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Intern. 7~. f. Gc,~h. u. Ethik der Naturwiss., Techn. u. Med., 3 ( I tY')5): 276-279 0036-6978/95/041Y276.4}4 $ 1.50 + 0.20 9 1995 Birkhiiuser Verlag. Basel Rezensionen / Reviews Meine|, Christoph; Voswinckel, Peter (Hrsg.): Medizin, Naturwissenschaften, Technik und Nationalsozialismus, Kontinuit~ten und Diskontinuitfiten. Stuttgart: GNT-Verlag 1994. 332 S. ISBN 3-928186-24-8. Der Band faBt Vortrtige zusammen, die im September 1992 in Jena auf der 75. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft ffir Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik gehalten wurden. H. Mehrtens, der zusammen mit S. Richter bereits Vortr~igeeiner 14 Jahre zurfickliegenden Tagung derselben Gesellschaft in Coburg zu einem ,,Klassiker des Forschungsgebietes" (so die Herausgeber) zusammengefal3t hatte, hielt das einleitende Referat fiber ,,Kollaborationsverh/ilmisse: Natur- und Technikwissenschaften im NS-Staat und ihre Historie"(13-32). Er plfidiert darin f'fir eine ,,Wi~enschaftsgeschichte als politische Geschichte des Wissenschaftssystems" (21), watnt vor historiographischen Mythen wie dem yon der Einheit guter Wissenschaft und moralischen Handelns. lm Sinne der auch yon den Herausgebern betonten Kontinuitiit und Diskontinuit~t der Wissenschaft- sentwicklung gibt Mehrtens zu Bedenken, dab die Wissenschaftspolitik im NS-Staat partiell eine ,,zivilgesellschaftliche Struktur" (22) hatte und die Wissenschaftsgeschichte Hitlerdeutschlands nicht einseitig aus der Perspektive der Dominanz des diktatorischen Staates geschrieben werden kann. 17 der insgesamt 30 durchweg kfirzeren Beitrtlge sind medizinhistorisch, unter Einschlul3 von Grundlagen- und Randgebieten wie Pharmakologie (I. K~smer), Pharmazie (E Leimkugel) und Krankenhauswesen (E. Berger, A. Labisch). Die Dominanz der Medizingeschichte entspricht den Traditionen der veranstaltenden Gesellschaft sowie der starken Institutionalisierung dieses Faches im deutschen Hochschulsystem. Zugleich istjene Dominanz Ausdruck der in der Medizin besonders unmittelbar gesellschaftswirksam werdenden Widerspriiche zwischen Progressivit/it und Destruk- tivit/.it modemer Wissenschaften, die unter den historiscben Extrembedingungen des NS-Staates die handelnden lndividuen in vielf:'iltige und schwierige moralische Entscheidungssituationen stellten. Auf der disziplin~en Ebene kamen diese Widersprfiche z.B. in der Ambivalenz zwischen Gebur- tenf6rderung und negativer Eugenik in der Frauenheilkunde (P. Schneck), der Trennung zwischen ,,wertvollen" und ,,minderwertigen" Behinderten in der Orthop/idie (K.-D. Thomann) und dem Zusammengehen von Pflege und ,,Euthanasierung" von Alten (S. Hahn) zum Ausdruck. Auf der ideologiebildenden Ebene entsprach eine nationalsozialistische Rezeption des Ener~meerhaltungs- satzes von Robert Mayer der Dichotomie yon Fortschrittsorientiertheit und Rfickw~tsgewandtheit des NS-Regimes, wie M. Osietzkis Beitrag belegt. Das Legitimationsbediirfnis wissenschaftlicher Disziplinen und ihrer Vertreter in Hitlerdeutschland wird besonders eindrucksvoil in den Artikeln von W.E Ktimmel tiber die Medizingeschichtsschreibung und von K. Hentschel/M. Renneberg fiber die Anpassungsleistungen des Astronomen O. Heckmann dargestellt. Die Einbindung tier Wissens- chaften und ihrer Vertreter in den Unterdriickungsapparat des Regimes nach innen und aul3en demonstrieren die Beitrfige von S. Zimmermann (KZ Buchenwald und Jenaer Universit~it), A. Thom (,,Aufbauarbeit im Osten"), P. Weindling (Fleckfieberbek~impfung im Zweiten Weltkrieg) und G. Lilienthal (Eindeutschung ,,fremdv61kischer" Kinder). Neben Wissenschaftlern, die zu Verbrechern wurden, wie J. Mrugowski und E Mennecke (Beitrag von H.-H. Otto und M. Laier mit einer etwas zu knapp scheinenden psychoanalytischen Deutung) finden auch solche Erwfihnung, die wie W. Hagen (bei Thom) und W. Leibbrand (bei Kfimmel) die M6glichkeit von Widerstand bzw. passiver Resistenz unter den damaligen Herrschaftsbedingungen bezeugen. Die yon der NS-Ideologie unmittelbar beeinfluBten oder hofierten, von den Wissenschaftlern selbst weitgehend marginalisier- ten ,,Pseudowissenschaften" werden an den Beispielen der ,,Welteislehre" (B. Nagel) und der ,,Deutschen Chemie" (H. Remane) erSrtert. Den Einflul3 ideologischer und wirtschaftlicher Herr- schafisbedingungen auf Teilgebiete neuer und etablierter Natur- und Technikwissenschaften belegen 276

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Intern. 7~. f. Gc,~h. u. Ethik der Naturwiss., Techn. u. Med., 3 ( I tY')5): 276-279 0036-6978/95/041Y276.4}4 $ 1.50 + 0.20 �9 1995 Birkhiiuser Verlag. Basel

Rezensionen / Reviews

Meine|, Christoph; Voswinckel, Peter (Hrsg.): Medizin, Naturwissenschaften, Technik und Nationalsozialismus, Kontinuit~ten und Diskontinuitfiten. Stuttgart: GNT-Verlag 1994. 332 S. ISBN 3-928186-24-8.

Der Band faBt Vortrtige zusammen, die im September 1992 in Jena auf der 75. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft ffir Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik gehalten wurden. H. Mehrtens, der zusammen mit S. Richter bereits Vortr~ige einer 14 Jahre zurfickliegenden Tagung derselben Gesellschaft in Coburg zu einem ,,Klassiker des Forschungsgebietes" (so die Herausgeber) zusammengefal3t hatte, hielt das einleitende Referat fiber ,,Kollaborationsverh/ilmisse: Natur- und Technikwissenschaften im NS-Staat und ihre Historie"(13-32). Er plfidiert darin f'fir eine ,,Wi~enschaftsgeschichte als politische Geschichte des Wissenschaftssystems" (21), watnt vor historiographischen Mythen wie dem yon der Einheit guter Wissenschaft und moralischen Handelns. lm Sinne der auch yon den Herausgebern betonten Kontinuitiit und Diskontinuit~t der Wissenschaft- sentwicklung gibt Mehrtens zu Bedenken, dab die Wissenschaftspolitik im NS-Staat partiell eine ,,zivilgesellschaftliche Struktur" (22) hatte und die Wissenschaftsgeschichte Hitlerdeutschlands nicht einseitig aus der Perspektive der Dominanz des diktatorischen Staates geschrieben werden kann.

17 der insgesamt 30 durchweg kfirzeren Beitrtlge sind medizinhistorisch, unter Einschlul3 von Grundlagen- und Randgebieten wie Pharmakologie (I. K~smer), Pharmazie (E Leimkugel) und Krankenhauswesen (E. Berger, A. Labisch). Die Dominanz der Medizingeschichte entspricht den Traditionen der veranstaltenden Gesellschaft sowie der starken Institutionalisierung dieses Faches im deutschen Hochschulsystem. Zugleich istjene Dominanz Ausdruck der in der Medizin besonders unmittelbar gesellschaftswirksam werdenden Widerspriiche zwischen Progressivit/it und Destruk- tivit/.it modemer Wissenschaften, die unter den historiscben Extrembedingungen des NS-Staates die handelnden lndividuen in vielf:'iltige und schwierige moralische Entscheidungssituationen stellten. Auf der disziplin~en Ebene kamen diese Widersprfiche z.B. in der Ambivalenz zwischen Gebur- tenf6rderung und negativer Eugenik in der Frauenheilkunde (P. Schneck), der Trennung zwischen ,,wertvollen" und ,,minderwertigen" Behinderten in der Orthop/idie (K.-D. Thomann) und dem Zusammengehen von Pflege und ,,Euthanasierung" von Alten (S. Hahn) zum Ausdruck. Auf der ideologiebildenden Ebene entsprach eine nationalsozialistische Rezeption des Ener~meerhaltungs- satzes von Robert Mayer der Dichotomie yon Fortschrittsorientiertheit und Rfickw~tsgewandtheit des NS-Regimes, wie M. Osietzkis Beitrag belegt. Das Legitimationsbediirfnis wissenschaftlicher Disziplinen und ihrer Vertreter in Hitlerdeutschland wird besonders eindrucksvoil in den Artikeln von W.E Ktimmel tiber die Medizingeschichtsschreibung und von K. Hentschel/M. Renneberg fiber die Anpassungsleistungen des Astronomen O. Heckmann dargestellt. Die Einbindung tier Wissens- chaften und ihrer Vertreter in den Unterdriickungsapparat des Regimes nach innen und aul3en demonstrieren die Beitrfige von S. Zimmermann (KZ Buchenwald und Jenaer Universit~it), A. Thom (,,Aufbauarbeit im Osten"), P. Weindling (Fleckfieberbek~impfung im Zweiten Weltkrieg) und G. Lilienthal (Eindeutschung ,,fremdv61kischer" Kinder). Neben Wissenschaftlern, die zu Verbrechern wurden, wie J. Mrugowski und E Mennecke (Beitrag von H.-H. Otto und M. Laier mit einer etwas zu knapp scheinenden psychoanalytischen Deutung) finden auch solche Erwfihnung, die wie W. Hagen (bei Thom) und W. Leibbrand (bei Kfimmel) die M6glichkeit von Widerstand bzw. passiver Resistenz unter den damaligen Herrschaftsbedingungen bezeugen. Die yon der NS-Ideologie unmittelbar beeinfluBten oder hofierten, von den Wissenschaftlern selbst weitgehend marginalisier- ten ,,Pseudowissenschaften" werden an den Beispielen der ,,Welteislehre" (B. Nagel) und der ,,Deutschen Chemie" (H. Remane) erSrtert. Den Einflul3 ideologischer und wirtschaftlicher Herr- schafisbedingungen auf Teilgebiete neuer und etablierter Natur- und Technikwissenschaften belegen

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NEUE BOCHER - NEW BOA)KS

die Artikel yon G. Trommer (NS-Lebenskunde und Okologie), G. Woll:schmidt (Sonnenphysik) und H. Maier (Gleichstromtibertragung). Die ,normale Wissenschaft" im NS-Staat spiegeln Beitr~ige von U. Deichmann (Biologische Forschung) und B. Weiss (Beschleunigerlaboratorium am KWI/MPI fur Chemie) wider. Fragen der Folgen der NS-Herrschaft und der Emigration ftir die Nachkriegszeit werden u.a. von M. Hubenstorf in seinem akribischen Beitrag fiber die Medizinischen Fakult~iten von Berlin und Wien, in M. Walkers ,,Vergangenheitsbew':iltigung im Licht der ,Farm HalI-Aufnahmen'" und in J. Peters ,,Die Berichterstattung der Deutschen A, rztekommission zum Ntirnberger A.rzteprozeB" er6rtert. Neben den erw~hnten Artikeln von Kiimmel und Osietzki sind zwei weitere yon U. Benzenh6fer (,,Zum Paracelsusbild im Nationalsozialismus") und 2i. Btiumer- Schleinkofer (Physik- und Chemiegesehichte im NS) der Wissenschaflsgeschichtsschreibung im Nationalsozialismus gewidmet. Durch eine kritische Reflexion des Wirkens yon Vorfahren der eigenen Disziplin, wie des Medizinhistorikers P. Diepgen, wird die AktualitSt des Themas ftir die heutige Forschung emeut unterstrichen. Auf Probleme der gegensiitzlichen, oft gleichermat3en unzutreffenden Darstellung der NS-Geschichte in der BRD und der DDR weisen die Artikel von M.E Brumme (Tier~'zte im NS) und A. Hermann (,.Das Zeiss-Werk im Dritten Reich") hin.

Der Band ist fibersichtlich gestaltet und mit einigen Graphiken ausgestattet. Fast durchweg die Artikel beschlieBende Zusammenfassungen und die im allgemeinen reichhaltigen Quellenverweise lassen das Fehlen eines Sachregisters und eines Literaturverzeichnisses am Ende des Buches verschmerzen. Obwohl Untersuchungen zu Mathematik, Geowissenschaften, Psychologie und Landwirtschaftswissenschaften im NS in diesem Band fehlen, ist die Publikation nicht zuletzt wegen ihrer aus der Kiirze der Beitr~ge resultierenden Vielfalt als erste Orientierungshilfe fiber den gegenw~irtigen Forschungsstand sehr zu empfehlen.

Reinhard Siegmund-Schultze (Berlin)

Kay, Lily: The Molecular Vision of Life. Caltech, the Rockefeller Foundation, and the Rise of the New Biology. Oxford: Oxford University Press 1993. 304 Seiten, 49.95 $, Hard Cover.

Mit diesem Buch hat Lily Kay, Wissenschaftshistorikerin am Massachusetts Institute of Technology, eine exemplarisch durchgeftihrte und zugleich umfassend angelegte Geschichte der ersten Dezen- nien der Molekularbiologie vorgelegt, wie sie bisher noch nicht geschrieben wurde. Das Buch tiffnet, nach Robert Olbys Path to the Double Helix (1974) und Horace Judsons Eighth Day of Creation (1979) sowohl neue historiographische Perspektiven als auch neue Quellen. lm Zentrum der Arbeit steht der Aufbau der biowissenschaftlichen Forschung am Calilbrnia Institute of Technology in Pasadena und die Rolle, welche die Rockefeller Foundation mit ihrem Projektmanager Warren Weaver in diesem Prozeg spielte. Dennoch ist dieses Buch keineswegs eine Institutionengeschichte oder eine wissenschafspolitisch-wissenschaftssoziologische Studie im herk6mmlichen Sinn. Noch weniger stellt es eine immanente Rekonstruktion der Genesis einer neuen Disziplin dar. Die tibliche Unterscheidung zwischen internen und externen Faktoren der Wissenschaftsentwicklung, zwischen ,,content" und ,,context", scheint in dieser Arbeit auger Kraft gesetzt. Kay orientiert sich an der Produktion und Dissemination ,situierten Wissens" als historischem Organisationsprinzip: Sie versucht, die gro6politische Forschungslage und die technologischen DurchbriJche, zwischen denen sich die neue Biologie ansiedelte, in ihrer Iokalen Kristallisation, politischen Vernetzung und intellektuellen Vertistelung lebendig werden zu lassen.

Das Buch ist in acht regul~ire Kapitel, zwei ,,Zwischenspiele" und einen Epilog gegliedert. In der Einleitung fagt Kay die Charakteristika zusammen, die aus ihrer Sicht fiJr die friihe Phase der Entwicklung der Molekularbiologie an lnstitutionen wie dem Caltech in Pasadena wegleitend waren: Fokussierung auf die Einheit der Lebenserscheinungen und auf allgemeine physikalisch-chemische Gesetze; der Ubergang zu einfachen biologischen Modellsystemen. zum submikroskopischen Bereich und zu Makromolekfilen; schlieglich die Gestaltung einer neuen technologischen Land- schaft, in der disziplin~e Grenzen ihre Bedeutung vertoren und interdisziptintire Zusammenarbeit zur Voraussetzung wurde, um die Ressoureen der neuen Technologien - R6ntgenstrukturanalyse, Ultrazentrifugation, Elektrophorese - auszusch6pfen.

Die einzelnen Kapitel befassen sich mit dem auf biologisch fundierte soziale Kontrolle ausger- ichteten humanwissensehaftlichen Programm der Rockefeller Foundation zwischen 1913 und 1933

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NEUE I lOCHER - NEW B O O K S

(I), dem Zusammenhang zwischen dem Technologie-Programm Siidkaliforniens und der Eta- biierung der Biowissenschaften am Caltech (2), der Entwicklung der Abteilung fGr Biologie in der .Ara Thomas Hunt Morgans (3), dem Obergang ,,vonder Fliege zum Molek~l", d.h. den Anftingen einer physiologischen Genetik am Caltech (4), der zunehmenden Verzahnung yon physikalischer Chemie und bioorganischer Chemie zwischen 1930 und 1940 unter dem Einflul3 Linus Paulings (5), der Reorientierung in Richtung auf Immunochemie und serologische Genetik als Konsequenz der Mobilmachung in den Kriegsjabren zwischen 1940 und 1945 (6), der Rtickkehr George Beadles aus Stanford und den Anfdngen eines ,,Makromanagement mit Mikroorganismen" (7), und schlieBlich dem Aufbau des Paulingschen, wie Kay es nennt, ,,molekularen Imperiums" in Pasadena zwischen 1946 und 1953, in dem die Phagenarbeit Delbriicks eine zentrale Rolle spielte (8). Die Zwischen- spiele und der Epilog thematisieren zum einen die Reorientierung der amerikanischen Forschung- spolitik als Konsequenz des Zweiten Weltkriegs. Zum anderen weiten sie die Perspektive in die Richtung des Paradigmenwechsels in der Genetik der vierziger Jahre von den Proteinen zu den Nukleins~iuren, bei dem Caltech-Wissenschaftler nur eine marginale Rolle spielten. Dieser Punkt ist interessant, verweist er doch darauf, dab die Massivit~it eines Forschungsprogramms allein keine Garantie dafGr ist, da6 es die Weichenstellungen der Zukunft vorwegnimmt.

Mit historischer Kompetenz, Geschick und bemerkenswerter t3konomie in der Aufbereitung archivalischen Quellenmaterials rekonstruiert Kay den Aufstieg der Molekularbiologie ats ein hegemoniales Programm, das in den Chetbtagen der Rockefeller Foundation im Kontakt mit den fiihrenden Biowissen~haftlem der Zeit Gestalt annahm und mit seinem Evangelium den Kontinent zu Uberziehen begann. Eine ihrer zentralen SchluBfolgerungen lautet: ,,Die [Entstehung der] Moleku- larbiologie [verdankt sich] missions-orientierter Grundlagenforschung'" (S. 280). Es e~taunt daher, wenn Kay im gleichen Atemzug ihre ,,histodschen Lektionen'" so verstanden wissen will, dab sie ,,nicht auf Kausalit~its- und schon gal" nicht auf Direktionalittits-Argumenten beruhen" (S. 282). Man fragt sich nach dem Sinn dieser Captatio am Ende eines Textes, der sich aus dem gleichen Gu8 und im gleichen Duktus pr~,isentiert wie das hegemoniale Unternehmen, das er rekonstruiert. Wenn Lily Kay damit andeuten will, dab der historische Proze6, den sie darstellt, anderen Gesetzen folgt als diejenigen, die den Formen historischer Narration zugrunde liegen, diirfen wir jedenfalls gespannt sein auf ihr n~ichstes Buch, das sich mit dem Verh~iltnis der Entwicklung von Technologien der Kommunikation und Information und der Molekularbiologie im Zeitalter des genetischen Codes befassen wird,

H.-J. Rheinberger (Salzburg)

Kielmeyer, Carl Friedrieh: Uber die Verh~iltnisse der organischen Kr~te untereinander in der Reihe der verschiedenen Organisationen, die Gesetze und Folgen dieser Verh~iltnisse. Faks. der Ausg. Stuttgart 1793, mit einer Einf. yon Kai Torsten Kanz. Marburg an der Lahn: Basilisken-Presse 1993 (Basilisken-Druck; 8). 71 + 46 S. ISBN: 3-925347-25-9.

Zum 200sten Jahrestag dieser berGhmten Rede zum 65. Geburtstag des Her-zogs von WGrttemberg, die ein fGr seine Zeit bemerkenswertes und noch immer beachtetes Organismuskonzept vorstellte, erschien diese Faksimile-Ausgabe. Damit wird erstmalig der Originaldruck wieder allgemein zug~inglich, wenn es auch schon einige Nachdrucke (zuletzt 1938) gab. In dieser Marburger Edition muB besonders die 70 Seiten umfassende ,,Einfiihrung" durch den Leiter des Stuttgarter Kielmeyer- Forschungsprojektes, Kai Torsten Kanz, hervorgehoben werden, der bereits zwei Jahre zuvor eine umfassende Kielmeyer-Bibliographie ver6ffentlichte. Mit seiner Einftihrung bietet er - neben einer kurzen Biographie - vor allem eine ,,Rezeptionsgesehichte", die die Vorgeschichte der Rede, ihre Quellen und die Aufnahme von Kielmeyers Gedankengfingen bei Zeitgenossen beleuchtet. Ausfiihr- lich werden auch die naturgeschichtlichen Vorlesungen in die Betrachtung einbezogen, deren Mitschriften als Manuskripte yon Schiilem in der Stuttgarter Landesbibliothek aufbewahrt werden. Auch die ,,Lebenserinnerungen" des Mediziners Chr. H. Pfaffwerden zur Erlfiuterung herangezogen. Die Grundgedanken der ,,Rede", insbesondere die Konzeption der ,,organischen Kr~fte" und die ,,Entwicklungsvorstellungen" werden vor dem biologiegeschichtlichen Hintergrund des ausgehen- den 18. Jahrhunderts zutreffend erklfirt, wobei auch die Antizipation der Rekapitulationsidee analysiert wird. Besondere Aufmerksamkeit wird auf den EinfluB Herders gelenkt, dessen

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N E U E B O C H E R - N E W B ( X ) K S

Geschichtsphilosophie schon ab 1784 nachweislich in Stuttgart bekannt war. Schliel~lich wird die nachhaltige Wirkung von Kielmeyers ldeen auf zeitgen6ssische ,~rzte, Naturforscher. Philosophen und Schriftsteller durch Wiedergabe von Rezensionen, Brief- und Literaturzitaten belegt, der Einflul?, auf Schelling, Fries, A. Schopenhauer, auf Meckel. Soemmering oder Cuvier dargestellt, auch die Vorl~iuferproblematik (,,Biogenetisches Grundgesetz") historisch sinnvoll diskutiert. Die sachkun- dige Einfiihrung von Kanz unterstiitzt wirksam die Lektiire des Kielmeyerschen Originaltextes. Auch durch die leserfreundliche Textgestaltung des Verlegers der Basilisken-Drucke ist das Biichlein eine wertvolle Jubil~iumsgabe.

llse Jahn (Berlin)

Benzenhiifer, Udo: Psychiatrie und Anthropoiogie in der ersten H~ilfte des 19. Jahrhunderts. Htirtgenwald: G. Pressler-Verlag, 1993, 215 S., Leinen DM 140,-; ISBN 3-87646-075-1 (Schriften zur Wissenschafisgeschichte, Bd. I I )

Wissenschaftshistorische Untersuchungen zur Psychiatriegeschichte im 19. Jahrhundert waren iri den beiden letzten Jahr'zehnten vornehmlich sozialhistorisch ausgerichtet; die mit diesem Buch erneut erfolgte Zuwendung zur damaligen Konzeptbildung tiber ~ychische Erkrankungen ist anerkennenswert und wichtig. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen dabei die im Zeitraum zwischen 1820 und 1845 im deutschsprachigen Raum in gro6er Zahl erschienenen anthropolo- gischen Schriften yon Autoren, die sich auch zu psychiatrischen Themen ausftihrlich gefiuL~rt haben oder als ,,Irren~irzte" t~itig waren. Den inneren Zusammenhangen zwischen deren anthropologischen Positionen - die Natur des Menschen, die Leib-Seele-Wechselwirkungen u. a. betreffend - und deren Auffassungen zu psychiatrischen Themen - die Ursachen, Formen und Behandlungsm6glichkeiten des ,,lrreseyns" betreffend - wird dabei besonders intensiv nachgegangen. Eine vorab gegebene l]bersicht zur medizinbezogenen anthropologischen Literatur vom 16. bis zum 18. Jahrhundert bietet nur knappe Informationen zu wichtigen Autoren und Werken und steht nur in Iockerem Bezug zum eigentlichen Thema des Buches. Den Hauptteil der Arbeit bilden referierende Darstellungen der anthropologischen und psychiatrischen Auffassungen von Johann Christian August Heinroth ( 1773- 1843), Friedrich Nasse ( 1778-1851 ), Johann Michael Leupolt (1794-1874), Karl Wilhelm Ideler (1795-1860), Friedrich Groos (1768-1852) sowie Gustav Blumr6der (1802-1853). Als leitenden Gesichtspunkt fiir diese Auswahl nennt der Verfasser die vonder Psychiatriegeschichtsschreibung bereits vorgenommene Bedeutsamkeitsbewertung, die allerdings nicht einhellig ist und relativ bleibt. Autoren wie Autenrith, Hoffbauer, Friedreich oder Ruland sollte mit ~ihnlichen Fragestellungen ebenfalls Aufmerksamkeit gewidmet werden, auch wenn deren Vorstellungen vom Menschen nicht unbedingt in eigenen anthropologischen Werken zur Darstellung gelangten.

lm Ergebnis der Untersuchung stellt der Autor test. daft es eine einheitliche ,,anthropologische Psyehiatrie" in dem bearbeiteten Zeitraum nicht gab, wohl aber ,,anthropolgisch" a~umentierende Psychiater, die einen bedeutenden Einflufi auf die damals verbreiteten Deutungsmuster psychischen Krankseins hatten. Erkl~irungsversuche fiir die starke AusprLigung eines philosophisch-anthropolo- gischen Zugangs zu psychiatrischen Themen gerade in Deutschland, tiir die dabei vertretenen Positionen und Wertma6st~ibe sowie fiir die deutliche Divergenz zwischen den grol?,en theoretischen Entwtirfen einerseits, den bescheidenen und weitgehend gleichartigen Vorschl~igen zur Behandlung psychischer Erkrankungen andrerseits fehlen leider weitgehend, ebenso die Diskussion zu bereits vorliegenden Erkl~irungsansatzen, etwa zu den yon Ulrich Trenckmann erst 1988 vorgestellten r in dessen Monographie Mit Leib und See&. Ehz Wegweiser ~hlrch die Konzepte der Psyc'hiatrie.

Der eigentliche Wert des bier besprochenen Buches besteht in der sorgsamen und prtizisen Beschreibung der Auffassungen der fiir die Psychiatrieentwicklung wichtigen genannten Autoren und in den beigegebenen ausfiihrlichen Bibliographien (Bibliographia anthropologica I: 16.-18. Jahrhundert und II: Erste H~.lfte des 19. Jahrhunderts).

Achim Thorn (Leipzig)

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