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Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaue Philosophieren über Philosophie ichd Raatzsch (Hg.) Leipzig: Leipziger Univ.-Verlag, 1999 (Leipziger Schriſten Philosophie; 1 0) ISBN 3-933240-41-7 ISSN 0947-2460 ISBN 3-933240-41-7 Titelbild von Fritz Kredel, enommen aus: Gotied August Bürger, Wderbe Reisen zu Wser zu de Insel Verlag, Leipzig MCML © Leipziger Universitätsverlag GmbH, Leipzig 1999 chard Raaꜩsch rsg.) POSOPN ER OSOP LEIIGER UNÄG 1999

Richard Raatzsch (Hrsg.) - philosophie.uni-bremen.de · Richard Raatzsch (Hrsg.) PHILOSOPIDEREN ÜBER PHILOSOPIDE LEIPZIGER UNIVERSITÄTSVERLAG 1999 . ... nem Programm der "Naturalisierung

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Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufuahme

Philosophieren über Philosophie !Richard Raatzsch (Hg.) Leipzig: Leipziger Univ.-Verlag, 1999

(Leipziger Schriften zur Philosophie; 1 0) ISBN 3-933240-41-7

ISSN 0947-2460 ISBN 3-933240-41-7 Titelbild von Fritz Kredel, entnommen aus: Gottfried August Bürger, Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande Insel Verlag, Leipzig MCML

© Leipziger Universitätsverlag GmbH, Leipzig 1999

Richard Raatzsch (Hrsg.)

PHILOSOPIDEREN ÜBER PHILOSOPIDE

LEIPZIGER UNIVERSITÄTSVERLAG 1999

320 Joachim Schulte

Das ist ihm dadurch gelungen, daß er seine Gedanken über den Gebrauch sprachli­cher Ausdrücke auf unerhört raffinierte Weise abgekoppelt hat von weltan­schaulichen Nützlichkeitserwägungen einerseits und Kausalerklärungen nach dem Modell der Naru:wissenschaften andererseits. Der Pragmatist würde freilich sagen, gerade wegen dieser Abkoppelung gehe die Diskussion immer noch weiter und komme nicht zu Ende. Ihm liege eher daran, die Sache durch Nützlichkeitserwä­gungen und Kausalerklärungen zum Abschluß zu bringen und diesen Abschluß viel­leicht durch eine darwinistische success story zu krönen. Aber eben darin, daß der Pragmatist das will, besteht wohl der Unterschied zwischen ihm und Wittgenstein. Und dieser Unterschied makes a dif!erence.

Frank Kannetzky

Methode und Systematik der Philosophie1

Wenn man sich mit Philosophie beschäftigt, stößt man über kurz oder lang auf einige Fragen nach der Natur dieser Disziplin. Diese scheinen, angesichts der Vielfalt mit­einander unvereinbarer Positionen und Argumente, letztlich auf ein Entscheidungs­oder Abgrenzungsproblem hinauszulaufen. Eine (wenn auch nicht systematisch) er­ste Frage wäre, ob die Philosophie nach ihrem Begriff überhaupt eine Disziplin dar­stellt, also ein (akademisch) lehr- und lernbares, von anderen unterscheidbares Ge­biet des Wissens, oder ob es sich um Einsichten handelt, die, recht verstanden, einer solchen Disziplinierung gar nicht fähig sind und deren Zusammenfassung zu einer Disziplin gerade darauf hinweist, daß man bestimmte Einsichten noch nicht gewon­nen hat. Ein Exponent dieser Auffassung ist ganz sicher Wittgenstein, sowohl der des Tractatus wie auch der der Philosophischen Untersuchungen: Philosophie sei keine Lehre, sondern eine Tätigkeit der Klärung von Sätzen. Philosophische Sätze, die vor­geben, etwas mitzuteilen, seien das Resultat "der Verhexung des Verstandes durch die Sprache", sie entstehen "wenn die Sprache feiert'', d.h. wenn wir bestimmte Be­griffe ohne Rückbezug auf deren Zweck in bestimmten Praxen verwenden und deren Bereich so über Gebühr ausdehnen. Deshalb sei die Auffassung, man könne philoso­phische Lehrgebäude nach dem Bilde der Wissenschaften aufstellen, ein, wenn nicht der, grundlegende Irrtum der Philosophen. Das läuft zwar nicht darauf hinaus, die Philosophie abzuschaffen, beschränkt sie aber aufihre negative, kritische Funktion.2

Ein Kontrastprogramm, welches - sozusagen aus .entgegengesetzten Gründen -ebenfalls darauf hinausläuft, der Philosophie den Charakter einer eigenständigen Disziplin streitig zu machen, ist das Projekt der Auflösung der Philosophie in die po­sitiven Wissenschaften. Ein Repräsentant dieser Auffassung ist Quine, etwa mit sei­nem Programm der "Naturalisierung der Erkenntnistheorie". Den traditionell als ge­nuin philosophische Probleme verstandenen Fragen könne heute ein empirischer, wissenschaftlichen Kriterien zugänglicher, Gehalt zugeordnet werden, womit sich Philosophie als selbständige Disziplin auflöse, weil wir nun über Mittel verfUgten,

1 Für anregende Diskussionen zum Thema danke ich C. Henning, R. Raatzsch, P. Stekeler-Weithofer und W. Wolff.

2 Ein weiterer Repräsentant dieser Auffassung ist sicher R. Rorty (Der Spiegel der Natur, Frankfurt!M.: Suhrkamp, 1987), filr den Philosophie in das "Gespräch informierter Dilettanten" mündet und als solches ebenfalls keinen systematischen Anspruch mehr erheben kann und soll. Immerhin kann man Wirtgenstein und Rorty unterstellen, daß sie daran festhalten, daß die Philosophie eine (unersetzliche?) Funktion er­filllt und daß diese Funktion an unsere Lebensformen und Praxen angebunden und in ihnen verankert ist, aber nicht in bloßer Begriffshuberei bestehen kann, die insofern abstrakt ist, als sie sich nicht über die Bedingungen im klaren ist, unter denen ihre Begriffe tatsächlich wichtige Unterscheidungen artikulieren.

322 Frank Kannetzky

ihre Probleme in den Einzelwissenschaften zu formulieren und zu lösen. So wären Fragen sprachlicher Bedeutung von der Linguistik zu beantworten, Fragen der Er­kenntnistheorie von der kognitiven Psychologie und der Evolutionslehre.3 Es ist klar, daß damit die Existenzberechtigung einer autonomen Philosophie überhaupt in Frage gestellt wird: Sie sei antiquiert und hätte uns im Prinzip nichts mehr zu sagen.

I. "Der Gegenstand der Philosophie" - Was ist ein Gegenstand?

Die Behauptung von der Auflösung der Philosophie in die Einzelwissenschaften kann man nur durch Aufweis eines den Einzelwissenschaften (als solchen) nicht zu­gänglichen Gegenstandes oder, wem dies zu sehr nach einer Auffassung der Philoso­phie als Ontologie klingt, Themas der Philosophie entkräften. Wenn dies gelingt, dann fordert die Behauptung, daß Philosophie keine Lehre sei, dazu heraus, aufzu­weisen, inwiefern dieses Thema systematisch in· Angriff genommen werden kann, und zwar ohne ein philosophisches System aufzustellen, welches mit den Einzelwis­senschaften in Konkurrenz zu geraten vermag, weil es positives Wissen über 'die Welt' zu vermitteln sucht. Diese Forderung besteht natürlich nur fiir den, der (wie ich) der :t-4einung ist, daß es durchaus gehaltvolle philosophische Behauptungen gibt, deren Sinn (auch unabhängig von der konkreten Redesituation, in der ein philosophi­sches Problem auftritt) mitteilbar und in gewissem Maße auch kontrollierbar ist. Das heißt, daß diese Behauptungen von anderen bestritten, geteilt oder auf ihre Konse­quenzen hin geprüft werden können und letztlich in einer gemeinsamen Urteilspraxis münden (können) bzw. deren Voraussetzungen erst schaffen oder wenigstens expli­zieren .. Eine gemeinsame Urteilspraxis ist die Bedingung jeden Diskurses. Denn oh­ne eine, wenigstens in Grundzügen, gemeinsame Weitsicht, ohne gemeinsame Ori­entierungen und ohne geteilte, grundsätzliche Urteile wird man sich nicht über Ein­zelheiten streiten können. Das heißt aber nicht, daß sich die begrifflichen Vorausset­zungen einer gemeinsamen Urteilspraxis und deren Formen jedem Diskurs entzie­hen, sondern diese sind Gegenstand der Philosophie.

Gegen die Behauptung von der Auflösung der Philosophie in die Wissenschaften läßt sich nun geltend machen, daß gerade die Verwissenschaftlichung aller Bereiche, u.a. eben auch ehemals im Rahmen der Philosophie diskutierter Fragen, auf solchen gemeinsamen Urteilen beruht. Ich will einige solcher Urteile nennen: So werden Kriterien der Gültigkeit wissenschaftlicher Behauptungen formuliert und anerkannt, z.B. daß uns gemeinschaftlich kontrollierbare Erfahrung zur Prüfung von Hypothe-

3 "Die Erkenntnistheorie oder etwas Ähnliches erhält ihren Platz innerhalb der Psychologie und somit innerhalb der empirischen Wissenschaften." (Quine: Naturalisierte Erkenntnistheorie, in: ders., Ontolo­gische Relativität, Stuttgart: Reclam 1975, S. 115), sie " . . . (verschmilzt) mit der Psychologie und Lingui­stik" (ebd., S. 124).

Methode und Systematik der Philosophie 323

sen dient, und nicht etwa die Wahrnehmungen einzelner Personen oder deren Träu­me. Wir fordern, daß wissenschaftliche Ergebnisse reproduzierbar und überprüfbar sein müssen, weil erst dadurch Intersubjektivität bzw. Objektivität hergestellt werden kann. Wissenschaftliche Aussagen unterliegen dem Widerspruchsverbot und dem Zweiwertigkeitsprinzip, und deshalb ist jeder wissenschaftlichen Aussage genau ein Wahrheitswert zugeordnet. Wir glauben, daß Wissenschaft insgesamt ein effektives Verfahren der Gewinnung von Wissen über beliebige Gegenstände ist, daß diese Art der Erkenntnis fiir uns von Nutzen ist usf.

Erst auf dieser (oder wenigstens einer ähnlichen) Basis geteilter Orientierungen und Urteile können wir uns um wissenschaftliche Aussagen streiten. Wir kämen kei­nen Schritt vorwärts, wenn wir uns jedesmal der Allgemessenheit der Logik ver­gewissem .müßten. (Dies gliche dem Wettlauf von Achilles und der Schildkröte.) Daß wir dies nicht tun, und daß wir solche Fragen in unserem Handeln und unseren Rechtfertigungen als geklärt voraussetzen, heißt aber nicht, daß unsere geteilten Ur­teile deshalb selbstverständlich wären. Sie sind es nicht: Warum sollte mein Traum weniger zuverlässig sein als die methodisch kontrollierte Empirie? Warum sollten wir uns, angesichts der logischen Antinomien, noch auf Logik (und Mathematik) verlassen? Und wenn wir es tun, warum eine zweiwertige und nicht eine siebzehn­wertige Logik? Sagt uns die Häufigkeit der Verwendung bestimmter Schlußschemata etwas über deren Gültigkeit? Warum paßt die Mathematik so erstaunlich gut zu un­serer Welt? Sollten wir versuchen, alle Erkenntnis zu mathematisieren? Ist es z.B. sinnvoll, Präferenzen in den Bereich der reellen Zahlen abzubilden? Taugt die Wahrscheinlichkeitsrechnung zur Prognose menschlichen Handelns? Warum fordern wir im allgemeinen kausale statt teleologischer Erklärungen? Und warum ist es in vielen Fällen trotzdem unsinnig, eine kausale statt einer teleologischen Erklärung zu geben? Fordern wir in den Wissenschaften tatsächlich immer kausale statt teleologi­scher Erklärungen? Oder sitzen wir, wenn wir dies glauben, hier einer Art 'Ideolo­gie' auf? Läßt sich alles erklären? Können wir Mythos und Logos tatsächlich immer klar voneinander unterscheiden?

Viele dieser Fragen artikulieren Probleme der Anwendung unserer Theorien auf

die Phänomene, es sind Fragen der richtigen Fortsetzung und Projektion der Theo­

rien bzw. der in ihnen verwendeten Begriffe und Regeln auf bislang von der Theorie

noch nicht beackerte Felder. Sie sind allein von den Theorien her nicht zu beant­

worten. Es sind keine Fragen, die sich allgemein klären ließen, etwa durch Anwen­dung logischer Kalküle oder anderer Theorien, denn sie betreffen die Allge­

messenheit der Verwendung dieser Mittel. Aber auch die Empirie bietet hier keinen

Anhaltspunkt, denn es geht ja gerade darum, was als zulässiges empirisches Datum gilt, welche Tatsachen wofiir relevant sind, und wo uns eine Projektion nur in die Ir­

re fUhren würde. Daher sind diese und ähnliche Fragen, wenigstens zum Teil, durch

Urteile zu beantworten, die den Status von synthetischen Urteilen a priori haben, also

weder analytisch wahr sind, noch unter Berufung auf die Erfahrung bewertet werden

können. Sie beziehen sich auf das Verhältnis von Theorien bzw. Begriffen, ihren

324 Frank Kannetzky

Anwendungen sowie deren Allgemessenheit an die mit den Theorien verfolgten Zwecke. Die Antworten, die uns befriedigen, bilden dann oft gemeinsame Überzeu­gungen, vor deren Hintergrund allein Bewertungen der W!Urrheit von Aussagen und eine gewisse Sicherheit im (praktischen) Urteilen möglich sind. Auch sinnvolles Handeln, d.h. ein sich seiner Alternativen bewußtes, den Umständen angemessenes und nach gemeinsamen Kriterien beurteilbares Agieren, ist erst vor einem solchen Hintergrund möglich.

Angesichts der Funktion dieser Urteile ist es einleuchtend, daß solche syntheti­schen Urteile a priori in hohem Maße variabel sind. Denn sie hängen in ihrem Inhalt wie auch in ihrem Status sowohl von den Theorien und Praxen ab, deren Präsuppo­sitionen sie darstellen, als auch von den jeweils verfolgten Zwecken. Deshalb wäre es falsch, sich hier einen festen Bestand solcher Urteile vorzustellen, die nur noch abgerufen oder entdeckt werden müßten. Vielmehr sind diese Urteile ständig in Be­wegung, sie verändern sich mit den Zwecken und Zielen unseres Tuns und sind da­mit in hohem Maße abhängig auch von unserer Kultur und dem schon vorhandenen Wissen. (Insofern triffi die Rede von der Historisierung des Apriori.) 'A priori' be­zieht sich auf die Geltung solcher Urteile (im Hinblick auf andere, nämlich empiri- · sehe, aposteriorische Urteile), und darauf, daß wir diese unabhängig von der Erfah­rung einsehen müssen, für die sie konstitutive Voraussetzungen sind. Geltung unab­hängig von der Erfahrung (oder genauer: Empirie, die ja nie theorielos ist) bedeutet nicht absolute, unbedingte Geltung, also Verbindlichkeit der entsprechenden Urteile fiir alle Kontexte und beliebige Zwecke. Vielmehr sind die synthetischen Urteile a priori die Resultate einer Analyse der Präsuppositionen bestimmter Theorien, und Praxisformen, zu denen auch die wissenschaftliche Erkenntnis gehört.4 Sie explizie­ren die Voraussetzungen, auf die wir uns einlassen müssen, wenn wir entsprechende Zwecke verfolgen, an bestimmten Praxen teilnehmen, und ganz allgemein, wenn wir handeln. So eine Explikation ist nun nicht Selbstzweck, sondern sie wirkt auf die Praxen und den Sprachgebrauch zurück, denn eine Explikation ist in gewisser Weise immer auch eine Normierung und Standardisierung (wenigstens der richtigen Dar­stellung), sie schaffi oder festigt die Kriterien der Beurteilung des Gelingens oder Mißlingens der entsprechenden (Sprech)Handlungen. Insofern läßt die Philosophie nicht alles, wie es ist.

Sehr deutlich wird dies im Falle unmittelbar normativer Fragen. Daß wir die Ur­teile der Gerichte im großen und ganzen anerkennen, ist in einem Sinn selbst­verständlich, in einem anderen Sinne nicht. Denn ihre Legitimität basiert auf kol­lektiv geteilten Urteilen darüber, wie Rechtfertigungs- oder Normsetzungsverfahren · beschaffen sein müssen (Stichworte: Unparteilichkeit, Gleichheitsgrundsatz, Gewal­tenteilung), wie diese in unseren konkreten Institutionen realisiert werden und wel-

4 Wem der Begriff 'Praxisform' zu belastet ist, der kann auch 'Sprachspiel' oder, unter bestimmten Ein­schränkungen, auch 'Lebensform' sagen, deren 'Teile' solche Praxisformen sind.

Methode und Systematik der Philosophie 325

ehe Verfahren abzulehnen sind, aber auch auf geteilten Wertvorstellungen und (idealen) Musterbeispielen ihrer Realisation. Hier einen gewissen Grundkonsens in den Voraussetzurigen der Anwendung auch von Begriffen wie Verantwortung, Ver­pflichtung und Handlungsfreiheit herzustellen, deren Gebrauch im und am konkreten Fall zu überprüfen und gegebenenfalls neue Unterscheidungen einzufilhren, ist, we­nigstens in unserem Kulturkreis, eine wichtige Aufgabe, wenn man sich nicht darauf verlassen will, daß sich solche Übereinstimmungen irgendwie zufällig einstellen.

In der Klärung, Explikation und Kritik begriftlicher Voraussetzungen und Zu­sammenhänge, in einer Analyse solcher (Praxis)Formen und ihrer Präsuppositionen besteht gerade die Kompetenz der Philosophie, und sie schaffi damit so etwas wie Orientierungswissen, grundsätzliche bzw. prinzipielle Einsichten, die uns helfen, uns zurechtzufinden und sinnvoll zu handeln. Insofern ist der Ausgangs- und Endpunkt des Philosophierens das Handeln, aber nicht in dem oberflächlichen Sinne, daß Phi­losophie konkrete Handlungsentscheidungen abnehmen oder vorgeben könnte, son­dern nur in dem Sinne, daß Handeln als Handeln nur möglich ist, wenn Alternativen vorhanden sind und wir diese kennen, auch wenn sie nicht immer aktuell verfiigbar

<.oder gegenwärtig sind, und daß wir diese nach Maßstäben bewerten können. Und hier zeigt sich eine Besonderheit: Bestimmte Handlungsalternativen werden uns erst eröffuet, wenn wir neue Begriffe und entsprechende Unterscheidungen sowie die zu­gehörigen Kriterien einfiihren. Am deutlichsten wird dies im moralischen Bereich: Ohne einen Begriff von Moral ist es unsinnig, moralisches von unmoralischen Han­deln zu unterscheiden. Dies gilt jedoch nicht nur hier, sondern überall, wo wir Krite-

• rien von richtig und falsch haben. Und über Kriterien zu verfUgen heißt, deren Ge­brauch eingefiihrt und etabliert zu haben, denn sie kommen in der Natur nicht vor. Handeln hat also gegenüber bloßem Verhalten immer etwas mit der Verfiigbarkeit von Begriffen und Unterscheidungen zu tun, da es, wo vom Handeln die Rede ist, immer richtiges und unrichtiges, angemessenes und unangemessenes Handeln und dergleichen mehr gibt. 5 Sicherheit können wir darin aber nur haben, so weit gemein­same Kriterien, die kollektive Urteilspraxis und geteilte Unterscheidungen reichen.6 Und diese sind das Gebiet der Philosophie: sie beschäftigt sich mit begriftlichen Voraussetzungen des (gemeinsamen) Handelns, nämlich der Herstellung einer ge­meinsamen Urteilspraxis und letztlich auch einer gemeinsamen Weltsicht (Weltan­schauungsfunktion) durch eine Koordination solcher Unterscheidungen. Von einem Verschwinden des Gegenstandes der Philosophie durch Ausgliederung immer neuer Bereiche in die Einzelwissenschaften kann also keine Rede sein.

Man k�nnte die Rolle der Philosophie in Bezug auf das Handeln und die vor­ausgesetzten Handlungsmöglichkeiten, wie auch im Verhältnis zu den Wissen-

5 Insofern können wir uns nicht auf Einzelhandlungen beziehen, sondern immer nur auf Handlungen, so­fern sie einem Handlungstyp (mit entsprechend festgelegten Erfolgsbedingungen usw.) entsprechen.

6 Ich möchte an dieser Stelle nur an Wittgensteins 'Privatsprachenargument' erinnern.

326 Frank Kannetzky

schaften, folgendermaßen beschreiben: In der Philosophie wird nicht nach dem Fak­tischen, sondern nach dem Möglichen gefragt und es werden Möglichkeitsurteile ge­äußert. (Hier ist die Kantsche Unterscheidung zwischen Transzendentalem und Tran­szendentem von größter Wichtigkeit.) Es geht um die Bedingungen der Möglichkeit bestimmter Urteile, etwa der Wissenschaften, oder präziser: um die Möglichkeit der Sinnhaftigkeit solcher Urteile. Es wird danach gefragt, unter welchen Bedingungen die besagten Urteile Gehalt haben, welche Voraussetzungen erfiillt sein müssen, da­mit die fraglichen Äußerungen nicht ins Leere laufen, und nicht zuletzt danach, wel­che Kriterien wir anwenden müssen, um den Sinn solcher Sätze zu erschließen. Hierin liegt eine wichtige Spezifik philosophischen Fragens: Es geht nicht um Fakti­sches, sondern darum, Kriterien des Sinns und Verständnisses zu erarbeiten, Be­hauptungen auf ihre Grenzen und ihre Anwendbarkeit hin zu untersuchen. (Analoges gilt fUr Handlungen bzw. Handlungstypen, deren Sinnhaftigkeit, Kriterien prakti­scher Rationalität und Zweckhaftigkeit, ihre Glückens- bzw. Mißlingensbedingun­gen, und umgekehrt können auch Theorien über deren Deutung als Sprechhandlun­gen nach diesen Kriterien befragt werden.)

Nicht: "Sind englische Hunde klüger als italienische?", sondern: "Können eng­lische Hunde klüger sein als italienische?"7 ist die philosophische Weise zu fragen. Es geht n�cht darum, ob aus dem, was wir faktisch über (englische und italienische) Hunde wissen, folgt, daß englische Hunde klüger als italienische sein können, und auch nicht darum, unter welchen Bedingungen sie es sind. Die Modalität ist hier kei­ne alethische, sondern eine begriffliche: Sind die Präsuppositionen unserer Begriffe von Geist und von Tieren derart miteinander vereinbar, daß es auf die Frage nach der Klugheit englischer im Vergleich zu italienischen Hunden überhaupt eine vernünfti­ge (sprich: sinnvolle) Antwort geben kann? Oder liegt hier eine Begriffsverwirrung vor, die ähnlich leicht zu durchschauen ist, wie die Frage, ob spitzwinklige Dreiecke lebhafter als gleichseitige sind?

Nach dem Gesagten dürfte klar sein, daß die Philosophie keine Einzelwissen­schaft sein kann, und daß sie auch nicht über diesen steht oder deren Richter sein könnte, etwa in dem Sinne, daß sie die Wahrheit einzelwissenschaftlicher Aussagen bestreiten oder solche Aussagen aufstellen könnte. Aber sie kann helfen, die Wissen­schaften (oder auch das Unternehmen Wissenschaft) besser zu verstehen, sie kann ihnen kritisch zur Seite stehen, indem sie die Geltungs- und Anwendungsbereiche einzelwissenschaftlicher Theorien und Aussagen nach deren begrifflichen Voraus­setzungen hin abstecken hilft und neue Perspektiven dieses Verständnisses eröffnet. So verstehen wir besser, was wissenschaftliche Aussagen bedeuten, wenn wir uns klarmachen, in welchem Verhältnis Erfmdung und Entdeckung in den Wissenschaf­ten stehen, wie die theoretischen bzw. idealen Gegenstände von Theorien konstituiert sind und in welchem Verhältnis sie zu den empirisch erfahrbaren Dingen stehen. So

7 Siehe R. Raatzschs Beitrag in diesem Band.

Methode und Systematik der Philosophie 327

verhilft uns das Verständnis idealer Gegenstände dazu, mathematische Theoriebil­dungen in ihrem Gegensatz zu empirischen Theorien zu verstehen, und so werden aus begrifflichen Gründen die berechtigten Ansprüche der Hirnforschung von über­schwenglichen Erwartungen unterschieden, wie etwa der, uns das 'Wesen' des Be­wußtseins zu erklären. Das tut den wissenschaftlichen Ergebnissen als solchen kei­nen Abbruch, schränkt aber die Reichweite ihrer Interpretationen (und damit die Möglichkeit 'ideologischer' Überdehnungen) ein, die letztlich auch die Forschung auf die falsche Fährte setzen können. So wird angesichts von Überlegungen zur Ab­straktion deutlich, wie wir die Rede von mathematischer Wahrheit und logischen Zwang verstehen sollten, nämlich nicht als Abbildung oder Beschreibung eines 'platonischen' Reichs mathematischer Entitäten und ihrer Beziehungen, sondern als im hohen Maße konventionelle und nach praktischen Bedürfuissen ausgerichtete Festlegungen8, etwa darüber, was als mathematisches Beweisverfahren zulässig ist oder was zulässige Substitutionen von Zahlausdrücken sind. Und so wird man aner­kennen, daß die Hirnforschung wichtige notwendige Voraussetzungen,.menschlichen Bewußtseins untersucht und z.B. fUr die Therapie von Hirnkrankheiten von größter Bedeutung ist. Aber man wird bestreiten, daß auf dem Wege der Untersuchung ein­zelner Gehirne und ihrer Mechanismen etwas über das Sinnverstehen, Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke und Handlungen (im Gegensatz zu bloßem Verhalten oder Reagieren) herauszubekommen wäre. Denn es handelt sich hier um kategorial in­kompatible Gegenstands- bzw. Redebereiche.9

Allgemein gesagt: Theorien haben einen Gegenstand, aber sie können diesen als Gegenstand in seiner Konstitution in gewisser Weise nicht thematisieren. Dies muß eine Metatheorie leisten, etwa die Philosophie. Das ist erklärungsbedürftig. Ein Ge­genstand ist als Gegenstand nichts einfach vorgefundenes, kein Ding, sondern wird durch Identitätskriterien festgelegt, d.h. er ist bezogen auf eine Menge von Begriffen und die entsprechenden Unterscheidungen die 'kleinste' unterscheidbare Einheit. 10

Er legt sozusagen die Grenze fest, jenseits derer wir mit den je verwendeten Begrif­fen nicht mehr differenzieren können. Ein arithmetischer Gegenstand, also eine Zahl,

8 Um zu verstehen, daß die Anwendung der Mathematik in gewisser Weise mit zur Mathematik gehört, kann man sich überlegen, wieweit eine Mathematik, in der z.B. die Division durch Null erlaubt wäre, den Zwecken, denen unsere Mathematik dient, entsprechen könnte und welche Anwendungen sie hätte.

9 Das heißt, daß hier die Bedingungen der Anwendung der jeweiligen Begriffe nicht miteinander ver­träglich sind: Im einen Fall haben wir in physikalischen bzw. physiologischen Begriffen klar bestimmte Identifikation�bedingungen, etwa ftlr Himzustande, im anderen haben wir (im Idealfall) Identitätskriteri­en von Bedeutungen und Intentionen, die gerade nicht physikalisch oder physiologisch formuliert werden können. Im einen Fall können wir Kausalbeziehungen benennen, Ergebnisse reproduzieren und Progno­sen aufstellen, im anderen gibt es diese Möglichkeiten nicht (z.B. kann die Kenntnis von Prognosen zur Veränderung von Handlungsintentionen filhren) oder sie haben gar keinen Sinn.

10 Dies ist der Sinn zweier berühmter Parolen von Quine: "Keine Entität ohne Identitäf' und "Sein heißt Wert einer gebundenen Variable sein".

328 Frank Kannetzky

ist durch arithmetische Begriffe festgelegt. Deshalb spielen physikalische Eigen­schaften fiir mathematische Gegenstände keine Rolle, während sie physikalische Ge­genstände bestimmen. Etwas ist physikalischer Gegenstand, z.B. wenn es räumlich

· und zeitlich lokalisiert werden kann, wenn es gegenüber bestimmten Transformatio­nen invariant ist, wenn es hinsichtlich bestimmter Größen meßbar ist, wenn es der Kausalrelation unterliegt usw. Deshalb sind Gegenstände keine ein fiir alle mal fest­gelegten Entitäten, sie verändern sich mit der Menge der fiir relevant gehaltenen Be­griffe, also der von uns thematisierten Unterscheidungen und Beziehungen, und ent­sprechend mit den Theorien. Im Gegensatz dazu bilden unsere sinnlichen Vermögen und unsere Fähigkeiten zur Manipulation die Grundlage dafiir, was wir als 'Ding' betrachten. Dies geschieht ganz analog zu den Gegenständen und deren Festlegung durch Begriffe, mit dem wichtigen Unterschied, daß wir natürliche Fähigkeiten ha­ben, aber keine natürlichen Begriffe, so daß Dinge in diesem Sinne immer etwas Vorgefundenes sind bzw. durch die Manipulation von Vorgefundenem e�zeugt wer­den. 11 Es ist einleuchtend, daß die großenteils vortheoretischen und den Notwendig­keiten des Lebens unterliegenden Dingunterscheidungen einen gewaltigen Einfluß auf die theoretischen Begriffsbildungen und entsprechend die Gegenstandskonstitu­tion haben, denn Begriffe haben nicht nur eine Bedeutung, sondern· auch einen Zweck.

Umgekehrt hängen Gegenstände und Dinge in der Weise zusammen, daß wir die theoretischen Gegenstände auf Dinge beziehen müssen, sollen unsere Theorien einen Nutzen haben, etwa technisch verwertbar sein. Wir müssen gemeinsam urteilen, daß bestimmten Gegenständen bestimmte Dinge entsprechen, so daß die Theorien, die zunächst nur fiir theoretische Gegenstände gelten, auf Dinge bezogen werden kön­nen, und zwar kollektiv, im Rahmen einer Praxis der Anwendung der Theorie. Es sollte hier eindeutige Musterbeispiele geben, die als Standard der kollektiven Urteil­spraxis fungieren und die es erlauben, ganze Phänomenklassen so zu deuten, daß sie durch die fragliche Theorie erfaßt werden. Wir müssen, etwa um die Gesetze�der Mechanik anzuwenden, Dinge als Punktmassen ansehen. Dies ist in vielen wichtigen Fällen unproblematisch, aber gerade dadurch wird verdeckt, daß Theorien Anwen­dungsbedingungen haben, daß die Identifikation von Gegenstand und Ding nicht immer ohne weiteres möglich ist. So kann die Fortschreibung theoretischer Unter­scheidungen auf neue Gebiete dazu fiihren, daß ursprünglich der empirischen Kon­trolle unterworfene Aussagen auf Gegenstände ausgeweitet werden, die dieser Kon­trolle nicht mehr unterliegen, weil ihnen kein Ding im oben genannten Sinne ent-

1 1 Hätten wir, um ein grobes Beispiel zu geben, Sinne für Radioaktivität oder Magnetismus und deren Intensität, so würde sich unsere (unmittelbare) 'Dingwelt' verändern, ebenso wie sie sich bei einer Er­weiterung unserer Wahrnehmungsfilhigkeiten und Manipulationsmöglichkeiten, etwa durch Nutzung technischer Hilfen, verändert. Unter diesem Aspekt leuchtet auch ein, daß die Unterscheidung von Ge­genständen und Dingen keine absolute ist.

Methode und Systematik der Philosophie 329

spricht. Dies ist z.B. der Fall, wenn (in gewisser Weise hochspekulative) Theorien der Astrophysik als empirische hingestellt werden. Wir haben keine empirisch kon­trollierbaren yerfahren, Aussagen über den Kosmos insgesamt und dessen Entwick­lung zu verifizieren oder zu falsifizieren. Dies wird insbesondere dann deutlich, wenn man sich die Konstitution des Gegenstandes der Kosmologie näher anschaut: Hier spielt das sogenannte kosmologische Postulat eine zentrale Rolle, welches be­sagt, daß der Kosmos hinsichtlich der Verteilung von Materie und den geltenden physikalischen Gesetzen im großen Ganzen homogen ist. Wird dieses Postulat als empirische Hypothese (miß)verstanden, wird man auch den Gegenstand der Kos­mologie als Ding mißverstehen und den Status kosmologischer Aussagen falsch ein­schätzen, nämlich als nach den Methoden der empirischen Wissenschaften abgesi­cherte Erkenntnisse, und nicht als im Grunde spekulative Erzählungen, die es erlau­ben, einem von uns völlig unabhängigen Geschehen in gewisser Weise Sinn zu ver­leihen und es durch die Schilderung von Abläufen einer Geschichte des Kosmos (z.B. durch die Urknalltheorie) verstehbar zu machen, indem nun eine eigene Posi­tionsbestimmung möglich scheint. Es ist klar, daß diese Erzählungen keine im stren­gen Sinne wissenschaftliche Theorien mehr darstellen, obwohl sie ihren Ausgangs­punkt in solchen Theorien nehmen und diese in gewisser Weise auch fortsetzen.12

Hieran wird folgendes deutlich: Theorien können als solche ihre eigenen Anwen­dungs- und Geltungsbedingungen nicht thematisieren. Sie sind als wissenschaftliche Theorien immer schematisch: was der Form nach Gegenstand der Theorie zu sein scheint, d.h. mit den Begriffen der Theorie beschreibbar ist, wird als den Gesetzen der Theorie unterworfen betrachtet. Dies kann zu falschen Verallgemeinerungen füh­ren. In gewisser Weise kann man Theorien als Kalküle ansehen, und diese können sinnvoll nicht ohne Urteilskraft angewandt werden, d.h. es muß beurteilt werden, ob die Anwendungsbedingungen der Theorie beim fraglichen Gegenstand erftillt sind, ob der Gegenstand tatsächlich unter die in der Theorie artikulierten Begriffe fällt oder nicht. Für die Philosophie sind nun die begrifflichen Anwendungsbedingungen von Interesse, die Frage nach kategorialen Zuordnungen, nach Präsuppositionen und nach den verfolgten Zwecken, kurz: die Frage nach den von der Theorie, ihrer An­wendung und der entsprechenden Rationalitätsform vorausgesetzten synthetischen Urteile a priori, oder den begrifflichen Konstitutionsbedingungen. Erst wenn wir uns diese vergegenwärtigen, werden wir die jeweiligen Theorien und ihren Status besser verstehen und eine gemeinsame Urteilspraxis etablieren können. Wir müssen uns z.B. darüber einigen, welche Gegenstände/Dinge bzw. Typen von Gegenstän­den/Dingen von welchen Theorien erklärt werden sollten, ob sie überhaupt erklärt werden sollten, wie sie erklärt werden sollten, was als Erklärung zulässig ist, ob wir auch teleologische Erklärungen zulassen, und wenn ja, fiir welche Art von Gegen-

12 S. dazu die Diskussion des Olbersschen Paradoxes in meiner Dissertation paradoxes denken, Leipzig, 1 998.

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ständen usw. Aber selbst wenn hierüber Einigkeit herrscht, so müssen wir doch in jedem Einzelfall urteilen, unter welche Begriffe wir zu subsumieren haben. Anders formuliert: Wie sollen wir die Begriffe im konkreten Einzelfall anwenden bzw. pro­jizieren oder fortsetzen?

Mit Projektionen legen wir bekannte Ordnungen und Unterscheidungen auf (so) noch nicht geordnetes Terrain und gliedern dieses dadurch (in neuer Weise). Proji­zieren heißt, etwas unter der Perspektive einer Struktur (im einfachsten Fall der in einem Begriff fixierten Unterscheidung, im komplexeren Fall einer ganzen Theorie) zu betrachten, es gemäß gewisser 'Zuordnungen' oder 'Proj ektionsregeln' so zu strukturieren, daß das Paradigma oder Urbild und der Bildbereich 'formgleich' wer­den bzw. das eine 'Analogie' des anderen ist, so daß man danach, mehr oder minder exakt oder vage, von einer gemeinsamen Form oder Struktur sprechen kann. (Der 'neue' Bereich hat nun teil an der Ordnung oder Form und man kann nun Vergleiche ziehen, berechtigte Erwartungen hinsichtlich eines Gegenstandes haben usw.) Umge­kehrt werden, etwa indem Begriffe und Theorien auf 'neue' Gegenstände projiziert werden, auch neue Gebrauchsweisen dieser Begriffe und Theorien zuwege gebracht. Mit Projektionen wird so in gewisser Weise der Sinn der Begriffe auch über die Ver­�derung ihres Umfangs hinweg erhalten. Projektionen stellen neue, d.h. bislang mcht vert,raute Substitutionsmöglichkeiten her, indem sie bekannte Unterscheidun­gen in Kontexten fortsetzen, in denen sie bislang nicht verwendet wurden. Erkennen wir an, daß es keine Struktur der Welt gibt, auf die wir uns unmittelbar und sprachunabhängig beziehen könnten (auch deiktische Bezüge sind immer in eine Sprache eingebettet und hätten ohne diese keinen Sinn!), so wird klar, wie wichtig Projektionen sind, denn mit ihnen schaffen wir solche Strukturen, auf die wir uns gemeinsam beziehen können (etwa indem sie Gegenstandstypen festlegen, aber auch dadurch, daß bestimmte Projektionen als unsinnig verworfen werden: so werden wir Farbprädikate im allgemeinen nicht auf abstrakte Gegenstände projizieren). Insofern haben viele Projektionen den Status vqn synthetischen Urteilen a priori. Freilich gibt es immer die Möglichkeit unterschiedlicher (und auch unsinniger) Projektionen, aber das heißt nicht, daß sich nicht einige als zweckmäßiger erweisen als andere, etwa weil sie zum schon vorhandenen Gebrauch passen oder interessierende Eigenschaf­ten in besonders effektiver Weise hervorheben. Um diese Projektionen auszuftihren, sinnvolle von unsinnigen zu unterscheiden und ihre Zweckmäßigkeit zu bewerten, bedarf es einer geschulten, erfahrenen Urteilskraft. Aber woran kann die Urteilskraft geschult werden und was ist die Basis gemeinsamer Urteile? Dieser Frage werde ich mich später zuwenden.

Wenn Philosophie immer Metatheorie ist, sich also nicht auf die Dinge und Zu­sammenhänge der Welt selbst bezieht, sondern immer auf die (im weitesten Sinne) theoretische Erfassung der Welt, sei es in Form naturwissenschaftlicher Theorien, sei es in Form von Geschichten und Mythen ('theoria' bedeutet auch Erzählung), so stellt sich die Frage, ob diese Orientierung an begrifflichen Zusammenhängen nicht notwendig vom praktischen Anliegen der Philosophie wegfUhrt, uns Orientierungs-

Methode und Systematik der Philosophie 331

wissen zu vermitteln und eine gemeinsame Urteilspraxis, wenn nicht zu begründen, so doch zu stabilisieren. Verdient eine bloß theoretische Philosophie den Namen 'Philosophie' überhaupt noch? Was sollen wir mit ihren sorgfältig ausgearbeiteten Unterscheidungen, wenn diese, praktisch gesehen bzw. am realen Leben gemessen, ins L�ere laufen? Hier ist darauf hinzuweisen, daß der Begriff der Theorie nicht mit dem der Wissenschaft und dieser nicht mit dem der Naturwissenschaft zusammen­fällt, sondern daß es auch die Theorien und Wissenschaften vom Handeln und dessen Entwicklung, oder allgemeiner: die Sozialwissenschaften und die Geschichte gibt. Zum Beispiel ist die Analyse von Entscheidungen im Rahmen der Spiel- und Ent­scheidungstheorie und deren Interpretation ein ergiebiges Gebiet fiir philosophische Analysen, weil hier synthetische Urteile apriori über menschliches Handeln und des­sen Motive, über Rationalität und Moral unmittelbar 'sichtbar' werden. So werden die Formen der theoretischen Erfassung von Handlungen und deren Anwendung auf relevante Probleme des gesellschaftlichen Zusammenlebens und -wirkens in Bezug

auf unser praktisches Anliegen, Handeln besser zu verstehen und vernünftige Hand­lungsmaximen zu formulieren, erst vermittelt über eine Theorie und deren suggestive Bilder und Beispiele (etwa das Gefangenendilemma) zum Thema der Philosophie und zum Gegenstand philosophischer Analysen.

II. Was ist philosophische Analyse?

Üblicherweise wird ein wichtiges Ziel philosophischer Bemühungen in der Analyse problematischer Begriffe und Behauptungen gesehen. Was aber heißt Begriffsana­lyse in der Philosophie? Vor allem in der formal-analytischen Philosophie wird Analyse aufgrund des bedeutungstheoretischen Arguments der Lembarkeit von Sprachen und der damit verbundenen Kompositionalität komplexer sprachlicher Ausdrücke oft mit der Reduktion auf Einfacheres bzw. Bekanntes verwechselt. Manchmal wird Analyse aber auch so aufgefaßt, daß das Analysandum als Spezifi­kation eines schon verstandenen Komplexeren erscheint. Dies ist die klassische Me­thode der Definition über Art und unterscheidendes Merkmal, und Begriffsanalyse bedeutet hier nichts anderes, als eine (formal korrekte) Definition des fraglichen Be­griffes zu geben. 13 Beide Auffassungen ergänzen einander und beiden entspricht ein

13 Wird diese Auffassung in holistische Konzeptionen eingebettet, so ist jede Definition eine implizite Definition und verändert die Bedeutung des definierten Ausdruckes, sobald an anderer Stelle des Systems eine Veränderung vorgenommen wird. Solche Definitionen können ihren Zweck aber nicht erfüllen, nämlich schematisches und abrufbares Wissen in kompakter Form zur Verfügung zu stellen. Ein Ausweg wäre es, sämtliche Definitionen als Nominaldefinitionen aufzufassen, als bloße Ersetzbarkeitsregeln filr darstellungstechnische Zwecke. Aber dagegen sprechen zwei gewichtige Gründe. Erstens mUßte dann auch die natUrliehe Sprache als standardisierte Sprache gedeutet werden, was schlicht falsch ist, und zweitens fuhrt eine solche Auffassung direkt ins sogenannte "Paradox der Analyse": Entweder ist eine

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Begriff der defmitorischen Bestimmung im traditionellen Klassifikationsbaum, eine Analysemethode, die es erlaubt, in schon normierten bzw. standardisierten Sprachen (etwa denen der Wissenschaften mit ihren ausgebauten Klassifikationssystemen) ei­nem Ausdruck seine Bedeutung zuzuordnen, indem sein Ort im Klassifikationsbaum bestimmt wird.

Vorausgesetzt ist hier, daß eine Zuordnung zu einem Oberbegriff schon statt­gefunden hat oder, wenn man so will, die kategoriale Bestimmung, d.h. die Bestim­mung der Art oder Sorte und der damit verknüpften Eigenschaften. Wenn ich z.B. sage, daß die Drei die zweite ungerade Zahl darstellt, so habe ich, falls diese Aus­sage wahr sein soll, schon vorausgesetzt, daß es sich um eine natürliche Zahl handelt. Sage ich, daß Königspudel die klügsten Hunde sind, so ist diese Behauptung nur dann sinnvoll, wenn ihre kategoriale Präsupposition, nämlich daß Hunde 'intelligente Wesen' sind, erfiillt ist. Gerade im Falle philosophischer Begriffe geht es aber häufig darum, den richtigen Oberbegriff (d.h. den Gegenstands- oder Redebereich) zu be­stimmen, man denke nur an das Leib-Seele-Problem, in dem der Streit letztlich gera­de darum geht, ob Bewußtseinsphänomene in physikalischen Begriffen beschrieben werden können oder ob sie in gewisser Weise irreduzibel sind. In anderen Fällen, ist dies nicht so offensichtlich, scheinbar geht es nur um verschiedene Meinungen zu ei­nem wohldefinierten Problembereich. Aber wenn hier keine Entscheidung möglich ist, so kalin dies gerade an einer falschen kategorialen Zuordnung des gesamten Be­reichs liegen.14 Genau solche Voraussetzungen begrifflicher Natur (etwa kategoriale Präsuppositionen) können im Falle eines reduktionistischen Analysebegriffs aber gar nicht thematisiert werden, obwohl sie den eigentlichen Gegenstand philosophischer Analysen darstellen, insofern es sich hierbei nämlich gerade um die synthetischen Urteile a priori handelt.

Mindestens ebenso wichtig für eine Analyse sind deshalb deren 'horizontale' Aspekte, etwa die Einbettung in ein Feld aus Begriffen (erinnert sei hier z.B. an Wittgensteins Familienähnlichkeiten), die Untersuchung der Synonyme und Ersetz­barkeiten des fraglichen Begriffs, seine Verwendungsweisen in verschiedenen Kon­texten, die Art und Weise, wie falsche Verwendungen korrigiert werden, welche Kriterien dabei eine Rolle spielen, ob ein Sprecher, der den fraglichen Begriff falsch verwendet, überhaupt als Sprecher der Sprache akzeptiert wird usw. Insbesondere die inferentiellen Verknüpfungen der Begriffe und Behauptungen sowie die mit ih­nen verknüpften pragmatischen Konsequenzen und Erwartungen (also die Ver­pflichtungen, die Sprecher mit Äußerungen eingehen, Berechtigungen, die andere Sprecher dadurch erhalten, Sanktionen, die bei Nichteinhaltung der Verpflichtung

Definition infonnativ, dann muß der Gehalt des definierenden über den des definierten Ausdrucks hin­ausgehen, folglich kann nicht ohne Einschränkung ersetzt werden und die Definition ist fonnal inkorrekt, oder aber die Definition ist korrekt, aber nicht infonnativ.

14 Als Beispiel wären Kants Antinomien der reinen Vernunft und deren Auflösung zu nennen.

Methode und Systematik der Philosophie 333

drohen usw.15) sind hier interessant. Nenne ich etwas einen Tisch, so erwarte ich, daß dieses Ding nicht anfiingt, im Zimmer umherzulaufen und Witze zu reißen. Jemand, der behauptet, dies sei ein Tisch, ist darauf festgelegt, zu bestreiten, daß dieses Ding hin- und herlaufen und Witze reißen könne, genauso, wie er dann auch verpflichtet ist, der Behauptung, es befände sich ein Möbelstück im Zimmer, zuzustimmen.

Ein in formalen Begriffsanalysen oft sträflich vernachlässigtes Bestimmungsstück der Bedeutung von Begriffen ist der Zweck der jeweiligen Begriffsbildung, die An­gabe, wozu die im Begriff ausgedrückte Unterscheidung gut sein soll, in welcher Praxis sie welche Rolle spielt. Beispielsweise verpflichtet uns die Verwendung des Prädikats 'eßbar' darauf, daß andere beim Genuß der Sache keine Vergiftungen er­leiden, andernfalls drohen Sanktionen. Es geht hier um die Einbettung unseres sprachlichen Handeins in Lebensformen, um deren "Sitz im Leben". Gerade dieser wesentliche Aspekt der Bedeutung eines Begriffs entgeht dem auf Objektivierbarkeit ausgerichteten .reduktionistischen Begriff der Analyse, obwohl doch erst der Bezug auf einen Zweck und der davon abhängige Nachweis der Relevanz der im Begriff ausgedrückten und fixierten Unterscheidung einem Begriff Sinn verleiht. Ganz all­gemein gilt: Erst die (Möglichkeit der) Angabe eines Zweckes zieht die Linie zwi­schen sinnvollen und sinnlosen Begriffsbildungen.

Man kann sich dies besonders leicht vor Augen führen, indem man sich dazu eine Potenzmengenbildung über dem Bereich der uns zugänglichen Gegenstände und Dinge vorstellt. Jeder der möglichen Teilmengen dieser Potenzmenge entspricht ein (wenigstens extensional charakterisierbarer) Begriff, aber nur einer Minderzahl der auf diese Weise gebildeten Begriffe (bzw. Begriffsumfänge) kann ein (nicht eigens konstruierter) Zweck zugeordnet werden. Man kann den 'Begriff' "die Erstsemestier in diesem Raum, Hempels Rabe und die ersten tausend Primzahlen" bilden, aber er dient keinem erkennbaren Zweck. Der Verdacht, es handele sich um eine sinnlose Begriffsbildung, ist hier (fast16) Gewißheit. Natürlich gibt es hier keine absoluten 'Grenzen'. Es wird immer wieder vorkommen, daß zunächst sinnfreie Unterschei­dungen in bestimmten Kontexten und für bestimmte Zwecke durchaus Sinn erhalten. Aber dies ist kein Grund, allen formal bildbaren Begriffen sozusagen a priori einen Sinn zuzusprechen.

Ein philosophischer Begriff der Analyse sollte die genannten Aspekte abdecken. Man könnte ihn in Abgrenzung vom reduktionistischen Analysebegriff der formalen Philosophie auch 'realbegrifjliche Analyse' nennen, weil er von der tatsächlichen Verwendung der Begriffe in realen Kontexten ausgeht. Was gehört dazu? Die Anga-

1 5 Vgl. R. Brandom, Making it explicit, Cambrigde/Mass. : Harvard UP 1994; aber auch J.L. Austins

Untersuchungen zu Sprechakten (Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), Stuttgart:

Reclam 1979).

16 Paradoxerweise erfüllt dieser Begriff einen Zweck, nämlich den, Beispiel für einen zweckfreien Be­griff zu sein.

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be des Gebrauchs der Begriffe, durchaus auch nonnative Hinweise auf ihre richtige und falsche Verwendung und auf zweckmäßige, aber auch auf unangemessene Ge­brauchsweisen, die Bestimmung des Zwecks der im Begriff ausgedrückten Unter­scheidungen und die Angabe der Präsuppositionen der Begriffsverwendung. Dazu gehören weiterhin Kriterien als Maßstäbe der richtigen Verwendung, die Explikation der Verpflichtungen, die man anderen Sprechern gegenüber eingeht, wenn man den fraglichen Begriff verwendet, also die Festlegung auf bestimmte ztilässige Substitu­tionen, Regeln der Verwendung in Argumentationen usw. Weiterhin sind Erläute­rungen der unterschiedlichen, aber zusammenhängenden Verwendungen eines Be'­griffes nötig, sowie darüber, wann man mit anderen Begriffen das Gleiche sagt. Es bedarf der Angabe von Projektionsregeln, soweit sich diese explizieren lassen, aber auch der Angabe falscher und abweichender Verwendungen. Nicht zuletzt müssen typische Beispiele und Stereotype der richtigen Verwendung angefiihrt werden.

Allerdings wird man in realbegrifflichen Untersuchungen notwendigerweise die formale Exaktheit vermissen, welche in den recht einfachen, an der Logik orien­tierten formalen Sprachen mathematisierter Theorien herzustellen ist. Diese sind ein­fach, weil sie leicht zu erlernen und daher auch anband einfacher Kriterien kontrol­lierbar sind. Aber darin liegt auch das Problem: Exaktheit schließt gerade die V er­handlung qer hier interessierenden Themen aus, denn sie beruht darauf, daß die Vor­aussetzungen der (exakten) Rede bekannt und expliziert sind. Diese Vor­aussetzungen selbst können aber in ihr nicht expliziert werden. In solchen Sprachen kann nur ausgedrückt werden, wovon wir, relativ zu wohldefinierten Anwendungs­situationen? schon klare Begriffe haben, nicht aber, was erst die Angemessenheit von Unterscheidungen in bestimmten Situationen ausmacht und was deren Voraussetzun­gen sind. Die metatheoretische Reflexion der Philosophie fällt damit aus jeder (im angegebenen Sinne) exakt formulierbaren Sprachform heraus.

Was andererseits mißverstanden wird, wenn man philosophische Rede als exakte Rede deutet, ist ihr Status als grundsätzliche oder prinzipielle Rede. Daß es sich bei philosophischen um grundsätzliche Einsichten handelt, die von wissenschaftlichen Erkenntnissen zu unterscheiden sind, heißt nicht, daß sie bloß willkürliche (oder, wenn das besser gefällt, konventionelle) Festlegungen sind. Prinzipien oder Grund­sätze lassen Spielräume, sie sind in gewisser Weise vage. Versucht man, sie an den Maßstäben wissenschaftlicher Exaktheit zu messen, d.h. aus ihnen trennscharfe Kri­terien zu entwickeln, die fiir jeden konkreten Fall die Richtigkeit bestimmter Rede­weisen, Zuschreibungen etc. regeln, dann werden sie falsch. Darin besteht gerade das Prinzipielle, was nicht heißt, daß mit Prinzipien deshalb alles vereinbar sei, daß da, wo es keine scharf bewachte Grenze gibt, überhaupt keine Grenze verläuft. Diese Besonderheit prinzipieller, insbesondere philosophischer Rede, die Urteilskraft ver­langt, wenn ihr Sinn erschlossen werden soll, wird oft nicht gesehen, und dies hängt, wie hoffentlich noch deutlich wird, mit einer irrtümlichen Auffassung über die Rolle von Beispielen in der Philosophie und einer bestimmten (falschen) Auslegung des Gedankens philosophischer Systematik zusammen.

Methode und Systematik der Philosophie 335

Wie wichtig die genannten, eher unpräzisen Angaben sind, um Begriffe über­haupt sinnvoll verwenden zu können, wird schon am Beispiel der scheinbar exakten empirischen Begriffe deutlich. Denn empirische Begriffe sind im Prinzip alle vage17. Es gibt immer Fälle, in denen nicht klar ist, ob der fragliche Begriff noch zutrifft oder nicht. Um dieser Schwierigkeit auch formal Herr zu werden, genügt es jedoch nicht, willkürliche Grenzen zu ziehen. Entweder sind diese Grenzen künstlich und es gibt daher neue Grenzfalle, etwa Grenzfälle von Grenzfällen, oder gerade die Vag­heit ist ein wichtiger Bestandteil der Bedeutung des fraglichen Begriffes, ein quasi definierendes Merkmal, wie beispielsweise bei den Begriffen 'Haufen' und 'Glatze' oder bei Farbprädikaten. Problematisch ist nicht die Vagheit der Begriffe, sondern der falsche Umgang mit solcher Vagheit. Statt des Versuchs, gegenüber beliebigen Kontexten invariante Begriffe zu fixieren, bedarf es der Explikation der kontextuel­len Bestimmungsgrößen, um die fragliche Unterscheidung :tUr die je gegebenen Um­ständen und den verfolgten Zweck hinreichend genau bzw. unproblematisch zu ma­chen, so daß sie als kollektiv geteiltes bzw. teilbares Urteil gelten kann. Notwendig sind hier Urteilskraft und (implizites) Wissen um die sinnvolle Verwendung solcher Begriffe. Es ist gerade die Vagheit, die es ermöglicht, die Begriffe sozusagen nicht nur zur 'einmaligen' Verwendung zur VerfUgung zu haben, sondern wesentliche Aspekte und Unterscheidungen samt deren Konsequenzen, etwa :tUr das Handeln, auf 'neue' Gegenstände und Situationen zu übertragen. Ohne diese Spielräume wären wir nicht in der Lage, uns sinnvoll zu verständigen, eine Sprache zu sprechen. Erst diese Spielräume und Vagheiten ermöglichen die Präzision der sprachlichen Werk­zeuge im Einzelfall. (Meist kommt es hier vor allem auf die Präzision des Zusam­menspiels und nicht auf die des einzelnen Werkzeugs an.) Der Vorschlag, Vagheit durch Definitionen aus der Welt zu schaffen und nur noch 'scharfe', klar definierte Ausdrücke zu benutzen, um Zweifelsfälle zu beseitigen, ist kontraproduktiv. Wir würden uns bloß unverzichtbarer Ausdrucksmittel berauben, die unproblematisch sind, wenn man sie nicht schematisch, sondern mit Urteilskraft und Augenmaß be­nutzt.18

Dabei macht es einen Unterschied, ob dieses begriffliche Wissen implizit ist oder

1 7 Vagheit ist sogar im Falle der singulären Termini die Regel, obwohl diese als Musterbeispiele von nichtvagen Ausdrücken gelten, weil sie sich auf genau einen Gegenstand beziehen. Aber man versuche eine klare und vor allem kontextinvariante Antwort darauf zu geben, wo die Zugspitze anfängt und wo sie aufuört, also den singulären Tenn tatsächlich auf ein Ding anzuwenden. (Das Beispiel stammt aus Quines Word and Object.)

1 8 Dies gilt nicht nur von vagen Ausdrücken, sondern auch von solchen, denen aus anderen Grnnden im Rahmen formal-analytischer Untersuchungen kein 'klarer' Sinn zugeordnet werden kann, etwa von 'me­taphysischen' philosophischen Begriffen. Ein gutes Beispiel hierfilr ist die 'Abschaffung' der syntheti� sehen Urteile a priori in Teilen der neueren Philosophie, weil diese sich weder aufEmpirisches noch auf Logisch-Analytisches reduzieren ließen. Dies spricht nur filr die Armut der verwendeten sprachlichen und philosophischen Mittel, aber nicht gegen den Begriff.

336 Frank Kannetzky

explizit vorliegt, denn im zweiten Falle verfUgen wir über Beurteilungsmaßstäbe und Standards dafür, wie wir einen Begriff auf neue, bislang unbekannte Fälle anwenden bzw. projizieren können. (Hier liegt auch ein Ansatzpunkt philosophischer Systema­tik.) Wir werden auch dann nicht zu einer Festlegung für alle möglichen Fälle kom­men können, aber die praktische Sicherheit im Umgang mit den so analysierten und explizierten Begriffen zur Beschreibung interessierender Sachverhalte und Gegen­stände wird wesentlich größer sein, als im Falle einer bloß formal 'exakten' Festle­gung der Grenzen des Begriffs, und reicht soweit, wie unser kollektives Verständnis19 des fraglichen Begriffs reicht. Dieses kollektive Verständnis fällt freilich nicht vom Himmel. Es muß erarbeitet werden.

Daß philosophische Begriffsanalysen nicht für alle Begriffe von gleicher Wich­tigkeit sind, ist einleuchtend, schon weil wir unsere Alltagsbegriffe im allgemeinen sicher verwenden. Sind solche Analysen dann nicht überflüssig? Relevant werden sie in Zweifelsfällen, und selbst dann meist nicht direkt (es hat z.B. wenig Sinn, bei der Klassifikation einer neuen Spezies eine philosophische Begriffsanalyse durch­zufiihren20), sondern über den Umweg prinzipieller Überlegungen zur Begriffsver­wendung. Dennoch gibt es viele Fälle, in denen philosophische Analysen auch un­mittelbar relevant werden, etwa im Falle der Entwicklung bestimmter mathema­tischer Vorstellungen (z.B. des Begriffs der Unendlichkeit), im Falle der von Kuhn beschriebenen wissenschaftlichen Revolutionen, in denen es um neue Leitbilder geht, oder auch für Theorien über menschliches Handeln und Verhalten. Man sollte auch die Rolle von erst' in der Philosophie tradierten und entfalteten Unterscheidungen im Alltag nicht unterschätzen. Zum Beispiel unterscheiden wir im Alltag Handeln und Verhalten, und dies tun wir im Grunde jedesmal, wenn wir jemanden für etwas ver­antwortlich machen, ihm die Schuld geben, uns über ihn empören, eine Handlung entschuldigen oder rechtfertigen, auf Zwänge verweisen und dergleichen mehr.

I 9 D.h. nicht in jedem Fall, daß jedes Mitglied der Sprachgemeinschaft über dieses explizite Wissen ver­fugen muß, aber es muß anerkannte Instanzen geben, die im Zweifelsfalle die Verwendung regeln kön­nen. Ein Weg des kollektiven Verstän(jnisses ist fur die meisten Begriffe sicher die sprachliche Arbeits­teilung (s. dazu H. Putnam, Die Bedeutung von 'Bedeutung ', Frankfurt/M.: Klostermann I 990).

20 Allerdings kann uns auch die Bestimmung einer neuen Spezies die Schwierigkeiten unserer Klassifi­kationssysteme vor Augen fuhren und insofern philosophisch relevant werden, indem sie uns etwas über den Status unserer begrifflichen Einteilung der Welt lehrt. Kann man das Schnabeltier nicht in die zoolo­gische Klassifikation einordnen, weil es dann Vogel und Säuger zugleich - ein fleischgewordenes Para­dox - sein müßte, dann ist nicht das Schnabeltier ein mystisches Mischwesen, sondern unsere Klassifi­kation setzt auf die falschen Kriterien. Es wird deutlich, daß es unsere Einteilung der Arten ist, welche die Schwierigkeiten hervorbringt, und diese nicht in einer vorgegebenen natürlichen Ordnung liegen, die nur noch abzubilden sei. Gerade in der Bewältigung solcher Schwierigkeiten können philosophische Ein­sichten hilfreich sein, denn sie erfordern Reflexion auf die einzelwissenschaftlichen Theorien und Begrif­fe sowie deren Anwendung - mit der Einfilhrung einer neuen Klasse "Soge!" wäre es im geschilderten Falle eben nicht getan, weil die Klassifikation durch die Einfilhrung immer neuer Klassen und Arten ain. Ende ihrem Zweck, Übersicht zu schaffen und Eigenschaften zu gruppieren, nicht mehr gerecht werden kann (obwohl die Einfilhrung neuer Begriffe manchmal eine durchaus vernünftige Lösung sein mag).

Methode und Systematik der Philosophie 337

Wie einerseits die Begriffsanalyse in manchen Zweifelsfällen weiterhelfen kann, so sind es umgekehrt solche Zweifelsfälle und Unsicherheiten in der Verwendung der Begriffe, die einerseits den Grund zur Einfiihrung neuer Unterscheidungen dar­stellen, und die andererseits zur Fortentwicklung und Entfaltung vorhandener Unter­scheidungen sowie gegebenenfalls zur Neufassung von Begriffen Anlaß geben. Die Klärung von Zweifelsfällen und Unsicherheiten im Gebrauch von Begriffen festigt und erweitert auch deren Gebrauch in den bekannten Fälle und stabilisiert so die ge­meinsame Urteilspraxis.

Eine Vorstellung von philosophischer Analyse dagegen, die darauf hinausläuft, daß im Falle eines analysierten Begriffs für beliebige Gegenstände feststehen müsse, ob sie unter den Begriff fallen oder nicht, ist eine Vorstellung, die auf einem Mißver­ständnis der Funktion von Begriffen in der sprachlichen Kommunikation bzw. auf einer allzu einfachen Bedeutungstheorie beruht, nämlich der Vorstellung, wir könn­ten uns nur mittels absolut präziser Begriffe verständigen bzw. nur solche Begriffe verstehen und wüßten ansonsten nicht, was gemeint ist. Im Gegenteil: Eine solche formale Exaktheit würde zu ständigen Mißverständnissen fiihren, sobald minimale Bedeutungsunterschiede mit den verwendeten Termini verbunden wären. Der Zweck von Begriffen ist es aber, wichtige Unterscheidungen situationsinvariant festzuhalten und mitteilbar zu machen und so eine gemeinsame Urteilspraxis zu ermöglichen. Wollte man diesen Zweck mit bloß formal exakten Begriffen erfiillen, so müßte man, um einen Begriff in diesem Sinne zu präzisieren, alle möglichen Situationen und Kontexte, in denen er jemals eine Rolle spielen könnte, vorhersehen und für diese die Verwendung des jeweiligen Begriffs im voraus festlegen. Dieser Festlegung müßten alle Sprecher einer Sprache jetzt und in Zukunft folgen. Auf diese Weise ist jedoch die Herstellung und Stabilisierung kollektiv geteilter Urteile nicht möglich, weil formal-analytische Exaktheit einer Begriffsbestimmung eben immer auch Starr­heit und Festlegung auf bestimmte, bekannte Kontexte bedeutet. Wird dann eine der­artige, auf bestimmte ( modellhafte) Kontexte bezogene Begriffsbestimmung als all­gemeingültige aufgefaßt, so werden unter der Hand bloß kontextspezifische Beson­derheiten fälschlich als allgemeingültig unterstellt. Das widerspricht aber dem Zweck von Begriffen, wichtige Unterscheidungen kontextinvariant festzuhalten.

Dies gilt generell: Wir sind nicht in der Lage, Unterscheidungen vollkommen kontextfrei zu formulieren, schon aus dem einfachen Grund nicht, daß wir ohne die Angabe eines Kontextes bzw. einer Verwendungssituation auch den Zweck der Un­terscheidung nicht angeben können. Eine philosophische Analyse sollte also gerade nicht voti allen Kontexten und Zwecken abstrahieren. Dies ist illusorisch und führt nur dazu, daß man bestimmte (vertraute) Zwecke und Kontexte als universell unter­stellt, ohne dies zu explizieren. Vielmehr sollte sie, gerade um die situationsinvari­ante Bedeutung des Begriffes zu vermitteln, die Anwendung der fraglichen Unter­scheidung in verschiedenen, konkret benannten Kontexten demonstrieren. Philoso­phische Allgemeinheit und Kontextinvarianz besteht nicht in - ohnehin nur eingebil­deter - Kontextfreiheit, sondern in der Darstellung zunächst vager und allgemein ge-

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faßter Begriffe in ihrer vernünftigen, d.h. angemessenen Verwendung in konkreten Situationen zu konkreten Zwecken. Nur so kann man den Fallen falscher Verallge­meinerung entgehen und überschwengliche Verwendungen zurückstutzen. Insofern zielt das Verständnis philosophischer Untersuchungen, welches auf realbegriffliche Analysen und nicht auf formal-analytisch exakte Definitonen hinausläuft, auf eine Schulung und Bildung der praktischen Urteilskraft, und zwar nicht als schönen Ne­beneffekt einer gelungenen philosophischen Analyse, sondern als deren Hauptanlie­gen: der Vermittlung von Begriff bzw. Theorie und deren in Bezug auf die je ver­folgten Zwecke angemessener, oder eben vernünftiger, Anwendung.

Oben hatten wir festgehalten, daß sich die Philosophie prinzipiell auf einer Me­taebene bewegt, daß ihr Gegenstand Theorien und deren Begriffe sind, oder genauer, das Verhältnis von Theorien, deren Anwendungsbedingungen, sofern diese begriffli­cher Natur sind (etwa kategorialen Präsuppositionen) und unseren Zwecken und Pra­xen. Oder kürzer: Es geht um die Lücke zwischen unseren abstrakten und allgemei­nen Begriffen unä Theorien einerseits und deren konkreter Anwendung auf Einzei­talle andererseits, um die Frage der Subsumption der Phänomene unter die (richti­gen) Begriffe. Die Urteilskraft ist nun die Fähigkeit, diese Lücke zu schließen. Sie ist deshalb ein äußerst wichtiger Gegenstand der Philosophie, und zwar nicht nur als theoretische Größe, sondern durchaus auch praktisch, als Fähigkeit, die geschult und gebildet werden muß, als das Vernunftvermögen der sinnvollen, d.h. angemessenen Verwendung von Begriffen und Theorien.2 1

Darüber hinaus führen realbegriffliche Analysen nicht nur in den Gebrauch schon verstandener Konzepte ein, sondern die vorgetragenen Beispiele und deren Erläute­rung in ihrer Gesamtheit bestimmen erst das Konzept. Insofern ist eine realbegriffli­che Analyse immer Voraussetzung einer sinnvollen formalen oder· schematischen Fassung von Begriffen und Behauptungen fiir deren abstrakten Gebrauch, weil erst sie die Voraussetzungen der sinnvollen Verwendung von Begriffen und Behauptun­gen, ihres Bereiches bzw. ihrer Reichweite, die sinnvollen Substitutionen und reale Identitäten und Äquivalenzen festlegen. Man könnte sagen, daß Begriffe, die in Be­griffsanalysen expliziert und verändert werden, ohne diese Praxis gar keinen oder keinen klaren Gehalt haben, selbst wenn wir über eine formal korrekte Definition verfUgen. Denn sind wir nicht in der Lage, einen Begriff zu projizieren, so haben wir bestenfalls einen Mengenterm, der die bisherigen Anwendungen umfaßt, aber eben keinen Begriff, den wir auch in neuen bzw. unbekannten Situationen verwenden können, um mittels vertrauter Unterscheidungen neues Terrain zu gewinnen.

Natürlich brauchen wir auch den abstrakten Gebrauch der Begriffe, z.B. um je andere Begriffe in der angegebenen Art erläutern zu können, um situativ hinreichend genaue Urteile zu taUen, um Wissen so zu systematisieren und zu bewahren, daß es

21 Gelegentlich wird ein ausgeprägtes Vermögen dieser Art auch Weisheit genannt. Insofern ist ein Ziel von Philosophie immer auch Weisheit als die Fähigkeit, angemessene Urteile zu fhllen.

Methode und Systematik der Philosophie 339

verlUgbar ist. Und dazu benutzen wir abrufbare Idealisierungen, Definitionen, Wör­terbucheinträge und ähnliches mehr, was aber nichts daran ändert, daß auch solche Verwendungsweisen von Begriffen im Zweifelsfall (erneut) realbegrifflich zu erläu­tern sind und letztlich immer von solchen Erläuterungen abhängen.

III. Anfang und Ende philosophischer Analysen - Beispiele, Bilder, Paradoxien

Angesichts des vorgetragenen Analysebegriffs und der Bedeutsamkeit der Aufgabe, die praktische Urteilskraft 'in Form zu bringen' , lassen sich hinsichtlich der Rolle von Beispielen in der Philosophie die folgenden Vermutungen plausibel machen: In der Philosophie sind Beispiele und Bilder nicht bloß Illustrationen schon verstan­dener Aussagen und Begriffe, sondern konstitutiv fiir die Problemstellungen, die Theorien und das Verständnis von beiden. Die Verwechslung von konstitutiven mit illustrativen Beispielen bzw. Bildern fiihrt zu einem Mißverständnis der Reichweite und des Status philosophischer Aussagen und Analysen überhaupt, indem das Prin­zipielle dieser Aussagen, das in realbegrifflichen Analysen exemplarisch vorgefilhrt wird, als Generelles oder abstrakt Allgemeines gedeutet wird. Dies fiihrt einerseits zur Überdehnung von Begriffen und Theorien, d.h. zu deren inadäquater Anwendung auf Phänomene, fiir die sie nicht 'gemacht' sind. Hier entstehen Paradoxien und Di­lemmata. Andererseits filhrt es zur Unterlassung dieser Anwendung an Stellen, an

denen die Verwendung dieser Begriffe und Aussagen erhellend wäre. Dies ist im Grunde ein Mangel an Urteilskraft. Erst Beispiele und deren Analyse erlauben es, die Urteilskraft so zu schulen, daß sie in der Lage ist, wichtige Unterscheidungen auf neue Gebiete zu projizieren, d.h. deren Verwendung im Falle 'neuer' Gegenstände sinnvoll fortzusetzen. Beispiele und ihre Erläuterung · vermitteln der Urteilskraft die nötige Erfahrung, um als erfahrene Urteilskraft (abstrakte oder ideale) Begriffe auf einzelne Dinge und Phänomene anzuwenden und so zu sinnvollen Urteilen zu gelan­gen. Erst so erschließt sich der Gehalt dieser Begriffe und erst über Beispiele wird

· die gemeinsame Urteilspraxis konstituiert. Geht man von Beispielen und der darauf aufbauenden Bestimmung von (neuen) Prädikaten und Unterscheidungen aus, ent­geht man den genannten Fallen reduktionistischer Analysen, einfach weil hier noch gar nicht festgelegt ist, in welc11em Klassifikationsschema man sich bewegt. Viel­mehr geht es oft genug gerade darum, ein solches erst aufzustellen bzw. die (Projek­tion der) unterlegten Unterscheidungen plausibel zu machen und eine intersubjektiv kontrollierbare Verwendung der fraglichen Prädikate einzufiihren. 22 ·

22 Dies spricht auch gegen Kants Auffassung, daß "der einzige und große Nutzen der Beispiele" darin liege, "daß sie die Urteilskraft schärfen." (1. Kant, Kritik der reinen Vernurift; Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1 974, AI34/5) Die Orientierung an Beispielen und deren Verwendung spräche eher fbr Dummheit, denn "Beispiele sind der Gängelwagen der Urteilskraft, welchen derjenige, dem es am natürlichen Talent der­selben mangelt, niemals entbehren kann." (ebd.), und "der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was

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Was ist nun das Material, aufwelches sich die Urteilskraft richtet und welches ihr sowohl zur Bildung wie zur Stabilisierung von Unterscheidungen dient? Was sollte .

demnach der Ausgangspunkt realbegrifflicher Analysen sein? Bloße (empirische) Einzelfälle taugen nicht dazu, wichtige Unterscheidungen plausibel und explizierbar zu machen. Der Einzelfall weist keine Richtung, er zeigt nicht, welche Projektionen möglich sind, worunter er subsumiert werden kann, was seine Präsuppositionen sind usw. Was interessiert, ist der typische oder beispiel- bzw. vorbildhafte Einzelfall, an dem in seiner Besonderheit die interessierende Unterscheidung oder Behauptung als über diesen Fall hinausreichende sichtbar wird. Ebenso ist das bloß (analytisch) All­gemeine nicht Ausgangspunkt solcher Analysen, denn es wird nicht problematisch, solange es nicht auf solche Einzelfälle bezogen wird, die sichtbar machen, daß die Subsumption unter den allgemeinen Begriff nicht angemessen ist, um das fragliche Phänomen zu beschreiben bzw. zu 'behandeln' , oder sogar falsch wird, indem sie Widersprüche bzw. Orientierungslosigkeit hervorbringt. (Es istklar, daß einzelne Gegenstände auch unabhängig von dem je Allgemeinen, wovon sie Einsetzungsin­stanzen sind, Eigenschaften haben müssen. Sonst könnten sie ja auch keine 'Finger­zeige' auf die Unangemessenheit oder Falschheit der jeweiligen Begriffsverwendung geben.)

Ein Beispiel möge dc!-s Gesagte erhellen: Das allgemeine logische Prinzip, daß jeder SatZ wahr oder falsch sei, klingt zunächst nicht unplausibel. In Frage gestellt wird es nur durch einen besonderen Satz, nämlich den Lügnersatz, der ein Gegen­beispiel zu dieser 'Annahme' darstellt. Dieser Satz fUhrt in die Wahrheitsantinomie und zwingt uns� den Wabrbeitsbegriff, die Logik und ihre Prinzipien genauer zu be­denken, ihre Reichweite, ihre Voraussetzungen und Anwendungsbedingungen zu untersuchen und besser zu verstehen. Am Beispiel des Lügnersatzes werden wichtige Unterscheidungen eingetUhrt, etwa die Aufspaltung des Wahrheitsbegriffs in eine ganze Hierarchie von Wabrheitsbegriffen, die Unterscheidung von syntaktischer und semantischer Korrektheit sowie die von Satz und Aussage. Würde man diese Unter­schiede und Begriffe auch ohne das Beispiel des Lügnersatzes und anderer semanti­scher Antinomien oder verwandter Probleme und Fehlschlüsse einfUhren müssen?

man Dummheit nennt. . ." (ebd.). Allerdings ftagt sich, woran Kant die Urteilskraft Oben will, wenn nicht . an Beispielen, und wo die Relevanz von Unterscheidungen ihre Quelle hat, wenn nicht in problemati­schen Beispielen. Denn "Urteilskraft [sei] ein besonderes Talent [ . . . ], welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will." (ebd.) Ich glaube nun allerdings, daß Kants Verdikt über Beispiele kein wirkliches Hindernis ist, dies wäre es nur, wenn man glaubt, man könne neue Unterscheidungen und Begriffe un­abhängig von konstitutiven Beispielen etablieren, was bedeutet, daß man in Beispielen nur illustrative Beispiele und in Bildern nur schmückendes Beiwerk ohne jede systematische Funktion sieht. Wenn wir aber unsere Begriffe sinnvoll bzw. vernünftig verwenden wollen, so müssen wir die konstitutiven Bei­spiele und Bilder verstanden haben, erst dann können sie zur Illustration werden. Ohne Urteilskraft könnten wir freilich auch die konstitutiven Beispiele nicht verstehen und das Allgemeine erfassen sowie in begriftliche Formen bringen, das in ihnen verborgen ist.

Methode und Systematik der Philosophie 34 1

Unter einem Beispiel wird gewöhnlich die Illustration eines schon verstandenen Sachverhaltes verstanden, ein Bild, welches allgemeine Aussagen veranschaulicht. Beispiele repräsentieren konkret, was im Abstraktum schematisiert ist, und machen es damit verständlich. Sie geben der Urteilskraft eine Richtung, wie unsere Unter­scheidungen, die in (abstrakten) Begriffen, Formeln, Symbolen, Wörtern usw. reprä­sentiert werden, anzuwenden sind. Sie bilden das Material, an dem unsere Urteils­kraft geschult wird und sie ermöglichen erst den Bezug der in gewissem Maße immer allgemeinen und idealisierenden Begriffe auf konkrete Dinge und Sachverhalte, in­dem sie als Stereotype, Prototypen und Schemata fungieren. Erst an Beispielen kön­nen wir uns versichern, daß wir Begriffe, Symbole, Formeln und Wörter tatsächlich in gleicher Weise verwenden, also einen gemeinsamen Hint�rgrund von Urteilen teilen, und Beispiele ermöglichen die Korrektur solcher Urteile. Dies ist wichtig, da es gerade auf die gemeinsamen, kollektiv geteilten Unterscheidungen ankommt, denn abstrakte Begriffe (bzw. abstrakte Sprachspiele) regeln nicht ihre Projektion, ihre Fortsetzung in neuen Fällen, dazu bedarf es einer gemeinsamen Urteilspraxis. Wenn wir etwa danach fragen, wie wir zur faktiseben Gemeinsamkeit in vielen moralischen Fragen gelangen, so ist eine wichtige Konstituente die Diskussion von Beispielen, al­so eine Art moraltheoretische Kasuistik. Denn hier werden die Konsequenzen zu­nächst abstrakter moralischer (und auch rechtlicher) Normen sichtbar, und erst hier besteht die Möglichkeit, diese per Vergleich auf das eigene Leben zu beziehen, die entsprechenden Ergebnisse zu bewerten und gegebenenfalls überzogene 'Anwen­dungen' zu korrigieren. Dabei werden neue, gemeinsame Grenzen der Anwendung bestimmter Begriffe und Prinzipien gezogen und Musterfälle geschaffen, auf die man

, sich in späteren Auseinandersetzungen um die Geltung bestimmter Begriffe und Be­hauptungen (oder eben auch Normen) zurückbeziehen kann. Potentielle Streitfragen und Zweifelsfalle werden vorab auf mögliche konsensuelle, d.h. zustimmungsflihige, Lösungen und Begründungen abgeklopft und die fiir dieses Unterfangen als Leitfa­den notwendigen Begriffe und Unterscheidungen tradiert und weiterentwickelt. In der Kasuistik wird so die praktische Urteilskraft geschult und ihre Anwendung in gewisser Weise auch expliziert, etwa in Form von Abwägungen und der Entwicklung und Explikation von heuristischen Regeln.

Beispiele kommen daher in drei verschiedenen Funktionen vor: 1 . Sie dienen zur Illustration schon verstandener Begriffe, Aussagen oder ganzer

Theorien bzw. sollen das Verständnis durch Veranschaulichung fördern. In diesem Sinne kapn man sie als Einsetzungsinstanzen von Allgemeinbegriffen oder theoreti­schen Aussagen verstehen. Diese Beispiele können illustrative Beispiele genannt werden.

2. Beispiele dienen, etwa als Gegenbeispiele, zur Kritik vorhandener Begriffe, Aussagen oder Theorien. Sie sind dann falsifizierend und bilden einen Anhaltspunkt, die Theorie entsprechend zu verbessern. Hier kann man von kritischen Beispielen

sprechen. 3 . Beispiele können (theorie-)konstitutiv sein. Mit ihnen können Theorien 'trans-

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portiert' werden. Sie dienen hier in gewissem Sinne als Vorbilder, die auf, hinsicht­lich der interessierenden und intendierten Unterscheidungen, nicht-begriffliche Wei­se etwas zum Ausdruck bringen, woftir uns sonst die sprachlichen Mittel (noch) feh­len. (Zuerst wären hier bildhafte Metaphern zu nennen). Solche Beispiele sollen kon­stitutive Beispiele heißen. Das ist die ftir die Philosophie besonders bedeutsame Rolle von Beispielen und Bildern: Sie konstituieren in vielen Fällen erst die fragli­chen Phänomene und Gegenstände.23

Illustrative und kritische Beispiele sind hinsichtlich ihrer logischen Form unun­terscheidbar, beide sind jeweils Instanziierungen. Sie unterscheiden sich aber in ihrer Funktion. Insofern sie Einsetzungsinstanzen sind, können sie auch als Modelle (bzw. Gegenmodelle) ftir die je interessierenden Begriffe, Aussagen oder Theorien be­trachtet werden. Konstitutive Beispiele dagegen sind {zunächst) keine Ein­setzungsinstanzen ftir die Unterscheidungen, Behauptungen oder Theorien, die in ih­nen erst zum Ausdruck kommen, obwohl sie natürlich Einsetzungsinstanzen anderer Behauptungen oder Begriffe sind, die gerade nicht zur Debatte stehen und gleichsam den neutralen Hintergrund bilden. Funktional hängen kritische und konstitutive Bei­spiele eng zusammen, weil Gegenbeispiele zu einer Theorie oft der Grund daftir sind, neue Unterscheidungen und Begriffe einzufUhren oder neue Theorien aufzu­bauen. Wird eine Theorie derart verändert, daß nun auch ein Beispiel integriert wer­den kann, 'das zunächst als Gegenbeispiel gedacht war, so ist dieses Beispiel in ho­hem Maße verantwortlich ftir die neue Form und die neuen Inhalte der 'alten' Theo­rie. Man kann sogar sagen, daß erst eine Diskussion solcher (Gegen)Beispiele uns die bislang unausgesprochenen begrifflichen Voraussetzungen und den Geltungsbe­reich unserer theoretischen Erfassung der Phänomene transparent macht, sowie Licht darauf wirft, wie die Projektionen von zunächst theoretischen Begriffen und Sätzen auf die Phänomene verlaufen und welche davon zulässig sind. Erst wenn wir dies besser verstanden haben, können wir auch die Theorien besser verstehen, die uns problematisch geworden sind, weil uns dann auch die synthetischen Urteile a priori klarer geworden sind, die ihnen zugrunde liegen. Diese Rolle begründet auch die kaum zu überschätzende Bedeutung von Paradoxien, Antinomien und Dilemmata als konstitutive Beispiele ftir die Philosophie: Sie zwingen zur Explikation solcher Vor­aussetzungen und bereiten so den Boden ftir neue Begriffe und Theorien.

Ich möchte dies an einem Beispiel verdeutlichen. V ersetzen wir uns in eine der üblichen Mathematikvorlesungen, sagen wir, über den axiomatischen Aufbau der

23 Wieso Beispiele erst Gegenstände schaffen können, wird klar, wenn man sich vor Augen fuhrt, wie der Gegenstandsbegriff eingefilhrt wurde. Und dies ist auch eine Quelle von Scheinproblemen, nämlich wenn wir uns nicht vergewissern, daß den theoretischen Gegenständen auch (relativ zur jeweiligen Theo­rie) theorieextern etwas entspricht. Dies müssen nicht Dinge, sondern können durchaus auch Gegenstän­de der (AIItags)Rede sein, wichtig ist nur die Rückbindung an eine Praxis und die damit verbundene Er­fahrung.

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Mengenlehre. Diese folgen vom methodischen Aufbau her gewöhnlich dem Vorbild Hilberts, d.h. es werden Axiome eingefiihrt, die zulässigen Schlußregeln benannt und Theoreme bewiesen. All dies, so wird gelehrt, sei rein formal aufzufassen, ja, es sei geradezu das Gütekriterium einer mathematischen Theorie, daß sie sich von inhaltli­chen Erwägungen frei halte. Wichtig sei, daß die Axiome so gewählt werden, daß keine Widersprüche (wie etwa Russells Antinomie der Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten) ableitbar sind, weshalb man vom sogenannten 'naiven Auf­bau' der Mengenlehre zur axiomatischen Mengentheorie übergeht. Eine solche Vor­lesung wird nach folgendem Schema aufgebaut sein: Defmition, Satz, Beweis, erste Folgerung, Beweis, Hilfssatz, Beweis, zweite Folgerung, Beweis zur Übung, Defmi­tion, Folgerung usw. Gute Professoren werden ihren Studenten darüber hinaus aber noch wichtige Hinweise zum Verständnis mitgeben, die sie 'Nebenbemerkungen' nennen - und die den wichtigsten Inhalt der Vorlesung darstellen. Im Falle der Men­genlehre könnten solche Nebenbemerkungen etwa darin bestehen, eine Skizze vom kumulativen Aufbau des Mengenuniversums zu geben und dessen Schichtung zu verdeutlichen, oder, etwa nach Art der Venn-Diagramme, bildhaft einsichtig zu ma­chen, daß die zulässigen Mengenbildungsoperationen nicht aus dem Bereich der wohldefinierten Mengen hinausfUhren etc. Was damit aber eigentlich gemacht wird, ist, ein inhaltliche Modell der Mengenlehre vorzustellen, welches durch die Axiome beschrieben wird. Macht man sich klar, was hier passiert, so wird die verdrehte ' Ideologie' der rein formalen bzw. axiomatischen Auffassung der Mengenlehre (bzw. ganz allgemein der Mathematik und Logik) deutlich: Was als bloßes Bild oder illu­strierendes Beispiel dargestellt wird, welches nur dazu dient, dem Lernenden An­haltspunkte zum Verständnis des formalen Aufbaus zu geben, macht den eigentli­chen inhaltlichen Kern der ganzen Theorie aus. Denn was war der Zweck der axio­matischen Mengenlehre? Die Vermeidung der Antinomien. Dazu wurden die Axio­me so gewählt, daß keine Widersprüche mehr ableitbar sind, insbesondere wurde bei Zermelo-Fraenkel das Komprehensionsaxiom eingeschränkt, so daß zur Bildung von Mengen nur noch die Elemente schon gebildeter Mengen zulässig sind.24 Was in der formalistischen Deutung dieses Axiomensystems aber ein Rätsel bleiben muß, ist die Frage nach einer Rechtfertigung der Axiome, die über die bloße ad-hoc-Vermeidung der Antinomien hinausgeht. Betrachtet man die Bilder und Beispiele, die gegeben werden, um die Axiome verständlich zu machen, aber nicht als bloße Illustrationen, sondern als anschauliches Modell eines Mengenuniversums25, welches durch die

24 Siehe dazu: Kurt Grelling, Mengenlehre, Leipzig und Berlin: Teubner 1 924, S. 44f., der die Grundi­dee der axiomatischen Mengenlehre sehr schön darstellt.

25 Um Mißverstandnisse zu vermeiden: Ich möchte die Redeweise vom Mengenuniversum nicht so ver­standen wissen, daß hier von einer jenseitigen platonischen Welt der mathematischen Gegenstände die Rede ist. Eine solche Redeweise sollte als Abkürzung verstanden werden, die eine Analyse der Konstitu­tion abstrakter Gegenstände und formaler Redebereiche durch Angabe von Äquivalenzbeziehungen und Identitätskriterien nicht ersetzen kann.

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Axiome in wichtigen Zügen beschrieben wird, so ergibt sich eine inhaltliche Recht­fertigung der Axiome: sie beschreiben den Aufbau des Mengenuniversums wider­spruchsfrei, während andere Axiome dies nicht tun. Wenn man so will, wird mittels der Bilder vom Aufbau des Mengenuniversums ein Widerspruchsfreiheitsbeweis fiir die axiomatische Mengenlehre bildhaft gefiihrt; nicht formal, sondern aufgrund in­haltlicher Überlegungen. Erst vermittels dieses Bilges, welches (fälschlich) als bloße Illustrationen (oder eben illustratives Beispiel) gedeutet wurde, wird einsichtig, war­um im Aufbau der Mengenlehre nach Zermelo-Fraenkel kein Widerspruch der Russensehen Art mehr auftreten kann.26 Insofern ist dieses Beispiel hier konstitutiv fiir ein neues (nun in gewissem Sinne nicht mehr 'naives') Verständnis des Aufbaus der Mengenlehre. Es ist nicht nur Illustration, ebensowenig wie Russells Paradox einfach ein Gegenbeispiel ist, sondern . legt die begrifflichen Voraussetzungen der sogenannten naiven Mengenlehre frei.

Oft sind konstitutive Beispiele aber nicht als Beispiele einer bestimmten Theorie intendiert, sondern es sind einfach bestimmte suggestive Bilder, die fiir lebens­weltlich relevante, aber noch nicht begrifflich erfaßte, Situationen oder fiir bestimm­te naive Alltagstheorien stehen. Es ist die Situation, in der man sagt: "Ich kann es nicht so genau ausdrücken, aber ich kann Dir ein Beispiel geben, fiir das, was ich meine." J?s ist ja nicht so, daß wir mit einem fertigen Netz von Begriffen die Phäno­mene sozusagen nur noch klassifizieren müßten, sondern erst die vorsichtige, immer nur vorläufige27 Anwendung vorhandener Unterscheidungen und deren Weiterent­wicklung fiir neue Phänomene und Situationen (etwa in Form von Metaphern), die Beachtung der Kontextgebundenheit begrifflicher Unterscheidungen und ihrer Zweckabhängigkeit, wird uns diese 'neuen' Phänomene erschließen und zu neuen Unterscheidungen fiihren oder die schon vorhandenen bereichern und in ihrem Ge­halt, ihrer Funktion und ihren Voraussetzungen erst verständlich machen.

Als ein erstes Beispiel kann hier das Bild von den Bedeutungen als Gegenstän­den, die durch Namen bezeichnet werden, dienen. Wir könnten die Bedeutung aller Wörter in Analogie zur Bedeutung von Namensschildchen verstehen.28 Dies ist die

26 In diesem Sinne wären dann auch die Gödelsatze zu deuten: Sie zeigen die Grenzen fonnal-deduktiver Schlußverfahren, aber nicht Grenzen der mathematischen Erkenntnis. Fonnal-deduktiv ist ein Wider­spruchsfreiheitsbeweis fllr beliebige Systeme nicht zu fllhren, weil immer ein widerspruchsfreies deduk­tives System vorausgesetzt werden muß, in dem ein solcher Beweis gefllhrt werden kann, damit er über­haupt Sinn hat.

27 Vorläufigkeit ist nicht mit Beliebigkeit zu verwechseln. Auch wenn Unterscheidungen noch Spiel­räume lassen, so können sie doch, bezogen auf den jeweiligen Kontext und die verfolgten Zwecke, hin­reichend genau sein und sind dies in der Regel auch. Abgesehen davon können wir das Unbehagen an

der Ve�endung dieses oder jenes Begriffes fllr dieses oder jenes Phänomen ohnehin nur artikulieren, wenn wtr andere Begriffe in diesem Kontext als hinreichend genau bestimmt voraussetzen.

28 Dieses Bild des Augustinus, der die Bedeutung aller Wörter in Analogie zu der Bedeutung ·von Eigen­namen deutet, die Gegenstandstheorie der Bedeutung, benutzt Wittgenstein in §2 seiner Philosophischen Untersuchungen (in: ders., Werkausgabe Band 1 , Frankfurt aM.: Suhrkapm 1984, als sei es das Leitbild

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Grundidee der Gegenstandstheorie der Bedeutung, und man kann mit Fug und Recht sagen, daß damit der Grundstein fiir viele wichtige philosophische Begriffe und Theorien gelegt wurde. Ist der Universalienstreit denkbar ohne die Idee, daß Wörter Gegenstände zu ihrer Bedeutung haben, es folglich allgemeine Gegenstände geben muß? Ohne die Voraussetzung einer Gegenstandstheorie der Bedeutung gäbe es kein Problem leerer Namen, aber wahrscheinlich gäbe es auch die Unterscheidung von kategorematischen und synkategorematischen Ausdrücken nicht, ebensowenig wie die logische Modelltheorie und die Korrespondenztheorie der Wahrheit.

Wie fruchtbar die Interpretation der Probleme der Philosophie von den zugrun­deliegenden Bildern und Beispielen her ist, wird auch deutlich, wenn man sich die Frage nach dem Wissen in der europäischen Philosophie anschaut. Wir haben hier den klassischen Wissensbegriff (Wissen als wahre, begründete Meinung), und das Problem des Skeptizismus, der jeden Wissensanspruch mit guten Gründen leugnet. Betrachten wir aber die Musterbeispiele von Wissen, wie sie etwa in Platons Aka­demie gelehrt 'wurden, so finden wir hier die Mathematik und insbesondere Euklids Geometrie. Und hier hat der so definierte Wissensbegriff sein volles Recht, nämlich im Bereich des wissenschaftlichen Wissens. Wo nach Wissen gefragt wird, wird ei­gentlich nach Wissenschaftlichem Wissen gefragt, also nach einem Wissen, dessen

· Erfiillbarkeitskriterien festgelegt sind. In der Geometrie hat es keinen Sinn zu be­zweifeln, ob man mit Lineal und Zirkel den Mittelpunkt eines Dreiecks bestimmen kann, denn dafiir gibt es eine Konstruktionsmethode. Ist eine solche Konstruktion durchgefiihrt, so offenbart man durch die Äußerung von Zweifeln an der Kon-

. struktion gewöhnlich nur mangelhaftes Wissen oder Verständnis: offenbar gibt es hier sicheres Wissen. Verlangen wir aber, ausgehend von diesem Beispiel, ähnliche Sicherheiten fiir beliebiges Wissen, verallgemeinem wir also den Begriff des geo­metrischen bzw. wissenschaftlichen Wissens über die Grenzen seiner sinnvollen Verwendbarkeit hinaus, so ist fraglich, ob es überhaupt ein (nichtwissenschaftliches oder genauer: nichtmathematisches) Wissen geben kann, welches den strengen Krite­rien des wissenschaftlichen Wissens genügt. Hängt man die Latte nur hoch genug, so wird niemand über sie springen können - die Argumente der Skeptiker greifen. Den­noch können wir uns im Vollzug unserer Lebenspraxis mit einiger Sicherheit auf die meisten unserer Meinungen verlassen. Wir stehen dann vor einem erkenntsnistheo­retischen Wunder und einer der wichtigsten Quellen abendländischen Philosophie­rens, nämlich der Frage nach der Möglichkeit sicheren Wissens und dessen Kriteri­en, denen nun wiederum unsere Alltagsmeinungen nicht entsprechen. Freilich, diese Darstelluhg ist sehr verkürzt und gleicht in ihrer Verzerrung eher einer Karikatur als einem ernsthaften Versuch der Deutung philosophischer Probleme, aber sie macht hoffentlich deutlich, wie aus modellhaften Beispielen neue Fragestellungen erwach­sen, die in diesen Beispielen nicht von vornherein enthalten sind, und wie diese Fra-

der gesamten traditionellen Bedeutungstheorie (und hat wohl recht darin).

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gestellungen in ihrer Entfaltung zu neuen Schwierigkeiten (etwa Dilemmata und Pa­radoxien) fUhren, die uns beunruhigen und die den systematischen Grund vieler phi­losophischer Disziplinen abgeben.

Die wichtige Rolle von Musterbeispielen, von (bildlichen) Vorstellungen und vereinfachten Modellen in den Wissenschaften hat T.S. Kuhn in Die Struktur wis­senschaftlicher Revolutionen deutlich gemacht. Wieweit gelten diese Einsichten fiir die Philosophie? Läßt sich Kuhns Auffassung von Paradigmen, insbesondere der Rolle der Musterbeispiele auf die Philosophie übertragen? Ja und nein. Ja, insofern auch Philosophie eine lehr- und lernbare Disziplin ist, deren Systematik nicht unwe­sentlich von begrifflichen Vorentscheidungen anhand von Beispielen, von methodo­logischen Grundüberzeugungen und bestimmten Leitbildern und -problemen ab­hängt. Nein, insofern diese Beispiele zu Beginn sowohl systematisch als auch im Nachvollzug der Probleme eine gegenüber den gewöhnlichen Beispielen der Wis­senschaften grundverschiedene Bedeutung haben. Denn viele der Beispiele und Bil­der der Philosophie haben, wenigstens zunächst, nichts mit Illustrationen zu tun, sie stehen, so paradox dies klingen mag, erst einmal fiir nichts Konkretes. Damit ist ge­meint, daß sie keine der interessierenden Unterscheidungen repräsentieren, kein Mo­dell fiir die relevanten Aussagen sind oder dergleichen. Natürlich sind sie Modelle, aber ebe� nicht fiir die Aussagen und Unterscheidungen, auf die es hier ankommt. Sie fungieren zunächst wie Metaphern, nur daß man nicht genau angeben kann, wo­für sie Metaphern sind. Denn um dies angeben zu können, muß man die dafiir not­wendigen Begriffe und Unterscheidungen erst entwickeln und präzisieren, was erst anhand der vorgelegten (intuitiv problematischen) Beispiele und Bilder geschieht. Sind diese Unterscheidungen dann begrifflich fixiert bzw. in die Form von Aussagen gebracht, dann wird das ursprünglich nichtrepräsentierende Beispiel zum Modell oder zur Illustration dieser Unterscheidung. Man könnte auch sagen: Die konsti­tutiven Beispiele der Philosophen (jedenfalls die, auf denen wichtige Unterscheidun­gen beruhen), werden mit der Entwicklung der entsprechenden Begrifflichkeiten bzw. Theorien zu bloßen Illustrationen, wobei ihr Charakter als Leitbild der Ent­wicklung dieser Unterscheidung bzw. die Einsicht in diesen Charakter verlorengeht

Anders als in den Einzelwissenschaften, in denen Beispiele (vorgeblich) nur zur Illustration dienen, · zur Veranschaulichung von Sachverhalten, die prinzipiell auch ohne diese Illustration beschreibbar wären, sind viele fiir die Philosophie relevante Sachverhalte ohne Beispiele und Bilder gar nicht zugänglich. Beispiele konstituieren viele philosophische Probleme und bilden so die Basis ganzer philosophischer Kon­zeptionen. Etwa wäre uns das Problem des freien Willens kein Problem, hätten wir nicht eine Reihe von Beispielen, in denen unsere Situation mit der eines Gefangenen oder eines willenlosen Hypnotisierten o.ä. verglichen würde.29 Während wis­senschaftliche Modelle immer Modelle von etwas vorhandenem sind, ist dies bei den

29 Vgl. D. Dennett, Ellenbogenfreiheit, Frankfurt!M.: Hain 1986.

Methode und Systematik der Philosophie 347

Beispielen der Philosophie nicht notwendig der Fall, auch wenn man geneigt ist zu sagen, Beispiele seien immer Beispiele fiir etwas. Aber damit erfaßt man nur die illu­strativen Beispiele, bestenfalls noch ihre Funktion als Gegenbeispiele. Die konstitu­tive Funktion von Beispielen ist so nicht zu verstehen. Vielmehr gibt es hier Paralle­len zwischen Philosophie und Kunst, nämlich in der Hervorbringung neuer Be­schreibungsmittel, seien diese nun anschaulicher oder begrifflicher Natur. Die Bei­spiele werden erst in der Entfaltung der philosophischen Idee zu Modellen von Un­terscheidungen, die zunächst vorerst nur in der Beschäftigung mit dem Bild entwik­kelt worden sind. Was anfangs ein sinnfreies Bild, eine vage Metapher fiir zunächst nicht faßbare Unterscheidungen und Begriffe darstellt, wird selbst zum Modell die­ser dann ausgearbeiteten Unterscheidungen. Philosophie ist eine Tätigkeit, die Bil­dern und Beispielen Modellcharakter verleiht.

In der Philosophie spielen Bilder und Beispiele auch deshalb eine andere Rolle als in den Wissenschaften, weil es in der Philosophie um das Verhältnis von Theorie, Modell und Anwendung geht. Insofern stellt Philosophie keine neuen Theorien auf, und insofern läßt sie alles wie es ist, zumindest auf der Objektebene und zumindest solange, wie, z.B. durch die Explikation kategorialer Voraussetzungen theoretischer Sätze, keine Einschränkungen möglicher Anwendungen deutlich werden. Es geht ge­rade um die Projektion theoretischer Modelle (etwa des Handelns) auf reale Zustän­de, d.h. um praktische Urteilskraft. Nach welchen Regeln wird aber projiziert? Führt man Beispiele einer Projektion an, können diese nicht nur Illustration sein, denn das theoretische Modell selbst gibt nicht vor, welche Projektionen (oder Interpretatio­nen) zulässig oder gar musterhaft sind. Vielmehr werden vermittels Beispielen die Regeln fiir eine solche Projektion erst festgelegt, und damit auch, was künftig als Darstellung des theoretischen Modells zählen darf, was intendierte Anwendung ist und was nicht, was analog ist, welche Äquivalenzen gelten und damit, welche Sub­stitutionen zulässig sind usw. Es werden bestimmte Beispiele als Standard oder Normalfall etabliert, an denen andere Fälle zu messen sind, und zwar sowohl in der Bewertung der Angemessenheit der Darstellung 'neuer Phänomene' mittels der Be­griffe, als auch darin, wieweit sie weiterer Erklärung bedürfen oder fiir unproblema­tisch gehalten werden können.30 Sofern sich Philosophie realbegrifflich mit der Analyse der Voraussetzungen solcher Theorien und Projektionen befaßt, ist sie also immer auch Analyse von Beispielen und Bildern.

Eine bestimmte Art der Verwendung von Beispielen und Bildern kennzeichnet in

30 Hierin liegt eine Quelle philosophischer Probleme: Konstitutive Beispiele werden oft filr unproblema­

tisch und einfach gehalten, z.B. weil sie alltäglichen Phänomenen oder bestimmten theoretischen Vor­

stellungen entsprechen. Unproblematisches und Einfaches muß aber nicht geklart werden. Vielmehr

dient es als Maßstab zur Klärung problematischer Fälle. Aber hierin steckt die Möglichkeit, daß der

Maßstab selbst zur Fehlerquelle wird, wenn er nämlich nur scheinbar einfach und ohne Schwierigkeiten

ist.

348 Frank Kannetzky

gewisser Weise auch einen Typ von Philosophie, den man ' definitorische' oder 'formale' Philosophie nennen kann. Hier werden Beispiele bestenfalls zur Illustra­tion oder als (semantische) Modelle benutzt. Sie gelten nur als Einsetzungsinstanzen fiir schon Gewußtes, die gegeben werden, um den weniger Sachkundigen einen Zu­gang zu ermöglichen. Prinzipiell wären Beispiele aber verzichtbar. Diese Art Philo­sophie zu betreiben nenne ich deshalb 'definitorisch' , weil sie Begriffe und Unter­scheidungen abstrakt - per Definition - einfilhrt, ohne nach deren realbegrifflichen Hintergrund und konkreter Wirklichkeit in Sprachspielen zu fragen, also weder nach einer Praxis, in der die fragliche Unterscheidung eine Rolle spielt, noch nach dem (außertheoretischen) Zweck der Unterscheidung oder deren Anwen­dungsbedingungen. Ein Beispiel fiir diese Art des Philosophierens mag die an den formalen Sprachen der Logik und Mengenlehre und dem entsprechenden Ideal der Exaktheit orientierte Philosophie abgeben. Dem entspricht ein reduktionistischer Be­griff der Analyse, eine Unterschätzung der Bedeutung von Beispielen und die falsche Alternative zwischen strengen Systemaufbau und Eklektizismus in der Philosophie, wobei realbegriffliche Analysen und die Ausrichtung auf die Schulung der Urteils­kraft, die, wie inzwischen deutlich geworden sein sollte, auf Beispiele und Bilder wesentlich angewiesen sind, eben deshalb als eklektizistisch denunziert werden.

IV. Das Problem der Systematik der Philosophie

Damit ergibt sich das Problem des systematischen Aufbaus der Philosophie. Wären erstens philosophische Behauptungen in gleicher Weise kriterial überprüfbar und damit objektivierbar, wie die Aussagen der Wissenschaft, so wäre das Anlaß, neue Disziplinen der Wissenschaft aus der Philosophie auszugliedern bzw. bestehende zu erweitern oder Philosophie als eine Wissenschaft wie andere aufzufassen. Wenn das aber nicht möglich ist, wie kann Philosophie dann systematisch sein, also über die bloße Kritik sprachlicher Formen hinausgehen? Bedeutet zweitens nicht auch die Orientierung der Philosophie an Beispielen, daß wir keine systematische Theorie vorlegen können, daß wir dazu verurteilt sind, unsere Urteile nach je wechselnden Kriterien der Angemessenheit an bestimmte Beispiele vorzutragen? Ist also syste­matische Philosophie überhaupt möglich? Oder müssen wir uns mit der eklek­tizistischen Anhäufung unverbundener Einzeleinsichten begnügen? Hat also am E�­de doch Wittgenstein recht, der Philosophie als systematisches Unternehmen ver­wirft?

Hier müssen zwei Ideen auseinandergehalten werden: Zum einen die Idee der Philosophie als Sys�em des Wissens, wie sie den 'alten' Metaphysikern und in ge­wisser Weise wohl auch Hegee 1 vorschwebte, zum anderen die Idee einer systema-

3 1 Zumindest läßt sich die Rede vom "System als Darstellung des Absoluten" so verstehen, als ziele sie

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tischen Philosophie. Diese zweite Idee ist nur sehr schwer zu präzisieren, denn was soll ' systematisch' ohne den Bezug auf ein System,heißen?

Wir können uns dies verständlich machen, indem wir der Frage nachgehen, ob philosophische Systematik auf der Idee der Wahrheit oder auf der Idee der über­sichtlichen Darstellung beruht. Denn Philosophie als System abzulehnen macht nur Sinn, wenn man der Idee anhängt, daß j edes System als System wahrer Sätze auf­zufassen ist, die Idee der Systematik also an der Idee der Wahrheit hängt, ein philo­sophisches System also so aufgefaßt werden müßte, daß es uns Aussagen über die Welt (als ganze, als System o.ä;} mit Wahrheitsanspruch präsentiert. Aber wir hatten schon gesehen, daß dies die Philosophie letztlich in Konkurrenz zu den Wis­senschaften auf deren Gebiet setzen würde, eine Position, in der sie sich auf Dauer nur blamieren kann. Wenn Philosophie uns etwas mitzuteilen hat, dann sind dies Einsichten, die zwar auf der theoretischen Aneignung der Welt aufbauen, insofern sie diese selbst zum Gegenstand haben, aber darüber hinaus gehen, indem sie, etwa durch die Analyse ihrer begrifflichen Voraussetzungen, zu einem besseren Ver­ständnis dieses Rationalitätstyps und seiner Eingebundenheit in eine gemeinsame Urteilspraxis und deren Konstitution und . Rolle in unseren Lebensformen oder Pra­xen beitragen.

Weiter wäre zu fragen, ob die Idee der Wahrheit nicht der Idee und Praxis der Wissenschaft systematisch nachgeordnet ist, etwa als Verallgemeinerung der gän­gigen Praxis der Überprüfung und systematischen Kontrolle von Aussagen nach Kriterien (z.B. der mathematischen Richtigkeit oder der Übereinstimmung mit der Empirie). Die Frage nach der Wahrheit nichtwissenschaftlicher Aussagen wäre dann ein Bezug des Wahrheitsbegriffes auf Bereiche, in denen die Rede von Wahrheit be­stenfalls Analogie oder Metapher sein kann. Wichtig wird dies vor allen Dingen dann, wenn man sich klar macht, wieviel auch an den üblicherweise den Wissen­schaften zugeordneten Theorien eher Erzählungen als wissenschaftliche Behauptun­gen sind. Man denke an Beispiele wie die Evolutionstheorie und die Kosmogonie, aber auch an Axelrods Erzählung der Entstehung von Kooperation in einer Welt von Egoisten. Auch hier ist die Frage nach der Wahrheit solcher Gebilde im strengen Sinne nicht angemessen. Man kann am Ende nur nach ihrer Kohärenz :fragen und

auf das wahre System des Wissens, welches auch in seiner Form dem im System repräSentiertem Wissen genügt, als ginge es um ein System, welches nichts anderes ist als "das sich selbst wissende Wissen". Durch diese ,reprliSentationstheoretische Lesart des Systemgedankens im Sinne einer Abbildung ist er in Mißkredit geraten, denn damit wurde das Mißverständnis erzeugt, im System müsse alles Wissen ent­halten und . auf Grundbegriffe reduzierbar sein. Das macht seine Grundbegriffe verdächtig und setzt sie dem Vorwurf der haltlosen Spekulation aus, abgesehen davon, daß ein solches System schon vom schie­ren Umfang her filr Menschen nicht faßbar wäre. (Es gibt andere Interpretationen Hegels, aber mir geht es um Typen des Philosophierens. Hege! wäre sogar eher einer der Philosophen, die sich in einer Lesart, wie sie etwa P. Stekeler-Weithofer vorgetragen hat, mit dem hier vorgestellten Verständnis von Philoso­phie vereinbaren ließen.)

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nach der pragmatischen oder praktischen Rolle solcher Geschichten (oder von Ge­schichte überhaupt), etwa im Projekt, die Welt für Menschen, wenigstens analogisch, sinnhaft zu machen, sie sozusagen auf menschliches Maß zu bringen. Im Rahmen der Geschichte werden dann auch menschliche Handlungsvollzüge verstehbar.32

Wenn in philosophischen Kontexten von Systemen die Rede ist, so ist ein System der Dinge, als gegenständliches System (z.B. das Planetensystem der Sonne), zu un­terscheiden von einem System als Darstellungsform. Daß dem System als Darstel­lungsform von Wissen ein gegenständliches System entsprechen müsse, etwa indem das erste ein (wahres) Abbild des letzteren sei, ist ein Irrtum. Wieder ist es die Idee einer invarianten Wahrheit, die in der Korrespondenz zu den Tatsachen bestünde, die in die Irre führt. 33

Insbesondere scheint hier die sog. Systemtheorie (bzw. deren überschwengliche Interpretation) fiir Verwirrung gesorgt zu haben, die ja eine Theorie über gegen­ständliche Systeme ist. In gegenständlichen Systemen ist es sinnvoll, von Selbstor­ganisation und dergleichen mehr zu sprechen, und es ist auch sinnvoll, Erkenntnis und die entsprechenden Fähigkeiten der Menschen unter diesem Aspekt zu betrach­ten: als gegenständliches System, welches mit seiner Umgebung in Wechselwirkung steht, aktiv seine Umwelt gestaltet usw. Aber dies darf nicht dazu fUhren, die ge­danklich� Ordnung als Abbild einer natürlichen, bloß vorgefundenen gegen­ständlichen Ordnung aufzufassen. Wir stünden dann vor Fragen wie: Was ist die Umgebung eines Begriffes, die dessen Existenzbedingungen erzeugt? Und wie er­zeugen Begriffe diese Umgebung? Natürlich kann man die Konnotationen eines Be­griffes als dessen Umgebung auffassen. Dabei handelt sich aber um logische, nicht um kausale Beziehungen, es ist notwendig, hier wie in anderen Bereichen auch, zwi­schen Fragen der Geltung und Fragen der Genese zu unterscheiden. Gegenständliche System können uns nichts über Geltungsfragen sagen. Aus gedanklichen Systemen können wir nichts zuverlässiges über deren Entstehung erschließen.

Systematik ist ja nichts anderes als die (kohärente) Anordnung von Aussagen und Begriffen nach bestimmten, leitenden Gesichtspunkten bzw. unter einem bestimmten Blickwinkel. Dazu kann auch die Anordnung nach Kriterien der Deduzierbarkeit ge­hören, was nichts daran ändert, daß dies nicht mit der Idee einer Abbildung gegen­ständlicher Systeme zu tun haben muß. 34 Das Ziel systematischer Bemühungen ist, Einsichten übersichtlich zusammenzufassen und darzustellen, also als ein einheitli-

32 Theodor Lessing spricht dabei von der "Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen".

33 Vgl. Rortys Der Spiegel der Natur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987. 34 So bestimmt Kant ein System als "die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee". Es ist nicht davon die Rede, daß das System irgendwie gegenständlich sein müsse oder einen Gegenstand abbilde. Im Gegenteil, Ideen, so wie sie Kant versteht, können gar nichts abbilden und ihre Deutung als Abbilder filhrt in Antinomien. Sie stellen vielmehr Ordnungsprinzipien dar und schaffen so die Möglich­keit von Systematik.

Methode und Systematik der Philosophie 3 5 1

ches, kohärentes Ganzes. Wozu aber brauchen wir eine systematische Anordnung philosophischer Begriffe und Behauptungen? Dies dient mehreren, miteinander ver­bundenen Zwecken, die letztlich auf eine Stabilisierung der gemeinsamen Urteil­spraxis und grundlegender, geteilter Gewißheiten hinauslaufen. Die Systematik hat ihren Grund insofern in der Pragmatik, etwa im Bedürfuis nach Orientierungen und deren Mitteilbarkeit Erstens kann nur so die Lehr- und Lernbarkeit wichtiger ge­meinsamer Unterscheidungen gewährleistet werden, die keine gemeinsamen sein könnten, wären sie nicht lehr- und lernbar. Denn wir lernen nie nur einen isolierten Begriff, sondern immer Begriffe in ihrem Zusammenhang mit anderen Begriffen. Erst im Verbund mit anderen Begriffen gelingt uns die Projektion auf (neue) Bei­spiele und damit die Erschließung ihres Gehaltes. Zweitens ist nur so eine Tradierung wichtiger Begriffe möglich. Nur unter geregeltem Bezug auf je andere Begriffe und die entsprechenden musterhaften Bilder als Typen (d.h. begrifflich gefaßt) ist es möglich, Begriffe in gewisser Weise situationsinvariant zu fassen und ihren Ge­brauch zu stabilisieren. Drittens können wir den Gebrauch von Begriffen nur im ge­ordneten Zusammenhang mit anderen Begriffen kontrollieren. Denn wir können nie nur einen Begriff anwenden, es gibt immer Alternativen der Beschreibung. Erst durch systematischen Rückbezug auf andere begriffliche Einordnungen können wir hinreichende Sicherheit in der Verwendung unserer Begriffe erlangen. Erst die Fest­legung auf Folgerungen und Präsuppositionen (und damit der Bezug auf andere Be­griffe) erschließt uns den Gehalt der angewandten Unterscheidungen. Und erst so wird die Verwendung von Begriffen überhaupt kritisierbar, denn Kritik setzt voraus, daß wir auf nichtintendierte bzw. unerwünschte Effekte der Anwendung der jeweili­gen Unterscheidung verweisen können. Nur eine systematische Ordnung bietet den Vorteil, daß wir Zusammenhänge und Aspekte erschließen können, die uns sonst verborgen blieben. Diese können aber unseren Intentionen zuwiderlaufen und, etwa als (verborgene) Widersprüche, den kollektiv einheitlichen Gebrauch der Urteile ge­fahrden. Man kann auch sagen, daß nur in einer systematischen Ordnung die für un­sere philosophischen Einsichten so überaus wichtigen Paradoxien überhaupt auftre­ten können.

Systematische Philosophie ist also die Anordnung philosophischer Begriffe und Argumente nach bestimmten Gesichtspunkten. Dies kann geschehen, um sich einen besseren Überblick über ein Gebiet zu verschaffen, etwa kann man nach Fami­lienähnlichkeiten anordnen. Systematik in diesem Sinne ist also zuerst eine Sache der übersichtlichen Darstellung und nicht der Wahrheit. Manchmal ist eine nach Kriteri­en der Folgerbarkeit aufgebaute Theorie die beste Darstellungsform, manchmal nicht, jedenfalls nicht die einzig mögliche, wie oft unterstellt wird. Insbesondere las­sen sich aus der Form der Darstellung als (deduktive) Theorie keine Schlußfolgerun­gen darüber ziehen, was die fundamentalen Begriffe oder Aussagen sein müßten. Wir wissen von den Axiomensystemen, welche in bestimmter Weise den Idealbegriff systematischer Ordnung realisieren, daß es hier ganz verschiedene Ausgangspunkte geben kann, die Menge der Aussagen eines Systems zu ordnen.

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Dennoch wird in der Philosophie daraus, daß bestimmte Anordnungen der Aus­sagen und Begriffe zur Darstellung bestimmter interessierender Aspekte besonders geeignet sind oder so scheinen, häufig gefolgert, daß bestimmte Behauptungen und Begriffe das Fundament oder die Begründungsbasis der Philosophie bilden müßten. 35 So ist es fiir manche Zwecke, etwa logische Ableitungen, bequem, die Sprache so darzustellen, als bestünde sie aus kleinsten bedeutungstragenden Elementen, deren (rekursive) Zusammensetzung (immer) zu sinnvollen Sätzen fiihrt. Aber ist es unsin­nig, nur auf Grund dieser Form der Darstellung eine "logische Ordnung" der Sprache zu postulieren oder nach dem Sitz dieser bedeutungstragenden Einheiten im Hirn zu fragen oder auch "mentale Organe" anzunehmen, welche die Zusammensetzung die­ser Einheiten zu sinnvollen Gesamtheiten bewerkstelligen, so wie die Leber Galle produziert. Dies wäre nur sinnvoll, wenn man unterstellte, daß der systematischen Ordnung unserer Begriffe und der theoretischen Gegenstände auch ein Pendant auf der Seite der Dinge entsprechen müßte. Aber gerade dies muß bestritten werden, denn eine systematische Ordnung gibt es nur hinsichtlich bestimmter Interessen, Blickwinkel, Begriffe und Äquivalenzbeziehungen, und diese kommen in der Natur nicht vor, sondern haben ihren Sitz in den fiir unsere Zwecke relevanten Unterschei­dungen, die wir aus problematischen Bildern und Beispielen gewinnen.

Sind ';Vir also zum philosophischen Eklektizismus verurteilt, weil wir, u.a. wegen der Orientierung an Beispielen, ja doch nicht zu einem fertigen System gelangen können, sondern immer nur vorläufiges, bruchstückhaftes philosophisches Wissen vorweisen können? Aber was ist schlimm am Eklektizismus? Es scheinen vor allem drei Gründe gegen den Eklektizismus zu sprechen. Zunächst, daß er Probleme nicht von einem System her löst und deshalb prinzipienlos wirkt. Aber dieser Vorwurf ist tautologisch. Zum anderen gibt die berechtigte Furcht vor der Inkonsistenz des Sy­stems: Klaubt man die Bestandsstücke aus allen Ecken zusammen, so ist nicht sicher, ob sich daraus nicht verborgene Widersprüche ergeben. Aber auch der Systematiker muß Material fiir sein Gebäude zusammentragen, und so wird man den Verdacht nicht los, daß er sich am Ende nur graduell von Eklektikern unterscheidet, indem er der deduktiven Verknüpfung seiner Überzeugungen besonders hohen Wert beimißt.

35 Z.B. ist Dummett der Meinung, daß die Bedeutungstheorie nach dem linguistic turn in der Philoso­phie so etwas wie ein neues Fundament ausmacht. So schreibt er, "daß sich die Richtigkeit einer auf ei­nem anderen philosophischen Gebiet durchgefiihrten Analyse nicht vollständig bestimmen läßt, ehe wir nicht mit ziemlicher Sicherheit wissen, welche Form eine korrekte' Bedeutungstheorie unserer Sprache annehmen muß." (Michael Dummett, Kann und sollte die analytische Philosophie systematisch sein?, in: ders., Wahrheit. Fünfphilosophische Aufsätze, Stuttgart: Reclam 1982, S. 2 1 3) Dies macht wieder die Voraussetzung, daß die Wahrheit der einen philosophischen Teiltheorie des Systems die der anderen Teiltheorien in gewisser Weise verbürgen könnte. Ich glaube, das ganze Bild ist schief: Denn was soll ei­ne Bedeutungstheorie, unabhängig von Problemen, die wir lösen wollen, leisten? Was sind die Kriterien fiir ihre Angemessenheit, unabhängig von der 'vernünftigen' Lösung philosophischer Probleme mit ihrer Hilfe?

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Aber diese ist zum einen nur ein Ordnungsprinzip unter anderen, zum anderen ohne den Nachweis der Widerspruchsfreiheit des Systems nur eine Beteuerung. Aber ga­rantiert der Aufbau eines Systems aus Prinzipien nicht Widerspruchsfreiheit? Daß dies nicht einmal beim strengstmöglichen Aufbau von Systemen, etwa logischen Kalkülen, gesichert werden kann, zeigt die Geschichte der modernen Logik. und ihrer Antinomien. Ein weiterer wichtiger, aber kaum artikulierter Grund ist, daß Eklekti­zismus eines Philosophen nicht würdig ist, weil er in seiner pragmatischen Ausrich­tung nicht zum einem liebgewordenen Bild der Philosophie als umfassendem System paßt, welches den Philosophen in die glückliche Lage versetzt, fundierte Antworten auf beliebige Fragen hervorzaubern zu können. Der Begriff des Eklektizismus wird gewöhnlich pejorativ gebraucht, es ist ein Schimpfwort fiir das prinzipienlose Ein­verleiben von Lehrssätzen, Beweisen, Argumenten usw. auf theoretischem Gebiet, vergleichbar dem opportunistischen Herumwursteln im praktischen Handeln, und zwar unter Zuhilfenahme all dessen, was paßt und den wenigsten Ärger bereitet. In dieser Überspitzung ist er nur eine Karikatur auf das bloße Herumwursteln auf theo­retischem Gebiet, kennzeichnet aber die reale Gefahr eines kurzsichtigen und auf zu schnelle Problemlösung fixierten Philosophierens. Aber auch hier sollte man ins Stutzen geraten: Was heißt denn 'unter Zuhilfenahme all dessen, was paßt'? Was soll 'Passung' bedeuten, wenn sie nicht auf eine Ordnung bezogen ist, anband derer sie erst feststellbar ist. Sollte der Eklektizismus vielleicht gar nicht so prinzipienlos sein?

Eklektizismus und Systematik in der Philosophie bilden nur dann einen Gegen­satz, wenn man glaubt, daß es in der Philosophie um die Aufstellung wahrer Theo­rien geht und nicht um ein besseres Verständnis unserer Praxen und damit letztlich um deren vernünftige(re) Bewältigung. Dafii.r braucht man kein System, womit syste­matisches Vorgehen aber nicht ausgeschlossen ist. Gerade deshalb ist der Eklek­tizismus eine Haltung, welche die Möglichkeit bietet, Fehler der Systematiker auszu­bügeln. So weichen Eklektiker Theorien auf, indem sie diese vor Beispiele stellen, die nicht mitgedacht waren und zeigen auf diese Weise deren Grenzen und Anwen­dungsbedingungen, womit gegebenenfalls Probleme falscher Allgemeinheit gelöst werden können. Sie bringen es auch fertig, scheinbar Unvereinbares zu vereinbaren und sind fähig, bewußt über Widersprüche und Probleme, die andere im Fortschrei­ten lähmen, hinwegzugehen. Dagegen sind es oft die Systematiker, die fii.r scheinbar unlösbare Probleme verantwortlich sind, indem sie bestimmte Phänomene dogma­tisch in ihr System zwingen und sie deshalb mit unangemessenen und insofern fal­schen Mitteln (nämlich denen ihres Systems) beschreiben und uns so vor falsche Al­ternativen stellen. Eklektiker können damit fertig werden, weil fiir sie Systeme nicht diese Rolle spielen. Etwas zugespitzt könnte man sagen, daß Eklektiker intellektuell redliche und neugierige Systematiker sind. Sie jagen keinem unerreichbaren Ideal philosophischer Systembemühungen hinterher.

Ist 'Eklektizismus' hier noch das richtige Wort? Geht es, anstatt um eine Vielzahl von Theorien, nicht vielmehr um eine Vielzahl von Beispielen? Beide bedingen ein-

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ander: so wie es Theorien ganz verschiedener Gebiete gibt, so gibt es auch ganz un­terschiedliche philosophie-konstitutive Beispiele und damit verknüpfte Probleme die mit ganz unterschiedlichen theoretischen Mitteln angegangen werden müssen

'und

die oft - we�igstens :zunächst - nicht viel miteinander zu tun haben. Ein philos�phi­scher Fehler Ist es, die Lösung eines problematischen Beispiels fiir die generelle Lö­sung fiir beliebige Beispiele zu halten, ein anderer, zu bestreiten, daß man aus dem einen Beispiel etwas fiir andere Beispiele lernen kann.

Wenn Lösungen nicht vergleichbar sind, so wie Freges Philosophie der Mathe­matik nicht so ohne weiteres mit Hegels Philosophie zu vergleichen ist, dann wird man vernünftigerweise versuchen, aus allen etwas zu lernen. Dies ist ein Eklekti­zismus, der sich auf Theorien bezieht. Aber man wird dabei nicht stehenbleiben sondern versuchen, sowohl Freges Unterscheidungen auf Hegels Gebiet wie auch umgekehrt an�wenden. Und dies ist ein systematisches Moment der Philosophie, welches aber, emfach aufgrund der Tatsache, daß wir immer neue Theorien und Bei­spiele philosophisch zu bewältigen haben, niemals zu einem Abschluß in Form eines (nun wahren) philosophischen Systems kommen kann. . Weil die systematische und überschaubare Ordnung der Begriffe nichts Fertiges Ist, welches nur noch entdeckt werden muß, ist es auch unsinnig, in der philosophi­schen F?rschung auf ein verborgenes Soll hinzuarbeiten, welches sich mit den Fort­schritten der Forschung sukzessive enthüllen wird. Vielmehr ist das systematische Fragen (vgl. Sokrates Hebammenkunst), welches darauf zielt, das, was man schon ke�t, besse� zu verstehen, die Methode der Philosophie. Dabei besteht das Syste­mati�che darm, � man vorhandene Argumentationsmuster benutzt und gut ausge­arbeitete Unterscheidungen auf neue Fälle überträgt und so die Begriffe miteinander v�rknüpft �d deren Rei�hweite erweitert, etwa um neue, typische Anwendungen. Dies setzt tmmer schon eme Geschichte der Philosophie und der relevanten Unter­scheidungen voraus, kann also nicht deren systematischer Ausgangspunkt sein. Wir fangen in der Philosophie eben nie bei Null an, denn die Philosophie als metastufiges Unternehmen setzt immer schon Theorien voraus, und von daher hat sie immer schon eine Geschichte, wenn auch nicht notwendig die Geschichte philosophischer Theorien, so doch eine Problemgeschichte. ·

Heißt systematisches Philosophieren aber nicht immer auch, daß man von den Grundlagen her philosophiert? Etwa daß man nur von einer festgefUgten Bedeu­tungstheorie aus erkenntnistheoretische, moralische und andere Fragen in Angriff , nehmen könnte? Ganz sicher nicht, wenn man sich von dem Gedanken verabschiedet hat, die Philosophie müsse das eine, wahre System aufstellen. Die Philosophie er­richtet kein Gebäude, wie es auf Baustellen üblich ist, sondern es hat hier durchaus Sinn, vom Dach her zu bauen36, was in unserem Falle heißt, bei interessanten Bei-

36 Von Wittgenstein stammt die Bemerkung, daß hier das ganze Haus das Fundament trägt. (Über Ge­wißheit, in: Werkausgabe Band 8, a.a.O .. )

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spielen und Bildern oder bei quälenden Paradoxien zu beginnen. Und es hat nicht nur Sinn, es ist der einzige Weg, den wir in der Philosophie beschreiten können. Denn auf anderem Wege sind uns Präsuppositionen und begriffliche Zusam­menhänge nicht zugänglich; sie zeigen und bewähren sich nur in der Lösung kon­kreter Probleme, die sich aus dem Versuch der theoretischen Erfassung der Welt und unserer Praxis ergeben.

Aber gibt es nicht 'ewige' Probleme der Philosophie, einen fixen Grundgehalt an Ideen? Es gibt zwar immer die gleichen Strukturprobleme, insofern wir immer wie­der Schwierigkeiten haben, die Urteilskraft aufNeues einzustellen, aber dies ist nicht schematisch zu bewältigen, so daß strukturell ähnliche Probleme ganz unter­schiedliche Herangehensweisen, Unterscheidungen und Lösungen erfordern können. Das beste Beispiel hierfiir bieten wieder die Paradoxien, die freilich strukturelle Ge­meinsamkeiten haben, aber jeder schematischen bzw. formalen Lösung trotzen.37 In­sofern gibt es keinen festen Grundbestand an Ideen und Problemen. Aber, und dies ist der Kern einer sinnvollen Rede von der "philosophia perennis", wir können bei der Lösung neuer Probleme immer auf die gut ausgearbeiteten begrifflichen Unter­scheidungen und Analysen aus der Geschichte der Philosophie zurückgreifen - und wir wären schlecht beraten, würden wir diesen reichen Fundus nicht nutzen. Deshalb ist die Rede vom originären Denken und der autonomen Urteilskraft, welche in der Unabhängigkeit von traditionellen Begriffen bestünden und nur nach dem Gehalt der je fraglichen Aussagen schaut, zumindest unvollständig, wenn nicht ganz falsch und überheblich. Ohne die Geschichte und die darin entwickelten Begriffe könnten wir verschiedene Probleme gar nicht als solche erfassen. Es gibt keine 'natürlichen Be­griffe', auf die wir in der Analyse von Problemen sozusagen voraussetzungslos zu­rückgreifen könnten, und deshalb ist es sehr oft unangemessen, nur die Wahrheit oder Falschheit einer Aussage ins Auge zu fassen und ihren Kontext und genetische Aspekte außer acht zu lassen.

So einleuchtend eine Haltung zunächst auch scheint, derzufolge strikt zwischen Fragen der Geltung und solchen der Genese zu trennen ist, so leicht fUhrt sie auch zu unsinnigen Resultaten. Erstens ist gar nicht klar, ob die Frage nach der Wahrheit oder Falschheit so ohne weiteres fiir beliebige Sätze gestellt werden kann. Zweitens, und wichtiger, ist ohne die Berücksichtigung des Kontextes (nicht nur des histori­schen, sondern v.a. des begrifflichen) oft nicht verständlich, was ein Satz besagt. Ehe wir seine Wahrheit bewerten können, müssen wir ihn verstehen, was immer auch heißt, daß man die Unterscheidungen, die mit Verwendung bestimmter Begriffe ( d.h. in jeder Prädikation) unterstellt werden, nachvollziehen kann. Eine bloß an der sprachlichen Oberfläche orientierte philosophische Analyse kann dies nicht leisten. Das ist ein Grund, warum die Begriffskritik nach ausschließlich formal-analytischer Art ihr Ziel verfehlt: sie fragt nur nach der Operationalisierbarkeit von Begriffen,

37 Siehe meine Dissertation paradoxes denken, a.a.O . .

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und übersieht dabei, zu fragen, welche Rolle der fragliche Begriff in bestimmten Praxen spielt, welche praktische Bedeutung er diuin hat, welchen wichtigen gemein­samen Urteilen er zur Basis dient usw. Beschränkt man sich hier auf Sinnkriterien, welche nur fiir empirisch kontrollierbare Begriffe von Belang sind, so wird man den Sinn von nichtempirischen Begriffsbildungen verfehlen müssen. Problematisch ist hier vor allem die kritiklose Übernahme wissenschaftsinterner und schematischer Kriterien der Bewertung von Aussagen fiir wissenschaftsexterne Fragestellungen, die Urteilskraft und Augenmaß erfordern. Je strenger diese Kriterien sind, desto geringer ist die Aussicht, sie zu erfiillen. Und fragt man nicht, ob diese Kriterien der Beurtei­lung des fraglichen Gegenstandes überhaupt angemessen sind, so werden sie apriori nicht erfiillt werden können, sobald es um Urteile und Begriffe geht, die nicht sche­matisch verwendet werden können, weil sie gerade auf das V erhiiJ.tnis von Seherna­tismen und ihrer Anwendung abzielen. Das sagt aber zunächst nichts über die fragli­chen Begriffe und Aussagen, sondern eher etwas über die Adaquatheit der verwen­deten Kriterien. Und so könnten sich einige der ewigen Probleme der Philosophie als ewige Probleme der unangemessenen Verwendung von Kriterien erweisen. Aber ge­rade dieses Verhältnis von Begriff und Anwendung, also Fragen der Urteilskraft und ihrer Bildung, könnte, in immer neuen Variationen, ewiges Thema der Philosophie sein.