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www.ssoar.info Robert K. Merton (1910-2003) Coser, Lewis A.; Fleck, Christian Veröffentlichungsversion / Published Version Sammelwerksbeitrag / collection article Zur Verfügung gestellt in Kooperation mit / provided in cooperation with: SSG Sozialwissenschaften, USB Köln Empfohlene Zitierung / Suggested Citation: Coser, L. A., & Fleck, C. (2007). Robert K. Merton (1910-2003). In D. Kaesler (Hrsg.), Klassiker der Soziologie. Bd. 2, Von Talcott Parsons bis Anthony Giddens (5., überarb., akt. u. erw. Aufl.) (S. 152-179). München: Beck. https://nbn- resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-234595 Nutzungsbedingungen: Dieser Text wird unter einer Deposit-Lizenz (Keine Weiterverbreitung - keine Bearbeitung) zur Verfügung gestellt. Gewährt wird ein nicht exklusives, nicht übertragbares, persönliches und beschränktes Recht auf Nutzung dieses Dokuments. Dieses Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt. Auf sämtlichen Kopien dieses Dokuments müssen alle Urheberrechtshinweise und sonstigen Hinweise auf gesetzlichen Schutz beibehalten werden. Sie dürfen dieses Dokument nicht in irgendeiner Weise abändern, noch dürfen Sie dieses Dokument für öffentliche oder kommerzielle Zwecke vervielfältigen, öffentlich ausstellen, aufführen, vertreiben oder anderweitig nutzen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an. Terms of use: This document is made available under Deposit Licence (No Redistribution - no modifications). We grant a non-exclusive, non- transferable, individual and limited right to using this document. This document is solely intended for your personal, non- commercial use. All of the copies of this documents must retain all copyright information and other information regarding legal protection. You are not allowed to alter this document in any way, to copy it for public or commercial purposes, to exhibit the document in public, to perform, distribute or otherwise use the document in public. By using this particular document, you accept the above-stated conditions of use.

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Robert K. Merton (1910-2003)Coser, Lewis A.; Fleck, Christian

Veröffentlichungsversion / Published VersionSammelwerksbeitrag / collection article

Zur Verfügung gestellt in Kooperation mit / provided in cooperation with:SSG Sozialwissenschaften, USB Köln

Empfohlene Zitierung / Suggested Citation:Coser, L. A., & Fleck, C. (2007). Robert K. Merton (1910-2003). In D. Kaesler (Hrsg.), Klassiker der Soziologie. Bd. 2,Von Talcott Parsons bis Anthony Giddens (5., überarb., akt. u. erw. Aufl.) (S. 152-179). München: Beck. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-234595

Nutzungsbedingungen:Dieser Text wird unter einer Deposit-Lizenz (KeineWeiterverbreitung - keine Bearbeitung) zur Verfügung gestellt.Gewährt wird ein nicht exklusives, nicht übertragbares,persönliches und beschränktes Recht auf Nutzung diesesDokuments. Dieses Dokument ist ausschließlich fürden persönlichen, nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt.Auf sämtlichen Kopien dieses Dokuments müssen alleUrheberrechtshinweise und sonstigen Hinweise auf gesetzlichenSchutz beibehalten werden. Sie dürfen dieses Dokumentnicht in irgendeiner Weise abändern, noch dürfen Siedieses Dokument für öffentliche oder kommerzielle Zweckevervielfältigen, öffentlich ausstellen, aufführen, vertreiben oderanderweitig nutzen.Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie dieNutzungsbedingungen an.

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Page 2: Robert K. Merton (1910-2003) - SSOAR: Home

Klassiker der Soziologie

Band II

Von Talcott Parsons bis Anthony Giddens

5., überarbeitete, aktualisierte und erweiterte Auflage

Herausgegeben vonDirk Kaesler

Von Auguste Comte, dem "Gründervater" der Soziologie, bis zuEnglands Soziologiestar Anthony Giddens stellen die "Klassikerder Soziologie" in zwei Bänden Leben, Werk und Wirkung dergroßen Soziologen dar. Ausgewiesene Sachkenner eröffnen mitdiesen Porträts einen vorzüglichen Einblick in die Geschichte unddie wichtigsten theoretischen Konzepte der Soziologie.

Dirk Kaesler lehrt als Professor für Allgemeine Soziologie inMarburg. Verlag C.H.Beck

Page 3: Robert K. Merton (1910-2003) - SSOAR: Home

Inhalt

1. Auflage. 19992., durchgesehene Auflage. 2000

3. Auflage. 20024. Auflage. 2003

KlausAllerheck:Paul F.Lazarsfeld(1901-1976). . . . . . . . . . .

RichardMünch:TalcottParsons(1902-1979). . . . . . . . . . . . .

Stefan Müller-Doohm:Theodor W.Adorno (1903-1969) . . . .

Karl-SieghertRehherg:Hans Freyer (1887-1969).. . . . . . . . .ArnoldGehlen(1904-1976) .HelmutSchelsky(1912-1984) .

JoachimStark:Raymond Aron (1905-1983) . . . . . . . . . . . . .

Karl-DieterOpp und Reinhard Wippler:George CasparHomans (1910-1989). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Originalausgabe

Lewis A. Coser und Christian Fleck: Robert K. Merton (1910-2003) . 152

Andreas Hess: C. Wright Mills (1916-1962). . . . . . . . . . . . . . 180

RohertHettlage:ErvingGoffman(1922-1982) 197

Norman Braun: James S. Coleman (1926-1995). . . . . . . . . . . 216

Rudo/f Stichweh: Niklas Luhmann (1927-1998) 240

Axel Honneth:Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

Cornelia Bohn und Alois Hahn: Pierre Bourdieu (1930-2002) 289

Andreas Reckwitz: Anthony Giddens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3115., überarbeitete, aktualisierte und erweiterte Auflage. 2007@Verlag C.H.Beck oHG, München 1999

Gesamtherstellung: Druckerei C.H.Beck, NördlingenUmschlagabbildungen: v.1.n.r.:Talcott Parsons

(Süddeutscher Verlag - Bilderdienst)Jürgen Habermas (picturealliance),

Anthony Giddens (akg-images).Umschlagentwurf: +malsy, Willich

Printed in GermanyISBN 978 3 406 420894

Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338

Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341

Sachregister 345

www.beck.de

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Robert K. Merton1

(1910-2°°3)

gendliche Merton war fasziniert und eiferte ihm nach: Unter"Hops" Anleitung erlernte er das Zauberhandwerk und führteseine Tricks vor einem aufmerksamen Publikum von Gleichaltri-gen und Jüngeren vor. Allerdings klang ihm sein Geburtsname,Meyer R. Schkolnick, nicht romantisch genug für einen Nachfol-ger des großen amerikanischen Zaubermeisters Harry Houdini(1874-1926). So nannte er sich zuerst Robert King Merlin, nachdem Helden aus König Artus' Tafelrunde, später dann RobertKing Merton. Er ließ sich Visitenkarten mit seinem Künstlerna-men drucken, deren Unterzeile "enchanting mysteries". Als all-mählich auch seine Freunde ihn nur noch Merton nannten, ent-schloß er sich, seinen Namen ganz offiziell zu ändern. Undobwohl er als graduate student in Harvard die Zauberkunst auf-gab, halten einige von uns ihn noch heute für einen Magier, derseine Kunststücke vor der soziologischen Gemeinschaft aufführte.

Nach äer Zeit, die er an der High School und in der Carnegie-Bücherei, seiner zweiten "Schule", verbrachte, nahm Merton einakademisches Studium auf, zuerst an der Temple University, dievon Russell Herman Conwell, einem Baptistenpfarrer, für "thepoor boys and girls of Philadelphia" gegründet worden war. Auchhier ließ ihn das Glück auf einen intellektuellen Mentor treffen,der ihm den weiteren Weg wies. Aus Neugierde belegte er einenKurs, der von einem jungen Dozenten für Soziologie, George E.Simpson, angeboten wurde. Simpson arbeitete zu jener Zeit anseiner Dissertation über The Negro in the Philadelphia Press.Ermochte seinen jungen Studenten vom ersten Moment an undmachte ihn zu seinem Forschungsassistenten. Später sagte Mertonüber diese Zeit: "Jene Forschungserfahrung besiegelte meine Ent-scheidung, mich auf das exotische und unbekannte Feld der So-ziologie zu begeben" (Merton 1994, S. 10; Merton 1996, S. 348).Simpson führte seinen jungen Assistenten in die Arbeiten frühererund zeitgenössischer Soziologen ein und nahm ihn zu Tagungenmit, wo er den damaligen Größen des Faches begegnete.

Auf einem dieser Treffen lernte er Pitirim Sorokin kennen, denDirektor des neugegründeten Department o[ Sociologyin Harvard.Merton war von Sorokin so beeindruckt, daß er sich um einenStudienplatz an der Harvard University bewarb. Nachdem er an-genommen worden war, arbeitete er zuerst eng mit Sorokin zu-sammen und half diesem bei seinen Forschungsprojekten. Kurze

Lewis A. Coser und Christian Fleck

Robert K. Merton und sein einstiger Lehrer Talcott Parsonsgelten als die beiden bedeutendsten amerikanischen Soziologender zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts. Dabei war ihr familiärerHintergrund sehr unterschiedlich: Parsons' Vater war der geistli-che Präsident eines protestantischen Colleges im Mittleren We-sten der Vereinigten Staaten. Merton wurde am S.Juli 1910 inPhiladelphia im Bundesstaat Pennsylvania als Sohn osteuropäi-scher jüdischer Immigranten in einer Arbeitersiedlung geboren.Mertons Vater wechselte sein Leben lang zwischen der unterenMittelschicht und der Arbeiterklasse: Mal betrieb er einen kleinenMilchladen, dann wieder arbeitete er als Tischlergehilfe auf einerWerft in Philadelphia. Der heranwachsende Parsons fand leichtenZugang zu erstklassigen Bildungseinrichtungen, der junge Mertonhingegen erreichte die Harvard University nur durch eine Reiheglücklicher Zufälle.

Es begann damit, daß Mertons Familie in der Nähe einer jenerzahlreichen öffentlichen Büchereien wohnte, die der Industriema-gnat und Börsenspekulant Andrew Carnegie gegen Ende des19.Jahrhunderts hatte errichten lassen.Vonseinem fünften Lebens-jahr an bis zum Beginn seines Universitätsstudiums wurde dieseBücherei zu Mertons "Privatbibliothek". Die Bibliothekare, beein-druckt vom Lerneifer des Jungen, wurden seine inoffiziellen Tu-toren und machten ihn mit den Reichtümern der Kultur vertraut.Ohne sie hätte Merton niemals jene intellektuellen Höhen erreicht,die es auf den folgenden Seiten zu beschreiben gilt. Doch die Bi-bliothek blieb nicht das einzig Prägende seiner Jugend: Durch ei-nen weiteren glücklichen Zufall ergab es sich, daß ein Nachbar,Charles Hopkins, sich in Mertons Schwester verliebte und diesespäter auch zur Frau nahm. "Hop", wie sie ihn nannten, wurdefür Merton zum Ersatzvater und zum intellektuellen Ratgeber. Erführte ihn an die Vielfalt der amerikanischen Kultur heran, diesein Vater als Immigrant ihm nicht hätte vermitteln können.

Außerdem war "Hop" ein begeisterter Zauberkünstler. Der ju-

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Zeit später veröffentlichte er mit seinem Mentor zusammen einenbedeutenden Artikel über die soziale Zeit im American Journal oiSociology (Merton/Sorokin 1937). Doch Mertons Anhänglichkeitan Sorokin wurde schwächer, als er einem jungen und noch nichtganz so bekannten Mitglied der Fakultät begegnete: Talcott Par-sons.

Aus Platzgründen werde ich hier nicht im einzelnen auf die an-deren Mitglieder des Lehrkörpers in Harvard eingehen, welcheMerton in jener Zeit beeinflußten. Erwähnen möchte ich einzig,daß der Wirtschaftshistoriker E.F. Gay, der große Wissenschafts-historiker George Sarton und der Biochemiker und SoziologeJoseph L. Henderson wichtig für ihn waren. Die Spuren dieserGelehrten kann man in vielen von Mertons Veröffentlichungenfinden, am ehesten jedoch in seiner Dissertation und anderen frü-hen Werken.

Fragt man nach der Bedeutung früherer Soziologen für Merton,so steht das Werk Emile Durkheims ganz oben an. Mertons ersterveröffentlichter Aufsatz befaßt sich mit dem Werk Durkheims(Merton 1934). Doch auch der Bezug auf Karl Marx ist deutlichund besonders in Mertons frühen Arbeiten sichtbar. Max WebersEinfluß tritt am deutlichsten in Mertons Dissertation hervor, docher wird in den späteren Arbeiten wesentlich schwächer. GeorgSimmel war für Mertons Arbeit hauptsächlich in den 1950erJah-ren und danach wichtig. Aus Platzgründen muß auch hier auf eineausführliche Behandlung verzichtet werden. Im folgenden werdeich mich darauf beschränken, die komplizierten und nicht immerklar zutage tretenden intellektuellen Beziehungen zwischen demWerk von Parsons und dem seines einstigen Schülers Merton zuuntersuchen.

Zur selben Zeit, als Merton in Harvard studierte, arbeitete Par-sons an jenem Buch, das später einen nachhaltigen Einfluß auf dieTheoriebildung nicht nur der amerikanischen, sondern auch derSoziologie der gesamten Welt ausüben sollte: The Structure oiSocial Action2. Dieses Buch, über das Parsons auch Vorlesungenabhielt, beanspruchte, das gesamte Erbe der europäischen sozio-logischen Theorieproduktion seit Auguste Comte zu sichten undauf der Grundlage ihrer brauchbaren Teile ein imposantes Theo-riegebäude aufzubauen. Damit sollte ein neuartiger theoretischerAnsatz begründet werden, der später als "Funktionalismus" oder

"Strukturfunktionalismus" bezeichnet wurde. Genauer gesagt,Parsons war bestrebt, durch eine kreative Synthese insbesondereder Vorarbeiten von Emile Durkheim, Max Weber und VilfredoPareto eine "voluntaristische Theorie des sozialen Handeins" zuentwickeln. Er analysierte kritisch die Traditionen von Idealis-mus, Utilitarismus und Positivismus und hob diejenigen Aspektehervor, die er als Beitrag zu seinem neuen, synthetischen Ansatzder soziologischen Theorie nutzen konnte. Bestrebt, die charakte-ristischen Grundmerkmale allen menschlichen Handelns hervor-

zuheben, entwickelte Parsons in The Structure oi SocialAction ei-ne Reihe abstrakter analytischer Konzepte, die er später in einerlangen Serie von Arbeiten vertiefte. Sein Anliegen war es, spätereWissenschaftler theoretisch anzuleiten und sie davor zu bewah-

ren, sich im Meer der empirischen Datenmengen zu verlieren.Daher schien es ihm als notwendig, die wichtigsten und systema-tischen Merkmale des sozialen Handelns hervorzuheben.

Robert K. Merton, der eigentlich wegen Sorokin nach Harvardgekommen war und diesem nahestand, wandte sich nun Parsonszu und wurde zum Mitglied der gerade entstehenden Schule desFunktionalismus. Ein aufmerksamer Beobachter hätte allerdingsschon damals nicht unwichtige Unterschiede der Denkweisen vonParsons und Merton bemerken können. Parsons arbeitete in sei-nem sich entwickelnden Werk ein immer komplizierteres soziolo-gisches System aus, von dem er annahm, daß es allen mensch-lichen Handlungen zugrunde liege. Seine byzantinische Theoriesollte die Gesamtheit des menschlichen Verhaltens erklären.Merton dagegen spürte nicht den geringsten Anreiz, in solch viel-deutiger und hochtrabender Begrifflichkeit zu denken. Die So-ziologie, so meinte er, sei ein sehr junges Denksystem, noch nichtreif für den Auftritt eines Isaac Newton oder Johannes Kepler. Essei zwar wichtig, daß Parsons auf die Irrtümer eines theoretischunwissenden Empirismus hinweise, doch verleite er seine Schülerdazu, sich auf die verfrühte und aussichtslose Suche nach demHeiligen Gral des 20. Jahrhunderts zu machen.

Aber wir greifen unserer Geschichte voraus, einige Einzelhei-ten zu Mertons Karriere nach der Zeit in Harvard sind noch

nachzutragen. Seine erste Universitätsstelle bekam er an der Tula-ne University in New Orleans, wo er von 1939 bis 1941 lehrte.Dabei ist bemerkenswert, daß der frischgebackene Ph.D. der

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Harvard University gleich als AssociateProfessorangestellt wurdeund schon sehr bald zum Full Professor avancierte. Obwohl dieTulane University ihn auch noch zum Direktor des Departmentsof Sociology ernannt hatte, nahm Merton aber bald ein Angebotder Columbia University in New York an, ihn als Assistant Pro-fessor anzustellen. Der Wechsel an eine der führenden Universi-täten des Landes und an ein überaus namhaftes Departmentmachte es ihm leicht, die positionale Rückstufung zu verschmer-zen. In den folgenden Jahrzehnten war die Karriere Mertonsebenso eng mit der Columbia University verbunden wie die vonParsons mit der Harvard University. Er arbeitete mit einer Viel-zahl von Kollegen in Columbia zusammen, so u.a. mit RobertLynd, Kingsley Davis und William J. Goode. Paul F. Lazarsfeldwurde für sehr viele Jahre - bis zu seinem Tode 1976 - ein engerMitarbeiter und intellektueller Gefährte Mertons.

Zum Beginn ihrer beider Karrieren hätte wohl niemand vor-ausgesehen, wie nahe sich Merton und Lazarsfeld später stehensollten. Lazarsfeld, gerade aus Wien nach New York gekommen,sah sich selbst als rein empirischen Forscher. Als früherer Gymna-siallehrer für Mathematik und nunmehr an der Statistik orien-

tierter Wissenschaftler hegte er kein besonderes Interesse an so-ziologischer Theorie. Tatsächlich verwies er seine Studenten,wenn es um theoretische Probleme ging, regelmäßig an Merton,obwohl er keineswegs so wenig von Theorie verstand, wie er vor-gab. Jedenfalls deutete 1941, als Merton an die Columbia Univer-sity kam, nichts darauf hin, daß Lazarsfeld, der empirische Stu-dien zum Konsum- und Wahlverhalten sowie zur Wirkung vonRadiosendungen anstellte, zum treuen Weggefährten des einstigenSchülers von Talcott Parsons werden würde.

Jemandem, der sich strikt am Modell der grand theory von Par-sons orientiert hätte, wäre es tatsächlich schwergefallen, Gemein-samkeiten mit dem Flüchtling aus Wien zu entdecken. Doch auchwenn Merton sehr viel von Parsons gelernt hatte, er eiferte ihmnie darin nach, allumfas~endeGroßtheorien zu konstruieren. SeinBestreben war es, middle range theories zu entwickeln, "Theorienmittlerer Reichweite", die nicht das ganze Panorama mensch-lichen Handelns und all seiner Widersprüche erhellen sollten,sondern klar abgegrenzte Aspekte der sozialen Realität. Auf die-ser Basis fanden Merton, der problemorientierte Theoretiker, und

Lazarsfeld, der problemorientierte Empiriker, zusammen undwurden unzertrennliche Kollegen und Freunde.

Merton hat ein konsistentes Denksystem geschaffen, das in ei-nem Dutzend eigener Bücher, einem weiteren Dutzend von ihm(mit)herausgegebener Bände und in etwa 300 Artikeln und Re-zensionen niedergelegt ist. Ohne jeden Zweifel zählt er zu denproduktivsten Gelehrten der gegenwärtigen Soziologie. Doch erhat immer der Versuchung widerstanden, eines jener unlesbarenKompendien zu produzieren, die die Bibliotheksregale füllen,ohne je eine Leserschaft zu finden.

Allerdings hielt Merton, auch wenn er den großen Entwurf vonParsons zurückwies, an einer umfassenden theoretischen Vorstel-lung fest. Im Mittelpunkt stehen für ihn Akteure, deren Handlun-gen motiviert und deren Handlungspfade und Entscheidungsse-quenzen weitestgehend, niemals jedoch in vollem Umfang, vonihren jeweiligen Positionen in der Sozialstruktur erzwungen sind.Wie schon Kar! Marx so klar gesehen hat, können die Menschennicht so handeln, wie es ihnen beliebt, da die soziale Position, diesie einnehmen, Zwänge mit sich bringt. Diese Zwänge sind inMustern und Institutionen organisiert und reichen von relativlockeren Einschränkungen bis zu strengen Vorschriften. Der größteTeil der wissenschaftlichen Arbeit von Merton beschäftigt sichmit der Erklärung der strukturellen Variationen, von denen jeneMuster der Entscheidungen von motivierten Akteuren bestimmtwerden. Seine scheinbar grundverschiedenen Beiträge, seien es dieArbeiten zur Anomie, zur Wissenschaftssoziologie oder zurFunktion von politischen Institutionen und Bezugsgruppen, müs-sen alle in dieser Perspektive gesehen werden. Merton zielte zwarnicht auf eine universale Großtheorie für die Soziologie ab, lehrteaber seine Studenten, sich einer Vielfalt von Themen aus der Per-spektive eines einheitlichen theoretischen Ansatzes zu nähern.

Merton lehnte nicht nur Parsons' allumfassendes System ab, erbrachte auch wesentliche Einwände gegen die allgemeinen An-nahmen des Parsonsschen Funktionalismus vor. Vor allem bestritt

er die Voraussetzung aller funktionalistischen Theorien, die wohlam deutlichsten im Werk von Bronislaw Malinowski und dessenbritischen Schülern hervortritt, nämlich daß die beste aller Welteneine funktional vollkommen integrierte Welt sei. Dies führt weiterzu der Annahme einer funktionalen Harmonie der Gesellschaft,

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eines sozialen Körpers ohne funktionslose Bestandteile, gewis-sermaßen eines menschlichen Körpers ohne Blinddarm. Im klarenGegensatz dazu bestimmte Merton sowohl Funktionen wie auchDysfunktionen und griff damit die konservative Auffassung an,daß jedweder Teil des sozialen Körpers gleich bedeutsam für des-sen "gesundes" Funktionieren sei. Von noch größerer Bedeutungals der Begriff der "Dysfunktion" ist die damit verwandte Ideeder "funktionalen Äquivalenz". Merton hält es für ein nicht zurechtfertigendes konservatives Vorurteil, anzunehmen, daß es kei-ne funktionale Äquivalenz zu einem gegebenen, sozialen undkulturellen Muster gebe. Selbst wenn ein an die Scheunentür ge-nageltes Hufeisen einem Bauern das Gefühl gibt, vor Feuerschä-den gefeit zu sein, so könnte doch eine Brandversicherung we-sentlich mehr zu seiner Beruhigung beitragen.

Merton machte die funktionale Analyse mittlerer Reichweitezu einem flexiblen Instrument, mit dessen Hilfe die strukturellenUrsachen von Unordnung wie von Ordnung, von sozio-kultu-rellen Unterschieden und Widersprüchen, von zentralen wievon abweichenden Werten in einem gegebenen sozialen Ganzenherausgearbeitet werden können. Gesellschaften weisen immerinnere Unstimmigkeiten auf, und es gibt immer Bestrebungen,diese zu eliminieren oder abzuschwächen. Auf diesem Nährboden

wachsen Reformen und Veränderungen. Für Merton sind sozialeAkteure immer Ambivalenzen, Ungewißheiten und konfligieren-den Erwartungen und Entscheidungszwängen ausgesetzt.

Um hier nicht auf wenigen Seiten eine katalogähnliche Auf-stellung der wichtigsten Beiträge Mertons zu geben, sollen im fol-genden einige Beispiele seiner analytischen Fertigkeiten angeführtwerden. Sie sind größtenteils seiner zentral wichtigen Aufsatz-sammlung Social Theory and Social Structure entnommen (Mer-ton 1968).

Wesentlich für die Vorstellungen Mertons ist der Gedanke, daßhandelnde Individuen immer in sozialen Strukturen verortet sind

und in einer Vielfalt sozialer Beziehungen stehen. Soziale Struktu-ren wiederum setzen sich aus einer Vielzahl sozialer Statusposi-tionen zusammen, die ihren Inhabern bestimmte soziale Rollenauferlegen. Allerdings interagieren die Inhaber einer bestimmtenStatusposition nicht nur mit einem, sondern mit einer großenVielzahl von Rollenpartnern. Zugleich hat eine bestimmte Person

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nicht nur eine Statusposition inne, sondern stets mehrere. Men-schen, die in soziale Strukturen eingebunden sind, verfügen alsosowohl über ein "Status-Set" als auch über ein "Rollen-Set".

Ein einziges Beispiel muß genügen, um diese grundlegendeKomponente des Mertonschen Analyseschemas zu verdeutlichen:Ein Mann, der Kinder unterrichtet, hat den Status des Schulleh-rers inne. Daneben kann er auch Vater sein, Ehemann, Wähler derDemokratischen Partei, Mitglied der Lehrergewerkschaft, Ten-nismeister usw. Mit anderen Worten: er verfügt über eine Vielzahlvon Positionen innerhalb der sozialen Struktur, und es wäre einkapitaler analytischer Fehler, wollte man versuchen, sein Verhal-ten nur in bezug auf eine dieser Statuspositionen zu verstehen.Dies wäre allein deswegen falsch, weil nicht alle von ihm besetz-ten Statuspositionen ohne weiteres miteinander vereinbar seinmüssen. Gewerkschaftsmitglied zu sein kann zur Position eineskonformistischen Mitglieds der Lehrerschaft im Widerspruch ste-hen. Ein guter Ehemann zu sein dürfte nicht immer leicht mit derPosition eines guten Arztes oder Anwalts vereinbar sein. Die Tat-sache, daß wir alle eine Mehrzahl von Statuspositionen innehaben,hat zur Konsequenz, daß wir auch eine Vielzahl von Rollen spie-len müssen. Die Vielfältigkeit unserer "Status-Sets" bringt diegleiche Vielfältigkeit in unseren Rollen-Sets mit sich. Und wenndies so ist, dann ist es nur logisch, daß es auch Konflikte zwischenverschiedenen Rollen und Statuspositionen geben wird. Konfliktesind eher der Normalfall als die Ausnahme, und jedes Sozialsy-stem sieht Möglichkeiten ihrer Begrenzung oder Abschwächungvor. Sie können beispielsweise durch zeitliche Arrangements ge-regelt werden, so daß jemand werktags Schullehrer und sonntagsKirchgänger ist. Oder jemand ist tagsüber Lastkraftfahrer undabends ein wundervoller Ehemann, während ein anderer nachtsKarten spielt und tagsüber arbeitet.

Nicht alle Konflikte zwischen Rollenpartnern oder Inhabernverschiedener Statuspositionen können durch zeitliche Anpassunggeklärt werden. Was Schüler von ihren Lehrern erwarten, kannsich erheblich von den Erwartungen der Eltern oder denen derSchulleitung unterscheiden. Einige dieser miteinander konfligie-renden Erwartungen können ausgeschaltet oder wenigstens durcheine Vielzahl von institutionalisierten Anpassungsmechanismenabgeschwächt werden. Andere wiederum sind vermutlich allein

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durch sozialen Wandel und strukturellen Umbau zu lösen. Wennzwischen den Erwartungen der Schulleitungen und den beruf-lichen Rechten der Lehrer größere Diskrepanzen entstehen, dannbaut die Lehrergewerkschaft ein institutionalisiertes Gegenge-wicht zu den Entscheidungsbefugnissen der Direktoren auf.Wenn Ehemänner an ihre Ehefrauen Ansprüche stellen, die dieseals überzogen empfinden, dann kann derartig ungleichgewichti-gen Statuserwartungen und Rollenkonflikten durch Ehebera-tungsstellen und - in letzter Konsequenz - durch Scheidungsan-wälte abgeholfen werden.

Mertons Analyse sozialer Beziehungen, wie sie eben skizziertwurde, kompliziert sich zusätzlich durch die Tatsache, daß ein-zelne Handelnde nicht nur von jenen sozialen Gruppen beein-flußt sind, denen sie angehören, sondern zudem von ihren jeweili-gen reference groups, den "Bezugsgruppen", in denen sie gerneMitglied werden wollen oder die sie wertschätzen. Wer eine großeBewunderung für Nobelpreisträger hegt, kann versuchen, diesenMenschen nachzueifern, und kann siefür sich zum role model, zum"Rollenvorbild", machen, ohne auch nur einen Gedanken daranzu verschwenden, selbst einmal Nobelpreisträger zu werden.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß ein gewisses Maß anKonsens zwischen den verschiedenen Rollen- und Statusinhabern

in der Tat für das Funktionieren einer gegebenen sozialen Struk-tur unabdingbar ist. Trotzdem ist Dissens gerade in bezug aufnormative Erwartungen kein pathologisches Phänomen, er gehörtvielmehr zur conditio humana. Solcher Dissens kann, muß abernicht, durch geeignete Mechanismen abgeschwächt werden.

Im Zentrum des Mertonschen Menschenbildes steht der Begriffder choice,der Wahl. Die sozialen Kräfte, denen der Mensch aus-gesetzt ist, bestimmen ihn nicht vollständig, trotzdem sind seineZiele und Handlungen eher gesellschaftlich strukturiert als vomZufall oder von der Biologie bestimmt. Menschen, die an unter-schiedlichen Stellen einer sozialen Struktur plaziert sind, werdeneher solche Wahlen treffen, die ihnen ihre jeweilige soziale Ver-ortung nahelegt. Sowohl ihre alltäglichen Handlungen als auch ih-re langfristigen Pläne sind dabei weitestgehend geprägt von ihrerobjektiven Lage und von ihrer Wahrnehmung der Situation.

Gibt es zum Beispiel eine plötzliche Konjunkturkrise, so kannes passieren, daß viele Angehörige der Mittelschichten in den

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Ruin getrieben werden, wenn die Bank, der sie ihre Einlagen an-vertraut haben, plötzlich bankrott macht. Ein.solcher Zusammen-bruch kann objektive, finanzielle Gründe haben; er kann aberauch aufgrund des bloßen Gerüchtes einer drohenden Zahlungs-unfähigkeit eintreten, das viele Anleger dazu bewegt, ihre Einla-gen zurückzuziehen, obwohl die Bank noch in vollem Umfangzahlungsfähig ist. Es ist allerdings genauso möglich, daß zu dersozialen Struktur eines Landes auch eine Gesetzgebung gehört,die solcherart entstandene Verluste durch Versicherungen kom-pensiert, so daß die einzelnen Anleger überhaupt keinen Schadenerleiden würden.

Menschen, die in einer sozialen Struktur unterschiedlich ver-ortet sind, erleiden unterschiedliche Schicksale und treffen aufunterschiedliche Wahlmöglichkeiten, die ihre gegenwärtigen undzukünftigen Lebenschancen bestimmen. Ein schwarzes Kind ineiner rassistischen Gesellschaft hat kaum eine Chance auf einegute Elementar- und Sekundärbildung. Dadurch reduziert sich dieChance, daß es von einer guten Universität angenommen wird,auf ein Minimum, während sich die Wahrscheinlichkeit, daß es ineinem unqualifizierten Beruf arbeiten wird, um ein Vielfaches er-höht. Und im Vergleich mit denjenigen seiner Altersgenossen, dieunter einem günstigeren Stern geboren wurden, wird es eher inkriminelle Handlungen verwickelt werden, wenn ihm ein norma-les Fortkommen verwehrt bleibt.

Mertons Essay SocialStructure and Anomie von 1938,ebenfallsaufgenommen im Sammelband Social Theory and SocialStructure(Merton 1968, S. 185-214), ist sein vielleicht berühmtestes Werk-stück und eignet sich vorzüglich, seine charakteristische Analy-semethode und den Stil seines soziologischen Denkens zu veran-schaulichen. Dieser Essay resultiert aus der Erfahrung der großenWirtschaftskrise, als die vorher fest verankerten Werte und Nor-men der nordamerikanischen Gesellschaft ins Wanken gerietenund eine allgemeine Erosion des normativen Gerüsts der Gesell-schaft eintrat. Als Merton sich mit dieser Entwicklung beschäf-tigte, wandte er sich zuerst den Arbeiten Durkheims zu und des-sen Begriff der "Anomie". In Durkheims Verwendung war das eineher konservativer Begriff, mit dem die Probleme der zeitgenössi-schen Welt in erster Linie auf den Zusammenbruch der normati-ven Zwänge zurückgeführt wurden. Dieser ginge einher mit dem

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Zusammenbruch der Barrieren zivilisierten Verhaltens, die nor-malerweise die animalischen Instinkte im Menschen unterdrück-ten. Etwas vereinfachend kann man Durkheims Vorstellungen mitder Situation vergleichen, wenn in einem sportlichen Wettkampfdie Teilnehmer sich nicht mehr an die Spielregeln halten, sondernalle möglichen Mittel einsetzen, um zu gewinnen. »Anomie" mußnach Durkheim zu einer Hobbesschen Situation führen, einemKrieg aller gegen alle und somit zu einem Zusammenbruch vonGesellschaft und menschlicher Eintracht.

Merton übernahm nun Durkheims Begriff der Anomie, gabihm jedoch eine eher progressive Bedeutung. Sein Argument war,daß es vielfältige Formen individueller Anpassung an gesell-schaftliche Krisen und Zusammenbrüche gebe. Er zögerte daher,sein Schema auf alle existierenden Gesellschaften zu beziehen,sondern beschied sich damit, es auf die Krise seiner eigenen Ge-sellschaft anzuwenden.

Das Ethos der nordamerikanischen Gesellschaft war weitge-hend bestimmt vom Ethos individuellen Erfolgs. Zwar war denMenschen klar, daß nicht alle auf der Erfolgsleiter ganz oben ste-hen können, doch schauten sie bewundernd und in gewissem Ma-ße neidischauf all jene,die es »geschafft"hatten - und denen sieirgendwann einmal nacheifern wollten. Als nun aber während dergroßen Depression alles Erfolgsstreben aussichtslos und selbst denFleißigsten der Aufstieg verwehrt schien, ließen viele Menschendie normativ anerkannten Verhaltensmaßregeln hinter sich. Na-türlich gab es welche, die sich weiterhin der etablierten institutio-nalisierten Mittel bedienten, um die allgemein anerkannten Zielezu erreichen, doch andere, die sich an den gleichen Zielen orien-tierten, ersannen neuartige, nicht anerkannte und teilweise krimi-nelle Mittel, um zum Erfolg zu gelangen. Es gab Menschen, diesich ritualistisch an die früheren Mittel klammerten, wohingegenandere alle Hoffnungen fahren ließen. Und es gab jene, die gegendie Gesellschaft rebellierten oder sich aus ihr zurückzogen undsowohl ihre Ziele als auch die Mittel, diese zu erreichen, aufgaben.

Der analytische Reiz des Mertonschen Schemas besteht nundarin, daß es sowohl die Wirkung sozialstruktureller Faktorenwie auch die Wirkung individueller Anpassung an strukturelleVerwerfungen erfaßt. Für Merton resultiert Anomie gleicher-maßen aus Störungen der sozialen Muster, beispielsweise der

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Blockade jeglichen Erfolgsstrebens, wie aus dem Auftreten vonabweichenden Reaktionen auf gesellschaftliche Zwänge. Diesesneuartige Konzept erlaubte es seinem Autor, Phänomene zu ver-stehen, die das Schema Durkheims nicht erfaßte. Auch ein »Kri-mineller" wurde danach als jemand begriffen, der sich den allge-mein anerkannten Erfolgszielen unterwarf. Er lehnte einzig dienormativ akzeptierten Mittel, sie zu erreichen, ab. Ein »Bürokrat"dagegen stellte sich nach jenem Konzept als jemand dar, der ritua-listisch an seinen Mitteln hing, aber die Ziele längst vergessenhatte.3 Summa summarum: Merton konnte in seinem schön auf-

gebauten Essay anhand eines theoretisch und empirisch aufgear-beiteten Falles die wechselseitigen Auswirkungen von individu-ellem Handeln und sozialen Zwängen aufzeigen, die bis heute dassoziologische Denken so oft in Verwirrung stürzen. Es gelang ihmzu erklären, warum die Anomie ihren Nährboden gerade bei je-nen Menschen findet, deren gesellschaftliche Position sie eigent-lich dazu prädestiniert, nach Erfolg zu streben. Wenn ihre sozialeLage sie daran hindert, ihre gesellschaftlichanerkannten Ziele mitanerkannten Mitteln zu erreichen, machen sie disproportional oftvon gesellschaftlichnicht anerkannten Mitteln Gebrauch.

War das Konzept der Anomie bei Durkheim, der den Zusam-menbruch der begrenzenden Werte hervorhob, konservativ ge-wendet, so verweist die Theorie Mertons eher auf die mangelndenChancen derjenigen, die durch ihre Position in der sozialenStruktur benachteiligt sind. Sein Anomie- Konzept betont deshalbauch die Notwendigkeit einer progressiven oder liberalen Politik,die die Chancen der Menschen erhöht, auf legitimem Wegesozialaufzusteigen.

Dem Sohn eines aus Sizilien in die USA immigrierten Steinhau-ers ist es durch seine soziale Position verwehrt, einen Bildungs-stand zu erreichen, der ihm den Zugang zu Positionen ermögli-chen würde, die anderen Mitgliedern der amerikanischenGesellschaft offenstehen. Das hat herzlich wenig mit seiner ange-borenen meßbaren Intelligenz zu tun, sondern ist weitestgehendauf die Tatsache zurückzuführen, daß er in einer sozialen undkulturellen Umgebung aufwächst, die ihm kaum eine Chancezum sozialen Aufstieg bietet. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß eres zum Absolventen der Harvard University bringen wird. Wennder soziale Aufstieg in dieser Weise blockiert ist, wird der Sohn

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eher ein Leben wie das seines Vaters führen oder er wird versu-chen, unter Anwendung gesellschaftlich nicht anerkannter, krimi-neller Mittel die gesellschaftlich anerkannten Erfolgsziele zu er-reichen. Es mag sein, daß es auch unter den Harvard-Absolventenzukünftige white col/ar-Kriminelle gibt, aber auf jeden Fall sind eseher sizilianische Immigranten, die den personellen Nachwuchsder Mafia stellen.

Eine der Schwierigkeiten, die einem bei der Auseinanderset-zung mit den Arbeiten Mertons begegnen, resultiert aus der Tat-sache, daß viele seiner Begriffe und Konzepte heute zum allge-meinen Bestand des soziologischen Denkens gehören und ihreursprüngliche Herkunft allmählich in Vergessenheit gerät. Mertonselbst sprach von obliteration by incorporation,von "Auslöschungdurch Einverleibung" . Viele soziologische Konzepte, wie bei-spielsweise das der self-fullfil/ing prophecy (der sich selbst erfül-lenden Voraussage),des Phänomens der serendipity (der Tatsache,daß auch unvorhergesehene, zufällige und anomale Daten zumErkenntnisfortschritt der Wissenschaft beitragen können), desMatthew Effect (der soziologischen Tatsache, daß denjenigen, de-ren Reputation und soziale Position eher hoch sind, auch unddeswegen mehr gegeben wird), die heute allgemeingängig sind,wurden entweder von Merton entwickelt oder von ihm der dro-henden Vergessenheit entrissen. Sie alle sind heute Teil des Lehr-buchwissens, das nachwachsenden Soziologinnen und Soziologenvermittelt wird, ohne daß sie erfahren, wo diese Konzepte ihrenUrsprung haben. Auf einige möchte ich daher im folgenden bei-spielhaft eingehen.

Der Mertonsche Terminus unanticipated consequences, "unbe-absichtigte Nebenfolgen" , verweist auf eine Vielzahl soziologi-scher Phänomene, die von einzelnen Akteuren oder von Gruppenerzeugt werden, wenn sie ihre selbstgesteckten Ziele verfolgen,dabei aber unbeabsichtigt Dinge in Gang setzen, von denen sienichts ahnten und die sie auch nicht für wünschenswert gehaltenhätten. Wenn in einer Stammesgesellschaft die Mitglieder Tänzeorganisieren, um es in einer von Trockenheit bedrohten Regionregnen zu lassen, dann werden sie keinen Niederschlag produzie-ren. Aber sie werden sich in ihrer Notsituation gegenseitig wei-terhelfen und unterstützen und können so einer kollektiven Kata-

strophe durch ihre Solidarität vorbeugen. Allgemeiner gesagt, so-

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ziale Muster können, auch wenn sie auf übermäßig rationale Be-obachter irrational wirken, der Verwirklichung gesellschaft-licher Ziele und sozialer Funktionen dienen, selbst wenn die ur-sprüngliche Absicht nicht erreicht wird.

Oder, um eineverwandte Begrifflichkeitzu verwenden, die eben-falls von Merton eingeführt wurde: Anstelle nicht erfüllter "ma-nifester Funktionen" können Handlungen "latente Funktionen"erfüllen, auch wenn die Akteure die Konsequenzen ihres Tuns inkeiner Weisevorhergesehen haben. Merton geht sogar noch einenSchritt weiter und betont, daß gerade die "latenten Funktionen"und deren Analyse das eigentliche Gebiet der Soziologie aus-machten, da sie die Aufmerksamkeit auf theoretisch ergiebigeForschungsfelder lenken und soziologische Aufklärung möglichmachen.

Seiner eigenen ständigen Mahnung, die "Dysfunktionen" eben-so stark wie die "Funktionen" zu berücksichtigen, folgend, be-schränkt Merton seine Analyse keineswegs auf jene latentenFunktionen, die für eine Gruppe oder eine bestimmte sozialeEinheit nützlich sind, wie es etwa bei den angeführten Regentän-zen der Fall ist. Er verweist ebenso auf das "Veblen-Paradox", sogenannt nach einem Werk des Soziologen Thorsten Veblen4.Die-ser konnte zeigen, daß Menschen, die der Oberschicht angehörenoder ihr angehören wollen, teure Güter nicht ihrer Qualität we-gen kaufen, sondern eben weil sie teuer sind. Auf diese Weisekönnen die Käufer ihren Statusanspruch gegenüber ihren Mit-menschen aufrechterhalten, und es ist dabei völlig unerheblich, obsie sich dieser Motivation bewußt sind oder nicht.

Merton betont, daß in der soziologischen Analyse genau zwi-schen subjektiven Dispositionen und objektiven Konsequenzenunterschieden werden muß. Er hebt hervor, daß die Motive, war-um Menschen eine Heirat eingehen, nicht identisch sind mit densozialen Funktionen von Ehepaaren und Familien. Ebensowenigkann angenommen werden, daß die Gründe, die die Menschen fürein bestimmtes Verhalten anführen, identisch sind mit den objek-tiven Konsequenzen dieses Verhaltens. Subjektive Dispositionenmögen sich in einigen Fällen mit objektiven Konsequenzen dek-ken, in anderen Fällen aber werden sie sich stark voneinanderunterscheiden. Der soziologische Beobachter muß darauf hinwei-sen, wie stark diese Divergenz sein kann. Handelnde können

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mehr oder weniger Geschichte machen, aber sie gestalten diesenicht in beliebiger Weise. Und so muß gerade der soziologischeAnalytiker die emanzipatorische Aufgabe erfüllen, auf die mög-lichen negativen Konsequenzen guter Absichten hinzuweisen. Indieser Hinsicht, wie in manch anderer, folgt Merton der Traditionder Aufklärung.

Europäische Interpreten neigen gelegentlich dazu, dem Mer-tonschen Werk seine Bedeutung abzusprechen, indem sie ihn alswesentlich amerikanischen Denker hinstellen. Obwohl er mit denmeisten europäischen Konzepten der Soziologie vertraut sei, ba-sierten seine Arbeiten allein auf amerikanischen Daten und Theo-

rien. So wurde auch behauptet, seine Beiträge zur Theorie derAnomie seien im Grunde auf den amerikanischen Glauben an die

Dominanz des Erfolgsstrebens zurückzuführen. Nichts ist fal-scher als das. Zwar stimmt es, daß sich Mertons Denken im ame-rikanischen Kontext entwickelte, aber mehr als jeder andere inden USA geborene Sozialwissenschaftler war Merton stets daraufbedacht, die Kontinuität der soziologischen Tradition zu bewah-ren und auf dem vorhandenen soziologischen Wissen aufzubauen,gleichgültig, aus welchem nationalen Kontext es stammte.

Schon Mertons erste größere Arbeit, seine Dissertation an derHarvard University mit dem Titel Science, Technology,and So-ciety in Seventeenth Century England (Merton 1938), zeigt, wieer sich das europäische Erbe zunutze zu machen wußte. Selbst-verständlich verdankt diese Arbeit einiges den Anregungen seinerakademischen Lehrer in Harvard, doch schon eine oberflächlicheLektüre zeigt, daß sie gleichermaßen Max Weber, Ernst Troeltschund Robert H. Tawney verpflichtet ist. Um die puritanischenWurzeln des britischen wissenschaftlichen Denkens zu erhellen,greift Merton sogar noch weiter aus und bezieht die marxistischeTradition und besonders die Arbeiten des sowjetischen GelehrtenBoris Hessen ein.

Wieviel Mertons Analyse der Anomie, aber auch andere seinerArbeiten Durkheim verdanken, wurde bereits angesprochen.Auch wenn er Durkheims konservative Grundüberzeugung nichtteilte, so ist doch ganz offensichtlich, daß Merton seine struk-turelle Sichtweise anhand einer genauen und immer wieder auf-genommenen Lektüre des französischen Klassikers entwickelthat.

Was die funktionale Analyse anbelangt, so ist deutlich, daßMertons Denken während der Zeit in Harvard und in geringeremMaße auch danach zutiefst von Talcott Parsons beeinflußt war.Genauso offensichtlich ist auch der Einfluß der Ethnologen Bro-nislaw Malinowski und Alfred R. Radcliffe-Brown, ungeachtetMertons kritischer Position den britischen Funktionalisten ge-genüber. Zwar lehnte er ihren globalen Funktionalismus ab, docherwies er ihnen die Huldigung einer kritischen Analyse, vor allemin seinem Essay Paradigm 01 Functional Analysis in Sociology(Merton 1949,S. 39-42). Diese bedeutende Arbeit zielt nicht dar-auf ab, seine Vorgänger herabzumindern, sondern will die funk-tionale Analyse auf eine stabilere Grundlage stellen. Indem Mer-ton sich ihre Einsichten aneignete, war er imstande, diese nichtnur zu korrigieren, sondern sie auch zu erweitern, etwa durch dieUnterscheidung von latenten und manifesten Funktionen oderdurch die Betonung der Existenz funktionaler Alternativen.

Soziologische Theorie, so wie Merton sie begreift, ist gleicher-maßen abzugrenzen von den ehrgeizigen, großtheoretischen Ent-würfen der früheren europäischen und amerikanischen Soziologiewie von jenen detailfreudigen Projekten, die überhaupt keine Ver-allgemeinerung anstreben. Weder macht sich Merton auf die allzuehrgeizige Suche nach dem allumfassenden Wissen über die Ge-sellschaft, noch unterwirft er sich dem übertrieben anspruchslo-sen Verdikt, man dürfe allein den empirischen Fakten folgen. Erpostuliert die Notwendigkeit von »Theorien mittlerer Reichwei-te", die nicht auf ein globales Verständnis aller menschlichen Ver-hältnisse angelegt sind, sondern sich damit bescheiden, abge-grenzte Aspekte empirischer sozialer Phänomene zu erfassen. Soformuliert er eine Theorie der Bezugsgruppen wie eine Theoriesozialer Mobilität, Theorien des Rollenkonflikts wie Theorien dersozialen Integration. Wie jede Theorie schließt eine Theorie mitt-lerer Reichweite die Abstraktion von empirischer Beobachtungein, doch Mertons Abstraktionen sind so konkret, so nahe an denDaten, daß der Soziologe mit ihrer Hilfe abgegrenzte Aspekte so-zialer Phänomene erhellen kann. »Man spricht von einer Theorieder Bezugsgruppe, von sozialer Mobilität, ebenso wie man voneiner Theorie des Preises spricht, von einer Bakterien-Theorie derKrankheit oder einer kinetischen Theorie der Gase" (Merton1949,S.41).

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Mertons Erklärungsschemata, wie er sie in seinen Theorienmittlerer Reichweite entwickelt hat, verweisen stets auf die sozia-len Strukturen, in welche die sozialen Akteure eingebettet sind.Zwar werden die Handelnden nicht als bloße Marionetten wahr-genommen, die am Faden der Gesellschaft hingen, aber ihr Han-deln stimmt mit der Position überein, die sie innerhalb ihrerstrukturellen Umgebung einnehmen. Akteure handeln in Relationzu ihren jeweiligen Wahlmöglichkeiten und ihren Motiven, dochdie Bandbreite ihrer Wahlmöglichkeiten variiert mit der struktu-rellen Position, in der sie sich befinden. Menschen, die sich aufverschiedenen Stufen der sozialen Pyramide wiederfinden, wer-den unterschiedlichen Lebenswegen folgen, selbst wenn sie glei-chermaßen vom Streben nach Erfolg motiviert sind. Psychologenmögen Ähnlichkeiten zwischen den psychischen Strukturen einesGhetto- Kindes und denen einesEliteinternatsschülers finden, dochdessenungeachtet werden sich die Lebenswege dieser beiden Kin-der mit großer Wahrscheinlichkeit stark voneinander unterschei-den. Im Zentrum aller Schemata Mertons stehen immer die sozial-strukturellen Grundmerkmale, die das soziale Handeln prägen.Dennoch vermeidet er jeglichen strikten strukturellen Determi-nismus, indem er durchweg den vorhandenen Spielraum jederHandlung betont, der auch strukturelle Veränderungen zuläßt.

Während sich die zentralen Merkmale beispielsweise der allge-meinen soziologischen Theorie von Durkheim schnell skizzierenlassen, ist es unmöglich, das Mertonsche Werk auf ähnlich be-grenztem Raum darzustellen. Seine Stärke sind die vielen detail-lierten Theorien mittlerer Reichweite, die er während seines For-scherlebens entwickelt hat. Es sind die Details, die sein Werkauszeichnen und ihm seinen Wert verleihen.

In den unmittelbaren Nachkriegsjahren war Mertons Einflußinnerhalb der soziologischen Theorie weitreichend und tief-greifend. Erst in den 1980er und 1990erJahren ging er ein wenigzurück. Doch nach meiner Überzeugung ist diese Schwäche einevorübergehende. Da auch kommende Generationen von Sozio-loginnen und Soziologen sich unweigerlich mit den Konsequen-zen und Problemen individueller und allgemein gesellschaftlicherInteraktion und Interpenetration werden auseinandersetzen müs-sen, werden sie sich auch wieder mit den Arbeiten von Mertonbefassen. Vielleicht wird uns eines Tages jemand eine Theorie

mittlerer Reichweite präsentieren, die den Einfluß Mertons aufdie Soziologie der USA wie auf die der ganzen Welt nachzeichnet.

Merton starb am 23. Februar 2003 in New York an den Folgeneiner Krebserkrankung. Sein Tod beendete jedoch nicht das Er-scheinen von Werken aus seiner Werkstatt. Innerhalb von Jahres-frist erschien eine Studie, zu deren Veröffentlichung er sich infrüheren Jahren nicht durchringen konnte. Sehr aufmerksame Le-ser seiner Werke stoßen in den stets opulenten und gelehrtenFußnoten mehrfach auf Zitate unveröffentlichter Manuskripte,was Anlaß zur Annahme gibt, daß noch mit weiteren Veröffent-lichungen zu rechnen sein wird.

Die Annual Review of Sociology hatte während der 1980er Jah-re einige Jahre lang bekannte (amerikanische) Soziologen eingela-den, autobiographische Texte zu verfassen, und während alle an-deren sich mehr oder weniger streng an die Vorgaben hielten,lehnte Merton es ab, nur über sich zu schreiben. Er offerierte denHerausgebern statt dessen eine Liste von 45 Themen, über die erlaufend Aufzeichnungen führe. Die drei in Frorn a sociologist'snotebook (Merton 1987)zum Abdruck gelangten Fragmente ent-halten genügend persönliche Reflexionen und Erinnerungen undpaßten damit in das von der Annual Review vorgegebene Format;am Ende dieses Beitrags findet man die Liste aller Themen. Einigeder dort erwähnten Titel korrespondieren mit Texten, die Mertonan entlegener Stelle oder nur in Teilen veröffentlicht hatte, andereThemen wurden von ihm in umfangreicheren Abhandlungenschon einmal erörtert und scheinen ihn weiterhin beschäftigt zuhaben, einige wenige sind in den letzten dreizehn LebensjahrenMertons erschienen. Einen der dort angeführten Titel gab Mertonnoch zu Lebzeiten für die Veröffentlichung frei: Gemeinsam mitElinor Barber schrieb er in den 1950er Jahren The Travels andAdventures of Serendipity. Die Monographie erschien zuerst initalienischer Übersetzung und kam danach auf Englisch heraus(Merton/Barber 2004). Der Untertitel informiert genauer, worumes in dieser Untersuchung geht: A Study in SociologicalSernanticsand the SociologyofScience.

Serendipity ist dank Merton seit längerem ein soziologischerBegriff. Er findet sich in seinem Werk erstmals 1945 und dann inden verschiedenen Ausgaben von Social Theory and Social Struc-

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ture (Merton 1949;1957; 1968)wie auch in anderen seiner Arbei-ten. In TAS - Merton war ein Liebhaber von Abkürzungen undzitierte seine eigenen Werke gerne in Form von Akronymen - un-tersuchen Merton und Barber dieverschlungenen WegediesesN eo-logismus und die theoretischen Implikationen, die "serendipity"als soziologischer Begriff besitzt. In mehr als einer Hinsicht äh-nelt TAS Mertons "verschwenderischem Lieblingswerk" (Mer-ton/Barber 2004, S.233), On the Shoulders of Giants (OTSOG),das er während der Weihnachtsferien 1957/58 als Brief zu Papierbrachte. Während OTSOG, das zuerst (aber auch erst) 1965dankdes Insistierens einer Lektorin im Druck erschien, eine von Lau-rence Sternes Tristram Shandy inspirierte Spurensuche nach denWurzeln des Newton zugeschriebenen Ausspruchs ist, kommtdas etwa zur gleichen Zeit geschriebene TAS formal in etwasstrengerer Form einher. Merton nennt es im ausführlichen Nach-wort zur nunmehrigen Ausgabe eine Abhandlung über die "diffu-sion and reconceptualization" (Merton/Barber 2004, S.230) desvon Horace Walpole 1754 in einem Brief formulierten Neologis-mus, der den Titel eines,seinerAnsicht nach "dummen Märchens"über "Drei Prinzen von Serendip" aufgriff (Serendip ist der antikeName für Sri Lanka). Das Märchen schildert die Zufall undScharfsinn geschuldeten Entdeckungen seiner Helden. Das neueWort für "accidental sagacity" soll jene Entdeckungen bezeich-nen, nach denen man gar nicht gesucht habe. Merton stieß bei sei-ner regelmäßigen Lektüre des Oxford English Dictionary zufälligauf serendipity, was ihn im Nachwort (Merton/Barber 2004) ver-anlaßt, das als einen Fall von "self-exemplifying encounter" auf-zufassen. Sich selbst erklärende Ideen ist eines der 45 Themen, andenen zu arbeiten Merton im Jahr 1987bekannt machte.

Diese wenigen Hinweise machen bereits klar, daß der Mertonvon TAS ein etwas anderer Autor ist als der Verfasser der im deut-schen Sprachraum bekannteren seiner soziologischen Werke. Mitsichtlichem Vergnügenan den Wegenund Umwegen, die Ideen undSemantiken nehmen können, schildert TAS in seiner ersten Hälftedas erstmalige Auftauchen des Wortes serendipity, dessen an-schließendes Verschwinden von der sichtbaren Oberfläche der imDruck erschienenen Bezugnahmen und sein Weiterleben in Formmündlicher Veröffentlichung - nebenbei, ein weiteres von Mertonan mehreren Stellen seines CEuvres behandeltes Phänomen.

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--Soziologischer im herkömmlichen Sinn sind jene Teile, in denen

Merton und Barber sich mit unterschiedlichen Medien der Tradie-rung von Semantiken befassen. Wörterbücher und andere Nach-schlagewerke sind Institutionen der Konservierung, Weitergabeaber auch der Modifikation von Bedeutungen. Am Beispiel vonserendipity wird gezeigt, welche stillschweigenden Wandlungenund manifesten Irrtümer auftreten können. Im Nachwort liefertMerton weitere Belege, die nicht nur ein Licht auf die wechsel-seitige Bezugnahme von Wörterbüchern, einschließlich der Tra-dierung einmal eingeschlichener Fehler, werfen - was einen ver-anlassen könnte, von Plagiat zu sprechen, womit ein weiteresArbeitsfeld von Merton angesprochen wäre. Wörterbücher un-terlassen es gelegentlich, Bedeutungsverschiebungen zu doku-mentieren oder ergreifen einseitig Partei für eine von mehrerenmöglichen Deutungen: Serendipity kann sowohl die Fähigkeit desbeiläufig scharfsinnigen Entdeckers, also ein psychologischesPhänomen, meinen, wie auch die komplexere Bedeutung bezeich-nen, wonach es sich dabei um ein "fact, instance, occurence, andphenomenon" (Merton/Barber 2004, S. 250) handelt. Letzteres istdas originäre Studienobjekt der Soziologie.

Die beiden Autoren widmen ein ganzes Kapitel der differenti-ellen Affinität verschiedener Berufsgruppen und Statusinhaber fürdas neue Wort und argumentieren, daß, erst als serendipity in dieHände von Wissenschaftlern fiel, es seine heutige, soziologischrelevante Bedeutung erlangte. Natur- wie Sozialwissenschaftlerhaben mit serendipity einen Begriff für ein Phänomen ~ur Hand,das in der Geschichte der Entdeckungen vielfach bemerkt wurdeund regelmäßig die Aufmerksamkeit auf sich zog. Von Luigi Gal-vanis zuckendem Frosch über Wilhelm Röntgens merkwürdigleuchtendem Stück Papier bis zu Alexander Flemings ver-schmutzter Petrischale reichen die Fälle, die zumeist als Glück,Zufall, Unfall oder sonst wie unscharf gefaßt wurden. Mertonversucht nun zu zeigen, daß das neue Kunstwort geeignet sei,größere Klarheit in die Erforschung der Bedingungen überra-schender Entdeckungen zu bringen. Mit Blick auf die persön-lichen Eigenschaften läßt sich argumentieren, daß der glücklicheZufall nicht jedermann gleich wahrscheinlich zustoßen dürfte; essei schon einiges Training erforderlich, um dieser Art von Glückzu begegnen. Zumindest bedarf es jener Aufmerksamkeit, die seit

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Sigmund Freud als "gleichschwebende" bezeichnet wird, um derWeisheit auf die Sprünge zu helfen, die schon Walpole vor Augenhatte, da Dinge, nach denen man nicht gesucht habe, in eine ganzandere Kategorie von Entdeckungen fallen, falls sie denn über-haupt Entdeckungen genannt werden dürfen. Entdeckungen vonWissenschaftlern haben es an sich, daß derjenige, der sie machte,zugleich einen Anspruch darauf erhebt, der erste gewesen zu sein,dem dies gelang. Wäre es nun so, daß das Zusammentreffen vonEntdecker und Entdecktem bloßem Zufall geschuldet wäre, wür-de sich der Anspruch des Entdeckers, eine originäre Leistung er-bracht zu haben, in Nichts auflösen.

Die Kreuzung verschiedener Forschungsinteressen Mertons -von den nicht-vorhergesehenen Folgen absichtsgeleiteten Han-delns, den sozialstrukturellen Gelegenheitsstrukturen, die diedifferentielle Häufigkeit des Auftretens abweichenden Verhaltensbeeinflussen, über die Bedingungen des Auftretens neuer odermehrfacher wissenschaftlicher Erfindungen und deren Präsenta-tion in Form von geglätteten Berichten des Weges zur Entdek-kung bis zum Ethos, dem wissenschaftliche Arbeit verpflichtet sei-ließen seine Begegnung mit dem kaum beachteten Neologismusselbst zu einem "anomalen und strategischen Phänomen" werden.Anomal insofern, als mit serendipity mehrere, bis dahin als diver-gent betrachtete Aspekte in einem Begriff zusammengeführt wer-den können, und strategisch, weil eingehendere Auseinanderset-zungen mit diesem Phänomen "Implikationen zulassen, die sichin der verallgemeinerten Theorie niederschlagen [...] Denn umdas Allgemeine im Besonderen zu entdecken, bedarf es offen-sichtlich eines theoretisch sensibilisierten Beobachters" (Merton1968,S. 159,dt.: Merton 1995,S. 101).

Eine dieser Folgerungen bezieht sich auf die institutionellenRahmen. Die Frage sei hier nicht mehr, ob überhaupt beiläufigEntdeckungen gemacht würden, sondern wie Wissenschaft orga-nisiert sein müsse, um ein Maximum an Wissenschaftsfortschrittzu ermöglichen, und welche Rolle dabei serendipity spielen dürfeoder solle. Diejenigen, die den Zufall gering schätzen, plädierenfür eine Intensivierung der theoretisch geleiteten Forschung, diesystematisch Fortschritte zu erzielen verspricht, während dieFreunde des Glücks in der Forschung es als günstiger erachten,fröhlich herumzuschnüffeln, um vielleicht einen Haupttreffer zu

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landen. Es bedarf nicht vieler Worte, um zu sehen, daß je nach-dem welche dieser Optionen präferiert wird, divergente Folge-rungen in bezug auf die Forschungsorganisation gezogen werden- und das auf allen Ebenen, von der staatlichen Forschungsförde-rung bis zur Ausgestaltung der Vorgesetzten-Rolle auf seiten vonForschungsproj ektleiterno

Merton zu referieren ist keine leichte Aufgabe, da seine Textegeradezu überquellen von Einsichten, Bezügen auf andere Auto-ren und Hinweisen darauf, wo man weiterarbeiten könne. Seineselbst bekundete Vorliebe für den Essay mag auch damit zusam-menhängen, daß ihn diese Textsorte zur Sparsamkeit des Mitge-teilten und Mitteilenswerten nötigt. Mit den anderen großen Es-sayisten unter den Soziologen, Georg Simmel, Everett C. Hughesund Erving Goffman, teilt er das Schicksal, daß Sekundärdarstel-lungen nie an die Eleganz und Reichhaltigkeit des Originals her-anreichen (können). Die Rezeption Mertons hat in der deutsch-sprachigen Soziologie darunter besonders gelitten. Er wirdüblicherweise in einem Atemzug mit Talcott Parsons genannt,und soweit auf seine anderen Beiträge verwiesen wird, wird seinWerk stark verkürzt referiert, wozu auch beigetragen haben mag,daß eineinzigesBuch zur Gänze übersetzt vorliegt (Merton 1965).

Eine Charakterisierung des Forschungsstils Mertons müßtezumindest folgende Etappen hervorheben: Merton analysiert ein-gehend wie sonst nur Historiker oder Paläontologen das jeweilszu untersuchende Phänomen zuerst in einer von theoretischenAnnahmen freien Weise, er nennt die Vorgangsweise"establishingthe phenomenon". Wo Texte die Ausgangsbasis bilden, setzt ersich akribisch mit deren Lesarten auseinander, was ihm dank sei-ner intimen Vertrautheit mit mehreren Sprachen zumeist im Ori-ginal möglich ist. Daran anschließend unternimmt Merton es, dasNicht-Wissen zu spezifizieren ("specified ignorance"), wozu esseiner Ansicht nach nötig ist, über ein "newly informed theoreti-cal eye" zu verfügen, "to detect long obscured pockets of ignor-ance as a prelude to newly focussed inquiry" (Merton 1987, S. 8).Bei der Auseinandersetzung mit dem akkumulierten Wissen läßtsich Merton von einer Einsicht Kenneth Burkes leiten, die er ge-legentlich als Burke-Theorem bezeichnet hat: "A way of seeing isalso a way of not seeing - a focus upon object A involves a neglectof object B" (Burke 1935, zit. in Merton 1987, S. 9). Der virtuose

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Umgang mit Begriffen, den von diesen nahegelegten Ambivalen-zen und korrespondierenden Gegenbegriffen, den Folgerungs-mengen und dem Wandel von Semantiken resultiert dann inbegrifflichen (Neu)Kodifikationen und der Skizzierung von Para-digmen (ein Begriff, den Merton lang vor Thomas S. Kuhn undmit etwas anderer Konnotation eingeführt hat, "to refer to ex-emplars of codified basic and often tacit assumptions, problemsets, key concepts, logic of procedure, and selectively accumula-ted knowlede that guide inquiry in all scientific fields", Merton/Barber 2004, S. 267). Schließlich geht es Merton um das Auffin-den von "strategic research material", entweder verstanden alsRaum ("site") oder als Ereignisse ("events"). Als Illustration einer"strategic research site" dient Merton die Fruchtfliege, da dieseaufgrund der großen Zahl, einfachen Haltung und kurzen Le-bensdauer besonders gut geeignet sei, um genetische Untersu-chungen durchzuführen. Daß Karl Marx das England seiner Zeitals "Hauptillustration (s)einer theoretischen Entwicklung" diente,erwähnt Merton als eines der frühesten sozialwissenschaftlichenBeispiele eines Untersuchungsgegenstandes, der zugleich "strate-gic research site" und "event" ist.

An die Seite der Schilderung des Forschungsstils Mertons mußmit gleichem Recht eine gesetzt werden, die versucht, seine Sichtauf den Objektbereich der Soziologie zu charakterisieren. Mehre-re Interpreten haben darauf hingewiesen, daß Merton sich in denmeisten seiner Arbeiten einer ironischen Perspektive befleißigt.Ironie kann nun entweder in den Strukturen selbst aufgewiesenwerden oder die analytische Haltung bezeichnen. Merton bedientsich beider Varianten. Er wird nicht müde darauf aufmerksam zu

machen, daß das soziale Leben von Paradoxien und Widersprü-chen gekennzeichnet sei; seine erste bahnbrechende Veröffent-lichung The unanticipated consequencesof purposive socialaction(Merton 1936) ist ganz diesem Thema gewidmet; in TAS und ineinem Nachwort zu einer zuerst in einem italienischen Verlag er-schienenen Festschrift führt er diesen Gedanken weiter aus

(MongardinilTabboni 1998). Merton sprach sich wiederholt füreine ironische Haltung aus, die der Soziologe selbst einnehmensolle oder wenigstens könne, um die Beschränkungen der vonihm bevorzugten Perspektive zu brechen. In einem Beitrag, mitdem er seinen theoretischen Zugang zu kodifizieren versuchte,

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findet sich das augenzwinkernd so formuliert: "Many ideas instructural analysis and symbolic interactionism, for example, areopposed to one another in about the same sense as harn is op-posed to eggs: they are perceptibly different but mutually en-riching" (Merton 1975,S. 31).

Um Mertons Bedeutung für die Soziologie insgesamt zu cha-rakterisieren, muß man in Rechnung stellen, daß es auch in die-sem Fall starke nationalkulturelle Unterschiede in der Rezeptiongibt. Der "deutsche" Merton ist ein um viele Facetten ärmererSoziologe als das amerikanische Original. Die höchst selektiveÜbersetzung seines Werks wurde schon erwähnt, andere Indika-toren könnten leicht ergänzt werden, um das Urteil zu stützen,Merton sei in der deutschen Soziologie überraschend unvollstän-dig rezipiert worden. Geht man von der Annahme aus, daß Mer-tons Werk in den USA auch in Zukunft Aufmerksamkeit findenwird - was durch zu erwartende Veröffentlichungen aus demNachlaß gefördert werden dürfte -, erscheint es als sinnvoll, sichbei der Analyse der Gründe und Ursachen seiner Prominenz aufsein Heimatland zu beschränken, eine nachholende deutschspra-chige Rezeption ist dabei ja nicht ausgeschlossen.

Die intensivste Wirkung erzielte Merton auf dem Weg, den erselbst "obliteration by incorporation" getauft hat. Dabei findenEinsichten, Ideen, Begriffe und Theorien in den anerkanntenKorpus einer Disziplin (und gelegentlich darüber hinaus auch indie allgemeine Kultur) Eingang, ohne daß des Urhebers gedachtwird oder er auch nur erinnert zu werden pflegt. Auch in diesemFall ist Mertons Wirkung "self-exemplifying". Kaum jemandem,der heute Ausdrücke wie "role model", "dysfunctional", "selffulfilling prophecy", "focus group" - um nur jene anzuführen,die die weiteste Verbreitung gefunden haben (vgl. dazu Merton/Wolfe 1995)- verwendet, wird bewußt sein, wer diese Ausdrückezuerst geprägt hat. Das gilt wohl auch für jene Begriffe, derenVerbreitung auf die Soziologie und benachbarte Disziplinen be-schränkt ist, wie "Matthäus-Effekt", "manifeste" und "latenteFunktion", "opportunity structure", "role set", "status set","unintended consequences", "locals" und "cosmopolitans", "so-cially expected durations", etc. Die soziologisch, vor allem wis-senssoziologisch interessante Frage, auf Grund welcher Bedin-gungen die Mertonschen Wort-Schöpfungen in derart großer Zahl

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in das Vokabular der Sozialwissenschaften und der gehobenenAlltagssprache gelangten, ist weniger leicht zu beantworten. Einnaheliegender Übermittlungsweg wurde von Merton jedenfallsnicht benutzt. Wie kaum ein anderer Soziologe beschränkteMerton seinen Aktionsradius auf die akademische Welt. Weder

hielt er Vorträge vor Laienpublikum noch schrieb er regelmäßigfür Tageszeitungen oder andere Organe der öffentlichen Mei-nungsbildung. Zudem versuchte er ziemlich konsequent zu ver-hindern, daß er zu einer öffentlichen Person wurde - Zeitungsar-tikel und andere Porträts über ihn verbat er sich weitgehend.Dabei war Merton keineswegs ein ausschließlich auf sich selbstund seine Arbeit zurückgezogener, weitabgewandter Bewohnerdes sprichwörtlichen Elfenbeinturms, im Gegenteil: Er ist als je-mand bekannt, der mehr als zweihundert Bücher anderer im Ma-nuskript akribisch lektorierte und kommentierte, er unterhielt biszuletzt ein Netzwerk von Korrespondenzen, zuerst in Form vonTelegramm und Briefen, später dann mittels Fax, und nach Erfin-dung der elektronischen Kommunikation bediente er sich auchdieses Mediums mit Hingabe und ohne Unterschied, wer ihn umRat bat oder nach Auskunft fragte. Das und der Umstand, daß erwährend seines langen Wirkens an der Columbia University eineviele Dutzende umfassende Schülerschaft unterrichtete, die heuteüber die ganze Welt verstreut an erstrangigen und periphererenUniversitäten tätig ist, hat ebenso wie seine "gate-opener" Rolleals langjähriger externer Herausgeber, Berater der GuggenheimFoundation, des Centers for Advanced Study in Palo Alto und alsScholar in Residence der Russell Sage Foundation, um nur diewichtigsten zu nennen, dazu beigetragen, daß es viele "Merto-nians" gibt, die keinen Grund haben, an ihrem Lehrer und Förde-rer posthum Vatermord zu üben. Das Gegenteil ist wahrscheinli-cher, und in dem Grad, in dem nachkommende Generationen mitseinem Werk und dessen Anregungspotential vertraut gemachtwerden, wird man annehmen dürfen, daß Merton auch in der So-ziologie des 21. Jahrhunderts einen gewichtigen Platz einnehmenwird. Seine eigenen, in den letzten drei Jahrzehnten veröffent-lichten Beiträge mit stark autobiographischem Einschlag werdenals Augenzeugenberichte über die Geschichte der Soziologie desvergangenen Jahrhunderts dazu vielleicht rascher beitragen alsseine aufmerksame Lektüre erfordernden theoretischen Beiträge.

Prominente Mitglieder einer wissenschaftlichen Disziplinwerden von Jüngeren gelegentlich dazu benutzt, um sich durchforcierte Kritik selbst einen Namen zu machen - in Mertons Ter-

minologie würde man sagen, daß die Kritiker versuchen, den"Matthäus- Effekt" für sich zu instrumentalisieren. So dienteMerton einer jüngeren Generation von Wissenschaftssoziologenüber Jahrzehnte hinweg als Reibebaum. Nach dem Tod eines gro-ßen Autors kommen derartige karrierestrategische Auseinander-setzungen meist rasch zum Erliegen. Das Weiterleben eines Au-tors hängt dann vor allem ab von dem in seinem Werk enthaltenenAnregungspotential. Sekundärliterarische Aufbereitungen wie dasvorliegende Unternehmen spielen dabei eine durchaus ambiva-lente Rolle, ersetzen sie doch allzuoft die Lektüre des Originals.Was von Klassikern dann tradiert wird, sind einige wenigeSchlagworte und krude Varianten ihrer Erklärungen und Theo-riemodelle. Vielleicht hat ein Autor, den man kaum in wenigenWorten auf den Begriff bringen kann, sogar eine größere Chancenachzuwirken als jene, deren Werk zu Recht in wenigen Sätzenresümiert werden kann.

Über all dem Gesagten sollte man nicht vergessen, daß MertonsKarriere selbst, von seinen Anfängen als Kind osteuropäischerEinwanderer im jüdischen Slum Philadelphias bis zum Höhe-punkt der öffentlichen Anerkennung, als er 1994als erster Sozio-loge vom US-Präsidenten die National Medal of Science (undnicht jene für Humanities) verliehen bekam, sozialstruktureIl un-wahrscheinlich war. Mertons Großzügigkeit und Hilfsbereitschaftanderen gegenüber kann man auch in Kategorien des Gabentau-sches verstehen. Seine Freundschaft mit dem Wiener BürgersohnPaul Lazarsfeld, den die Zeitläufte nach New York verschlagenhatten und der sich dort sein Leben lang als Außenseiter sah, cha-rakterisierte Merton als "improbable collaboration" eines "oddcouples" (Merton 1998).Die beiden Häupter der über lange Jahredie amerikanische Soziologie dominierenden Columbia School ofSociology setzten sich mit den sozialen Bedingungen, die Freund-schaften begründen, wohl auch auseinander, weil ihnen ihr eige-ner Fall zu denken gab (Lazarsfeld/Merton). Ein komplexer Rol-len-Set kann bei jenen, die sich der Ungewöhnlichkeit derartigerKonstellation bewußt sind und die die Aufgabe der Soziologienicht darin sehen, losgelöst von lebensweltlichen Verstrickungen

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an Theorien zu basteln, manche Reflexion auslösen. Es wäre nichtMerton, hätte er nicht selbst mehrfach darauf hingewiesen, daß esdem "wealth of public ressources" und dem Umstand zu dankenwar, von "dedicated librarians" der Pub/ic Library in Philadelphia"adoptiert" worden zu sein (Merton 1994),was ihm den Weg erstebnete, den er selbstbewußt und ingeniös ging. In einer Zeitweltweit zunehmender Migration mag es durchaus auch im SinneMertons sein, daran zu erinnern, daß die moralische Qualität ei-ner Gesellschaft auch davon abhängt, welche Chancen sie den inihr Benachteiligten einräumt.

Merton, R. K.: Working with Lazarsfeld: Notes and Contexts, in: Lautman,J.!Lecuyer, B.-P. (Hrsg.): Paul Lazarsfeld (1901-1976). La sociologie deVienne 11N ew York, Paris 1998a, 163-211.

Merton, R. K.: Unanticipated consequences and kindred sociological ideas: Apersonal gloss, in: Mongardini, c.rrabboni, S. (Hrsg.), Robert K. Merton &contemporary sociology, New Brunswick,lN.J. 1998b, 295-318.

Merton, R. K.!Barber, E. G.: The Travels and Adventures of Serendipity: AStudy in Historical Semantics and the Sociology of Science, Princeton 2004.

Literatur

2. Bibliographie und Biographien

Umfassende Informationen, bieten die folgenden beiden Websites:»50 Klassiker der Soziologie" des Archivs für die Geschichte der Soziologie

in Österreich (AGSÖ):httpllagso.uni-graz.at/lexikonlklassiker/merton/33bio.htmEinVerzeichnis aller Schriften von Merton, zusammengestellt von ElizabethC. Needham und Maritsa V. Poros, findet sich unter:http://www.garfield.library. upenn.edu/merton/list.html

1. Werke (Auswahl)

Merton, R. K.: Durkheim's Division of Labor in Society, in: American Journal

of Sociology 40 (1934), 319-328.Merton, R. K.: The Unanticipated Consequences of Purposive Social Action,

in: American Sociological Review 1 (1936),894-904 (dt. in: Dreitzel, H. P.

(Hg.): Sozialer Wandel, Berlin 1967, 169-183).Merton, R. K.!Sorokin, P.: Social Time: A Methodological and Functional

Analysis, in: American Journal of Sociology 42 (1937), 615-629.Merton, R. K.: Science, Technology, and Society in Seventeenth CentUry

England, Brügge 1938, wiederabgedruckt New York 1970/1993.Merton, R. K.: Social Theory and Social Structure: Toward the Codification of

Theory and Research, Glencoe/Illinois 1949.Lazarsfeld, P. F.!Merton, R. K.: 1954. Friendship as a Social Process: A Sub-

stantive and Methodological Analysis, in: Berger, M.! Abel, Th.!Page, Ch.

(Hg.): Freedom and Control in Modern Society, New York 1954, 18-66.Merton, R. K.: Social Theory and Social StructUre, 2nd, revised and enlarged

ed. Glencoel Illinois 1957.

Merton, R. K.: On the Shoulders of Giants: A Shandean Postscript, New Y ork1965. (dt.: Auf den Schultern von Riesen. Ein Leitfaden durch das Labyrinthder Gelehrsamkeit, Frankfurt am Main 1983). .

Merton, R. K.: Social Theory and Social StructUre, Enlarged ed. New York 1968.Merton, R. K.: Three Fragments from a Sociologist's Notebooks: Establishing

the Phenomenon, Specified Ignorance, and Strategic Research Materials, in:Annual Review of Sociology 13 (1987), 1-28.

Merton, R. K.: A Life of Learning, New York 1994. (gekürzt wiederab-gedruckt in: Merton, R. K.: On Social Structure and Science, Chicago 1996,339-359.)

Merton, R. K.: Soziologische Theorie und soziale Struktur. Hrsg. u. eingel. v.V. Meja und N. Stehr. Berlin 1995.

Merton, R. K./Wolfe, A.: The CultUral and Social Incorporation of Sociologi-cal Knowledge, in: The American Sociologist 26/3 (1995), 15-39.

Merton, R. K.: On Social StructUre and Science, Chicago 1996.

3. Sekundärliteratur (Monographien)

Burke, K.: Permanence and Change, New York 1935.Clark,J. u.a. (Hrsg.): Robert K. Merton: Consensus and Controversy, London

1990.

Coser, L. A. (Hrsg.): The Idea of Social StructUre: Papers in Honor of RobertK. Merton, New York 1975.

Crothers, Ch.: Robert K. Merton, London/New York 1987.Gieryn, Th. F. (Hrsg.): Science and Social StructUre: A Festschrift for Robert

K. Merton, N ew York 1980.Mongardini, C.rrabboni, S.(Hrsg.): L' Opera di Robert K. Merton e la

Sociologia Contemporanea, Genova 1989.Sztompka, P.: Robert K. Merton: An IntellectUal Profile, New YorklLondon

1986.

Anmerkungen

Anmerkung des Herausgebers: Robert K. Merton verstarb am 23. Februar2003, Lewis A. Coser am 8. Juli 2003. Den zu aktUalisierenden Beitragübertrug ich an Christian Fleck. Der Text von Coser wird unverändert ab-gedruckt, der Text von Fleck schließt ab Seite 169 an. Die Literaturangabenwurden zusammengeführt.

2 Parsons, T., The Structure of Social Action, New York 1937.3 Ich erinnere mich, daß ich einmal eine Mahnung der Steuerbehörde über

15 Cents erhielt,.die mit 25 Cents frankiert war.4 Veblen, Th., The Theory of the Leisure Class. An Economic Study of the

Evolution of Institutions, New York 1899. (Dt. Übers.: Theorie der feinenLeute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen, Köln 1958).

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