle. Bis heute stößt dies bei Studierenden, im akademischen Lehrkörper und bei Politikern auf harsche Kritik. In deren Zentrum steht zum einen die Verschulung der Bachelor-Studiengänge und mangelnde Mög- lichkeit zum Eigenstudium sowie Forderungen nach einem freien Zugang zu Master-Studien-gängen und die Reduzierung der Arbeitsdichte für die Studierenden.

Die IG Metall unterstützt zwar die Ziele des Bologna-Prozesses, beklagt jedoch, dass deren Umsetzung in Deutschland nicht gut funktioniert. Sie kritisiert die hohe Arbeits- und Prüfungs- belastung in den neuen Studiengängen, die mangelnde Qualität von Studium und Lehre, die beschränkte Durchlässigkeit beim Übergang vom Bachelor zum Master sowie die mangelhaf-te Beteiligung und fehlende Betreuung der Studierenden. Deshalb fordert die IG Metall einen grundlegenden Kurswechsel im Bologna-Prozess.

Kritik von Studierenden kam vor allem im „Bildungsstreik“ zum Ausdruck, der zu wochen- langen Aktionen in den Jahren 2010 und 2011 führte, aber auch Bücher wie „Was bildet ihr uns ein“ äußerten Kritik und werden bis heute als Internetblog weiter geführt (http://wasbildetihrunsein.de/).

Folge von G8 war eine signifikante Erhöhung der Wochenstundenzahlen für die Schüler mit verkürzter Schulzeit: Mussten Schüler des neunstufigen Gymnasiums auf neun Jahre aufgeteilt durchschnittlich 30 Wochenstunden absolvieren, müssen Schüler des achtstufigen Gymnasi-ums durchschnittlich 33 Stunden pro Woche belegen. Unabhängig von der Bewertung, ob die Reform an sich notwendig war, ist in Politik und Medien unstrittig, dass „G8“ unzureichend umgesetzt und politisch schlecht vorbereitet war. Eltern-, Lehrer- und Schülerorganisationen üben daher zum Teil heftige Kritik. Erste Rückmeldungen der Universitäten deuten darauf hin, dass die Studierfähigkeit der Studienanfänger durch die Umstellung gelitten hat.

zeit

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50

Gleiche Entwicklungen gibt es in der beruflichen Bildung. Seit Anfang 2000 fordern die Ar- beitgeberspitzenverbände vermehrt bei der Bundesregierung ein-, zweijährige Kurzausbildungs- gänge in der beruflichen Erstausbildung zu schaffen. Folgen dieser Ausbildungsgänge sind eine geringere Teilnahmequote der Absolventen an Weiterbildung und eine schlechtere Ver- wertung des Abschlusses auf dem Arbeitsmarkt. Auch das Risiko, entlassen zu werden, steigt schon bei leichten Krisen in den Betrieben extrem an.

Hier werden sozusagen kostengünstig aus jugendlichen Arbeitslosen langfristig arbeitslose „Fach“arbeiter gemacht: Rückmeldungen von den Betriebsräten zeigen auf, dass Beschäftigte mit Kurzausbildungsgängen (und demzufolge mit weniger attraktiven Berufsbezeichnungen) sich nicht wegbewerben können, als erste von Entlassungen betroffen sind und bei Bewerbun-gen sofort abgeschrieben werden, sie sind Bildungsverlierer durch verkürzte Bildungszeiten!

zeit – tarifpolitischbestehen bildungszeitvereinbarungen?

Regelungen zur Aus-, Fort- und Weiterbildung der Arbeitnehmer bestehen in zahlreichen Tarifverträgen, nicht nur in Branchen der IG Metall, und werden auch vom Gesetzgeber geför- dert. Weiterbildung braucht unter anderem die Ressource Zeit. Um sie zu stärken, ist der Vor-schlag gemacht worden, die auf betrieblichen Arbeitszeitkonten angesammelten Zeitansprüche für Weiterbildung zu nutzen. Für die Nutzung von auf Arbeitszeitkonten angesparter Zeit für eigene Weiterbildung sind keine speziellen Bildungskonten nötig.

Voraussetzung sind allerdings betriebliche Regelungen, bei denen die Zeitanteile vom Konto passend für Lage und Dauer der jeweiligen Weiterbildungswünsche zusammengestellt werden können. Betriebliche Bildungszeitkonten sind nur dann nötig, wenn eine Ko-Finanzierung der selbst gewählten Weiterbildung durch den Betrieb erfolgt oder wenn die Beschäftigten sich mit eigener Zeit an der Finanzierung von Weiterbildung beteiligen. Lernzeitkonten gibt es schätzungsweise in 2,5 Prozent der Betriebe mit knapp 5 Prozent der Beschäftigten. In Betrie-ben mit Betriebsrat dürften es mehr sein. (HBS)

zeit – betriebspolitischWer verhindert mehr zeit Für bildung?

Die Bildungsdiskussionen und die Bildungspolitik der vergangenen 10 Jahre ist maßgeblich von einer Diskussion um die „Effizienz“ des Bildungssystems geprägt. Die maßgeblich von wirt- schaftsliberaler Seite dominierte Diskussion forderte nach mehr „Effizienz der Nutzung von Lebenszeit im Bildungssystem“ (INSM Bildungsmonitor). Unter dem Schlagwort „Zeiteffizi-enz“ wird untersucht, „in welchem Umfang Zeit als wichtige Ressource durch ineffiziente und ineffektive Prozesse im Bildungssystem verloren geht“ (ebenda).

die vier dimensionen der kampagne

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Entsprechend verfolgten die Bildungsreformen der letzten Dekade (Bologna, G8) das Ziel, die für Bildung aufgewendete Zeit zu reduzieren. Diese Entwicklung macht vor der betrieblichen Bildung kaum Halt: So beschreibt der Sozialwissenschaftler Thorsten Bergt etwa die „betrieb- liche Bildung unter Beschleunigungszwang“ vor dem Hintergrund der anhaltenden Beschleu-nigung der gesamten Gesellschaft.

zeit – organisationspolitischWann brauchen Wir politische bildung?

Die Forderung nach ausreichend Zeit für Bildung, die nicht nur einem kurzfristigen Verwer-tungsinteresse folgt, erscheint in der gegenwärtigen Situation, in der, wie im vorigen Absatz beschrieben, Zeit vorwiegend als ökonomische Ressource begriffen wird, geradezu revolu- tionär. Vor diesem Hintergrund wird jedoch die Relevanz politischer Bildung auf allen Ebenen kollektiver Handlungsmacht evident, werden doch erst damit die Voraussetzungen geschaffen, um gewerkschaftlichen Forderungen zur Durchsetzung zu verhelfen.

zeit

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HerausgeberIG Metall VorstandRessort Junge IG MetallWilhelm-Leuschner-Straße 7960329 Frankfurt am Main

Konzept, Redaktion und gestaltung

Kornberger und Partner Kommunikationsberatung, Berlinwww.kornbergerpartner.com

Druckapm AG, Darmstadt August 2013

Gefördert aus Mitteln des Kinder- und Jugendplans des Bundes 2013

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