30
Riethmüller Der graue Schwan

Riethmüller - download.e-bookshelf.de fileSchriftenreihe der Merz Akademie: Ausgewählte Publikationen der Merz Akademie, Hochschule für Gestaltung, Kunst und Medien, Stuttgart,

  • Upload
    vokhue

  • View
    215

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Riethmüller

Der graue Schwan

Merz Akademie

2012

Jürgen Riethmüller

DER GRAUE SCHWANProlegomena zum Wissen der Wissensgesellschaft

Wilhelm Fink

Schriftenreihe der Merz Akademie:Ausgewählte Publikationen der Merz Akademie, Hochschule für Gestaltung, Kunst und Medien, Stuttgart, erscheinen im Wilhelm Fink Verlag.

Bibliografi sche Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografi e; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten.

© 2012 Wilhelm Fink Verlag, München(Wilhelm Fink GmbH & Co.Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)

Internet: www.fi nk.de

Koordination: Birgit HaasenLektorat: Ralf EckschmidtEinbandgestaltung: Deniz Alaca, Prof. Joost Bottema, Fabian Harm, Timm HartmannHerstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn

E-Book-ISBN 978-3-8467-5427-6 ISBN der Printausgabe 978-3-7705-5427-0

„In unserer Zeit glaubt man, das Wissen gebe den Ausschlag, und wenn man nur die Wahrheit zu wissen bekomme,

je kürzer und geschwinder, je besser, so sei einem geholfen. Aber Existieren ist etwas ganz anderes als Wissen.“

Kierkegaard

7

INH

ALT

Inhalt

Einleitung: Wissen in der „Wissensgesellschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

DER WEISSE SCHWAN: WISSEN

Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

Einige Basisunterscheidungen, Etymologie und Funktion des Wissens . 26Diskursive Verfasstheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

Wissensarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

Deklaratives – prozedurales Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53Explizites – implizites Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55Bewusstes – unbewusstes Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58Angeborenes – erlerntes Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63Kurzzeitwissen – Langzeitwissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65Aktives Wissen – passives Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69Selbstwissen – Netzwerkwissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70Faktenwissen – Refl exionswissen (Normativität) . . . . . . . . . . . . . . . . 73Anwenderwissen – Grundlagenwissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77(Quasi-)Apriori-Wissen – empirisches Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

Das Wahrheitsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

Der „Verlust der Wahrheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

Wissensdefi nitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

I Die „wahre, gerechtfertigte Überzeugung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 113II „S weiß, dass p“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117III Aktuellere Vorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124IV „vernetzte Information“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142

8

INH

ALT

Wissen als rhizomartig vernetzte Redundanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

Individuelles Wissen als rhizomartig vernetzte Redundanz . . . . . . . . . 163Kollektives Wissen als rhizomartig vernetzte Redundanz . . . . . . . . . . . 172

Phänomen Wissen: Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

Ausgewählte Beobachtungen zum neurobiologischen Hintergrund . . . . . . . 199

Fehlannahmen über das Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

„Wissen ist wahr“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209„Wissen ist die wichtigste Ressource der Wissensgesellschaft“ . . . . . . . 212„Man kann etwas nur wissen oder es nicht wissen“. . . . . . . . . . . . . . . 222„Wissen ist per se nützlich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

DER SCHWARZE SCHWAN: NICHTWISSEN

Varianten des Nichtwissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

Erzeugung von Nichtwissen in der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

Das Amalgam aus Wissen und Nichtwissen in der Wissenspraxis . . . . . . . 269

Zum methodologischen Holismus gängiger wissenschaftstheoretischer Reaktionen (Latour, Barad) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280

Eine Frage der Vermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

ANMERKUNGEN ZUR „WISSENSGESELLSCHAFT“

Problemlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327

Zuviel-Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329Zuwenig-Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336

9

INH

ALT

EPISTEMOLOGISCHE SKIZZEN

„Klassische“ erkenntnistheoretische Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351

Beispiele ihrer fortgesetzten Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352

Neuere individualperspektivische Ansätze epistemologischer Kritik . . . . . . 371

Ästhetik des Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375Rhetorik des Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399Perspektivität des Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462

DER GRAUE SCHWAN: FAZIT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479

11

WIS

SEN

IN D

ER „

WIS

SEN

SG

ESEL

LSC

HA

FT“

Einleitung: Wissen in der „Wissensgesellschaft“

„Ich weiß, dass ich nichts weiß“, ist auch in Zeiten abnehmender Popularität altsprachlicher Bildung ein leidlich gefl ügeltes Wort, das als Verkürzung eines Zitats aus Platons Apologie des Sokrates besagtem attischen Philosophen zuge-schrieben wird. Die geläufi ge deutsche Übersetzung des Wortlauts („oîda ouk eidos“) trifft freilich nicht den eigentlichen Sinn der Aussage. Wörtlich über-setzt müsste es heißen „Ich weiß als Nicht-Wissender“ bzw. „Ich weiß, dass ich nicht weiß“. Das ergänzende, so populär gewordene „-s“ ist nichts als ein Übersetzungsfehler. Mit seiner Aussage behauptet Sokrates also nicht, was ja auch völlig unsinnig wäre, dass er nichts wisse. Denn existieren mag zwar mehr als Wissen heißen, aber ohne Wissen kann ein Mensch höchstens exis-tieren (etwa hirntot, angeschlossen an lebensverlängernde Apparate). Auch Sokrates hätte kaum einen einzigen Tag überlebt, wenn er tatsächlich NICHTS gewusst hätte, buchstäblich unfähig geworden wäre, zu wissen … Tatsächlich hinterfragt der ihm von Platon zugeschriebene Satz also lediglich, was man allgemein zu wissen meint, sagt also, dass echte Wahrheit dem Men-schen verschlossen ist.1 Diese recht postmodern klingende Einsicht stand also bereits am Beginn der abendländischen Epistemologie, doch musste sie ange-sichts des enormen Erfolgs der Natur- und Technikwissenschaften im Laufe des 20. Jahrhunderts, trotz so glänzender Skeptiker in der Philosophiege-schichte wie etwa David Hume, erst wieder neu entdeckt werden. Blickt man auf das zeitgenössische Wissen um das Wissen in den unterschiedlichen aka-demischen Disziplinen der selbst ernannten „Wissensgesellschaft“, könnte man leichtfertigerweise annehmen, dass der Skeptizismus gesiegt hat, und ganz ohne Übersetzungsfehler formulieren: Wir wissen – dass wir nicht einmal so recht wissen, was Wissen ist.

Das aber wäre angesichts der in den letzten Jahren geradezu mantrahaften Beschwörungen besagter „Wissensgesellschaft“ ein einigermaßen befremdli-cher Befund. Denn in eine solche, heißt es, seien wir infolge des Siegeszugs der neuen Kommunikationstechnologien, der globalen Expansion des Wis-senschaftssystems, der Zunahme immaterieller (statt Hand-)Arbeit und über-haupt all der neuen Formen wissensbasierter Organisation, Verwaltung, Über-

1 Im Wortlaut: „…während ich, meiner Unwissenheit mir bewusst, mir auch nicht einbilde etwas zu wissen.“ Zit. nach Platon: Apologie des Sokrates und Kriton. Übersetzt und erläutert von Otto Apelt. Leipzig ²1922, S. 30.

12

EIN

LEIT

UN

G

wachung, Disziplinierung, Vernetzung im sozialen Raum eingetreten – und ihre Herausforderungen hätte nun jede(r) als lebenslang Lernende(r) zu ge-wärtigen. Als relativ unumstrittenes, offensichtlichstes Symptom wird auf die schiere quantitative Zunahme des (kollektiven) Wissens verwiesen.2 Egal, ob man wie einst Derek J. De Solla Price von einer Verdopplung „unseres“ Wis-sens alle 15 Jahre oder wie Franz Stuhlhofer in den 1980er Jahren von einer solchen nur alle 100 Jahre ausgeht, oder, wie es seit einigen Jahren sehr häufi g zu lesen ist, gar von einer solchen alle 5 Jahre (natürlich lässt sich unser Wissen nicht quantifi zieren, und je nach informetrisch verwendeter Messmethode variiert das Ergebnis erheblich), jedenfalls ist die Tatsache der Zunahme evi-dent.3 Veranschaulichen mag man sich dies an der bloßen Anzahl der Artikel bei Wikipedia im Vergleich zu der in einer der großen Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts.

Nicht nur Meinhard Miegel ist der Ansicht, dass diese Entwicklung nichts Geringeres als den „dritten gewaltigen Paradigmenwechsel in der Geschichte der Menschheit“ darstellt – auf Agrar- und Industriegesellschaft folge nun die Wissensgesellschaft.4 Fast vergessen scheint diesbezüglich, dass Karl Marx be-reits vor 150 Jahren eine solche als Gesellschaftsform der Zukunft vorhersag-te: In den Grundrissen heißt es unter anderem, die Schöpfung von Reichtum werde zukünftig „immer weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit“ abhängen und immer mehr „vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie“.5 Oder: „Die unmit-telbare Arbeit und ihre Quantität [werden] als das bestimmende Prinzip der Produktion verschwinden“ und stattdessen „herabgesetzt als ein zwar unent-

2 So zum Beispiel Niels Gottschalk-Mazouz: „Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft? Anforderungen an einen interdisziplinär brauchbaren Wissensbegriff“, in: Günter Abel (Hg.): Kreativität. XX. Deut-scher Kongress für Philosophie, 26. – 30. September 2005 in Berlin. Sektionsbeiträge Bd. 2, S. 349-360, S. 357, hier allerdings in der seltsamen Dopplung: „Wissen als solches nimmt zu, wird immer wichtiger.“ Zweiterem würde ich nicht zustimmen.

3 Derek J. De Solla Price: Little Science, Big Science. Frankfurt/M. 1974 [1963] nutzte als Basis die Anzahl der Originalveröffentlichungen in Fachzeitschriften; Franz Stuhlhofer: „Unser Wissen ver-doppelt sich alle 100 Jahre. Grundlegung einer ‚Wissensmessung‘“, in: Berichte zur Wissenschaftsge-schichte Band 6, Ausgabe 1-4 (1983), S. 169-193, kritisierte dies und kam für das eigentliche Wissen, greifbar etwa in Lehrbüchern, zu der deutlich vorsichtigeren Schätzung. Neuere Arbeiten (etwa Peter Lyman und Hal R. Varian: „How Much Information“, 2003, in: http://www.sims.berkeley.edu/how-much-info-2003) verweisen auf die Rolle der Digitalisierung und die gigantische Zunahme der reinen „Informationsmenge“, gemessen in Tera- und Exabytes, was sich beschleunigend auswirkt, sodass man dann je nach Temperament des Schätzenden auf Verdopplungsraten bis zu zwei Jahren kommt – mit Wissen hat das etwa bei Lyman und Varian Gemessene allerdings nur höchst mittelbar zu tun.

4 Meinhard Miegel: „Von der Arbeitskraft zum Wissen. Merkmale einer gesellschaftlichen Revoluti-on“, in: Merkur 55 (2001), S. 203-210.

5 Karl Marx: Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, in: ders.: Werke. Bd. 1–42. Berlin/Ost 1957 ff., Bd. 42 (1983), S. 592 [1857/58].

13

WIS

SEN

IN D

ER „

WIS

SEN

SG

ESEL

LSC

HA

FT“

behrliches, aber subalternes Moment [gegenüber der] allgemeinen wissen-schaftlichen Arbeit.“6

Wie dem auch sei: Sabine Ammon betont völlig zu Recht, was bei der allgegenwärtigen Rede von der Wissensgesellschaft „auf der Strecke bleibt, ist eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Frage, was denn überhaupt alles Wissen sei und in diesem Sinne von der Wissensgesellschaft für sich in An-spruch genommen werden darf. Denn hier zeigt sich die eigentliche Frage der Wissensgesellschaft: Wenn sie von der Wichtigkeit des Wissens als zentra-lem Baustein gesellschaftlicher Entwicklung ausgeht, wenn Wissen mit einem Mal eine bislang nicht erreichte Wertschätzung und Förderung erfährt, dann ist es unverzichtbar zu klären, was sich hinter dem Wissensbegriff überhaupt verbirgt. Von welchem Wissen ist hier die Rede? Welches Wissen will die Wissensgesellschaft überhaupt – und welches braucht sie?“7

Am Beginn der Problematisierung dieser Frage stehen zwei Beobachtun-gen: Aufgegeben werden müssen zum einen „jene klassischen Konzeptionen, die in erster Linie an den Naturwissenschaften ausgerichtet waren und deren Erkenntnisse zum Inbegriff des Wissens stilisiert worden waren, ausgestattet mit dem Anspruch allzeit gültiger Wahrheit und Gewissheit …“8 Denn im-mer offensichtlicher ist, dass „spätestens seit dem Ende des 20. Jahrhunderts auch die Naturwissenschaften keine Grundlage und Legitimation mehr für Wissen und einen verbindlichen Weltbezug liefern“ können.9 Für die philo-sophische Epistemologie bedeutet das einen noch immer nicht bewältigten Einschnitt; sie muss lernen, „mit einem stark veränderten Wissensbegriff um-zugehen. Von den alten Vorstellungen ist nicht viel geblieben. Sie hatten Wahrheit und Gewissheit der Wissensaussagen versprochen, gesegnet mit Objektivität und Wertneutralität. Zeitlos und unabhängig von kulturellen Einfl ussnahmen sollte das Wissen nichts anderes als stetig zunehmen, ein Um-stand, der, gepaart mit einem unverbrüchlichen Fortschrittsoptimismus, nur begrüßt werden konnte. Jener Wissensbegriff hatte sich jedoch bei genauer

6 Ebd., S. 587. 7 Sabine Ammon: „Was die Kunst weiß und die Wissensgesellschaft nicht wissen will“, abgedr. in:

http://www.linksnet.de/de/artikel/20764. Der Text basiert auf dem Aufsatz „Was weiß die Kunst? – Zur Relevanz künstlerischen Wissens in der Wissensgesellschaft“, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Die Verfasstheit der Wissensgesellschaft. Münster 2006, S. 72-81.

8 Dies.: Wissen verstehen. Perspektiven einer prozessualen Theorie der Erkenntnis. Weilerswist 2009, S. 9 f. In den 1970ern deutlich weniger diplomatisch dasselbe bei Ferruccio Rossi-Landi: Semiotik, Ästhetik und Ideologie. 13 Beiträge. München 1976, S. 110 f.: „… dass es um jenes spezifi sche Wissen geht, das uns die physikalischen, also mathematischen Wissenschaften von der Natur liefern. Somit erweist sich das Bollwerk, hinter dem sich die Ideologie verschanzt, als die Vereinigung dieser weni-gen Wissenschaften unter dem einheitlich-einzigen Namen ‚Wissenschaft‘ …“

9 Jutta Weber: Umkämpfte Bedeutungen. Natur im Zeitalter der Technoscience. Bremen 2001, S. 49 [=Diss. Bremen 2001].

14

EIN

LEIT

UN

G

Prüfung als letztlich unbrauchbar erwiesen. Werden seine eigenen Anforde-rungen gewissenhaft umgesetzt, beginnt er zu versagen. […] Selbst logisch-mathematische Wahrheiten, die scheinbar den Kriterien am nächsten stehen, sind nicht in der Lage, sie zu erfüllen“.10

Daneben tritt zum anderen der Eindruck, dass die neuerliche Rede von der Wissensgesellschaft, die insbesondere einem Vorschlag Daniel Bells aus den 1970ern folgt11 – zunächst wurde synonym häufi g lange von „Informa-tionsgesellschaft“ gesprochen –, zuletzt häufi g eine doch recht eindimensio-nale, um nicht zu sagen ideologische gewesen ist, die Wissen zur Ressource, zum Rohstoff oder Standortfaktor in einem globalen Wettbewerb degra-diert.12 Das könnte man besser wissen. Niklas Luhmann schreibt: „Dass unse-re Gesellschaft eine Informationsgesellschaft sei, wird typisch rein ökono-misch mit dem Schema Produktion/Konsum begründet. Es wird immer mehr Arbeitszeit auf die Produktion von Information verwendet, und immer mehr Arbeits- und Freizeit auf den Konsum von Information. Dabei wird eine fragwürdige Prämisse unbesehen akzeptiert, dass nämlich Information ein Wirtschaftsgut sei, dass man produzieren, übertragen und konsumieren könne. Vom Begriff der Information her lässt sich jedoch die dabei vorausge-setzte Stabilität kaum rechtfertigen. Information ist ein Zerfallsprodukt. Sie verschwindet, wenn sie aktualisiert wird […], und entsprechend sind Produk-tivitätssteigerungen durch mehr und mehr Informationen gesamtwirtschaft-lich nicht nachweisbar.“13 Konstatiert wird weiterhin, angesichts des ökono-

10 Ammon, Wissen verstehen (2009), S. 178 f. Sie spricht hier auch vom „Unbehagen“, das heute den Gebrauch des Wissensbegriffs zumindest in der Erkenntnistheorie begleite (ebd., S. 9).

11 Daniel Bell: Die postindustrielle Gesellschaft. Frankfurt/M. 1985, S. 219 [1973], schreibt: „Die nach-industrielle Gesellschaft ist in zweifacher Hinsicht eine Wissensgesellschaft: Einmal, weil Neuerungen mehr und mehr von Forschung und Entwicklung getragen werden […]; und zum anderen, weil die Gesellschaft – wie aus dem aufgewendeten höheren Prozentsatz des Bruttosozialprodukts und dem steigenden Anteil der in diesem Sektor Beschäftigten ersichtlich – immer mehr Gewicht auf das Gebiet des Wissens legt.“

12 So auch Ullrich Bauer: „Dominoeffekte sozialwissenschaftlicher Fehldiagnose. Oder: Individualisiert sozialisiert in der postmodernen Wissensgesellschaft“, in: Ullrich Bauer; Uwe W. Bittlingmayer (Hg.): Die „Wissensgesellschaft“: Mythos, Ideologie oder Realität? Wiesbaden 2006, S. 244: „Die Analogie der Wissensgesellschaftsdiagnose zum allgemeinen Diskurs über den Übergang der Moderne zur Postmoderne […] ist auffällig. […] Als ausreichende empirische Fundierung genügt das bloße Postu-lat […] indes auch hier nicht. Dafür ergibt sich […] ein eminent hoher politischer Gehalt. Unabhän-gig davon, wie empiriefern individualisierungstheoretische, wissensgesellschaftliche und postmoder-nistische Globaldiagnosen tatsächlich sind, erfüllen sie eine ideologische Funktion. Sie sind politisch instrumentalisierbar.“ Dies sei „wichtig für die Selbstvergewisserung […] einer konservativen, jetzt neoliberalen Gegenrevolution“ (ebd.).

13 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde. Frankfurt/M. ²1999, Bd. 2, S. 1090. Dazwi-schen heißt es: „Die Informationsgesellschaft wäre danach eine Gesellschaft, die es aus zunächst un-erfi ndlichen Gründen für notwendig hält, sich ständig selbst zu überraschen. Zwar fällt der spektaku-läre Zuwachs von Informationserzeugung ins Auge, doch der Ausnutzungsgrad ist gering.“

15

WIS

SEN

IN D

ER „

WIS

SEN

SG

ESEL

LSC

HA

FT“

mischen Hintergrunds eines solchen Denkens wenig überraschend, ein Kampf um das Wissen der Zukunft, in den „wir“ längst eingetreten seien und der mehr oder minder über „unser“ Schicksal entscheiden soll.14

Ausgeblendet wird dabei, und das eint die beiden Beobachtungen, wie unklar ist, was Wissen eigentlich ist, und auch, dass offensichtlich keinesfalls jede Form von Wissensproduktion gleichberechtigt beim Aufbau besagter „Wissensgesellschaft“ beteiligt sein soll. Ammon formuliert etwas vorsichti-ger, dass „die Diskussion um die Wissensgesellschaft immer auch eine Diskus-sion um Gewinn und Nützlichkeit ist“15 – und wenigstens das wird man kaum bezweifeln können. Weil eben die zentrale Frage nicht beantwortet oder aber bewusst überdeckt wird, welches Wissen denn „das“ allseits be-schworene Wissen sein soll, ist die Lobrede auf die „zentrale Ressource der Wissensgesellschaft“ womöglich bloß ein Beispiel fetischisierenden Denkens im Sinne von Marx, bei dem einem Etwas – analog zum Konzept des Waren-fetischismus – Eigenschaften zugesprochen werden, die ihm in Wirklichkeit niemals zukommen können (Wissen ist, was immer es ist, alles andere als ein „Roh-Stoff“).16 Meine Ausgangsthese ist also, dass gerade die Unbestimmt-heit des Wissensbegriffs dessen Instrumentalisierung im Diskurs um die „Wissensgesellschaft“ ermöglicht, weil sich das Goldene Kalb sonst sehr bald als äußerst hohl erweisen würde.

Am Anfang der Untersuchung muss also mit großem Nachdruck die naiv klingende Frage stehen: Was ist Wissen (nach allem, was wir heute in unter-schiedlichen Wissenschaften darüber wissen)? Die Bestandsaufnahme scheint schon deshalb nötig, um angesichts der infl ationären und ziemlich ausgewei-teten Verwendung des Begriffs – in Richtung vagen Ahnens, in Richtung besagter ökonomischer Ressource usw. – sagen zu können, was es in jedem Fall nicht ist. Doch eine Antwort ist nicht einfach, vielleicht gibt es die eine Antwort gar nicht: „Mehr denn je treffen heute unterschiedliche Wissensfor-men aufeinander, in lokalen Kontexten ebenso wie im globalen Gefüge. Lo-kales Wissen wird mit wissenschaftlichem Wissen konfrontiert, Expertenwis-sen trifft auf Laienwissen, technisches Wissen auf Alltagswissen, ergänzt um

14 Diese Idee vom Kampf (oder „Wissenskulturkampf“) z.B. auch bei Helmut Willke: Heterotopia. Studien zur Krisis der Ordnung moderner Gesellschaften. Frankfurt/M. 2003, z.B. S. 264 u. S. 279.

15 Ammon, Was die Kunst weiß (2007). 16 Ähnlich wie Marx dies für den Zins herausarbeitet. „Äußerlichste und fetischartigste Form“ erreiche

das Kapital mit der Stufe des zinstragenden Kapitals. Kapital erhält eine Eigenschaft zugesprochen, die es gerade nicht haben kann: sich aus sich selbst heraus zu vermehren: „… Geld, das mehr Geld er-zeugt, sich selbst verwertender Wert, ohne den Prozess, der die beiden Extreme vermittelt.“ Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie Bd. 3: Der Gesamtprozess der kapitalistischen Produktion, in: Karl Marx; Friedrich Engels – Werke. Berlin/Ost 41973, Band 25, S. 404 [im Folgen-den MEW].

16

EIN

LEIT

UN

G

ein Orientierungswissen. Es resultieren komplexe Wechselwirkungen und Prozesse der Einfl ussnahme, etablierte Wissensordnungen sind einem starken Wandel unterworfen. Zu beobachten sind Marginalisierungs- und Verdrän-gungsprozesse, hegemoniale Durchdringung ebenso wie Emanzipations- und Innovationsprozesse.“17

Plausibel erscheint angesichts dieser Lage die Annahme, dass sich ein brauchbarer Wissensbegriff nur transdisziplinär gewinnen lässt; philosophi-sche, soziologische, psychologische, pädagogische, historische, neuro- und ko-gnitionswissenschaftliche Ansätze usw. sind gleichermaßen zu berücksichti-gen. Zwar ist eine tatsächlich „ganzheitliche“ Perspektive sowenig zu haben, wie es defi nitive Wahrheit geben kann, dennoch bleibt der Versuch wenigs-tens einer weiteren Annäherung an zutreffende Beschreibungen tatsächlicher Verhältnisse höchstes Ziel wissenschaftlicher Anstrengung.

Jeder Beantwortung der Frage, was Wissen ist, steht allerdings grundsätzlich entgegen, dass es nicht möglich ist, irgendetwas über das Wissen zu sagen, ohne selbst Wissen zu bemühen. Kurz gesagt: Wissen setzt immer (anderes) Wissen voraus. Das Problem einer Wissensdefi nition besteht also darin, dass zumindest verdeckt ein logischer Zirkel unvermeidbar scheint: Das zu Defi -nierende wird in der Defi nition enthalten sein. Dies ist kein prinzipiell un-überwindbarer Einwand; in der Erkenntnistheorie hat sich längst die Einsicht durchgesetzt, dass viele, insbesondere „lebendige“ Phänomene eine derart zirkuläre Struktur aufweisen, man denke an Evolution, Kultur, Sprache oder die autopoietischen Systeme der Systemtheorie usw., für die gleichwohl ak-zeptable Defi nitionen vorliegen.

Gilles Deleuze, der „Denker der Immanenz“ und „Philosoph des Wer-dens“, notierte einmal in völlig anderem Zusammenhang den diesbezüglich vielleicht entscheidenden Satz: „Der Fehler […] besteht darin, immer wieder bei Null anzufangen, […] während es richtig wäre, […] ‚in der Mitte‘ anzu-fangen …“18 Wir springen also mitten hinein in die Tautologie: In ihrer radi-kalsten Formulierung lautet sie: Wissen ist Wissen. Man erweitert die Tauto-logie nur unwesentlich, wenn man ein Wissen als das im etymologischen Wortsinn „Gesehene“ oder englisch das, was man „kennt“, durch den Begriff ersetzt, mit dem man solches in den Wissenschaften oft bezeichnet: Redun-danz. Weil zugleich die zirkuläre Struktur besteht, hat man eben vernetzte Redundanz. Und weil ein formuliertes Wissen (als Denk- oder Sprechakt) wesentlich vom Anspruch getragen ist, wahr oder richtig zu sein, ergibt sich

17 Ammon, Wissen verstehen (2009), S. 182. 18 Gilles Deleuze; Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II. Aus dem Fran-

zösischen von Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Berlin 52002, S. 389.

17

WIS

SEN

IN D

ER „

WIS

SEN

SG

ESEL

LSC

HA

FT“

recht zwanglos die Formel: Wissen ist mit anderem Wissen vernetzte, stabile Be-deutung generierende Redundanz, für die das es prozessierende System (sich selbst und kommunikativ auch anderen gegenüber) einen Anspruch auf Wahrheit erhebt.

Weil das nun aber eine Behauptung ohne Begründung ist – wie Ludwig Wittgenstein richtig bemerkt, kann aus einer Tautologie alles gefolgert wer-den, der ganze logische Raum ist „frei“19 –, muss nun gerechtfertigt werden, dass dies tatsächlich ein brauchbares Konzept des Wissens ist. Um der tenden-ziellen Absurdität des Versuchs, eine Tautologie begründen zu wollen, zu ent-gehen, könnte man dazu die Ebene wechseln und einen zweiten Zirkel eröff-nen: Was, wenn das Zirkuläre des Wissens nun eben gerade die „Natur“ des Gegenstands wäre? Griffe der logische Einwand dann überhaupt noch?

Der hier vorgeschlagene Weg, die These vom Wissen als vernetzte, Bedeu-tung generierende Redundanz plausibel zu machen, ist deutlich mühevoller. Es ist der Weg der Immanenz. Ich vernetze hier im Folgenden also im We-sentlichen in historisch-synoptischer Perspektive bekannte Wissensbestände über das Wissen aus der fast 2 500-jährigen Debatte, woraus dann vielleicht ein annähernd wahres Wissen über das Wissen entstehen kann: das eines dy-namischen Prozesses rhizomartig vernetzter Redundanz; der Weg wäre also strukturell äquivalent mit dem Ziel.

Orientierungspunkt der kritischen Diskussion der vorhandenen Positio-nen auf diesem Weg muss wiederum das empirisch beobachtbare Wissen selbst in all seinen Varianten sein, ein Phänomen, das von Philosophen, Wis-senschaftlern, Literaten, Lehrern usw. tausendfach beschrieben wurde und wird, in Sätzen wie: Tiere, Menschen und Kollektive verfügen über (unterschiedli-ches) Wissen; Wissen leitet ihr „Probleme lösendes“ Handeln und ihre Mitteilungen, weshalb es umgekehrt hieran beobachtbar ist; Ein Interagieren mit der Welt und ihren Erscheinungen wäre ohne Wissen nicht möglich; Es gibt Lernprozesse; Menschen ver-gessen, erinnern, verfügen über unbewusstes Wissen; Es gibt Situationen des Nichtwis-sens und insbesondere: Es gibt unterschiedliche Arten von Wissen. Die Annahme, dass diese Sätze einigermaßen zutreffen, stellt das einzige Zugeständnis an den sogenannten gesunden Menschenverstand, den ein derartiger Ansatz erfor-dert. Das ist notwendig, da ein analytisches Vorgehen aufgrund des benannten Zirkels aussichtslos wäre.

Nun kann für jede Aussage der Form „Wissen ist …“, auf die man im fol-genden Rundgang stößt, zumindest gesehen werden, was es bedeuten würde

19 Die Tautologie ist für Wittgenstein ein sinnloser Satz; sie „lässt jede mögliche Sachlage zu“. Genauer: „Die Tautologie lässt der Wirklichkeit den ganzen – unendlichen – logischen Raum frei; die Kon-tradiktion erfüllt den ganzen logischen Raum und lässt der Wirklichkeit keinen Punkt. Keine von beiden kann daher die Wirklichkeit irgendwie bestimmen.“ Ludwig Wittgenstein: Tractatus Logico-Philosophicus. Logisch Philosophische Abhandlung. Frankfurt/M. 1990, 4.462 f.

18

EIN

LEIT

UN

G

für unseren Begriff des Wissens, wenn man dies, und nur dies, tatsächlich annehmen würde. So wird fast alles, was diesbezüglich gesagt worden ist, durch eine andere, ebenso gängige Aussage relativiert oder sogar ausgeschlos-sen werden können, insofern etwa die Zuschreibung nur auf Teilbereiche des Wissens oder überhaupt nicht passt. Was die so hoffentlich Schritt für Schritt über Ausschlüsse entstehende Annäherung an das Phänomen betrifft, zeitigt dieses Vorgehen allerdings die unangenehme Konsequenz, dass sich diverse Wiederholungen nicht umgehen lassen. Sie scheinen bereits deshalb unver-meidlich, weil sich zirkuläre Strukturen in einem linear strukturierten Medi-um (Text) nie adäquat beschreiben lassen. Am Ende des begriffskritischen Rundgangs, dem das erste Kapitel gewidmet ist, steht dann besagte Formel, nun aber, hoffentlich, etwas besser begründet.

Wo es um das Wissen geht, darf man über das Nichtwissen nicht schwei-gen, über welches im Zuge der „zweiten Welle“ der Debatte um die Wissens-gesellschaft zu Recht verstärkt nachgedacht wurde.20 Insbesondere geht es im zweiten Kapitel um das Nichtwissen der wissenschaftlichen Experten, das für die Medienöffentlichkeit immer etwas besonders Verunsicherndes hat, und wie es entsteht. In den letzten Jahren gab es mit der globalen Finanzkrise, der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko und zuletzt dem GAU in Fukushima drei Ereignisse, bei denen das vielleicht Erschreckendste für die Weltöffentlichkeit die vollständige Hilfl osigkeit der Experten war, deren Sinnbild wohl der Ver-such war, angesichts der Kernschmelze im Inneren der japanischen Reaktor-blöcke deren äußere Betonhülle mit Spritzwasser zu kühlen.

Nach einem nun zwingenden neuerlichen Blick auf die „Wissensgesell-schaft“ im Lichte des zum Wissen/Nichtwissen Gefundenen im dritten Ka-pitel möchte ich, mit Blick auf die kollektive Wissensgenerierung in den Wissenschaften, also den Kernbereich künftigen Wissens, mit einigen skizzen-haften Anmerkungen enden, die denkbaren Korrekturversuchen einer prak-tisch gewendeten Epistemologie nach dem Vorbild einer Poetologie des Wissens gewidmet sind. Namentlich die Vorschläge einer Rhetorik und einer Ästhetik des Wissens stehen dabei zur Debatte. Solche Programme scheinen mir zu-gleich das beste Korrektiv gegen gewisse fragwürdige Refundamentalisie-rungstendenzen der Gegenwart zu sein, also Versuchen, nach dem Wegbre-chen der überkommenen Gewissheiten der „Großen Erzählungen“ im Verständnis Jean-François Lyotards neue zu installieren.

20 Niels Gottschalk-Mazouz: „Was ist Wissen? Überlegungen zu einem Komplexbegriff an der Schnitt-stelle von Philosophie und Sozialwissenschaften“, in: Sabine Ammon et al. (Hg.): Wissen in Bewe-gung. Dominanz, Synergien und Emanzipation in den Praxen der „Wissensgesellschaft“. Weilerswist 2007, S. 21.

19

WIS

SEN

IN D

ER „

WIS

SEN

SG

ESEL

LSC

HA

FT“

Abschließend sei noch eine kurze Anmerkung zum Titel des Buches ge-stattet: In der epistemologischen Literatur wimmelt es von Schwänen, seit Karl R. Popper in seinem erkenntnistheoretischen Hauptwerk Logik der For-schung wider die logische Richtigkeit der Induktion mit den Schwänen argu-mentierte. Der Satz „Alle Schwäne sind weiß“ sei logisch falsch, weil ein Beobachter ja nie alle Schwäne sichten könnte: Irgendwo in einem fernen Land, argumentiert der ornithologisch bewanderte Popper (genauer: in Aus-tralien), mag es schwarze Schwäne geben.21 Symptomatisch an diesem Bei-spiel ist in mehrerlei Hinsicht, dass es empirisch ganz unsinnig ist. Denn jeder weiße Schwan ist als Jungschwan zunächst einmal eine ganze Zeit lang grau. Der weiße Schwan mag also bildhaft für unser Bild des Wissens stehen, der schwarze für das des Nichtwissens und der graue für das dabei nur allzu gern Übersehene: Wie wenig eine derartige Schwarz-Weiß-Unterscheidung ei-nem solch komplexen Gegenstand angemessen ist.

21 Hier sei einmal Wikipedia zitiert: „Der Trauerschwan (Cygnus atratus) oder Schwarzschwan ist eine monotypische Vogelart aus der Gattung der Schwäne (Cygnus) und der Familie der Entenvögel (Anatidae). Er ist der einzige fast völlig schwarze Schwan und hat außerdem den längsten Hals aller Schwäne.“

DER WEISSE SCHWAN: WISSEN

23

AU

SG

AN

GS

PU

NK

T

Ausgangspunkt

Wissen ist wichtig. Wissen ist von überragender Bedeutung für „unsere“ Zu-kunft. Zu solchen und ähnlichen Aussagen wird in infl ationärer Häufi gkeit seitens PolitikerInnen, JournalistInnen und überhaupt aller Berufener gegrif-fen, die sich zum Wissen in der „Wissensgesellschaft“ äußern. Ein Indiz ist die immense Bedeutung, die der Begriff im wohl autonomsten Teilsystem der Gesellschaft, dem Kunstsystem, in den letzten Jahren bekommen hat. Hier gibt es nicht nur (auch) neuere Arbeiten, die sich mit der Rolle des Wissens in der Gegenwart auseinandersetzen, was zweifellos begrüßenswert ist.1 Sondern man kann die auffällige Tendenz beobachten, Wissen unter dem Leitstern ei-ner künstlerischen Forschung („artistic research“) als einen, wenn nicht sogar den Zentralbegriff der zeitgenössischen Kunsttheorie aufzufassen. Die Un-klarheit auch hier, welches Wissen denn gemeint ist, wird im zugehörigen Diskurs strategisch genutzt, sodass bei der zunächst plausiblen, an Leibniz, die idealistische Ästhetik, aber auch an Konrad Fiedler gemahnenden Parallelisie-rung von Kunst und Wissenschaft oft unklar bleibt, ob damit heute darauf aufmerksam gemacht werden soll, dass die Wissenschaft eigentlich auch (nur) eine Kunst sei, weil ja ihre Repräsentationen (sic!) auch nicht wahr, sondern höchstens „Simulationen“ etc. seien, oder ob umgekehrt Kunst kraft ihr inhä-renter Wahrheitssuche eine Art eigene Wissensproduktion leiste, die der wis-senschaftlichen in Teilbereichen vielleicht sogar überlegen ist, wie man ja etwa in gewissen Romanen oder Filmen oft mehr Wissen über beispielsweise Liebe wähnt als in soziologischen oder psychologischen Werken.2 Jedenfalls

1 Einige aktuelle künstlerische Arbeiten über das Wissen von Gerhard Dirmoser, Daniel Hafner, Kathi Hofer, Jochen Höller, Michael Kargl, Santiago Sierra, Karo Szmit, Anna Witt sammelt die von Birgit Rinagl und Franz Thalmair kuratierte Gruppenausstellung Lebenslanges Lernen (Wiederholung II, Wissen) im „Open Space – Zentrum für Kunstprojekte“ vom 7. September bis 2. Oktober 2011 in Wien. Hier lautet die – richtige – gemeinsame Annahme: „Bildung, Erziehung oder einfach nur Lernen – der Erwerb und die Weitergabe von Wissen werden stets auf verschiedenen Ebenen durch Macht strukturiert. Einerseits wirkt diese mittels Ein- und Ausschlussmechanismen direkt auf gelern-te wie auf zu lernende Inhalte, andererseits wirken Machtverhältnisse auch auf die Art und Weise, wie Wissen vermittelt wird. […] In einer kulturenübergreifenden Netz- und Wissensgesellschaft steht das Schlagwort ‚Lebenslanges Lernen‘ nicht länger für einen den Bildungsinstitutionen unterworfenen Aspekt der Erziehung, sondern ist zum Hauptkriterium für die Versorgung gesellschaftlicher Res-sourcen geworden.“ Zit. http://cont3xt.net/blog/?p=4837

2 Horst Bredekamp erinnerte zuletzt an der Berlin-Brandenburgischen Akademie daran, dass noch für Leibniz Kunst und Wissenschaft keinen Gegensatz bildeten; er sah laut ihm in ihnen „unterschiedli-che, aber gleichberechtigte Formen desselben Erkenntniswillens“. Zit. bei Steffen Vogel: „Zwiege-spräch im Paternoster“, in: taz vom 23.1.2012. Über Baumgarten wurde dies ein zentraler Gedanke

24

DER

WEI

SS

E S

CH

WA

N: W

ISS

EN

spricht man zuletzt viel von „künstlerischer Wissensproduktion“ etc.3 Eine solche ernst genommene künstlerische Forschung ist wohl am vielverspre-chendsten in den Bereichen, wo aus Gestaltung, Kunst und Medien heraus tatsächlich neue, gesellschaftlich relevante Wissensformen generiert werden, etwa im Fall des Wissens neuer kommunikationstechnologischer Praktiken im Alltag, digitaler Bilder und Netzwerke, wo der „direkte“ Zugang refl ek-tierter künstlerisch-experimenteller Praxis einer klassisch-wissenschaftlichen Betrachtung in Textform oft ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen ist.

Sicher ist die These von der immensen Bedeutung des Wissens für die heutigen Gesellschaften bis hin zur „Weltgesellschaft“ insgesamt nicht falsch. Schon im Bildungsfernsehen der 1970er hieß symptomatisch das Motto: „Wieso, weshalb, warum – wer nicht fragt, bleibt dumm“.4 Allerdings hat die dahinter stehende Logik auch etwas leicht Naives: Wenn „wir“ mehr wüssten, könnten „wir“ noch viel mehr machen respektive noch viel mehr Wachstum und Rendite generieren (ausgeblendet wird, wessen Rendite, wozu das gut sein sollte und ohnehin alle Details, wie etwa, dass sich mit (Sonder-)Wissen nur Geld verdienen lässt, solange ein eklatanter Wissensvorsprung Mitbewer-bern gegenüber besteht).

Wie einleitend angedeutet, ist innerhalb der wissenschaftlichen Literatur die an dieser Stelle zunächst relevante Kinderfrage, nämlich was Wissen ist, disziplinübergreifend keinesfalls auch nur annähernd beantwortet, und eben dieser Umstand verleiht besagtem Lobgesang auf das Wissen etwas Verdächti-ges. Auffallenderweise erschiene es heute wohl nur einem Kind, jenem „Schulbuben“ vielleicht, von dem Ulrich Beck 1986 in der Risikogesellschaft schrieb, tatsächlich noch skandalös, dass die Wissenschaft nicht imstande ge-wesen ist, den ihr im Deutschen den Namen gebenden Begriff zu klären. Dies verweist auf eine Problemzone, die letztlich gekennzeichnet ist durch

der idealistischen Ästhetik, besonders deutlich etwa bei Hegel ausformuliert. Heute wird in der Regel Paul Feyerabend: Wissenschaft als Kunst. Frankfurt/M. 71984 als Pate der These herangezogen. Und Fiedler formulierte 1876 apodiktisch: „Die Kunst ist so gut Forschung wie die Wissenschaft, und die Wissenschaft ist so gut Gestaltung wie die Kunst.“ In: „Über die Beurteilung von Werken der bildenden Kunst“, in: ders.: Schriften zur Kunst, hg. von Gottfried Boehm. München ²1991, Bd. 1, S. 31.

3 „Künstlerische Praxis ist als Forschung zu betrachten, wenn sie dem Zweck dient, durch eine origi-näre Forschung unseren Wissensstand und unser Verstehen zu erweitern.“ So Henk Borgdorff: „Die Debatte über Forschung in der Kunst“, in: Anton Rey; Stefan Schöbi (Hg.): Künstlerische Forschung. Positionen und Perspektiven. Zürich 2009, S. 34. Vgl. einführend zur Künstlerischen Forschung ne-ben diesem Band auch Corinna Caduff; Fiona Siegenthaler; Tan Wälchli (Hg.): Kunst und Künstleri-sche Forschung. Zürich 2010; Elke Bippus (Hg.): Kunst des Forschens. Zürich; Berlin 2009; Kathrin Busch: „Künstlerische Forschung – Potentialität des Unbedingten“, in: Viktor Kittlausz; Gabriele Mackert; Winfried Pauleit (Hg.): Blind Date. Zeitgenossenschaft als Herausforderung. Nürnberg 2008, S. 88-97.

4 Titellied der „Sesamstraße“, Text Volker Ludwig.

25

AU

SG

AN

GS

PU

NK

T

einen eigenartigen Verlust: „Die Wissenschaftspraxis hat […] in ihrem Fort-gang – wie der Schulbub das Milchgeld – die Wahrheit verloren.“5 Zentral für die Probleme mit dem Wissen ist das Abhandenkommen des Glaubens an die Wahrheit in der Moderne, welchen freilich noch nie uneingeschränkt teilen konnte, wer, wie Sokrates, einmal darüber nachgedacht hatte. Folgt man dieser Spur, stünde im Hintergrund der fortdauernden Schwierigkeiten mit dem Begriff des Wissens die Geschichte eines Verlusts von etwas, das man nie hatte. Beck erläutert treffend die Konsequenzen dieser Paradoxie: Die Praxis der Wissenschaften ist „von einer Tätigkeit im Dienste der Wahrheit zu einer Tätigkeit ohne Wahrheit geworden, die aber mit den Pfründen der Wahrheit gesellschaftlich mehr denn je wuchern muss. […] Dies ist kein Zu-fall, auch kein Unfall. Die Wahrheit ist den üblichen Weg der Moderne ge-gangen. Die wissenschaftliche Religion der Wahrheitsverfügung und -ver-kündigung wurde im Zuge ihrer Verwissenschaftlichung säkularisiert. […] Einerseits hat sich der Erklärungsanspruch der Wissenschaft in die Hypothese, die Vermutung auf Widerruf, zurückgezogen. Andererseits hat sich die Wirk-lichkeit in Daten, die hergestellt sind, verfl üchtigt. Damit sind ‚Fakten‘ – ehe-malige Himmelsstücke der Wirklichkeit – nichts als Antworten auf Fragen, die anders hätten gestellt werden können. Produkte von Regeln im Sammeln und Weglassen. Ein anderer […] Spezialist, ein anderes Institut – eine andere ‚Wirklichkeit‘“.6

Wie aber reagieren laut Beck die Wissenschaften selbst auf diese Lage, wo-nach „nicht das Versagen, sondern der Erfolg“ sie entthront habe?7 Die Ant-wort lautet: mit der „‚Naivität‘, dass der methodische Skeptizismus der Wis-senschaften einerseits institutionalisiert, andererseits auf die Objekte der Wissenschaft eingegrenzt werden kann. Die Grundlagen wissenschaftlicher Erkenntnis bleiben davon ebenso ausgeschlossen wie alle Fragen der prakti-schen Umsetzung wissenschaftlicher Ergebnisse. Nach außen wird dogmati-siert, was im Inneren dem bohrenden Fragen und Zweifeln preisgegeben wird“.8 Denn: „Die Abnehmer wissenschaftlicher Dienstleistungen und Er-kenntnisse zahlen nicht für eingestandene oder aufgedeckte Irrtümer, falsifi -zierte Hypothesen, noch so scharfsinnig vorangetriebene Selbstzweifel, son-dern für ‚Erkenntnisse‘“.9

5 Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M. 1986, S. 271. 6 So bereits ebd. 7 Ebd., S. 266. Hier auch: „Je erfolgreicher die Wissenschaften in diesem Jahrhundert agiert haben,

desto schneller und gründlicher sind ihre ursprünglichen Geltungsansprüche relativiert worden.“ 8 Ebd., S. 267. 9 Ebd. Was das Wissen betrifft, halten sich übrigens selbst in den Wissenschaften die „bohrenden Fragen

und Zweifel“ in eng umrissenen Grenzen, Wahrheitsskepsis gehört zwar heute zum guten Ton, aber

26

DER

WEI

SS

E S

CH

WA

N: W

ISS

EN

Die mit diesen vagen Bemerkungen angerissene These lautet also: Wer sich dem Phänomen Wissen begriffl ich-abgrenzend nähern möchte, muss sich zu-nächst mit einigen solchen„Naivitäten“ herumschlagen; hierzu gehört neben den genannten zumindest implizit oft noch eine dritte: Letztlich wisse man ja doch, wovon die Rede ist, wenn es um Wissen geht, denn jeder weiß ja man-cherlei und also auch, aus Erfahrung, was es bedeutet zu wissen (weshalb sich eine Defi nitionsanstrengung des Selbstverständlichen im Grunde erübrige). Vielleicht ist es diese Gewissheit, die in der Literatur zum Thema zu einer immensen Zahl erstaunlich halbherziger „Defi nitionsversuche“ geführt hat, die in der Regel einen Teilaspekt zum Ganzen erklären. Martin Heidenreich etwa schreibt, bezeichnenderweise unter Rückgriff auf Meyers Großes Taschen-lexikon: „Als Wissen können daher ‚lernbereite‘ Deutungsschemata bezeich-net werden, die den natürlichen und sozialen Lebensbedingungen der Men-schen einen Sinn geben und ihr praktisches Verhalten regeln.“10 Das ist nur ein Teil der Wahrheit.

Einige Basisunterscheidungen, Etymologie und Funktion des Wissens

Am Anfang dessen, was man wissen muss, um tatsächlich etwas über das Phä-nomen menschlichen Wissens sagen zu können, steht vielleicht eine (alte) Erkenntnis.11 Charles Sanders Peirce schrieb: „In meinen Studien der großen Kritik Kants […] fand ich selbst nach zwei Jahren der härtesten geistigen Ar-beit, die ich je in meinem Leben tat, nur ein einziges gesichertes Resultat von irgendeiner positiven Wichtigkeit. Nämlich dass es nur drei elementare For-men von […] Signifi kation [als Bedeutungs-/Sinngenerierung, d. Verf.] gibt, die […] folgende waren: Qualitäten (der Fühlung), […] Relationen und (Prä-dikationen von) Repräsentationen.“12

auf so etwas wie eine echte Wissensskepsis im Sinne des vorangestellten Kierkegaard-Zitats stößt man aus gutem Grund kaum.

10 Martin Heidenreich: „Die Debatte um die Wissensgesellschaft“, in: Stefan Böschen; Ingo Schulz-Schaffer: Wissenschaft in der Wissensgesellschaft. Wiesbaden 2003, S. 27. Die Nähe des Wissens zu Normen folgt Überlegungen Luhmanns.

11 Zum Begriff der „Erkenntnis“ sei bereits an dieser Stelle der Hinweis gestattet, dass ich im Folgenden diesen noch vageren Begriff weitgehend vermeiden will. Als eine Erkenntnis ist er synonym mit ei-nem (meist wissenschaftlichen) Wissen, wobei er lediglich ein wenig mehr auf die Neuheit des Wis-sens abhebt und damit die aktive Rolle des Wissenden oder nach Wissen Suchenden herausstellt („Erkenntnisanstrengung“ usw.); als die Erkenntnis hingegen hat er eine noch stärkere positiv-nor-mative Aufl adung als „Wissen“, sodass er der Gewissheit (mit objektivem Wahrheitsgehalt) recht nahe kommt. Gerade diese Spaltung macht den Begriff ungeeigneter als den des Wissens, der Probleme genug aufwirft.

12 Peirce hat nur zwei Bücher veröffentlicht, aber zahllose Manuskripte mit etwa 100 000 Seiten an unterschiedlichen Orten publiziert und hinterlassen, die in unterschiedlichen Editionen erschienen

27

AU

SG

AN

GS

PU

NK

T

Die Qualitäten der Fühlung verweisen auf die „primärsinnliche“ Bedeu-tung der äußeren, physikalischen und biologischen Welt und ihrer Phänome-ne, etwa auf Berge und Meere, auf die handfesten Fakten des menschlichen Handelns und die Tatsachen der biologischen Existenz, insbesondere die ei-gene Körperlichkeit, Peirce spricht von Erstheit. Die „Relationen“ setzen ein refl ektierendes Bewusstsein voraus, das aufgrund seines Wissens diese und andere Dinge in Beziehung zueinander und zu sich selbst setzt, Peirce spricht von Zweitheit. Und die symbolischen (bildliche, mathematische, sprachliche usw.) Repräsentationen dieser beiden „Welten“ sind es, die Kommunikati-onsakte und damit das Soziale ermöglichen, Peirce spricht von Drittheit. Die-sen drei getrennten Ebenen – der der äußeren Welt, der des Denkens und Fühlens und der der zugehörigen symbolischen Repräsentation – entspricht dann sein dreigliedriges Modell der Semiose mit der Differenzierung von Objekt, Interpretant und Repräsentamen/Zeichenträger. Kant spricht für an-nähernd dieselbe Differenzierung vom Ding an-sich, dessen Erscheinung und (gelegentlich) von Symbolen und Sprachen, etwa der Mathematik, Gottlob Frege und Popper sprechen hier mit im Detail unterschiedlicher Abgrenzung von den „drei Welten“.13 Ferdinand de Saussure trennt annähernd dasselbe nach Referent, Signifi kant und Signifi kat (als durch einen Signifi kanten aus-gelöste Vorstellung), Jacques Lacan spricht von der Ebene des Realen, des Imaginären und des Symbolischen, Luhmann trennt die Ebene der allopoie-tischen und lebenden Systeme von der der Bewusstseinssysteme und der der Kommunikationssysteme usw.14 All dies verweist – selbstverständlich mit stark abweichender begriffl icher Binnendifferenzierung – und hier beginnen dann

sind. Nach Charles Sanders Peirce: Collected Papers of Charles Sanders Peirce, 8 Bde. Herausgegeben von Charles Hartshorne, Paul Weiss und Arthur Burks. Cambridge, Mass. 1931-1958, Bd. 1 [1931], S. 60, zit. bei Martin Krampen: „Zeichentheorie und Ideologie“, in: Bernd Meurer; Hartmut Vincon (Hg.): Kritik der Alltagskultur. Berlin 1979, S. 147.

13 Gottlob Frege: „Der Gedanke: eine logische Untersuchung“, in: Beiträge zur Philosophie des deut-schen Idealismus I, 2 [1918], z.B. S. 58, in: ders.: Logische Untersuchungen. Göttingen 31986, S. 30; Karl R. Popper: „Three Worlds: The Tanner Lecture on Human Values at the University of Michigan, April 7, 1978“, in: Sterling M. McMurrin (Hg.): The Tanner Lecture on Human Values 1980, Vol. 1. Cambridge 2011 [1980], S. 141-167, bes. S. 142 ff. „To sum up, we arrive at the following picture of the universe. There is the physical universe, world 1, with its most important sub-universe, that of the living organisms. World 2, the world of conscious experience, emerges as an evolutionary product from the world of organisms. World 3, the world of the products of the human mind, emerges as an evolutionary product from world 2.“ (Ebd., S. 166 f.).

14 Obwohl strukturell gekoppelt, sind diese Systeme fundamental getrennt, weil ihre jeweilige Operati-onsweise sie füreinander gegenseitig unzugänglich macht, etwa für Körper und Bewusstsein gespro-chen: „In dieser Frage ist nicht zuletzt die Differenz von biologischen Systemen (des eigenen Orga-nismus) und psychischem System entscheidend. Die Einheit und Autonomie des Bewusstseins sind dadurch bedingt, dass es nicht in der Lage ist, seine Körpervorgänge bewusstseinsmäßig nachzuvoll-ziehen.“ Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M. 1984, S. 142.

28

DER

WEI

SS

E S

CH

WA

N: W

ISS

EN

die zugehörigen philosophischen Probleme – auf die basale Notwendigkeit der Unterscheidung dieser drei Ebenen.15 Deren fundamentale Getrenntheit bildet die Voraussetzung menschlichen Beobachtens der Welt. Sie sollte er-kenntnistheoretisch unter keinen Umständen aufgeweicht werden, nicht zu-letzt, weil so etwas wie Logik oder strenge Kausalzusammenhänge immer nur innerhalb einer solchen Ebene Relevanz haben können: Ein Bewusstseinsakt folgt immer nur auf einen vorangegangenen Bewusstseinsakt, etwa folgt ein Gedanke auf eine Wahrnehmung eines Satzes oder eines unbelebten Dings der Welt. Jenes wiederum, nehmen wir ein Phänomen wie Geschwindigkeit als Beispiel, ist vollständig unzugänglich für kommunikative Mitteilungen und Gedanken. Und die Sprache kennt in sich ohnehin kein Außen.16

Unser alltagspraktisches Wissen interessiert sich, vermutlich weil derartige Spitzfi ndigkeiten existenziell hinderlich sind, überhaupt nicht für diese Diffe-renzierung. Zwar gehört es offensichtlich ausschließlich auf Ebene zwei oder drei, als individuelles Wissen ist es Wahrnehmung/Gedanke und als kollektives Wissen ist es bildliche, sprachliche, mathematische etc. Repräsentation in kommunikativen Mitteilungen. Aber es beansprucht gerade, wahre Aussagen über Elemente der Ebene eins zu treffen (die Beobachtung deklariert alles,

15 Das soll nicht heißen, dass all das dasselbe in anderen Worten wäre. Die Vermutung wäre lediglich, dass sich diese begriffl ichen Unterscheidungen allesamt auf denselben Umstand beziehen, der sprachlich nicht wirklich fassbar ist (weil sich die Sprache dagegen sperrt, ihre eigene Begrenztheit zu artikulieren). Wohlgemerkt, ist die hier aufscheinende Differenzierung in meinen Augen keine im strengen Sinne ontologische, sondern sie sagt zunächst einmal nur etwas über eine erkenntnistheore-tisch notwendige Unterscheidung des Beobachtens der Welt aus, das selbst wiederum nichts anderes ist als Differenzierung. Denn: „Die Wahrheit ist, dass die Differenz durch die Differenzierung [...] entsteht.“ So Gabriel Tarde: Monadologie und Soziologie. Aus dem Französischen von Juliane Sarnes und Michael Schillmeier. Mit einem Vorwort von Bruno Latour. Frankfurt/M. 2009 [1893], S. 67. Die einzige hierbei vorausgesetzte ontologische Unterstellung lautet: „Existieren heißt differieren, die Differenz ist nämlich in gewisserem Sinne das Wesen der Dinge, was ihnen zugleich völlig eigen und gemeinsam ist. Dies muss der Ausgangspunkt sein, [sodass] [...] man alles durch ihn erklärt, auch die Identität […]. Denn Identität ist nur ein Minimum […], eine besonders seltene Art der Diffe-renz …“ Ebd., S. 71 f. Vgl. dazu auch Bruno Latour: „Gabriel Tarde und das Ende des Sozialen.“ Aus dem Englischen von Gustav Roßler, in: Soziale Welt Nr. 3 (2001), S. 373. Jede benannte Differenz tritt auf besagten drei Ebenen wiederum in ihrer ganz eigenen Weise auf.

16 Vgl. das einst gleichfalls von Tarde (ebd., S. 32) herausgestellte vermeintlich zentrale Problem der Erkenntnistheorie: „Zuzugeben, dass man nicht weiß, was das Wesen an sich eines Steines oder einer Pfl anze ist, und zugleich felsenfest darauf zu bestehen, dass ein solches existiert, ist logisch unhaltbar; es ist leicht aufzuzeigen, dass die Idee, die wir von ihm haben, allein unseren Geisteszuständen ent-springt, und wenn wir von diesen absehen, wird nichts übrig bleiben, was zu sehen wäre. Anders formuliert: Entweder man sagt etwas über den Geist, indem man das substantielle und unerkennbare X aussagt, oder man ist gezwungen zuzugeben, dass man, indem man etwas anderes aussagt, rein gar nichts sagt.“ Das ist wohl Kant, zu dogmatisch gelesen. Auf der Ebene eins mag der Stein vom Wesen „sein“, wie wir es auch sind oder ganz anders, auch er scheint jedenfalls zu existieren. Auf der Ebene zwei „ist“ er mentale Vorstellung, die letztendlich, aber sicher nicht „allein unseren Geisteszuständen entspringt“, denn da ist ja manches „zu sehen“. Und auf der Ebene drei kann man über ihn und derartiges dann so oder auch so sprechen oder schreiben.

29

AU

SG

AN

GS

PU

NK

T

was beobachtet wird, auch die Sprache oder das Bewusstsein selbst, wenn auch sie einmal beobachtet werden, zum „Realphänomen“). Das heißt, Be-obachtetes wird immer gedacht wie ein Element der Ebene eins, wie eine Zellkultur unter dem Mikroskop).17

Umso wichtiger ist es, erkenntnistheoretisch besagte Differenzierung im Blick zu behalten. Nehmen wir mit Popper aus der Logik der Forschung das Beispiel des empirischen Phänomens einer Wiederholung: Einerseits macht das Konzept nur Sinn, wenn es etwas über die Ebene eins aussagt. Anderer-seits gilt, „dass jedes beliebige Ding oder Ereignis als ‚Wiederholung‘ jedes beliebigen anderen angesehen werden kann, wenn man nur den geeigneten Standpunkt einnimmt“.18 Damit bleibt nur die Möglichkeit des kommunika-tiven Konsenses als Marker, was angesichts eines konkreten Phänomens zu-treffend noch als ein Fall einer solchen „Wiederholung“ gelten darf und was nicht mehr.

Popper, dem deshalb gelegentlich „postmoderner Irrationalismus“ vorge-worfen wurde, ging, was den Realitätsbezug unseres Wissens betrifft, grund-sätzlich diesen Weg.19 Er defi niert den empirischen Gehalt eines Satzes zu-nächst pragmatisch als „Klasse der (zugehörigen) Falsifi kationsmöglichkeiten“, das heißt: Je mehr er ausschließt, desto mehr sagt er über die Realität aus, auf die er sich bezieht. Das heißt, der empirische Gehalt einer einfachen Theorie beispielsweise wächst mit der Zahl der Zustände, die sie verbietet oder aus-schließt, was laut Popper impliziert, dass besagter Gehalt über deren „Un-wahrscheinlichkeit“ zu messen ist: Je wahrscheinlicher sie ist, desto weniger empirisch ist sie.20 Einen Zustand, der „etwas verbietet oder ausschließt“, aber kann es zunächst nur auf derselben Ebene geben, auf der auch die Theorie operiert, also in sprachlich-symbolischer Form. Popper nennt deshalb einen solchen Zustand „Basissatz“ (gemeint ist weitgehend das, was alltagssprach-lich eine Tatsache genannt wird; Popper spricht mit implizitem Fokus auf der Physik oft auch von einem „Ereignis der Welt“). Eine solche simple Tatsa-chenfeststellung der Form „An Ort l gilt: X ist a“, beispielsweise mit Blick auf ein Glas Wasser: „Dort steht ein Glas Wasser“, wäre demnach also ein (nicht

17 Kurz gesagt, eine letztlich im Einzelfall nicht beweisbare, sondern nur kaum ernsthaft bestreitbare Realitätsunterstellung denkt sich sogenannte „empirische“ Phänomene, die man als „Inkohärenz“, „Gerechtigkeit“ oder „Quarks“ defi niert und als schlussendlich ähnlich handfestes wie ein Glas Wasser in der Hand denkt: ein Ding der Welt, über das man etwas wissen kann.

18 Karl R. Popper: Logik der Forschung. Tübingen 91989 [1934, der zit. Anhang ist von 1955], S. 376, vgl. auch ebd., S. 15: Gesetze „sagen umso mehr, je mehr sie verbieten“, und ebd., S. 77 ff.

19 Diese These bei David Stove: Popper and After: Four Modern Irrationalists. Oxford 1982. 20 Popper, Logik der Forschung (1989) [1955], S. 347. Die höchste Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne

hat (und damit vollständig unempirisch ist) ein tautologischer Satz.

30

DER

WEI

SS

E S

CH

WA

N: W

ISS

EN

besonders) empirischer Basissatz, denn er kennt nur drei Falsifi kationsmög-lichkeiten: (1) die Behauptung, das Glas Wasser existiere dort nicht (offenbar unsinnig, es ist zu sehen), oder aber (2) das, was dort steht, sei kein Glas (son-dern ein Plastikbecher?) oder (3) darin sei kein Wasser (jedenfalls nicht nur, es seien auch noch andere farb-, geruch- und geschmacklose Flüssigkeiten beigemischt).21 Das soll zeigen: Derartige Basissätze („Tatsachen“), die „be-haupten, dass sich in einem individuellen Raum-Zeit-Gebiet ein beobacht-barer Vorgang abspielt“, und die allein den Realitätsbezug von Theorien her-stellen können (also gewissermaßen die Brücke von Ebene drei zurück zu Ebene eins darstellen), sind entgegen dem ersten Anschein nur dann empiri-sche Sätze, welche diese Rolle im wissenschaftlichen Prozess einnehmen können, wenn sie nach ausreichender Prüfung Anerkennung fi nden. Streng genommen sind sie also reine wissenschaftliche Konvention, selbst nichts an-deres als ein kommunikatives Ereignis allgemeiner Akzeptanz einer Feststel-lung „An Ort l gilt: X ist a“. Im Beispiel mit dem Glas Wasser wären in un-terschiedlichen Wissenschaften (etwa in den Rechtswissenschaften, der Physik, der Meeresbiologie usw. ) nun ganz unterschiedliche Voruntersuchun-gen notwendig, bevor besagter empirischer Satz tatsächlich als Tatsache gelten kann. Popper schreibt hierzu ausdrücklich: Sie „werden durch Beschluss, durch Konvention anerkannt, sie sind Festsetzungen“.22

Damit besteht zwischen der Rolle der „Tatsachen“ im Prozess der empi-rischen Wissenschaften und der der Zeichen in der Sprache eine perfekte

21 Er ist, ebd., S. 61, ganz zu Recht der Ansicht: „Wir können keinen wissenschaftlichen Satz ausspre-chen, der nicht über das, was wir auf Grund unmittelbarer Erlebnisse sicher wissen können, weit hinausgeht […]; jede Darstellung verwendet allgemeine Zeichen, Universalien, jeder Satz hat den Charakter einer Theorie […]. Der Satz: ‚Hier steht ein Glas Wasser‘ kann durch keine Erlebnisse verifi ziert werden, weil die auftretenden Universalien nicht bestimmten Erlebnissen zugeordnet wer-den können […]. Mit dem Wort ‚Glas‘ zum Beispiel bezeichnen wir physikalische Körper von be-stimmtem gesetzmäßigen Verhalten, und das gleiche gilt von dem Wort ‚Wasser‘.“

22 Ebd., S. 69 und S. 71. Vgl. auch ebd., S. 74: Es gelte, „dass die Entscheidungen über die Basissätze nicht durch unsere Erlebnisse ‚begründet‘ werden, sondern, logisch betrachtet, willkürliche Festsetzungen sind (psychologisch betrachtet, zweckmäßige Reaktionen) …“ Dies geht im Einzelfall viel weiter als der triviale Umstand, dass alles Sprachliche konventionalen Charakter hat. Popper bezeichnet die daraus unmittelbar folgende Konsequenz, dass die Dinge der Welt mit Kant für menschliche Beob-achter nur „Erscheinung“ sein können („das Ding an sich ist unerkennbar“), wie seitens der großen Physiker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts insbesondere Heisenberg und Bohr argumentiert hatten, allerdings als „metaphysisches Weltbild“, gegen das er „keinesfalls prinzipiell“ sei. (Ebd., S. 408). Mit diesem Lavieren will er, neben dem Umstand, dass er das aus konzeptionellen Gründen sagen muss, weil der Satz „Das Ding an sich ist unerkennbar“ nicht falsifi zierbar ist, vielleicht auch darauf hinweisen, dass der antiempirische Einwand, wonach man über die Realität „streng genom-men“ nichts wissen könne etc., immer wahr und zugleich vollständig belanglos bleibt, bis es im konkreten Einzelfall gelingt zu zeigen, dass Phänomen Y nicht in der Weise existiert wie unser fi kti-ves Glas Wasser, und weshalb das so ist (sodass sich, weil das kaum gelingt, das abstrakte Problem in fast allen Fällen sofort aufl öst).