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Ridvan Ciftci Karl-Gustav Heidemann Wilfried P. Schrammen (Hrsg.) Gemeinsam für eine solidarische Gesellschaft Schlaglichter aus 150 Jahren sozialdemokratischer Geschichte in Bielefeld

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Ridvan Ciftci Karl-Gustav Heidemann Wilfried P. Schrammen (Hrsg.)

Gemeinsam

für eine

solidarische

Gesellschaft

Schlaglichter aus

150 Jahren

sozialdemokratischer

Geschichte in Bielefeld

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ISBN: 978-3-946410-04-1

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Ridvan Ciftci, Karl-Gustav Heidemann, Wilfried P. Schrammen (Hrsg.)

Gemeinsam für eine

solidarische Gesellschaft

Schlaglichter aus 150 Jahren sozialdemokratischer

Geschichte in Bielefeld

Verlag Gieselmann Druck und Medienhaus

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Verlag und Druck: Gieselmann Druck und Medienhaus GmbH & Co. KG Bielefeld 2018

Redaktion: Ridvan Ciftci, Karl-Gustav Heidemann, Wilfried P. Schrammen

Satz, Layout, Grafik: Britta Freund

Umschlagfoto: Stadtarchiv Bielefeld

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InhaltsverzeichnisVorwort 5

Grußworte 7

Einleitung 11

Karl-Gustav Heidemann Gemeinsam sind wir stark. Erste Organisationsbestrebungen Bielefelder Arbeiter in den Jahren 1848 bis 1878 13

Bernd J. Wagner Wie „Hechte im Karpfenteich“. Sozialdemokratische Agitation in Bielefeld (1890-1914) 33

Bärbel Bitter „Mit der Frau ist jede Sache gewonnen, ohne sie jede verloren“ Frauen in der Bielefelder Sozialdemokratie 45

Wilfried P. Schrammen Vom Ersten Weltkrieg bis zum Bielefelder Abkommen 67

Bernd J. Wagner Die Bielefelder Sozialdemokratie in der Weimarer Republik und unterm Hakenkreuz 77

Wilfried P. Schrammen Arbeiterbildung und Arbeiterkultur 101

Ridvan Ciftci „Stählt euren Leib, strebt empor zur Höhe“. Arbeitersportbewegung in Bielefeld 107

Ridvan Ciftci „Wir sind jung, die Welt ist offen“ Die Anfänge der Bielefelder Arbeiterjugendbewegung (1908-1933) 125

Joachim Wibbing Demokratischer Neubeginn und wirtschaftlicher Aufstieg. Die SPD in Bielefeld von 1945 bis 1960 141

Karl A. Otto Friedenspolitik und Friedensbewegung in Widersprüchen 155

Frank Bell Demokratie, Sozialismus und Völkerfrieden. Die Freie Presse als Zeitung der ostwestfälisch-lippischen SPD 163

Ridvan Ciftci Sozialdemokratie und Jugend nach 1945 179

Ridvan Ciftci, Hasan Kazaz Die Wilden 1960er- und 1970er-Jahre der Jungsozialisten 185

Wilfried P. Schrammen Die kommunale Neuordnung 205

Schlussbetrachtung 215

Anhang

Joachim Wibbing, Karl-Gustav Heidemann Historische Orte der Bielefelder Sozialdemokratie 219

Autorenverzeichnis 225

Abbildungsverzeichnis 227

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Vom Ersten Weltkrieg bis zum Bielefelder Abkommen

Wilfried P. Schrammen

Die Situation vor 1914Der erste Weltkrieg brach – wie heute gesicher-te Erkenntnis sein dürfte – weder unvermittelt aus, noch waren „Schlafwandler“1 am Werk, die überrascht in eine weltweite Krisensituati-on geschlittert waren. Die imperialistischen Ex-pansionbestrebungen der in unterschiedlichen Bündnissen agierenden Großmächte machten sich schon vor der Jahrhundertwende daran, die Welt nach ihren Ambitionen neu zu vermessen.

Im Deutschen Reich wurde die Rüstungs-produktion gesteigert und der Flottenaufbau forciert, ideologisch begleitet vom Alldeutschen Verband und mehr noch vom Deutschen Flot-tenverein, der in kurzer Zeit an Ansehen und Mitgliedern gewann.2 Über allem schwebte förmlich mit Wilhelm II. ein Regent, der mit höchst nationalistischen Reden den Akteuren in Politik und Militär seinen kaiserlichen Segen gab.

Dass Österreich-Ungarn das Attentat von Sa-rajewo nutzte, um nach einem bewusst provo-kativen Ultimatum an Serbien den Weltenbrand in Gang zu setzen, passte ins Expansionsstreben der Großmächte.

National wie auch international rief die Ar-beiterbewegung zu Massenkundgebungen gegen Militarismus und Krieg auf. „Nach SPD-Angaben fanden Ende Juli insgesamt 288 Versammlun-gen und Aufmärsche statt, an denen sich mehr als eine Dreiviertel Million Menschen beteiligt hätten“.3 In Bielefeld wie in zahlreichen ande-ren deutschen Städten rief die Sozialdemokra-tische Partei im Juli 1914 auf dem Höhepunkt der Balkankrise zu Massendemonstrationen auf, Treffpunkt am 28. Juli war die Centralhalle am Kaiser-Wilhelm-Platz (heute Kesselbrink). Die Volkswacht berichtete am nächsten Tag:

„In hellen Scharen strömte die Arbeiterschaft Bielefelds und der Umgebung gestern Abend nach der ‚Centralhalle‘, um zu den neuesten poli-tischen Vorgängen Stellung zu nehmen und ihrer

Meinung gegen die drohende Kriegsgefahr Aus-druck zu geben […]. Hier stand die Menge bald Kopf an Kopf und es waren mindestens 7.000 Personen, die den Ausführungen des Referenten, Genossen Severing, lauschten.“4

Die Frage, wie und ob ein möglicher Krieg zu verhindern sei, führte in der organisierten Ar-beiterschaft in Partei und Gewerkschaften aus ihrer Geschichte bedingt zu Diskussionen um das Thema Massenstreik. Im Volkswacht-Ar-tikel wird deutlich, dass Carl Severing, der zu dieser Zeit die ununmstrittene Führungsperson von Partei und Gewerkschaften war, bereits eine klare, mit der Parteiführung auf Reichsebe-ne abgestimmte Haltung zu dieser Frage hatte: „Wir wollen in diesem Augenblick nicht drohen, es wäre lächerlich, vom Massenstreik zu reden. Wenn die Mobilisation Deutschlands erfolgt, dann brauchen wir nicht mehr streiken, dann stehen die Fabriken so still.“

Die schnelle, auf Reichsebene durch Partei- und Gewerkschaftsführung koordinierte Ab-lehnung eines Massenstreiks – bei dem verein-barungsgemäß den Gewerkschaften die Initial-zündung oblag,5 hatte ihre Ursache in den Er-fahrungen aus der Zeit des Sozialistengesetzes. Die Sorge, den nach 1890 erreichten Status zu gefährden bis hin zur Angst vor einem erneu-ten Verbot, ließ in beiden Organisationen die Debatte im Keim ersticken. Sie waren deswei-teren überzeugt, dass Landesverteidigung und Sicherheit der Bevölkerung wichtigstes Ziel des Krieges waren. Der Politik des sogenannten Burgfriedens konnte so unverzüglich zugestimmt werden. Erleichtert wurde die Zustimmung auch durch die Haltung der in der Zweiten Sozialis-tischen Internationalen zusammengeschlossenen Parteien, die jeweils den Appellen zur Burgfrie-denspolitik ihrer Regierungen folgten. Vergessen waren Antikriegsdebatten aus den Vorjahren, vergessen war das Manifest der deutschen und

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französischen Sozialdemokratie gegen die impe-rialistische Rüstungspolitik vom 1. März 1913.6 Die noch bis in die letzten Julitagen 1914 geführ-ten Gespräche beider Organisationen über eine einheitliche Haltung gegen den Krieg waren end-gültig gescheitert.

Der Erste WeltkriegIm Deutschen Reich hatte des Kaisers Diktum „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“ Erfolg: Mit der Kriegserklärung Deutschlands an Russland vom 1. August 1914 begann der Krieg. Bereits einen Tag später be-kannte sich in Berlin die Vorstandskonferenz der freigewerkschaftlichen Zentralverbände zur Burgfriedenspolitik und beschloss gleichzeitig, alle Lohnverhandlungen einzustellen.

Am 4. August schließlich wurden mit den Stimmen der SPD-Fraktion im Deutschen Reichstag die Kriegskredite sowie eine Reihe von anscheinend kriegsnotwendigen Maßnah-men, die bürgerliche Rechte deutlich einschränk-ten, beschlossen.

Im Namen des SPD-Bezirksvorstandes Ost-westfalen hatte Carl Severing in der Volkswacht einen Aufruf, der sich an die Bevölkerung in Ostwestfalen und in den lippischen Freistaa-ten richtete, veröffentlicht, in dem es u.a. hieß: „In ernster Stunde wenden wir uns an Euch! Zwar ist der Krieg noch nicht erklärt, aber der Kriegs-zustand läßt ihn erwarten […]. Noch heute er-heben wir unsere Stimme zum Frieden. Sind aber die Würfel gefallen, dann gibt es auch für die Sozi-aldemokratie nur ein Ziel: Das deutsche Volk mit allen Mitteln gegen machthungrige Ansprüche des ‚Friedenszaren‘ zu schützen. Wir sind überzeugt, dass unsere Freunde, die unter die Fahnen beru-fen werden, sich in der Verfolgung dieses Zieles von den Angehörigen anderer Parteien nicht übertreffen lassen werden. […] Was auch kom-men mag, tue jeder seine Schuldigkeit, dann haben wir ein Recht an den Glauben, dass nach diesen trüben Tagen der Treue und Beharrlichkeit ihr gerechter Lohn wird. Tut Eure Pflicht.“7

Damit, aber auch mit seinen zahlreichen Auf-tritten als Redner, gelang es Severing in kürzes-

ter Zeit, einen Stimmungsumschwung in Partei und Gewerkschaften und auch in der Bielefelder Bevölkerung herbeizuführen. Bemerkenswert ist, dass Severing die Propaganda der Reichsre-gierung, die darauf bedacht war, den russischen Herrscher als Kriegstreiber darzustellen, kri-tiklos übernimmt. Aus Kriegsgegnerschaft wur-de Kriegsbegeisterung: Aus Bielefeld abrückende Regimenter wurden unter großer Beteiligung von den Bürgerinnen und Bürgern verabschiedet.8

Doch schon vor Jahresende verflog angesichts des Kriegsverlaufs die Begeisterung und vor al-lem auch die propangadistisch genährte Hoff-nung auf ein schnelles Kriegsende. Die Schlie-ßung von Betrieben wegen des nun fehlenden Personals und der Konzentration auf kriegswich-tige Produktion führte schon im Herbst 1914 zu Arbeitslosigkeit und Verarmung in weiten Teilen der Bielefelder Bevölkerung.

Dass zunehmend Frauen in der Metallindus-trie beschäftigt wurden, konnte diese Entwick-lung nicht beeinflussen: „Der Lohn der hier beschäftigten Frauen lag bis zu 30% unter dem ihrer männlichen Kollegen. Der größte Teil der Frauen wurde aus Branchen rekrutiert, z.B. der Textilindustrie, deren Beschäftigte nicht über die Organisationstradition der Metallindustrie verfügten. So gelang es den Unternehmern bis Ende 1916 nicht nur, jede Teuerungszulagenfor-derung für die Frauenlohngruppen abzuwehren, sie konnten darüberhinaus auch die den männ-lichen Arbeitern gewährten Zulagen weit unter das Maß hinabdrücken, dass für einen Ausgleich der Teuerungsrate notwendig gewesen wäre.“9 Zur Behebung größter Not verständigte sich der Deutsche Metallarbeiter Verband (die Vor-läuferorganisation der späteren IG Metall) mit dem Unternehmerverband auf die Einrichtung eines Kreisausschusses für die Metallindustrie. An der Spitze des Gremiums stand Oberbür-germeister Rudolf Stapenhorst. Desweiteren gehörten ihm je vier Unternehmer und Ge-werkschaftsvertreter an. Das wichtigste Betäti-gungsfeld des Ausschusses war die Beschaffung von Rüstungsaufträgen für die einheimische Industrie.

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Dieses Vorhaben war so erfolgreich, dass be-reits im Sommer 1915 in der Rüstungsindustrie Vollbeschäftigung herrschte, was die Arbeitge-ber zum Anlass nahmen, die Ausschusstätigkeit unverzüglich zu beenden. Da wegen der Einbe-rufungen in der Folgezeit ständig Arbeitskräf-te gesucht wurden, stellten die Unternehmer vermehrt Frauen und Jugendliche unter Umge-hung tariflicher Regelungen ein. Für die Sozial-demokraten war die Versorgung mit Nahrungs-mitteln, Wohnraum, Kleidung und Heizmitteln die größte Herausforderung in ihrer kommu-nalpolitischen Tätigkeit, der sie sich mit größ-tem Engagement stellten. Schon seit Beginn des Krieges mangelte es an Grundnahrungsmitteln (der so genannte Steckrübenwinter 1916/17 verschärfte die Situation noch einmal drama-tisch), die rationiert und per Lebensmittelkar-ten ausgegeben wurden. Mit Fortdauer des Krieges schwand allerdings die Begeisterung der Bevölkerung für die Völkerschlacht merk-lich. Der von den Militärs propagierte schnel-le Erfolg im Westen, um den Rücken für den Russlandfeldzug frei zu haben, stellte sich nicht ein und so konnten sich revolutionäre Bestre-bungen entwickeln.

Die immer noch bestehenden Klassengegen-sätze traten wieder deutlich zu Tage: „Hatte es bei Kriegsausbruch, im Zeichen des Burg-friedens, so geschienen, als wären Bürgertum und Arbeiterschaft, die Hauptklassen der Be-völkerung, aufeinander zugegangen und, ange-sichts des Heeres von Feinden ringsum, zur Versöhnung bereit gewesen, so zeigte sich im Verlauf des Krieges, dass der Graben eher tie-fer wurde, dass sich die Konflikte verschärf-ten und sich die Gegensätze schließlich als so unüberbrückbar erwiesen, dass am Ende die Revolution, nicht die Solidarität in der gemein-sam erlittenen Niederlage stand.“10 Dieser Ent-wicklung hatten sich auch die sozialdemokrati-sche Parteiführung und die Reichstagsfraktion zu stellen. Schon seit der zweiten Bewilligung der Kriegskredite im Dezember 1914 hatte, ausgelöst durch Karl Liebknechts Verweige-rung, dieser zuzustimmen, die erneute Debat-

te um die Haltung der Reichstagsfraktion zum Krieg an Heftigkeit zugenommen und mündete schließlich in die Spaltung der Partei. Die Grün-dung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD)11 im April 1917 war das sicht- bare Zeichen.12 Für die SPD, die sich nun zwecks Abgrenzung als Mehrheitssozialdemo- kratie (MSPD) bezeichnete, war es mit Be- ginn der Novemberrevolution dennoch selbst- verständlich zur zeitweiligen Kooperation mit der USPD zusammenzukommen – auf Reichsebene wie auch in Bielefeld, wenngleich die USPD hier keine größere Bedeutung erlangte.

In der vorrevolutionären Phase waren es SPD und Gewerkschaften, die den Geist der Zeit er-kannt hatten und Ende Oktober 1918 zu einer von rund 3.000 Bielefelder Bürger und Bürgerin-nen besuchten Versammlung in der Centralhalle der zunehmenden Antikriegshaltung eine Stimme gaben. Die neue Richtung erläuterte Carl Sever-ing: „Nationale Verteidigung heißt jetzt, dass das Recht im Inneren und Äußeren zur Anerken-nung gebracht wird, dass wir möglichst schnell zu Friedensverhandlungen gelangen. Heute noch, wo die Überlegenheit des Feindes an Materi-al und Maschinen feststeht, von einer endlosen Weiterführung des Krieges reden, heißt weiter nichts, als die deutsche Entwicklungsfähigkeit für die Zeit von Geschlechtern unmöglich zu ma-chen.“13

Partei und Gewerkschaften waren also auf die neue Zeit vorbereitet und wurden durch die Ereignisse ausgehend vom Matrosenaufstand in Kiel schnellstens zum Handeln gezwungen. „Auf-grund der Revolutionsnachrichten […] beriefen am Spätnachmittag des 8. November SPD- und Gewerkschaftsführung […] eine gemeinsame Vertrauensmännerversammlung ein. Severing unterbreitete der Versammlung den Vorschlag, einen provisorischen Volksrat einzurichten, der sich aus SPD-Wahlvereinsvorstand und Ge-werkschaftskartellausschuss zusammensetzen sollte.“14 Dies fand die Zustimmung der Ver-sammlung – auf die Revolution war man somit vorbereitet.

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Die Novemberrevolution in BielefeldDie Revolution erreichte Bielefeld in der Nacht zum 9. November. Bewaffnete, auswärtige Mat-rosen, Bielefelder Arbeiter und Soldaten zogen zur 55er-Kaserne, entwaffneten die Garnison und befreiten die dort Inhaftierten. Severing, von der Polizei um Vermittlung gebeten und auch um weitere Spontanaktionen zu vermeiden, ge-lang es, die Aufständischen mit Hinweis auf eine am gleichen Tag stattfindende Versammlung von weiteren Schritten fernzuhalten. Bereits am Tag zuvor hatten Partei- und Gewerkschaftsführung in einer Vertrauensmännerversammlung einen

Volksrat gegründet. Severing war also bestens vorbereitet. Die Soldatenversammlung fand dann morgens unter Leitung des Parteisekretärs Carl Schreck in der Centralhalle statt und be-schloss, einen Volks- und Soldatenrat zu instal-lieren, der die Geschicke der Stadt in die Hand nehmen sollte. Die konstituierende Sitzung des neuen Gremiums erfolgte am Nachmittag des gleichen Tages im Rathaus. Severing legte der Versammlung eine ausgearbeitete Satzung vor, die Arbeitsweise, Kompetenzen und Aufgaben festlegte. Diese wurde mit folgendem Wortlaut „einmütig“ beschlossen:

[Dateiname: Stadtarchiv Bielefeld W Schrammen 06]

1. Die militärische Gewalt in Bielefeld wird zur Vermeidung von Blutvergießen von heute an ausgeübt durch den Oberstleut-nant Thümmel und die Mitglieder des Sol-datenrates.

2. Waffen und Munition werden von einer Kommission in gemeinschaftliche Verwah-rung genommen. […]

3. Befreit sind nur politische Militärgefangene.

4. Die Verpflegung der Militärpersonen unter-liegt der gemeinschaftlichen Kontrolle des Garnisonsältesten und des Soldatenrates.

5. Der Volks- und Soldatenrat verpflichtet sich, für Ruhe, Ordnung und Sicherheit zu sorgen.

6. Die Mitglieder des Rates tragen am linken Oberarm eine mit der Aufschrift ‚Volks- und Soldatenrat‘ versehene rote Binde.

7. Den mit roten Armbinden und der Auf-schrift „Volks- und Soldatenrat“ versehe-nen Personen ist unbedingt Folge zu leisten.

8 Die Offiziere behalten Degen, Achselstücke und Kokarde. Von den Soldaten werden ebenfalls Kokarde und Achselklappen wei-ter getragen.

9. Plünderungen führen zur sofortigen Verhaf-tung und werden gerichtlich geahndet.

10. Die Rondeoffiziere bleiben im Dienst.

11. Vorgesetzte sind nur im Dienst als solche zu betrachten.

12. Den Anordnungen des Volks- und Soldaten-rats ist auch von den Zivilpersonen Folge zu leisten.

13. Der öffentliche Verkehr einschl. Post und Telegraph wird aufrecht erhalten.

14. Mannschaften, die hier nicht in Garnison sind, finden Verpflegung und Quartier durch das Garnisonskommando.

15. Mannschaften, die weiterreisen wollen, erhalten Urlaubsscheine im Garnisonskom-mando.

16. Die Lebenmittelversorgung der Zivilbe-völkerung ist nicht geändert. Es darf ohne Marken weder an Zivilpersonen noch an Militärpersonen etwas abgegeben, weil sonst die Ernährung der Zivilbevölkerung nicht mehr möglich ist.

17. Zivil und Militär wird aufgefordert, sich nicht ohne zwingenden Grund auf den Stra-ßen und Plätzen aufzuhalten.

18. Die Arbeit in den Betrieben darf nicht ein-gestellt werden.“15

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Novemberrevolution in Bielefeld, Versammlung vor dem Rathaus (1918)

Dem Volks- und Soldatenrat gehörten 16 Personen, je acht Soldaten und Arbeiter an. Zu den Prominetesten gehörten neben Schreck und Severing, die Gewerkschaftssekretäre und spä-teren städtischen Dezernenten Gottlob Binder und Josef Köllner sowie der spätere Landrat des Landkreises Bielefeld, Franz Specht.

Mit beratender Stimme nahmen Oberbür-germeister Stapenhorst, Landrat Beckhaus sowie der Garnisonsälteste, Oberstleutnant Thümmel, an den Sitzungen teil. Die Arbeits-weise des Volks- und Soldatenrats war zwei-geteilt, für Ruhe, Ordnung, Sicherheit und mili-tärische Angelegenheiten war der Arbeiterrat, für Lebensmittelversorgung und für allgemei-ne, kommunalpolitische Angelegenheiten der Volksrat zuständig.

Damit war klar, dass für die im Amt geblie-bene Stadtverordnetenversammlung und für die Verwaltung lediglich der Volksrat als Ansprech-partner – mehr aber auch nicht – in Frage kam. Severings Bestreben ging dahin, nach den Wah-len zur Nationalversammlung die revolutionären Organe aufzulösen. So kam es denn auch. Nach-dem der Soldatenrat, der ohnehin nur noch auf

dem Papier stand, keine Aufgaben mehr sah, lös-te er sich im Sommer 1919 von der Öffentlich-keit weitgehend unbemerkt selbst auf. In seinen Lebenserinnerungen stellte Severing zufrieden fest: „Den ordentlichen Behörden hat der Bie-lefelder Volks- und Soldatenrat keine Schwierig-keiten bereitet. Alle Beamten blieben in ihren Stellungen.“

Zu den Erfolgen der Revolution gehören das Frauenwahlrecht, die Abschaffung des Dreiklas-senwahlrechts, die Einführung des Achtstunden-tags, die Koalitionsfreiheit sowie in Folge die Verabschiedung des Betriebsverfassungsgesetzes (1920) im Reichstag. Diese im Kern originären Forderungen der deutschen Sozialdemokratie und der mit ihnen eng verbundenen Gewerk-schaften waren Grundlage für die Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919. In Biele-feld erreichte die SPD einen Stimmenanteil von 49,4% (die USPD 1,3%) und stand damit an der Spitze der Bielefelder Parteien, zumal sie das reichsweite Ergebnis von 37,9% weit übertraf. Die SPD war die dominierende Kraft in der Bie-lefelder Parteienlandschaft, was dann auch bei der Wahl zur Stadtverordnetenversammlung

[Dateiname: Stadtarchiv Bielefeld W Schrammen 01]

[Dateiname: Stadtarchiv Bielefeld W Schrammen 04]

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sich nochmal deutlich abzeichnete: die SPD holte 47,9% (die USPD 2,8%) der Stimmen und war somit stärkste Fraktion im Rat.

Auch die Gewerkschaften zählten zu den Ge-winnern der Revolution, mit 31.573 Mitgliedern schon im Januar 1919 konnte der Vorkriegsstand fast verdoppelt werden. Die Gründung neuer Gewerkschaften, der Aufstieg des Textilarbei-terverbands zur Massenorganisation sowie die Anerkennung der Gewerkschaften als Tarifpart-ner waren Ausdruck einer neuen Zeit.

Für Partei- und Gewerkschaftsführung hat-te die Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung Priorität. Nach einer Phase der Ruhe und des wirtschaftlichen Wiederaufbaus könnten

nach ihrer Auffassung weiterreichende Ziele der Revolution in Angriff genommen werden. Carl Schreck erläuterte diese Haltung in einer Funktio-närsversammlung des Gewerkschaftsausschusses: „Die Revolution ist ein steter Kampf, nicht Sehn-sucht nach Ruhe im philiströsen Sinne erfüllt uns, sondern lodernder geistiger Kampf zur Vollen-dung der Revolution. Und doch müssen wir für Ruhe und Ordnung wirken. Die erste Phase je-der Revolution bedingt Niederreißen des Alten und Morschen, die zweite Phase aber gilt dem Aufbau. Wir wollen nicht die Ruhe, die der Ka-pitalismus erstrebt, um so sicherer zu Reichtum zu gelangen; Ruhe und Ordnung sind erforder-lich zum Aufbau unserer Wirtschaft und unserer Kultur.“16

Schreck und Severing gaben die politische Richtung vor, die zwar von Revolution sprach, dennoch aber einen revisionistischen Kurs ver-folgte, der im Bündnis mit dem Bürgertum die Herausforderungen der Nachkriegszeit meistern sollte. Schon im Begriff Volks- und Soldatenrat wurde dieser Weg deutlich. Während in vielen Städten, insbesondere in den industriellen Met-ropolen, Arbeiter- und Soldatenräte gegründet wurden, wählte man in Bielefeld eine auf Kon-sens mit dem Bürgertum angelegte Strategie. Aufgrund der Tatsache, dass die SPD auf der Reichsebene, verkörpert durch den Parteivor-sitzenden Friedrich Ebert und den Vorsitzenden der Reichstagsfraktion Philipp Scheidemann, die beide nicht mit revolutionären Verhaltenswei-sen sympathisierten, einen ähnlichen Kurs ver-folgte (das Bündnis Eberts mit dem Chef der Obersten Heeresleitung, General Groener, mag hier als prägnantes Beispiel gelten), kann man da-von ausgehen, dass Severing sein Verhalten ein-vernehmlich mit der Parteiführung abgestimmt hatte.

Der BelagerungszustandDie soziale Lage der Bielefelder Bevölkerung in der Nachkriegszeit war katastrophal. Arbeitslo-sigkeit als Folge der Umstellung von Kriegs- auf Friedensproduktion, Warenknappheit, insbeson-dere bei Lebensmitteln, Schwarzhandel, Schie-

[Dateiname: Stadtarchiv Bielefeld W Schrammen 07]

„Wahlschlepper“ in Bielefeld. Wahlen zur Nationalver-sammlung am 19. Januar 1919

Wahl zur Nationalversammlung. Bekanntgabe der Stim-men bei Küster (Westfälische Zeitung) in der Niedern-straße

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[Dateiname: Stadtarchiv Bielefeld W Schrammen 07]

bertum und Wucherpreise bestimmten das all-tägliche Leben. Demonstrationen, beispielsweise im März 1919 mit rund 4.000 Menschen auf dem Kesselbrink und spontane Arbeitsniederlegungen waren an der Tagesordnung. Die Westfälische Zeitung sorgte sich um „Bielefelds Ruf, die ruhigs-te Stadt im revolutionären Deutschland zu sein.“ Um die Lage zu beruhigen, riefen Volksrat, Sozi-aldemokratische Partei und Gewerkschaftskartell kurzfristig zu einer Kundgebung für „Demokratie und Sozialismus“ auf. Rund 10.000 Bürgerinnen und Bürger hörten Severings Rede zur aktuellen Situation zu. Erneut gelang es ihm, die Massen zu beruhigen. Ein Sprecher der USPD, der die Dik-tatur des Proletariats und die Bewaffnung der Ar-beiter forderte, fand keine Resonanz. In der für den gleichen Tag einberufenen Versammlung des Volksrats überraschten Severing und Schreck die Anwesenden mit einer trickreichen Volte. Bei-de bekannten sich zu ihrer Verantwortung und legten ihre Ämter nieder, um sich im Gegenzug erneut wiederwählen zu lassen. Da Politik und Verwaltung nicht imstande waren, die Versor-gungsengpässe aufzuheben, kam es bereits Ende

Juni zu erneuten Aufständen. Arbeiter und Solda-ten zogen zum Markt auf dem Kesselbrink, „ent-eigneten“ die Markthändler und verkauften Obst und Gemüse zu deutlich günstigeren Preisen. Die Lage spitzte sich noch mehr zu als im Laufe einer Demonstration auf dem Kesselbrink eine vom Turm der Sicherheitswehr – eine Art Hilfspolizei, die in den Tagen nach der Revolution eingerich-tet worden war – zwei Handgranaten in die Men-schenmenge flogen. Im Polizeibericht wird die Dramatik der Ereignisse deutlich: „12 Personen (wurden) teils schwer, teils leicht verwundet. […] Die Menge stürmte daraufhin die Sicherheitswehr und entwaffnete sie. Die Waffen wurden zum Teil zerschlagen und zum Teil hat sich die Menge damit bewaffnet. Ein Teil der Wehr hat schon vorher versagt und ist nicht ausgerückt. Die bewaffnete Menge marschierte nun nach dem Rathaus, dem Bahnhof usw. Auf dem Rathaus wurden einige Ge-wehre der Polizeibeamten zerschlagen, ohne dass weitere Ausschreitungen begangen wurden.“17

Dies reichte nun der Militärbehörde, sie rief am 1. Juli den verschärften Belagerungszustand aus und ließ das Freikorps Gabke mit brutaler

Novemberrevolution in Bielefeld, Demonstrationszug am Niederwall (1918)

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Waffengewalt gegen demonstrierende Men-schenmassen vorgehen. Zahlreiche Verletzte und zwei Tote waren das Resultat. Der Belage-rungszustand bedeutete rigide Einschränkungen für politische und gewerkschaftliche Tätigkeit. Gewerkschaftsversammlungen waren zulässig sofern sie angemeldet waren und wurden über-wacht. KPD-Versammlungen waren „grund-sätzlich verboten“, die USPD konnte nur unter Auflagen tagen und wurden ebenfalls überwacht, für die SPD gab es keine Einschränkungen. Der Belagerungszustand dauerte bis zum Jahresende.

Generalstreik gegen Kapp/LüttwitzSchon im zweiten Jahr ihres Bestehens hatte die noch junge Republik ihre erste, schwere Bewäh-rungsprobe zu überstehen. Am Morgen des 13. März 1920 marschierten Reichswehr- und Frei-korpstruppen, darunter auch die berüchtigte Brigade Erhardt, unter Führung des Reichswehr-generals Walther von Lüttwitz in das Berliner Regierungsviertel ein, vertrieben die Regierung, die zunächst nach Dresden, später dann nach Stuttgart floh, und setzten den ostpreußischen Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp als neuen Reichskanzler ein. Kapp, der der rechts-radikalen Deutschen Vaterlandspartei bis zu ihrer Auflösung im Dezember 1918 angehört hatte, konnte sein neues Amt gerade mal vier Tage ausüben, da ein bis dahin in Deutschland nicht gekannter Generalstreik die Putschisten davon jagte. Ihr Kalkül ging nicht auf, sie hatten geglaubt, die Unzufriedenheit in der Bevölkerung für ihre Ziele nutzen zu können.

In Bielefeld wurde nach üblichem Muster eine Versammlung einberufen, die über die Berliner Ereignisse und über den möglichen Generalstreik informierte. Sie empfahl wie die Volkswacht am 15. März berichtete: „[…] der organisierten Arbeiterschaft, für die Aufrecherhaltung der Ordnung einzutreten und sich bereit zu halten für den Augenblick, wo sie zum Kampfe für die Erhaltung der Errungenschaften der Revolution aufgerufen sind.“Die Dynamik der Entwicklung sieht man schon daran, dass in der gleichen Ausgabe bereits der

Aufruf zum Generalstreik enthalten war. Ein Aktionsausschuss, gebildet von Gewerkschafts-vertretern, SPD- und USPD-Funktionären, über-nahm die Streikleitung.

Punkt zehn Uhr am 15. März legten rund 80.000 Arbeiter in Bielefeld und im Landkreis die Arbeit nieder. Am Nachmittag tagte eine außerordentliche Stadtverordnetenversamm-lung, die gegen die Stimmen der Deutschen Volkspartei und der Deutschnationalen Volks-partei eine Loyalitätserklärung für die Reichsre-gierung verabschiedete. DVP und DNVP wollten lediglich ein Bekenntnis zur Verfassung, nicht aber zur Regierung abgeben. Ähnlich war die Argumentation des einzigen USPD-Stadtverord-neten, der der Regierung die Verantwortung für den Putsch gab. Nachdem die Putschisten in Ber-lin ihre Niederlage eingestehen mussten, wurde am 19. März in allen Betrieben die Arbeit wie-deraufgenommen.

Die organisierte Arbeiterbewegung konnte jedoch ihren Erfolg nicht auskosten. Ein zwi-schen Reichsregierung und Gewerkschaftsfüh-rung ausgehandeltes „8-Punkte-Programm“, das u.a. die Entwaffnung und Bestrafung der Putschisten, die „sofortige Inangriffnahme der Sozialisierung der dazu reifen Wirtschaftszwei-ge“ sowie die Auflösung der Freikorpstruppen beinhaltete, wurde zu keinem Zeitpunkt umge-setzt. Die fast wortgleichen Forderungen einer am 23. und 24. März im Bielefelder Rathaus ta-genden von der Reichsregierung einberufenen Konferenz unter Leitung von Carl Severing, der mittlerweile Reichskommissar für Rhein-land und Westfalen war, hatten ebenfalls keine praktische Wirkung. Im Gegenteil, im Ruhrge-biet setzte die Reichsregierung Militär und auch Freikorpstruppen ein, die teilweise am Putsch beteiligt gewesen waren, um gegen die unter Führung der sogenannten Roten Ruhrarmee weiter streikenden Arbeiter mit brutaler Ge-walt vorzugehen. Die Freikorpstruppen fühlten sich an die Waffenstillstandsvereinbarungen des nach dem Tagungsort benannten Bielefelder Abkommens nicht gebunden, konnten sie auch, denn sie waren – ein Kardinalfehler der Regie-

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rung – im Gegensatz zu Vertretern der Roten Ruhrarmee zur Bielefelder Konferenz nicht geladen worden, Vertreter der Reichswehr ka-men laut Protokoll erst später hinzu.

Mit dem Generalstreik hatte die Arbeiter-schaft die noch junge und instabile Weimarer Republik gerettet. Entspechend groß war die Enttäuschung über die Mutlosigkeit der Regie-rung, vereinbarte Reformen anzupacken. Diese fanden ihr Ventil bei den vorgezogenen Reichs-tagswahlen vom Juni 1920 – ein völlig überflüs-siges Zugeständnis an die Putschisten. Wenn-gleich die SPD in Bielefeld mit 40% weit über dem Reichsergebnis (21,6%) lag, verlor sie im Vergleich zur Reichstagswahl vom Januar 1919 9,9%. Die USPD hingegegen stieg von 1,3% auf 10,1%. Für die Reichsebene bedeutete die Wahl das vorläufige Ende der Weimarer Koalition.

Anmerkungen zu Carl SeveringWill man das Wirken Carl Severings im be-schriebenen Zeitraum kritisch würdigen, kommt man zunächst nicht umhin seine taktischen und strategischen Fähigkeiten anzuerkennen.

Der Arbeiterbewegung – Partei und Gewerk-schaft waren für ihn zwei Seiten einer Medaille – den ihr auf Grund ihrer Bedeutung und Leis-tung für das Gemeinwesen zustehenden Platz in der vom Bürgertum dominierten Gesellschaft erkämpfen, war sein Lebensziel.

Was den einzuschlagenden Weg anging hatte er sich spätestens seit der Revisionismusdebatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts für die in Ost-westfalen vorherrschende Strategie reformisti-scher Politik entschieden. Revolutionäres Den-ken und Streben waren ihm zeit seines Lebens

suspekt. Die (auch persönliche) Nähe zum Bür-gertum und seiner Kultur machten ihn zum ge-achteten Gesprächs- und Verhandlungspartner, was ihm in den Revolutionstagen zum Erfolg ver-half. Die schnelle Installierung eines Volks- und Soldatenrats, seine leidenschaftlichen Appelle, Ruhe zu bewahren, um die bestehende Ordnung nicht zu gefährden, verschafften ihm in der Ar-beiterschaft und beim Bürgertum Respekt. Sein Verhalten in der Revolution kann man geradezu als Blaupause sehen für den Ablauf in den Ta-gen vor Beginn des Generalstreiks gegen Kapp/Lüttwitz: Abwarten, Ruhe und Ordnung gewähr-leisten und sich bereit halten, wenn das Signal zum Eingreifen kommt. Während er in Bielefeld die Zügel in der Hand hielt, entglitten sie ihm in seinem neuen Betätigungsfeld als Reichs- und Staatskommissar für Rheinland und Westfalen.

Das gescheiterte Bielefelder Abkommen und seine fehlende Bereitschaft, den für dieses Gebiet militärisch verantwortlichen Generalleutnant Oskar von Watter, der sich als Sympathisant der Putschisten weigerte, Truppen gegen diese einzusetzen, festnehmen zu lassen, brachten ihm erstmals auch Kritik aus SPD-Regierungskrei-sen ein. Offensichtlich ist ihm seine umstrittene Haltung im Nachhinein bewusst geworden. Der wortreiche, wenn auch nicht überzeugende Ver-such in seiner biografischen Darstellung18 der Märzereignisse, Watter und sich selbst von jeder Fehlleistung frei zu sprechen, deutet darauf hin. Dies wie auch spätere Widersprüchlichkeiten in seinem Handeln, die an dieser Stelle nicht zu er-örtern sind, machen ihn zu einer erfolgreichen, aber auch in Anlehnung an Alexander19 tragi-schen Person.

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8 Siehe Vogelsang 1988, S. 251.

9 Schrammen/Tilker 1989, S. 94.

10 Vogelsang 1988, S. 247.

11 Eine derartige, nur um das „U“ erweiterte Namens-gleichheit ist heute nicht mehr möglich. In Grundgesetz und Parteiengesetz sind der Namenschutz bestehender Parteien gegenüber Neugründungen geschützt.

12 Nach der erneuten Spaltung der Arbeiterbewegung zur Jahreswende 1918/19 durch die Gründung der Kommu-nistischen Partei Deutschlands (KPD) vereinigte sich die Mehrheit der USPD mit der MSPD im September 1922.

13 Volkswacht vom 28.10.1918.

14 Schrammen/Tilker 1989, S. 107.

15 Schrammen/Tilker 1989, S. 114 f.

16 Zitiert nach Schrammen/Tilker 1989, S. 117 f.

17 Zitiert nach Schrammen/Tilker 1989, S. 125.

18 Severing, 1927.

19 Alexander,1992.

1 Der Begriff der Schlafwandler tauchte vor wenigen Jahren in der Debatte um die Kriegsschuldfrage auf, vgl. Clark, 2013. Zur Kritik sei hier auf Wette hingewiesen, der insbesondere herausstellt, dass dessen Befund auf keinerlei neuen Erkenntnissen fußt, sondern lediglich Neuinterpretationen sind, vgl. Wette 2014, S. 92.

2 „Der Deutsche Flottenverein wurde zur ersten echten Massenorganisation des konservativen Bürgertums...“, Hirschfeld/Krumeich 2013, S.15.

3 Hirschfeld/Krumbach 2013, S. 54.

4 Volkswacht vom 29.7.1914.

5 Debatten um den Massenstreik – gemeint ist der po-litische bzw. Generalstreik – spielten in der Arbeiter-bewegung nach der Zeit des Sozialistengesetzes eine bedeutende Rolle. Der Mannheimer Parteitag 1906 zog einen vorläufigen Schlussstrich, in dem festgehalten wurde, dass die Gewerkschaftsführung im Benehmen mit der Parteileitung das letzte Wort hat., vgl. Osteroth/Schuster 1975, S. 123.

6 Siehe Osterroth/Schuster 1975, S.156.

7 Severing 1950, S. 197 f.

LiteraturAlexander, Thomas, 1992: Carl Severing. Soizaldemokrat aus Westfalen mit preußischen Tugenden, Bielefeld.

Clark, Christopher, 2013: Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München.

Hirschfeld, Gerhard/Krumeich, Gerd, 2013: Deutschland im Ersten Weltkrieg, Frankfurt a.M.

Osterroth, Franz/Schuster, Dieter, 1975: Chronik der deut-schen Sozialdemokratie, Band I, Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Berlin, Bonn-Bad Godesberg.

Schrammen, Wilfried P./Tilker, Uwe, 1989: Spaltung der Arbei-terbewegung. Zwischen „Burgfrieden“ und Rätebewegung. In: Brenneke, Gisbert, Arno Klönne, Heinrich Lienker, Willi Vogt (Hrsg.), Es gilt, die Arbeit zu befreien. Geschichte der Bielefelder Gewerkschaftsbewegung, Köln.

Severing, Carl, 1950: Mein Lebensweg, Band I, Vom Schlosser zu Minister, Köln.

Severing, Carl, 1927: 1919/1920, Im Wetter- und Watter-winkel.

Vogelsang, Reinhard, 1988: Geschichte der Stadt Bielefeld, Band II, Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, Bielefeld.

Wette, Wolframm, 2014: Der deutsche Wille zum Zukunfts-krieg, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 1/2014.

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Bärbel Bitter, geb. 1961, Studium der Geschich-te und Pädagogik an der Universität Bielefeld, Abschluss Magister und Lehramt für die Sekun-darstufe 2. Nach dem Referendariat Tätigkeit in Bethel als Historikerin. Zunächst Archivie-rung von Arbeiten behinderter Künstler in Haus Lydda, ab 1991 Leiterin der Historischen Sammlung der v. Bodelschwinghschen Stiftun-gen Bethel, einem Museum zur Geschichte der Einrichtung und der Entwicklung der Behinder-tenhilfe.

Frank Bell, geb. 1954, Ausbildung zum Filmvor-führer, Filmkaufmann, nach Volontariat bei der Neuen Westfälischen 1975 bis 2017 Lokalredak-teur (1984 bis 1990 Lokal-TV-Arbeitsgruppe der NW); Filmemacher; 1989 bis 1993 Leitungsteam zur Ausbildung von 100 Lokalfunkredakteuren in Haus Neuland; Sammler historischer Film-, Kino- und Tontechnik und Fachbuchautor; 2015 Mit-gründer der „Stiftung Tri-Ergon Filmwerk“ zum Bewahren und Aufbereiten von Objekten und Dokumenten der (heimischen) Film- und Kino-kultur.

Ridvan Ciftci, geb. 1988, Jurist, wissenschaft-licher Mitarbeiter und Doktorand am Lehr-stuhl für Öffentliches Recht, Umwelt- und Technikrecht und Rechtstheorie der Univer-sität Bielefeld, Lehrbeauftragter der Fach-hochschule für Öffentliche Verwaltung Nord-rhein-Westfalen und der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte sind die Ideenge-schichte der Arbeiterbewegung und der Ar-beiterjugendbewegung sowie Freihandels- abkommen.

Karl-Gustav Heidemann, geb. 1942, Volksschu-le, Lehre als Schriftsetzer, 1964-1967 Studium an der PH Bielefeld, Lehrer an verschiedenen Schulen in Bielefeld, 1977-1980 Förderungsas-sistent an der PH Bielefeld, Abschluss Dipl.-Pä-dagoge, 1980-1983 Lehrtätigkeit an der Univer-sität Bielefeld (Lehrerausbildung), 1983-1986 Konrektor an der Grundschule Ummeln, 1986-2004 Schulleiter an der Grundschule Quelle.

Die Autorinnen und Autoren

Hasan Kazaz, geb. 1985, Jurist, 2009-2011, Vor-sitzender der Bielefelder Jungsozialisten.

Karl A. Otto, geb. 1934, Maschinenschlosser, Journalist, Lehrer, Professor. 1975 Promotion an der Pädagogischen Hochschule Bielefeld, 1980 Habilitation an der Universität Osna-brück im Fachgebiet Politische Soziologie und Didaktik der Sozialwissenschaften. 1982-1999 Professor an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte: So-ziale Bewegungen, Arbeiterbewegung, Direkte Demokratie; Didaktik der Sozialwissenschaften, Arbeitsorientierter Unterricht.

Wilfried P. Schrammen, geb. 1948, Diplom-Päda- goge, Jugendbildungsreferent bei den Falken Ostwestfalen-Lippe, Dozententätigkeit an Volkshochschulen und in gewerkschaftlicher Bildungsarbeit, Geschäftsführer der SPD Biele-feld von 1986 bis 2007.

Bernd J. Wagner, geb. 1955, Ausbildung zum Elek-tromechaniker, Studium der Geschichte und So-ziologie in Bielefeld und Hartford (Connecticut, USA), Historiker M.A., Mitarbeiter im Stadtar-chiv Bielefeld, Lehrbeauftragter der Fakultät für Geschichtswissenschaft (Universität Bielefeld) für Historische Hilfswissenschaften. Forschungs-schwerpunkt: Sozialgeschichte der Medizin, Lokal- und Regionalgeschichte.

Joachim Wibbing, geb. 1956, Abitur 1976, 1976-1979 Ausbildung als Diplom-Archivar in Düs-seldorf und Marburg, 1979-1989 Studium der Geschichte und Latinistik für die Sekundarstufe 1 und 2 an der Universität Bielelefld mit Staats-examen, 1989-1990 Archivar bei der Bauge-nossenschaft Freie Scholle Bielefeld, 1990-1992 Historiker bei der Evangelischen Landeskirche in Bielefeld, 1993-1998 Archivar der Gemein-den Verl, Schloß Holte-Stuckenbrock und Lan-genberg, seit 2001 Unternehmens-Archivar bei den Stadtwerken Bielefeld. Forschungsschwer-punkt: Orts- und Regionalgeschichte.

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Ridvan Ciftci Karl-Gustav Heidemann Wilfried P. Schrammen (Hrsg.)

Gemeinsam

für eine

solidarische

Gesellschaft

Schlaglichter aus

150 Jahren

sozialdemokratischer

Geschichte in Bielefeld

Ge

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ISBN: 978-3-946410-04-1