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Richard Hooker zur Frage nach der normativen Signifikanz des modernen Gewissens

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Page 1: Richard Hooker zur Frage nach der normativen Signifikanz des modernen Gewissens

This article was downloaded by: [Akdeniz Universitesi]On: 20 December 2014, At: 16:23Publisher: RoutledgeInforma Ltd Registered in England and Wales Registered Number: 1072954Registered office: Mortimer House, 37-41 Mortimer Street, London W1T 3JH,UK

Bijdragen: InternationalJournal for Philosophy andTheologyPublication details, including instructions for authorsand subscription information:http://www.tandfonline.com/loi/rjpt19

RICHARD HOOKER ZUR FRAGENACH DER NORMATIVENSIGNIFIKANZ DES MODERNENGEWISSENSPD Dr. CHRISTOF BREITSAMETER aa Institut für Moraltheologie an der Ruhr-UniversitätBochumPublished online: 25 Apr 2013.

To cite this article: PD Dr. CHRISTOF BREITSAMETER (2007) RICHARD HOOKER ZURFRAGE NACH DER NORMATIVEN SIGNIFIKANZ DES MODERNEN GEWISSENS, Bijdragen:International Journal for Philosophy and Theology, 68:2, 148-161

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Bijdragen,International Journal in Philosophy and Theology 68(2), 148-161. doi: l0.2143/BU.68.2.2021818 © 2007 by Bijdragen, International Journal in Philosophy and Theology. All rights reseiVed.

RICHARD HOOKER ZUR FRAGE NACH DER NORMATIVEN SIGNIFIKANZ DES MODERNEN

GEWISSENS

CHRISTOF BREITSAMETER

Schon in Antike und Mittelalter wurde das menschliche Gewissen als eine sub­jektive sittliche Instanz bezeichnet, die dabei aber immer in einem normativ bedeutungsvollen Konzept der Natur verankert blieb.1 Die neuzeitliche Sub­jektivierung der Naturteleologie hat deshalb Auswirkungen auch auf den Sta­tus des Gewissens. Einer der friihesten Theoretiker dieser Entwicklung diirfte Richard Hooker sein, der am Beispiel der niederHindischen Revolution die Freisetzung des Gewissens von naturalen Pradispositionen systematisch an die Etablierung von Regeln bindet. Der folgende Beitrag geht der Frage nach, wel­che Probleme die Entstehung des modernen Gewissens aufwirft und wie diese Schwierigkeiten durch Hooker aufgelost werden. Seine Konzeption ist in der Debatte urn die Stellung des Gewissens innerhalb einer normativen Theorie der Gesellschaft bis heute bedeutsam geblieben.

I. Das Gewissen am Ubergang zur Moderne

In den klassischen Konzeptionen von Antike und Mittelalter waren der Begriff der Freiheit und die Frage nach der Kontrolle individueller Freiheit an eine naturrechtliche Konzeption gebunden. Da der Begriff der Natur teleologisch, auf Vollendung bin verstanden wurde, war auch der Begriff des Gewissens, vor allem in seiner Ausarbeitung durch die mittelalterliche Theologie, ein Perfekti­onsbegriff. 2 Schon bier rechnete man zwar damit, dass sich Menschen, die von

1 Vgl. hierzu Hans Reiner, Artikel 'Gewissen', in: Joachim Ritter (ed.), Historisches Worterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel 1974, 574-592; Philip Cary, Augustine's Invention of the Inner Self, Oxford 2000, 91 ff.; Eberhard Schockenhoff, Wie gewiss ist das Gewissen? Eine ethische Orientie­rung, Freiburg i. Br. 2003, 99, 102 ff.

2 Vgl. Niklas Luhmann, 'Das Phiinomen des Gewissens und die normative Selbstbestimmung der Personlichkeit', in: Franz B&kle/Ernst-Wolfgang Bockenforde (eds.), Naturrecht in der Kritik, Main 1973, 223-243, v.a. 233.

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Regeln des Zusammenlebens abweichen, auf ihr Gewissen berufen. Aber obwohl damit die Subjektivitat des handelnden Subjekts Gegen-stand der moral­theoretischen Reflexion wurde, gab man die naturale Fundierung des Gewissens nicht auf. So konnte der unbedingte Anspruch des Gewissens selbst noch bei Fehlurteilen aufrechterhalten und die natiirliche Ordnung mit kontingenten Gewissensurteilen, und das heiSt auch mit gewissensbasierten Regelabwei­chungen belastet werden. Abweichungen wurden als Ratsel oder Argernis hin­genommen, sie konnten nicht wirklich erklart werden, so wie auch das Bose als "negatio boni", als Storung ontologischer Perfektion beschrieben wurde. Die Bindung eines von kondensierten oder konsentierten Regeln des Zusam­menlebens faktisch abweichenden Gewissens an eine normativ bedeutungs­volle Konzeption der Natur wurde durch Thomas von Aquin so verarbeitet, dass er, dabei von Bonaventura abweichend, im Gewissen zwei Schichten von­einander unterschied. ( 1) Er sprach einmal von einer Gewissensanlage, die er als "habitus naturalis primorum principiorum operabilium" definierte, als nattirliche sittliche Ausstattung, die es dem Menschen ermogliche, zwischen Gut und Bose zu unterscheiden. (2) Vom Vermogen hob er die konkrete Anwendung des Gewissens ab, die nun nicht als Habitus, sondem als Akt benannt wurde, durch den der Mensch in einem Syllogismus der "ratio prac­tica" konkret bestimmt, was es heiSt, das Gute zu tun und das Bose zu mei­den.3 Das Gewissen wurde mit dieser Staffelung von Prinzip und Anwendung zur letzten subjektiv-sittlichen Instanz menschlichen Handelns. Der Mensch dtirfe deshalb niemals gegen sein Gewissen handeln, selbst wenn er sich damit - objektiv gesehen- im (untiberwindlichen) Irrtum befinden sollte (conscien­tia erronea invincibilis).4 So wurde theoriestrategisch die Moglichkeit des sub­jektiven lrrtums mit der Verbindlichkeit der Wahrheit in Fragen des sittlich Guten durch die terminologische Differenz von "synderesis" und "conscien­tia", von Gewissensanlage und ihrer konkreten Anwendung bzw. moglichen irrtumbelasteten Austibung, in Einklang gebracht.5 Man wusste urn das objektiv

3 Vgl. Thomas von Aquin, De veritate, 16, 1; Summa theologiae I, q. 79, a. 12 und 13. Dazu aus­fiihrlich Eberhard Schockenhoff, Wie gewiss ist das Gewissen?, Freiburg i.Br. 2003, 108 ff. Friih schon Petrus Abaelardus, Nosce te ipsum 13, 54, lat.-engl. (ed. David Edward Luscombe, Peter Abe­lards Ethics, Oxford 1971).

4 Vgl. Ludger Honnefelder, 'Praktische Vemunft und Gewissen', in: Anselm Hertz u.a. (eds.), Handbuch der christlichen Ethik, Bd. III: Wege ethischer Praxis, Freiburg i.Br. 1982, 19-43.

5 Die Unterscheidung entstammt bekanntlich der fehlerhaften Abschrift einer Stelle im Ezechiel­Kornrnentar des Hieronymus. Die fehlerhafte Lesung des Wortes "syneidesis" wurde durch den grie­chischen Terminus "synderesis" oder "synteresis" (conservatio) nahe gelegt. Vgl. hierzu Hans Rei­ner, Artikel 'Gewissen', in: Joachim Ritter (ed.), Historisches Worterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel 1974, Sp. 574-592, bier 580 f.

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sittlich Richtige, auch wenn die Abweichung davon durch das Gewissen gedeckt war. Durch die Einfiihrung der Differenz von "synderesis" und "con­scientia" hielt man daran fest, dass das Gewissen in seiner konkreten Anwen­dung, nicht aber als Vermogen irren kann. Dieser naturteleologische Zusammenhang begann sich nach und nach auf­zulOsen. Grund dafiir waren die konfessionellen Spaltungen sowie die religios motivierten Biirgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts, die das Vertrauen in die Fahigkeit der Religion, die Gesellschaft moralisch zu integrieren, nach­haltig erschiitterten. In einer vollig neuen Dimension stellte sich also die Frage nach der Stellung des Gewissens innerhalb der Gesellschaft mit der Plurali­sierung der Glaubensgemeinschaften im Zeitalter von Reformation und Gegen­reformation. Besonders deutlich wird dies an der politischen Philosophie des Thomas Hobbes, der den traditionellen Gewissensbegriff terminologisch iiber­nimmt, aber inhaltlich grundlegend verandert. Es sei namlich, so schreibt Hob­bes, so weit gekommen, dass die Menschen ihren Meinungen (opinions) den ehrwiirdigen Namen des Gewissens verliehen, ganz so, als ob es unrecht sei, von ihnen abzuweichen. Sie geben vor, die Wahrheit zu besitzen, wo sie doch wissen, dass es sich nur urn ihre Meinung handele. Im 29. Kapitel des Leviat­han finden wird eine Formulierung, die sich erkennbar an Peter Abaelards beriihmten Satz: "Quod peccatum non est nisi contra conscientiam" anlehnt. Hobbes schreibt: "Whatsoever a man does against his Conscience, is Sinne". 6

Allerdings spricht Hobbes hier, und das ist zu beachten, von den Ursachen einer moglichen Schwachung oder ZerstOrung des Staates. Der Begriff des Gewissens wird nicht langer als Perfektionsbegriff verwendet, sondem als Defektionsbegriff einem Generalverdacht unterworfen. Hobbes argumentiert folgendermaBen: Die Menschen berufen sich auf ihr Gewissen und betrachten jede Handlung gegen das Gewissen (contra con­scientiam agere) als Siinde, denn genau so haben sie es von den Theologen gelemt. Wenn die Menschen glauben, nicht gegen ihr Gewissen handeln zu

6 Vgl. hierzu Thomas Hobbes, Leviathan, II, 29: "Another doctrine repugnant to Civil! Society, is, that whatsoever a man does against his Conscience, is Sinne; and it dependeth on the presump­tion of making himself judge of Good and Evill. For a mans Conscience, and his Judgement is the same thing; and as the Judgement, so also the Conscience may be erroneous. Therefore, though he that is subject to no Civill Law, sinneth in all he does against his Conscience, because he has no other rule to follow but his own reason; yet it is not so with him that lives in a Common-wealth; because the Law is the publique Conscience, by which he hath already undertaken to be guided. Otherwise in such diversity, as there is of private Consciences, which are but private opinions, the Commonwealth must needs be distracted, and no man dare to obey the Soveraign Power, farther than it shall seem good in his own eyes." Das Zitat von Abaelard findet sich bei David Edward Luscombe, Peter Abae­lards Ethics, Oxford 1971, 54.

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diirfen, verhalten sie sich so, als ob es eine allgemeingiiltige Wahrheit der "syn­deresis" noch gebe. Im Zeitalter der konfessionellen Biirgerkriege ist diese Auffassung aber hinfallig geworden. Denn bier wurde das konfessionell gebun­dene Gewissen - anstatt ein Instrument des Friedens zu sein - zu einer "causa belli civilis". Deshalb ist fiir Hobbes klar: der praktische Syllogismus der "con­scientia" kann nicht gegen die vereinbarten Regeln der sozialen Ordnung in Anschlag gebracht werden. Das Gewissen stellt nfu:nlich in seinen Augen keine Wahrheit mehr dar, sondem nur noch eine Meinung. Wenn aber Meinungen im Namen des Gewissens mit dem Anspruch der Wahrheit auftreten, wird, wie die Geschichte lehrt, die soziale Ordnung bedroht. Der Angriff von Hobbes gilt also der Wahrheit der "synderesis", woraus dann folgt: die Meinung der "con­scientia" kann die Obertretung einer Regel in keinem Fall legitimieren. Die Menschen einigen sich vertraglich auf Regeln des Zusarnmenlebens, deren Ein­haltung durch eine Zwangsinstanz garantiert werden muss. Denn ohne staatli­che Gesetze gabe es als MaBstab in der Tat nur das Gewissen, und die Befol­gung des Satzes, jede Handlung gegen das Gewissen sei Sunde, fiihrte zu Willkiir und Chaos, nicht aber zu Freiheit und Ordnung. An die Stelle der "syn­deresis" tritt das Gesetz. Im Staat ist das Gesetz das offentliche Gewissen, die friedensstiftende "synderesis". Wenn jeder nur seiner eigenen Meinung folgen wiirde, miisste der Staat unweigerlich in einzelne Teile zerfallen, denn ein jeder wiirde der souveranen Gewalt nur so weit gehorchen, wie er es fiir gut hielte. Fiir Hobbes gilt: "Die Gewissensinstanz blieb der unbewaltigte Rest des Natur­zustandes, der in den formvollendeten Staat hineinragte. "7

II. Richard Hookers Konzeption

Die mit der Neuzeit entstehende Dichotomie zwischen Gewissen und Gesetz innerhalb einer Gesellschaft, die sich nicht mehr in einer allgemein verbindli­chen naturrechtlichen Ordnung verankert weiB, sondem sich als normativ selbst aufgegeben erfahrt, wurde vor Thomas Hobbes schon durch Richard Hooker (1554-1600) in seinem 1592 wenigstens teilweise fertig gestellten und ab 1593 veroffentlichten achtbandigen Werk Of the Laws of Ecclesiastical Polity reflek­tiert und theoretisch bearbeitet. 8

7 Heinz D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt am Main 1995, 237. 8 Das erste Buch diirfte zwischen 1585 und 1587 in erster Fassung fertig gestellt worden sein. Drei

weitere Biicher 1agen im vollstiindigen Text bis 1592 vor. Zu dieser Zeit muss fiir die rest1ichen Biicher ein Entwurf bestanden haben. 1592 schickte Hooker sein Werk, das 1593 erschien, an Whitgift. Hooker hat woh1 bis zu seinem Tod an den Biinden V bis VIII gearbeitet. Ob spater fremde Hiinde daran mitgeschrieben haben, und, wenn ja, in we1chem Umfang, ist strittig.

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1. Die niederliindische Revolution

Hooker beobachtete den Bedeutungsverlust der Religion in ordnungspoliti­schen Fragen an einem Ereignis, das groBe Auswirkungen auf die Entstehung der modernen Demokratie hatte, niimlich am Beispiel der niederHindischen Revolution. Im Folgenden sollen die wichtigsten historischen Stationen nur kurz angedeutet werden. 1549 war Philipp II. von Spanien in Antwerpen ein­gezogen, 1555 trat er in Briissel die Grafenherrschaft tiber die spanischen Nie­derlande an, die nach dem Willen seines Vaters, Karls V., aus vorwiegend finanziellen Grunden bei Spanien bleiben sollten. In Philipps Staatsrat saB Wil­helm von Oranien. Als Philipp 1559 nach Spanien ging, setzte er Wilhelm als spanischen "Statthalter" ein. 1565 ordnete Philipp eine strenge Verfolgung der Ketzer in Spanien und den Niederlanden an; 1567 fuhrte Spanien unter Alba die Inquisition in den Nie­derlanden ein. 1572 gelang es den von Wilhelms Bruder Ludwig organisier­ten Wassergeusen, die seeUindische Stadt Den Briel zu erobern. Binnen weni­ger Wochen fielen fast ganz Seeland und die Provinz Holland-Westfriesland in die Hand der calvinistischen Aufstandischen. Die Massentotungen Albas im Sommer 1572 als Strafe ftir den Aufstand brachten dann die katholischen Bur­ger auf die Seite des Aufstands. Der "Blutzug von 1572" ereignete sich zeit­lich parallel zur Dordrechter SHinde-Versammlung, auf der die Staten von Holland-Westfriesland und Seeland beschlossen, sich von Spanien loszusagen. Dadurch wurde der Weg frei, die Monarchie durch eine sozusagen aristokra­tisch reprasentierte Demokratie zu ersetzen. Wilhelm von Oranien wurde wie­derum als Statthalter eingesetzt, wobei dieser Titel aber nun nicht durch den Fiirsten, sondern durch die Stande legitimiert war. Auf diese Weise kamen ein Gesellschaftsvertrag unter den Standen und ein Herrschaftsvertrag zwischen den SHinden und Wilhelm von Oranien zustande.9

Die aufstandischen Niederlander batten sich dadurch des militarischen Bei­stands Wilhelms von Oranien versichert, und der hatte seine Zusage von einer Verbriefung der Religions-, Gewissens- und Meinungsfreiheit namentlich der Katholiken und Protestanten in den befreiten Gebieten abhangig gemacht. Erst nachdem diese Zusage gegeben war, landete Wilhelm am 21.10.1572 in der westfriesischen Stadt Enkhuizen und trat sein Amt an. Wilhelm hat seine Motive in einer Reihe von Dokumenten dargelegt. In seiner Apologia oder Defensio pro Guilielmo, die als Reaktion auf den 1580 gegen ibn ergangenen

9 Vgl. Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. IV, Tiibin­gen 1977, 537 ff.

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Bannfluch geschrieben wurde und 1581 in Leiden im Druck erschien, berich­tet Wilhelm von einer personlichen Wamung des Konigs von Frank:reich, Hein­richs III.: Die spanische Inquisition werde ein Blutbad unter den ketzerischen Niederlandem anrichten. Die spateren Ereignisse batten dem im Rtickblick Recht gegeben. So stellte die erste in einer verfassungsgebenden Versamm­lung verbriefte Grundrechtsgewiihrung die Zubilligung der Religions-, Gewis­sens und Meinungsfreiheit auf der Dordrechter Standeversammlung von 1572 dar, die am Anfang der Republik der Niederlande stand. 10

Hooker waren diese Vorgange genau bekannt, die Auseinandersetzung mit ihnen wurde zum inneren AnstoB fiir die Entwicklung einer Theorie der moder­nen Gesellschaft, die einen wichtigen Bestandteil seines theologischen Werkes ausmacht. AuBerer Anlass seiner Reflexionen aber war die Rechtfertigung der anglikanischen Kirche. Auf dem 1561 von Catharina von Medici veranlassten Treffen von Poissy war letztmalig versucht worden, die theologischen Streit­fragen der damaligen Zeit zu losen. Erzbischof Jewel hatte dort die anglikani­sche Kirche verteidigt, allerdings ohne groBen Erfolg. Er und sein Nachfolger Whitgift erkannten jedoch die Notwendigkeit, der anglikanischen Kirche eine theologische wie rechtliche Legitimation zu verleihen, womit 1584 oder 1585 Richard Hooker beauftragt wurde. Dabei blieb es aber nicht. Hooker versuchte, auch eine Antwort auf konkrete politische Probleme seiner Zeit und seiner Gesellschaft zu finden. 11 So ist seine Gesellschaftstheorie - was GroBbritan­nien betrifft - auf dem Hintergrund der Auseinandersetzung zwischen der zum Absolutismus tendierenden Krone und einem auf die alten Rechte, also auf Mitbestimmung bestehenden Parlament sowie des Streites zwischen der ang­likanischen Staatskirche mit den Katholiken auf der einen und den Puritanem auf der anderen Seite zu verstehen. Die Bedeutung des Neuansatzes von Hoo­ker besteht in der Frage nach den Funktionen von Recht und Staat, und zwar in dem Sinn, dass es nun moglich wird, nach der Steuerungsfunktion von Wer­ten zu fragen und tiber Normen politisch zu beschlieBen. Normen stehen somit politischer Beschlussfassung zur Disposition. Die Disponibilitat der Rechts­normen wird aber strukturell eingeschriinkt durch die Existenz unaufgebbarer Grundwerte, die imstande sind, positives Recht zu legitimieren.

10 Vgl. Jan Adrianus van Dorsten, The Radical Arts: First Decade of an Elisabethan Renaissance, Oxford 1970, 5 f. und 50 ff. 1573 beugte sich Wilhelm einem Statenbeschluss des Inhalts, dass die calvinistische Kirche in den Niederlanden Vorrang genieBen miisse.

11 Hooker kannte Marsilius von Padua, von dessen Defensor Pacis eine englische Ubersetzung durch Marshall seit 1535 vorlag. Vgl. John Shirley, Richard Hooker and Contemporary Political Ideas, London 1949, 23, 96 f.

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2. Hookers Auseinandersetzung mit der Scholastik und den Puritanern

In dieser Frage erhalt Hookers Auseinandersetzung mit der katholischen Scho­lastik auf der einen und den calvinischen Puritanern auf der anderen Seite groBe Bedeutung. Hooker folgt der Scholastik und wendet sich gegen die Puri­taner, wenn er betont, dass die menschliche Vemunft sich der Offenbarung gegeniiber nicht rein rezeptiv, sondem schopferisch verhalt. Sie ist kein Able­seorgan, sondem - wenigstens im Rahmen geschopflicher Eigenstandigkeit -QueUe handlungsleitender Normen. Dieser Gedanke ist ftir Hooker entschei­dend, wenn es darum geht, den Willen Gottes in den Higlichen Belangen der GeseUschaft umzusetzen; er markiert einen Freiraum situationsspezifischen Handelns, der durch die Vemunft gestaltet werden kann und muss. Die Anleh­nung an Thomas von Aquin kann freilich nicht dariiber hinwegtiiuschen, dass Richard Hooker den Begriff der Natur seiner normativen Signiflkanz beraubt. Die Dinge behalten zwar noch ihre "inclinatio", ihre Hinordnung auf ein natiir­liches Ziel, in dem sie ihre VoUendung finden. 12 Wenn Hooker aber das Gesetz der Vemunft vom Gesetz der Natur abhebt, betont er, dass sich der Mensch kraft seiner Vemunft normativ selbst aufgegeben ist.13 Die Niihe zur schola­stischen Tradition gab Hooker aUerdings die Gelegenheit, sich gegen die puri­tanische Depotenzierung der menschlichen Vemunft in praktischen Fragen zu wenden. Denn eine theokratische Gesellschaftsgestaltung nach calvinisch­puritanischem Muster sah vor, auch die "common affairs", die tiiglichen Dinge also, der Bibel folgend zu regeln. Die Ordnung der GeseUschaft soU aus der Schrift abgeleitet werden. Hooker wendet dagegen ein: Das Gesetz der Offen­barung ist nicht geeignet, geseUschaftliche Fragen zu regeln oder Interak­tionsprobleme zu losen, es kann nicht in Institutionen hinein iibersetzt werden.

12 Vgl. Richard Hooker, Of the Laws of Ecclesiastical Polity, l III 4: "Whereas therefore things natural which are not in the number of voluntary agents, (for of such only we now speak, and of no other,) do so necessarily observe their certain laws, that as long as they keep those forms which give them their being, they cannot possibly be apt or inclinable to do otherwise than they do; seeing the kinds of their operations are both constantly and exactly framed according to the several ends for which they serve, they themselves in the meanwhile, though doing that which is fit, yet knowing neither what they do, nor why: it followeth that all which they do in this sort proceedeth originally from some such agent, as knoweth, appointeth, holdeth up, and even actually frameth the same."

13 Vgl. Richard Hooker, Of the Laws of Ecclesiastical Polity, VIII 9: "Law rational therefore, which men commonly use to call the Law of Nature, meaning thereby the Law which human Nature knoweth itself in reason universally bound unto, which also for that cause may be termed most fitly the Law of Reason; this Law, I say, comprehendeth all those things which men by the light of their natural understanding evidently know, or at leastwise may know, to be beseeming or unbeseeming, virtuous or vicious, good or evil for them to do."

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Die calvinisch-puritanische Sicht verleitet letztlich dazu, das freie Gewissen religiosem Zwang auszusetzen. Aber auch die katholisch-scholastische Position wird kritisiert. Denn sie verleitet in den Augen Hookers dazu, das freie Gewis­sen politischem Zwang auszusetzen. Hooker wendet sich also nicht nur gegen die puritanische Haltung, die Bibel sei fur die Losung gesellschaftlicher Pro­bleme ausreichend, ein Standpunkt, der Menschen dazu verleiten konnte, ande­ren Menschen zu diktieren, wie sie politisch entscheiden sollen, sondem auch gegen die scholastische Ansicht, die Bibel sei in Fragen des Glaubens unzu­reichend, ein Standpunkt, der Menschen dazu verleiten konnte, anderen Men­schen zu diktieren, was sie glauben sollen. Beide Formen stellen fiir ibn eine unzulassige Vermengung von Religion und Politik dar. Wo die calvinistischen Puritaner von der Religion her in Richtung Politik argumentieren, geht der Katholizismus den umgekehrten Weg von der Politik in Richtung Religion. Wer politische Probleme mit den Mitteln der Religion zu losen versucht, ver­sagt ebenso wie derjenige, der religiose Differenzen mit politischen Mitteln zu iiberwinden trachtet. Beide Male werden unauflosbare Oberzeugungskonflikte produziert, ganz eindeutig zum Nachteil fiir das Gemeinwohl und den gesell­schaftlichen Frieden. 14 Gegen beide Positionen vertritt Hooker die Meinung, dass der Mensch in reli­giosen wie in politischen Fragen selbststandig und eigenverantwortlich ent­scheiden kann und dass beide Spharen deshalb klar getrennt werden miissen. Jeder Mensch kann fur sich Gewissensfreiheit in Anspruch nehmen und hat dafur im Gegenzug die abweichenden Oberzeugungen anderer Menschen zu respektieren. Auch in dieser Frage waren die Niederlande vorbildhaft fiir Hoo­ker. Denn Wilhelm von Oranien hatte dort seine ordnungspolitische Vorstel­lung gleichberechtigter Religionsausiibung gegen calvinistische Skepsis durch­setzen konnen, selbst wenn diese Leistung faktisch von Riickschlagen bedroht war. Ging es dabei ja nicht nur darum, den bereits bestehenden Gedanken der Gewissensfreiheit aufzunehmen, sondem ibn als einklagbares Recht zu gestal­ten.15 Hookers politische Theorie ist also zwischen scholastischer Denktradi­tion und puritanischer Glaubensiiberzeugung positioniert. Sein Verdienst bleibt es, konkrete gesellschaftliche Entwicklungen, vor allem die in den Niederlan­den beobachtete Entstehung der modemen Demokratie, einer theoretischen Losung zuzufiihren. Die Frage, die sich fiir ibn aus der Ausein-andersetzung mit der scholastischen wie der puritanischen Position ergibt, lautet: was kann

14 V gl. Richard Hooker, Of the Laws of Ecclesiastical Polity, 2 VIII 6 und 7. 15 Ausfiihrlicher und differenzierter hier Wolfgang Fikentscher, Der Gegensatz von Grundwerten

und "tiiglichen Dingen" bei der Entstehung der modernen Demokratie, Hannover 1978, v.a. 9-14.

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als Recht angesehen werden und woher bezieht dieses Recht seine Verbind­lichkeit? Woriiber kann das Recht beschlieBen und wo liegen die Grenzen rechtmaBiger Beschlussfassung?

3. "Things accessory" und "things necessary"

Hooker bezeichnete als Recht (Law) jede Art von Regel, durch die Handlun­gen eingeschrankt werden. Er bearbeitet die Frage nach der Disposition tiber Normen durch die Unterscheidung von "things accessory" und "things neces­sary".16 Im ersten Bereich, den er auch den Bereich der "daily things" oder "things indifferent" bezeichnete, gilt nur das als Recht, worauf sich die Mehr­heit der Menschen faktisch einigt. Der Disposition tiber die "Higlichen Dinge" stehen die Grundwahrheiten gegentiber, die menschlicher Beschlussfassung entzogen sind. Sie sind nicht majorisierbar. Weder der Konig noch die Kirche noch das Parlament konnen dariiber verftigen. Welche Rechte aber sind sinn­vollerweise unverftigbar? Jene Rechte, die sicherstellen, dass sich auch in majorisierten Fragen Minderheiten zu Wort melden konnen, so dass ktinftig andere Mehrheitsverhliltnisse moglich sind. Die Mehrheitsregel funktioniert nur, wenn ein Minderheitsrecht existiert, das sicherstellt, dass jedermann seine Meinung zu GehOr bringen kann. 17 Richtig sind also jene Normen, auf die die Mehrheit sich einigt. Die mehrheitsfesten Normen aber institutionalisieren gerade die Diskussion dariiber, welche Normen richtig sind. Sie stellen sicher, dass diese Frage immer neu gestellt werden muss und immer neu beantwortet werden kann. Diese Grundwahrheiten entziehen sich der Disposition des kirch­lichen wie des weltlichen Gesetzgebers. Die Unterscheidung zwischen einer Konsensebene, die tiber Normen disponiert, und einer Wertebene, die dem ein­zelnen unaufktindbare Rechte zusichert und nicht Gegenstand von Mehrheits­entscheidungen werden kann, gehort bis heute zum Kern modemen Demokra­tieverstlindnisses. Der universelle Konsens, der Gesetze hervorbringt und sie legitimiert, erlaubt die Unterscheidung einer Ebene, auf der es urn die Etablierung von Regeln und die Reform bestehender Regeln geht, von einer Ebene, auf der die Befolgung gesetzter Regeln zur Diskussion steht. Die Einheit eines Konsen­ses in sozialer wie in zeitlicher Hinsicht ist die stillschweigende Vorausset­zung, die den Regeln des Zusammenlebens zugrunde liegen: "the action of

16 Vgl. Richard Hooker, Of the Laws of Ecclesiastical Polity, 1 X 5; 8 I 2 und III l. 17 Vgl. Richard Hooker, Of the Laws of Ecclesiastical Polity, 1 XVI 5; 7 XI 2 ff.; sowie v.a.

4 XIII 9.

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the present is the action of the past." 18 Erst Irritationen, die auf vorhandene Interaktionsprobleme hinweisen, unterbrechen normative Routinen und geben Anlass dafiir, tiber bestehende Regeln nachzudenken und sie gegebenenfalls zu verbessem. In beiderlei Hinsichten, bei der Etablierung und bei der Reform von Regeln, hat das Gewissen eine spezifische kritische Funktion. Die Befol­gung von Regeln wird deshalb an ihre Etablierung und an ihre Reform ge­bunden.

4. Gesetz und Gewissen

Die methodische Unterscheidung von disponiblen Alltagswerten und indispo­niblen Grundwerten wird durch Hooker auf der Seite der Grundwerte weiter verfeinert durch die Unterscheidung von Intuition und Institution. Hier vollzieht sich ein bedeutsamer und folgenreicher Wandel im Blick auf die Zuordnung von Gesetz und Gewissen. Die Gewissensfreiheit wird nicht mehr primar als anthropologisches, sondem als politisches Problem gesehen. Sie muss institu­tionell garantiert, die richtige Intuition durch die richtige Institution ermog­licht werden. Politische Macht findet ihre Legitimation in der Zustimmung der BUrger; umgekehrt wird die Gewissensfreiheit nun als gegen die Obrigkeit durchsetzbares Recht aufgefasst. Der Herrscher wird bier als Agent verstanden, der BUrger als Prinzipal. Hooker verarbeitet diesen Gedanken der rechtlich garantierten Gewissensfrei­heit in seiner Lehre von der eleutherischen Extraposition. 19 Dabei entwickelt er eine Theorie tiber die Herkunft des Rechts und die Kontrolle staatlicher Macht. Hier billigt der Mensch die Beurteilung seines Handelns primar einer extemen Instanz, nicht dem forum intemum, dem Gewissen, zu. Das sichert seine eigene Freiheit und zugleich die Freiheit der anderen. Anders als noch bei Augustinus oder Thomas von Aquin ist bier nicht nur Selbstbeobachtung, sondem das Beobachten des eigenen Beobachtens, also Selbstbeobachtung zweiter Ordnung, verlangt. Die Fahigkeit der Menschen, Recht zu setzen, wird aus ihrer Gewissenfreiheit entwickelt. Die Gewissensfreiheit aber muss staat­lich garantiert werden konnen. Dazu sind Institutionen notig. Politische Macht findet ihre Legitimation in der Gewissensfreiheit, die nun als gegen die Obrigkeit durchsetzbares Recht aufgefasst wird, dabei aber den Prozessen

18 David Little, Religion, Order, and Law. A Study in Pre-Revolutionary England, New York 1969, 163.

19 Vgl. Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, IV, Tiibingen 1975, 567-593.

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demokratischer Regelsetzung verpflichtet bleibt. Rechtliche Regel und biir­gerliche SouveraniHit werden dadurch eng aneinander gebunden.20

Das Gewissen wird, politisch gestiitzt und umrahmt, individualisiert, unter den gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen aber gerade so in seiner offentli­chen Wirksamkeit gesteigert. Das Gewissen wird als Ressource der Freiheit durch Regeln geschtitzt, es kann aber wiederum in den Regelsetzungsprozess zugunsten einer Reform etablierter Regeln eingreifen. Zwar gehOrt das Gewis­sen dem Bereich der Gnade an, es kann deshalb nicht unmittelbar konstitutiv ftir die soziale Ordnung sein.21 Denn die Ordnung des Zusammenlebens kommt durch vereinbarte Regeln, durch Gesetze, zustande, wie auch Hobbes betont. Das geistliche Leben kann keine soziale Ordnung mehr hervor bringen, wie die Auseinandersetzung mit Puritanem und Katholiken zeigt. Die Regeln des Zusammenlebens ersetzen aber die Ordnung der Gnade nicht, wie Hooker betont. 1m Gegenteil: Es ist sinnvoll, dass die vom Menschen etablierten Regeln des Zusammenlebens das Gewissen als Ressource der Richtigkeit sozialer Nor­men schiitzen. Hooker formuliert das so: Die Erlosung des Menschen lost kein soziales Problem.22 Aber die Extraposition des Gewissens, das zur Quelle von Regeln wird, sichert die Freiheit des Individuums und zugleich die Freiheit des Interaktionspartners. Auf diese Weise kann die Frage, wie angesichts eines frei­gesetzten Gewissens soziale Ordnung moglich sei, beantwortet werden. Nach Richard Hooker kann jeder GHiubige irgendeines Bekenntnisses im Bereich der ,daily things"politisch mit bestimmen. Insofem bleibt hier die sittliche Grundhaltung der Epikie giiltig, nunmehr aufgenommen und weiter­gefiihrt im politisch gefassten Begriff der Gewissensfreiheit, vom Recht selbst wesentlich vorausgesetzt, ja sie wird als Grundrecht der Gewissensfreiheit zu seinem ausdriicklichen Inhalt gemacht, einzig begrenzt durch die sich aus ihr selbst ergebende Forderung nach Gegenseitigkeit: die Unantastbarkeit der Wiirde der menschlichen Person.23 Deshalb ist von entscheidender Bedeutung,

20 Vgl. hierzu Hermann Liibbe, 'Gewissens-Freiheit und Biirgerpflicht. Aktuelle Aspekte der Gewissens-Theorie Hegels', Wege der Forschung, Bd. 37, 194-213; ders., 'Zur Dialektik des Gewis­sens nach Hegel', Hegelstudien Beiheft 1 (1964), 247 ff.

21 Vgl. Richard Hooker, Of the Laws of Ecclesiastical Polity, 3 XI 9 f. 22 V gl. Richard Hooker, Of the Laws of Ecclesiastical Polity, 4 IV 3. 23 Vgl. Ernst-Wolfgang Bockenforde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, Berlin/New York

1970; Gerd Ulrich Freihalter, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, Berlin 1973; Niklas Luh­mann, Grundrecht als Institution. Ein Beitrag zur politischen Soziologie, Berlin 1965; ders., 'Die Gewis­sensfreiheit und das Gewissen', in: Archiv des offentlichen Rechts Bd. 90 (1965), 257-286; ders., 'Die Funktion der Gewissensfreiheit im offentlichen Recht', in: Funktion des Gewissens im Recht (Schriften der evangelischen Akademie in Hessen und Nassau), Heft 86, Frankfurt am Main 1970; Matthias Her­degen, Gewissensfreiheit und Normativitiit des positiven rechts, New York u.a. 1989.

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dass die Fahigkeit der Menschen, an der Rechtsetzung teilzunehmen, aus sei­ner Gewissensfreiheit, also dem Primat der gegenseitigen Achtung, entwickelt wird.24 Denn Hooker war klar, dass eine legitimationslose SouvediniUit keine Losung bedeuten konnte, urn die Religionskriege zu beenden. Durch die klare Unterscheidung von Regelsetzung bzw. Regelreform auf der einen und Regel­befolgung auf der anderen Seite, wird es aber moglich, das Gewissen als QueUe der normativen Richtigkeit von Gesetzen zu betrachten.

III. Schlussfolgerungen

Das Gewissen war in einer langen Tradition als naturale Disposition des Men­schen gedeutet, das heiSt in einen normativen Begriff der Natur eingebettet worden. Man rechnete mit der Moglichkeit des subjektiven Irrtums, ohne das Gewissen deshalb aber auf subjektive Gewissheit reduzieren zu wollen. Mit der Wende zur Neuzeit wird menschliche Freiheit nicht mehr von der Natur abge­leitet, sie setzt sich selbst, sie wird autonom, wie Kant dann formuliert. Menschliche Freiheit erscheint nicht mehr als Derivat einer in sich bedeu­tungsvollen Natur, sie wird in sich selbst begriindet. Zunehmend wird damit die Selbststeuerung des Subjekts anerkannt. Dadurch erhalt das Gewissen, wie Hooker zeigt, eine wert- und regelschOpfende Funktion. (1) Das Gewissen des einzelnen kann dabei ohne die gesellschaftlichen Regeln nicht sein, (2) die Regeln des Zusammenlebens konnen aber umgekehrt nicht ohne das Gewis­sen sein. Diese heiden Problemfelder, die sich aus einer modemen Konzeption des Gewissens ergeben, sollen zuletzt noch angedeutet werden. (1) Das Gewissen ersetzt nicht die Etablierung und Reform sozialer Regeln. Im Gegenteil: Methodisch wird man einen Vorrang der Regel vor dem Gewissen formulieren, das heiSt, Vorstellungen vom "guten Leben" flieSen primar in die Handlungsregeln und erst sekundar in die Handlungen selbst ein. Fiihlte sich ein Mensch seinem Gewissen verpflichtet, ohne dass diese "in foro intemo" beste­hende Verpflichtung auch "in foro extemo" galte, sahe er sich unter Umstan­den vor das Problem gestellt, durch andere lnteraktionspartner systematisch und dauerhaft ausgebeutet zu werden. Deshalb muss das Gewissen des einzelnen durch Regeln geschiitzt werden. Das Gewissen des einzelnen kann, so hat Her­mann Krings formuliert, das Versagen von lnstitutionen nicht kompensieren.25

24 Vgl. Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, IV, Tiibingen 1975, 583.

25 Vgl. Hermann Krings, 'Norm und Praxis. Zum Problem der Vermittlung moralischer Gebote', in: Herder-Korrespondenz 45 (1991), 228-233.230.

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Wo Regeln zur Benachteiligung auch nur eines einzigen Akteurs fiihren, miis­sen neue Regeln geschaffen oder bestehende Regeln reformiert werden. In die­ser Hinsicht legitimiert das Gewissen nicht die Abweichung von Regeln, wie Hobbes befiirchtete, sondem die Etablierung besserer Regeln. Denn wo sich das Gewissen des einzelnen zur Befolgung gesetzter Regeln nicht durchringen kann, kann es fiir ihre Reform stimmen. Solange Regeln aber in Kraft sind, miissen sie auch befolgt werden. Man kann auch sagen: der kontrollierte Regel­bruch, der zur Verbesserung etablierter Regeln fiihrt, wird in der Modeme insti­tutionell ermoglicht. Das Gewissen erhalt damit einen Stellenwert produktiver Differenz: es muss durch Regeln geschiitzt werden und wird so zur QueUe neuer und besserer Regeln. Insofem gilt umgekehrt (2): Die Regeln des Zusammen­lebens konnen das Gewissen des einzelnen nicht ersetzen. Die Konstruktion, dass das Gewissen selbst am Entwurf von Regeln beteiligt ist und diese Regeln gerade deswegen auch befolgt, kann als Zirkel beschrieben werden. Abwei­chungen von Regeln miinden tiber demokratische Regelsetzungsprozesse idea­lerweise in der Reform von Regeln, sie werden erst durch reformierte Regeln legitimiert. Mit Thomas Hobbes konnte man deshalb sagen: Auf der Ebene der Regelbefolgung kann das Gewissen des einzelnen nicht gegen kollektiv verein­barte Gesetze in Anschlag gebracht werden, das fiihrte in der Tat ins Chaos. Auf der Ebene der Regeletablierung und der Regelreform hingegen kann das Gewis­sen zur produktiven Differenz werden, namlich dann, wenn es eine geltende Regel fiir verbesserungswiirdig halt oder fiir die Etablierung einer neuen Regel votiert. Der Staat ist demnach unbedingt zwingende lnstanz beziiglich beste­hender Regeln. Sofem die Etablierung von Regeln aber als potentieller Reform­prozess betrachtet wird, gelten die bestehenden Regeln nicht unbedingt, sondem bedingt: sie sind verbesserbar. Normen werden in der Neuzeit als Artefakte verstanden, als Produkte des menschlichen Geistes. Normen griinden in Mehrheitsentscheidungen. Weil jeder Burger potentieller Kooperationspartner ist, ist seine Meinung zu respek­tieren und zu schiitzen, auch wenn er im politischen Prozess aktuell einer Min­derheit angehort. Die konkrete Regulierung individueller Freiheiten wird tiber Prozesse der Normensetzung gesteuert und im Prinzip der ReziproziUit der Freiheitsrechte begriindet. Etwaige Konflikte sind auf diesem Weg auszutra­gen. Sie werden durch Hooker in der Theorie eines auf der Grundlage des sou­veranen, sich selbst regierenden Volkes errichteten pluralistischen Staates bear­beitet. Da sich die Interessen der Burger wandeln konnen, besteht ein Interesse daran, bestehende Regeln standig auf den Priifstand zu stellen und gegebe­nenfalls zu reformieren. Besonders bemerkenswert an der Konzeption Hoo­kers ist deshalb die methodische Aufspaltung in Werte, tiber die man spricht

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und beschlieBt, wenn man Normen etabliert, und in den Wert, tiber Normen zu sprechen und zu beschlie8en.26 Werte sagen, warum Normen verbindlich sind, warum wir Normen etablieren: Urn Interak:tionsmoglichkeiten zu erweitem und Kooperationschancen zu realisieren. Der Wert aber, tiber Werte zu dispo­nieren, wird - und das macht Hookers Position durchaus revo1utionar - nun als einklagbares Recht verbrieft und auf diese Weise institutionalisiert. Das Mehr­heitsprinzip wird bei ihm reduziert auf einen bestimmten Aufgabenkreis, narn­lich auf die Disposition tiber Dinge des taglichen Lebens. Dartiber hinaus gibt es unantastbare Werte, die mehrheitsfest sind. Anders formuliert: Es gibt erstens den Wert, sich in Alltagsdingen an Normen orientieren zu konnen, und zweitens den Wert in Form des unaufktindbaren Rechts, dass der Interak:ti­onspartner seinerseits seine Position vertritt und bei seiner Meinung bleibt. Die Diskussion tiber Normen, sozusagen der moralische Zweifel an Normen, wurde auf diese Weise institutionalisiert. Dadurch wird der Begriff des Guten nicht der Beliebigkeit preisgegeben. Nicht die Mehrheit entscheidet, was gut ist, das Gute geht dem, was durch Mehr­heitsbeschluss umgesetzt wird, voraus, so dass der moralische Zweifel daran, ob die Mehrheit das Gute in Regeln umsetzt, durch die Gewissensfreiheit insti­tutionalisiert wird. Regeln des Zusammenlebens werden auf diese Weise nor­mativ offen gehalten. Hier kommt dem Gewissen, das sich mit Mehrheitsbe­schltissen prinzipiell nicht zufrieden geben will, ganz zweifellos eine entscheidende Funktion zu. Und hier ist die eleutherische Extraposition des Gewissens, wie sie Hooker konsequent durchftihrte, von groBter Wichtigkeit, sichert sie doch zu, dass das, was moralisch geboten erscheint, nicht mit den fak:tisch bestehenden Machtverhaltnissen koinzidiert, sondem dartiber hinaus­geht. Im durch Regeln institutionalisierten moralischen Zweifeln an Normen besteht dann auch die normative Signifikanz des modemen Gewissens.

PD Dr. Christof Breitsameter, geb. 1967, Promotion 2001, Habilitation 2006, seit 2006 Lehr­auftrag am Institut fiir Moraltheologie an der Ruhr-Universitiit Bochum. Adresse: KaulbachstraBe 29 b, D-80539 Miinchen.

26 Vgl. Wolfgang Fikentscher, 'Zwei Wertebenen, nicht zwei Reiche: Gedanken zu einer christ­lich-siikularen Wertontologie', in: ders. u.a. (eds.), Wertewandel- Rechtswandel. Perspektiven auf die gefiihrdeten Voraussetzungen unserer Demokratie, Miinchen 1997, 121-166, v.a. 141-144.

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