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1 Hendrik Stiemer: Robert Walsers Atlantiküberquerungen. Ein Ausflug in die Zeitungslandschaft der Zwischenkriegszeit Vortrag an der Jahrestagung der Robert Walser-Gesellschaft in Berlin, 19.10.2013 I. Am 20. Mai 1927 meldete das «Berliner Tageblatt», dass der Amerikaner Charles Lindbergh am frühen Morgen zu einem Direktlug von New York nach Paris gestartet war. 1 Es handelte sich um einen todesmutigen Rekordversuch, für dessen Gelingen der französischstämmige New Yorker Hotelier Raymond Orteig schon 1919 einen Preis von 25.000 Dollar ausgesetzt hatte. 2 In den nächs ten Tagen folgten weitere LindberghSchlagzeilen auf der Titelseite: «Lindbergh über offenem Ozean. / Tausend Kilometer östlich Neufundland gesichtet. – Bis her glatter Verlauf des Fluges. / Der ‹fliegende Narr› unterwegs». 3 Wegen seines Wagemuts wurde Lindbergh schon vor seinem Atlantikflug «the flying fool» 4 genannt. Am 23. Mai konnte die «Prager Presse» vermelden: «Ozeanflieger Lindbergh – der Held des Tages». 5 Die darauffolgenden Unterartikel berichte ten, dass der Rekordflieger bei seiner Landung von fast 200.000 Schaulustigen empfangen wurde, dass der Ansturm auf den Flughafen ganz Paris in ein Ver kehrschaos stürzte und dass Lindberghs Flugzeug beschädigt wurde, weil der Mopp sich vor den Augen der hilflosen Polizei mit Messern Andenken von der Maschine herunterschnitt. 6 In diesen Tagen nahm Robert Walser in Bern den Bleistift zur Hand und no tierte auf der Rückseite eines Absagebriefs der Satirezeitschrift «Simplicis simus» in winzigen SütterlinBuchstaben ein Gedicht und ein Prosastück. 7 We nig später schrieb er die beiden Texte mit der Feder ins Reine. 8 Dabei veränder 1 Vgl. «Berliner Tageblatt» Nr. 237, 20.5.1927, S. 1. 2 Vgl. Richard Bak: «The Big Jump. Lindbergh and the Great Atlantic Air Race», Hoboken (New York) 2011, S. 23–34. 3 «Berliner Tageblatt» Nr. 239, 21.5.1927, S. 1. 4 Ebd. 5 «Prager Presse» Nr. 141, 23.5.1927, S. 1. 6 Vgl. ebd., S. 1f. 7 Vgl. Text Nr. 2 und 3 auf Mikrogrammblatt 51 (Robert Walser-Archiv, Bern); Robert Walser: «Aus dem Bleistiftgebiet. Mikrogramme 1924–1933», im Auftrag des Robert Walser-Archivs der Carl Seelig-Stiftung (Zürich) entziffert und hg. von Bernhard Echte und Werner Morlang, Frankfurt am Main 1985ff.; Zitate aus dieser Ausgabe werden in Klammern mit der Sigle AdB nachgeführt, hier: AdB 6, S. 753. Die vier Mikrogramme, die ich im vorliegenden Aufsatz erwähne, wurden bisher noch nicht in entzifferter Form publiziert. Allerdings gewährte mir Chris Walt vom Projekt «Kritische Robert Walser-Ausgabe» dankenswerterweise Einblicke in seine laufenden Entzifferungsarbeiten. Das mehrspaltige Schriftbild, das diese und andere Mikrogrammblätter aufweisen, rührt in meinen Augen nicht daher, dass Walser eine «mikrographische Privatzeitung» anfertigte (Peter Utz: «Tanz auf den Rändern. Robert Walsers ‹Jetztzeitstil›», Frankfurt am Main 1998, S. 355–358). In der Regel ergibt sich die Mehrspaltigkeit aus den Zeilenwechseln, die Walser am Ende seiner Gedichtverse vorzunehmen pflegte. 8 Die Reinschriftmanuskripte befinden sich heute im Museum des nationalen Schrifttums in Prag (vgl. Matthias Sprünglin: «Elektronisches Findbuch der Kritischen Robert Walser- Ausgabe. Version 3», S. 46; 164, in: Robert Walser: «Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und

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  1  

Hendrik Stiemer: Robert  Walsers  Atlantiküberquerungen.  Ein  Ausflug  in  die  

Zeitungslandschaft  der  Zwischenkriegszeit  Vortrag an der Jahrestagung der Robert Walser-Gesellschaft in Berlin, 19.10.2013

I.  

Am   20.   Mai   1927   meldete   das   «Berliner   Tageblatt»,   dass   der   Amerikaner  Charles  Lindbergh  am  frühen  Morgen  zu  einem  Direktlug  von  New  York  nach  Paris   gestartet  war.1   Es   handelte   sich  um  einen   todesmutigen  Rekordversuch,  für  dessen  Gelingen  der   französischstämmige  New  Yorker  Hotelier  Raymond  Orteig  schon  1919  einen  Preis  von  25.000  Dollar  ausgesetzt  hatte.2  In  den  nächs-­‐‑ten  Tagen  folgten  weitere  Lindbergh-­‐‑Schlagzeilen  auf  der  Titelseite:  «Lindbergh  über  offenem  Ozean.  /  Tausend  Kilometer  östlich  Neufundland  gesichtet.  –  Bis-­‐‑her  glatter  Verlauf  des  Fluges.  /  Der  ‹fliegende  Narr›  unterwegs».3  Wegen  seines  Wagemuts  wurde  Lindbergh   schon  vor   seinem  Atlantikflug  «the   flying   fool»4  genannt.   Am   23.   Mai   konnte   die   «Prager   Presse»   vermelden:   «Ozeanflieger  Lindbergh  –  der  Held  des  Tages».5  Die  darauffolgenden  Unterartikel  berichte-­‐‑ten,  dass  der  Rekordflieger  bei  seiner  Landung  von  fast  200.000  Schaulustigen  empfangen  wurde,  dass  der  Ansturm  auf  den  Flughafen  ganz  Paris  in  ein  Ver-­‐‑kehrschaos  stürzte  und  dass  Lindberghs  Flugzeug  beschädigt  wurde,  weil  der  Mopp  sich  vor  den  Augen  der  hilflosen  Polizei  mit  Messern  Andenken  von  der  Maschine  herunterschnitt.6  

In  diesen  Tagen  nahm  Robert  Walser  in  Bern  den  Bleistift  zur  Hand  und  no-­‐‑tierte   auf   der   Rückseite   eines   Absagebriefs   der   Satirezeitschrift   «Simplicis-­‐‑simus»  in  winzigen  Sütterlin-­‐‑Buchstaben  ein  Gedicht  und  ein  Prosastück.7  We-­‐‑nig  später  schrieb  er  die  beiden  Texte  mit  der  Feder  ins  Reine.8  Dabei  veränder-­‐‑

                                                                                               1 Vgl. «Berliner Tageblatt» Nr. 237, 20.5.1927, S. 1. 2 Vgl. Richard Bak: «The Big Jump. Lindbergh and the Great Atlantic Air Race», Hoboken

(New York) 2011, S. 23–34. 3 «Berliner Tageblatt» Nr. 239, 21.5.1927, S. 1. 4 Ebd. 5 «Prager Presse» Nr. 141, 23.5.1927, S. 1. 6 Vgl. ebd., S. 1f. 7 Vgl. Text Nr. 2 und 3 auf Mikrogrammblatt 51 (Robert Walser-Archiv, Bern); Robert Walser:

«Aus dem Bleistiftgebiet. Mikrogramme 1924–1933», im Auftrag des Robert Walser-Archivs der Carl Seelig-Stiftung (Zürich) entziffert und hg. von Bernhard Echte und Werner Morlang, Frankfurt am Main 1985ff.; Zitate aus dieser Ausgabe werden in Klammern mit der Sigle AdB nachgeführt, hier: AdB 6, S. 753. Die vier Mikrogramme, die ich im vorliegenden Aufsatz erwähne, wurden bisher noch nicht in entzifferter Form publiziert. Allerdings gewährte mir Chris Walt vom Projekt «Kritische Robert Walser-Ausgabe» dankenswerterweise Einblicke in seine laufenden Entzifferungsarbeiten. Das mehrspaltige Schriftbild, das diese und andere Mikrogrammblätter aufweisen, rührt in meinen Augen nicht daher, dass Walser eine «mikrographische Privatzeitung» anfertigte (Peter Utz: «Tanz auf den Rändern. Robert Walsers ‹Jetztzeitstil›», Frankfurt am Main 1998, S. 355–358). In der Regel ergibt sich die Mehrspaltigkeit aus den Zeilenwechseln, die Walser am Ende seiner Gedichtverse vorzunehmen pflegte.

8 Die Reinschriftmanuskripte befinden sich heute im Museum des nationalen Schrifttums in Prag (vgl. Matthias Sprünglin: «Elektronisches Findbuch der Kritischen Robert Walser-Ausgabe. Version 3», S. 46; 164, in: Robert Walser: «Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und

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te   er   da   und   dort   den  Wortlaut,   und   er   fügte   die  Überschriften   «Lindbergh»  und  «Der  Flieger»  hinzu.  Die  Reinschriften  schickte  er  an  Otto  Pick,  den  Feuille-­‐‑tonchef  der  Tageszeitung  «Prager  Presse».  Bislang  glaubten  wir  in  der  Walser-­‐‑Forschung,  Otto  Pick  hätte  das  Gedicht  «Lindbergh»  nie  zum  Druck  befördert.  Ich  bin  bei  einer  Recherche   im  Zeitungsarchiv  der  Berliner  Staatsbibliothek   je-­‐‑doch  darauf  gestoßen,  dass  der  Text  acht  Tage  nach  Lindberghs  Landung  veröf-­‐‑fentlicht  wurde.  Er  erschien  am  29.  Mai  auf  Seite  4  der  «Prager  Presse»,  aller-­‐‑dings  nicht  in  der  Feuilletonrubrik  unter  dem  Strich,  sondern  im  oberen  Seiten-­‐‑bereich  zwischen  aktuellen  Meldungen  in  der  Rubrik  «Tagesbericht».9  

Dieser  Druckort  mag   auf   den   ersten   Blick   ungewöhnlich  wirken.   Bei   einer  näheren  Betrachtung  erweist  er  sich  jedoch  als  durchaus  passend,  denn  es  han-­‐‑delt   sich   tatsächlich   um   ein   tagesaktuelles   journalistisches   Gedicht.   Dafür  spricht  schon  der  Umstand,  dass  sich  auf  dieser  Zeitungsseite   fast  alle  Artikel  mit  dem  Thema  Luftfahrt  befassen.  Zunächst  trifft  man  auf  einen  großen  Arti-­‐‑kel  zur  laufenden  «Internationalen  Flugausstellung»10  in  Prag.  Im  mittleren  Sei-­‐‑tenbereich  wird  ein  «bedeutsamer  Erfolg  der   tschechoslowakischen  Flugzeug-­‐‑industrie»11   vermeldet.   Unmittelbar   unter   Walsers   Gedicht   wird   über   Lind-­‐‑berghs  Weiterreise  von  Paris  nach  London   informiert.  Danach  beginnt  ein  Be-­‐‑richt  über  den  italienischen  Rekordflieger  Francesco  de  Pinedos.  Walsers  Lind-­‐‑bergh-­‐‑Verse  lauten:  

Lindbergh.  /  Von  Robert  Walser  

O,  wie  blüh’n  Kastanienkerzen  reizend  nun  in  Gärten  von  Administrationen.  Wenn  sich’s  würde  lohnen,  unternähm‘  ich  jetzt  eine  Reise  zu  Fuß.  Ob  denn  aber  immer  etwas  muß  erlebt,  geschrieben  werden?  Ihre  Schmerzen,  als  ich  beschäftigt  war,  mit  ihr  zu  scherzen,  trug  mir  eine  Mutter  vor  aus  beengtem  Herzen.  Weil  ich  in  gewissem  Sinn  etwas  wie  eine  Anerkanntheit  bin,  fliegen  Zeitschriftnummern  gratis  zu  mir  hin.  

                                                                                                                                                                                                                                                                                   Manuskripte», hg. von Wolfram Groddeck und Barbara von Reibnitz, Basel/Frankfurt am Main 2008ff., Bd. 1–3).

9 «Prager Presse» Nr. 147, 29.5.1927, S. 4 (siehe Abb. 1, S. 3). Die Qualitätsmängel sind auf den Zustand des Originals zurückzuführen, nicht auf den Mikrofilm der Staatsbibliothek oder meine Reproduktion.

10 Ebd. 11 Ebd.

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  3  

Abb. 1: «Prager Presse» Nr. 147, 29.5.1927, S. 4 (Staatsbibliothek, Berlin).

 

 

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  4  

Abgesehen  jedoch  davon,  daß  es  hübsch  ist,  wenn  Dienstmädchen  Schuhe  schwärzen,  machte  mich  Nordamerikas  Sohn,  dem  mit  fünfundzwanzig  Jahren  schon  so  Großes  gelang,  sehr  anspruchsvoll,  vor  Begeisterung,  ob  seinem  Schwung,  sozusagen  zunächst  ganz  toll,  mir  mit  Kunst  und  so  weiter  keiner  kommen  soll!12  

Es  mag  sein,  dass   sich  manch  ein  Ästhetizist  bei  der  Lektüre  dieser  Verse  die  Haare   raufen   wird.   Als   ich   vor   drei   Jahren   auf   der   Jahrestagung   der   Robert  Walser-­‐‑Gesellschaft   in   Bern   einen   Vortrag   hielt,   glaubte   ich   noch,   der   späte  Walser   habe   im   Feuilleton   absichtlich   schlecht   gedichtet,   um  die  Geltungsan-­‐‑sprüche  der  hohen  Lyrik  zu  verspotten.13  Heute  glaube  ich  das  nicht  mehr,  auch  wenn   ich  nach  wie  vor  die  Ansicht  vertrete,  dass  der  Autor  mit  der   saloppen  Form  der  Spätlyrik  sein  Dasein  als  Feuilletonist  zur  Schau  stellte.  

Tatsächlich   ist  das  Lindbergh-­‐‑Gedicht   in  vierfacher  Hinsicht  ein  Feuilleton-­‐‑gedicht.  Erstens  erschien  es  in  einer  Tageszeitung.  Zweitens  enthält  es  zahlrei-­‐‑che  Bezüge  auf  die  Lindbergh-­‐‑Berichterstattung   in  der  Tagespresse.  Von  «Ad-­‐‑ministrationen»  (SW  13,  S.  144)  ist  beispielweise  die  Rede,  weil  Lindbergh  nach  seinem  Rekordflug  einen  regelrechten  Marathon  durch  Botschaften,  Staatsresi-­‐‑denzen   und   andere  Administrationsgebäude   absolvierte.14  Die   «Kastanienker-­‐‑zen»  (ebd.),  die  in  den  dortigen  Gärten  blühen,  lese  ich  als  Personifikation  des  «erst  25jährigen»15  Lindbergh,  der  bei  den  offiziellen  Empfängen  in  seiner  Hel-­‐‑denrolle   sichtlich   aufblühte.   Die   Rede   von   einer   «Reise»,   die   sich   «lohnen»  (ebd.)  soll,  spielt  auf  den  Orteig-­‐‑Preis  an,  dessen  Dotierung  heute  wohl  einem  Gegenwert  von  rund  260.000  Euro  entspräche.16  Die  Frage,  ob  «denn  immer  et-­‐‑was  muß  /  erlebt,  geschrieben  werden»  (SW  13,  S.  145),   liest  sich  wie  ein  kriti-­‐‑scher  Kommentar  zu  den  zahlreichen  Zeitungsberichten,  in  denen  die  banalsten  Erlebnisse   rund   um   Lindberghs   Rekordflug   breitgetreten   wurden.17   Dass   der  Sprecher  des  Gedichts  erklärtermaßen  mit  einer  «Mutter»  «scherzte»,  als  diese  ihm  ihren  «Herz»-­‐‑«Schmerz»  (ebd.)  vortrug,  verweist  wohl  auf  einen  der  vielen  Zeitungsartikel,   die   berichteten,   wie   Lindbergh   am   Tag   nach   seinem   großen                                                                                                  12 Ebd.; wiederabgedruckt in Robert Walser: «Sämtliche Werke in Einzelausgaben», hg. von

Jochen Greven, Frankfurt am Main/Zürich 1985f.; Zitate aus dieser Ausgabe werden in Klammern mit der Sigle SW nachgeführt, hier: SW 13, S. 144f.

13 Vgl. Hendrik Stiemer: «Feuilletonistische Reimereien auf ‹anspruchsvolle Jungen› und ‹hochgeschätzte Knaben›. Der späte Robert Walser und die hohe Lyrik». Vortrag an der Jahrestagung der Robert Walser-Gesellschaft in Bern, 16.10.2010,

http://www.robertwalser.ch/fileadmin/redaktion/dokumente/jahrestagungen/vortraege/Stiemer10.pdf.

14 Fünf Tage nach der Landung schrieb die «Neue Zürcher Zeitung» lakonisch: «Die Empfänge zu Ehren Lindberghs nehmen ihren unerbittlichen Fortgang» («Neue Zürcher Zeitung» Nr. 885, 27.5.1927, S. 2).

15 Vgl. «Neue Zürcher Zeitung» Nr. 862, 23.5.1927, S. 2. 16 Vgl. Bak 2011 (Anm. 2), S. 29. Angeblich kommentierte Lindbergh seinen Rekordflug mit den

Worten: «Ich habe nur eine kleine Reise gemacht» («Prager Presse» Nr. 144, 26.5.1927, S. 4). 17 Vgl. dazu Hans Natonek: «Die Werkstatt des Ruhms. Eine Studie zu Lindberghs Triumph»,

in: «Neue Zürcher Zeitung» Nr. 943, 5.6.1927, S. 1.

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Triumph   die   Mutter   des   französischen   Fliegers   Nungesser   besuchte.18   Diese  Mutter   musste   tatsächlich   gerade   einen   Schmerz   bewältigen,   denn   Charles  Nungesser  war  zwei  Wochen  früher  zu  einem  Direktflug  von  Paris  nach  New  York  gestartet  und  galt  seitdem  als  verschollen.  

Drittens   ist  «Lindbergh»  auch  formal  als  Feuilletongedicht  konzipiert,  denn  Walser  schlägt  hier  einen  Plauderton  an,  wie  er  für  den  sogenannten  feuilleto-­‐‑nistischen  Stil  der  Kurzprosa  des  frühen  20.  Jahrhunderts  als  typisch  galt.  Mei-­‐‑nes  Erachtens  unternahm  Walser  in  den  zwanziger  Jahren  den  Versuch,  diesen  feuilletonistischen   Plauderstil   auch   auf   dem   Gebiet   der   Lyrik   zu   etablieren.19  Dass  es  sich  bei  «Lindbergh»  um  Lyrik  handelt,   lässt  sich  schon  am  Zeilenfall  und   an   den   Endreimen   erkennen.   Die   Verslängen   und   die   Reime   erscheinen  aber  so  unsystematisch  und  die  gedanklichen  Sprünge  so  wild,  dass  das  Ganze  wirkt,  als  sei  es  beinahe  gedankenlos  dahingeplaudert.  Dazu  kommen  Ausdrü-­‐‑cke  und  Vokalauslassungen,  die  nicht  zu  einer  Glättung  des  Versmaßes  führen,  sondern   umgangssprachlich   wirken.   Die   saloppe   Form   entspringt   allerdings  keinem  Unvermögen  und  auch  keiner  «clownesken  Gedichtästhetik».20  Walser  machte  sich  diesen  lyrischen  Plauderton  zu  eigen,  weil  er  ihn  für  feuilletontaug-­‐‑licher  hielt  als  den  sogenannten  hohen  Ton.  

Viertens   ist   «Lindbergh»   ein   Feuilletongedicht,   weil   der   Autor   darin   sein  Selbstverständnis  als  dichtender  Journalist  zum  Ausdruck  bringt.21  So  spielt  die  Behauptung,  dass  «Zeitschriftnummern  gratis»  zu  ihm  hin  «fliegen»,  darauf  an,  dass  Walser  zu  dieser  Zeit  nicht  zu  den  unsterblichen  Dichtern  zählte,   sondern  als  Mitarbeiter  des  kurzlebigen  Literaturbetriebs  nur  «in  gewissem  Sinn»  eine  «Anerkanntheit»   (ebd.)  war.22  Es   ist   in  diesem  Zusammenhang  gut  zu  wissen,  dass  sich  seinerzeit  neben  Lindbergh  noch  eine  ganze  Reihe  älterer,  berühmte-­‐‑rer  Piloten  an  einem  Direktflug  zwischen  New  York  und  Paris  versuchten.23  Am  24.  Mai  schrieb  ein  Kommentator  in  der  «Prager  Presse»:  

Man   stelle   sich  vor,  welche   Schwierigkeiten   sich   einem   jungen,  unbekannten  Flieger   in  Europa   entgegengetürmt  hätten,   […]  wie   stark  das  Gefühl   traditioneller  Minderwertig-­‐‑

                                                                                               18 In der Presse kursierten abweichende Versionen dieser Anekdote, die teils wenig glaubhaft

wirken (vgl. «Prager Presse» Nr. 141, 23.5.1927, S. 1; «Berliner Tageblatt» Nr. 241, 23.5.1927, S. 4; «Neue Zürcher Zeitung» Nr. 864, 23.5.1927, S. 1f).

19 Vgl. Hendrik Stiemer: «Über scheinbar naive und dilettantische Dichtung. Text- und Kontextstudien zu Robert Walser», Würzburg 2013, S. 239–244.

20 Vgl. Stiemer 2010, S. 11. 21 In einem Mikrogramm, das sich als Brief an eine «sehr verehrte Frau» ausgibt und mit den

Worten «Gestatten Sie mir» beginnt, heißt es: «Ich bin Schriftsteller und Literaturverständiger […]. Hie und da fühle ich mich ein ganz klein wenig beschäftigungslos, im allgemeinen aber bin ich fleißig, indem ich in- sowohl wie ausländische Blätter, d. h. Zeitungen mit klein(er)en oder größeren, bescheidenen oder bedeutenden Artikeln bediene. Wenn Sie wollen, dürfen Sie mich also für einen Journalisten halten, in gewisser Hinsicht aber ebensogut für einen Dichter, denn der Journalismus, den ich treibe, enthält eine vorwiegend dichterische Note» (AdB 4, S. 63; vgl. Utz 1998 [Anm. 7], S. 300).

22 Vgl. dazu Almut Todorow: «‹Wollten die Eintagsfliegen in den Rang höherer Insekten aufsteigen?› Die Feuilletonkonzeption der ‹Frankfurter Zeitung› während der Weimarer Republik im redaktionellen Selbstverständnis», in: «Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte» 62 (1988), S. 697–740; Utz 1998 (Anm. 7), S. 295–368.

23 Vgl. «Neue Zürcher Zeitung» Nr. 814, 15.5.1927, S. 2; Bak 2011 (Anm. 2), S. 101–183.

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keit  gegenüber  älteren  und  erfahreneren  Kollegen  auf   ihm  gelastet  hätte.  Und  man  ver-­‐‑gleiche  damit  die  Selbstverständlichkeit,  mit  der  Amerika  Lindbergh  sein  Glück  probie-­‐‑ren  läßt.24  

Wenn  es  Lindbergh  möglich  war,  den  traditionellen  Hierarchien  zum  Trotz  die  Herzen  Europas  zu  erobern,  konnte  dann  nicht  auch  Walser  mit  seinen  unkon-­‐‑ventionellen  Plaudergedichten   literarische  Ansprüche   erheben?   Sollte   er   nicht  auch   «anspruchsvoll»   (ebd.)   auftreten   dürfen?   Die   Rede   ist   von   ideellen   An-­‐‑sprüchen   und   nicht   von   ökonomischem   Reichtum,   der   die   Bezahlung   von  «Dienstmädchen»   (ebd.)   ermöglichen  würde.  Nach  meiner   Lesart   erklärt   sich  aus  diesem  Gedankengang  die  «Begeisterung»,  von  der  im  Gedicht  die  Rede  ist,  denn   es   ist   nicht  die   eigene   «Kunst»   (ebd.),   die   im   letzten  Vers  verabschiedet  wird.  Es   ist  die   traditionelle  hohe  Dichtkunst,  die  der  Feuilletonlyriker  Robert  Walser  hier  von  sich  weist.  

Wie  meine  Deutungsversuche  erkennen  lassen,  ist  «Lindbergh»  alles  andere  als  leicht  verständlich.  Es  steht  außer  Frage,  dass  auch  andere  Lesarten  möglich  sind.25  Das  Gedicht  ist  in  dieser  Hinsicht  allerdings  kein  Einzelfall.  Der  Großteil  von  Walsers  Spätlyrik  steckt  voller  Andeutungen  und  Anspielungen.  In  einem  Brief  an  Max  Rychner,   in  dem  es  um  die  Frage  geht,  wie  ein  schönes  Gedicht  aussehen  sollte,  reflektierte  Walser  diese  Anspielungsästhetik.  Es  heißt  dort  un-­‐‑ter   anderem:   «Aus   den   Unausgesprochenheiten   entwickelt   sich   das   Gestaltli-­‐‑che».26   Das   «Gestaltliche»,   das  Walser   auch   den   «Gedichtkörper»27   nennt,   be-­‐‑zeichnet  hier  nicht  die  Form,  sondern  den  Äußerungsgehalt  des  Gedichts.  Die-­‐‑ser  Gehalt  soll  nur  angedeutet  und  nicht  als  Klartext  ausgesprochen  werden.28  

II.  

Auch  die  Seite  der  «Prager  Presse»,  auf  der  knapp  zwei  Wochen  später  das  Pro-­‐‑sastück   «Der   Flieger»   (SW  19,   S.   228–231)   erschien,  war   fast   ausnahmslos  der  Aviatik  gewidmet.  Sie  enthielt  einen  weiteren   langen  Bericht  zur  Prager  Flug-­‐‑ausstellung,  einen  Artikel  über  den  Flieger  Chamberlin,  der  zwei  Wochen  nach  Lindbergh  von  New  York  nach  Deutschland  flog,  ein  Balkendiagramm,  das  die  geltenden   aviatischen   Langstreckenrekorde   verzeichnete,   und   andere   kleine  Meldungen  zur  Luftfahrt.29  Walsers  «Flieger»  befindet  sich  diesmal  standesge-­‐‑mäß  unter  dem  Strich  in  der  Rubrik  «Feuilleton».30  Auch  dieser  Text  enthält  zahl-­‐‑

                                                                                               24 «Prager Presse» Nr. 142, 24.5.1927, S. 1. 25 Vgl. Urs Allemann: «Der okkupierte Himmel», in: Robert Walser: «Der Schnee fällt nicht

hinauf», hg. von Urs Allemann, Frankfurt am Main/Leipzig 2009, S. 71f.; Gonçalo Vilas-Boas: «Himmlische ‹Spazierfahrten›, Aviatische Texte von Franz Kafka und Robert Walser», in: Vesna Kondrič Horvat (Hg.): «Franz Kafka und Robert Walser im Dialog», Berlin 2010, S. 135–150.

26 Vgl. Robert Walser: «Briefe», hg. von Jörg Schäfer unter Mitarbeit von Robert Mächler, Zürich 1979, S. 267 (Brief Walsers an Rychner vom 18.3.1926).

27 Ebd., S. 266. 28 Vgl. Stiemer 2013, S. 200ff. 29 Vgl. «Prager Presse» Nr. 158, 10.6.1927, S. 3 (siehe Abb. 2, S. 8). 30 Ebd.

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reiche  Stichworte  und  Motive,  die  zuvor  durch  die  Tagespresse  gegeistert  wa-­‐‑ren.  So  bezeichnet  er  Lindbergh,  dessen  Name  allerdings  nicht  explizit  genannt  wird,  als  den  «Helden  des  Tages»  und  als  «Narr»  (SW  19,  S.  229f.;  vgl.  oben,  S.  1).  Schon  die  «Martialismus»-­‐‑Kommentare  zu  Beginn  des  Aufsatzes  spielen  auf  die  Lindbergh-­‐‑Berichterstattung  an,  wo  nicht  ohne  Grund  die  Meinung  kursier-­‐‑te,  dass  der  ruhmesträchtige  Rekordflug  ohne  die  Wettkampfmentalität,  die  der  Orteig-­‐‑Preis   geschürt   hatte,   undenkbar   gewesen   wäre.31   Dass  Walser   auf   die  «Mutter»  (SW  19,  S.  229)  des  Fliegers  zu  sprechen  kam,   lässt  sich  ebenfalls  als  ein  Zeitungsecho  verstehen,  denn  Lindberghs  Mutter  und  das  große  Vertrauen,  das   sie   in   ihren   Sohn   setzte,  wurden   in   der   damaligen   Tagespresse   gerne   er-­‐‑wähnt.32  Die Frage, ob man im «Helden des Tages» einen «von längst aus dem Wirkungskreis verschwundenen Seefahrern Abstammenden» (ebd.) zu erbli-cken habe, knüpft schließlich an einen Artikel an, der in der gleichen Zeitungs-ausgabe wie Walsers Lindbergh-Gedicht erschienen war. Dort war der Rekord-flieger mit «Christopherus Columbus»33 verglichen worden.

Im Gegensatz zum früheren Lindbergh-Gedicht beging Walser in «Der Flie-ger» indes keinen Schulterschluss   mit   dem   jungen   Piloten.   Stattdessen   über-­‐‑schüttete  er  dessen  Heldentat  mit  humorvoller  schweizerischer  Kritik:  

Heute   sprach   ich   zu  mir,   eigentlich   sei   jeder,   der   sich   seines   Lebens   harmlos   drauflos-­‐‑freue,  ein  vollendeter  Löl.  […]  Statt  des  Ausdruckes  ‹Löl›  bedienen  sich  manche  in  einem  Lande,  das   sich  eines  Gastfreundschaftsberufes  erfreut,  und  worin  unter  anderem  auch  ich   mich   aufhalten   darf,   gern   des   Charakterisierungswortes   ‹dummer   Geib›.   Höflich  klingt  weder   erstere  noch   letztere   Sprechweise   […].  Paradiesvogelhaft   flog   er  über  den  weitausgespannten,   sich   nicht   durchweg   glatt   und   ruhig   verhaltenden   Wiesenteppich  hin,  der  den  historischen  Titel  Meer   trägt,  der  Narr  oder  Löl,  der  vielleicht   insofern  Löl  genannt  werden  dürfte,  als  er  mit  einer  an  Übermut  grenzenden  Tapferkeit  mit  der  un-­‐‑leugbaren  Kostbarkeit  seines  Lebens  spielte  (SW  19,  S.  229f.).  

Der  Schluss  des  Aufsatzes  nimmt  das  öffentlichkeitswirksame  Auftreten  Lind-­‐‑berghs  aufs  Korn:  

Wenn  sich  beispielsweise  jemand  wichtig  macht,  so  hat  er,  volkstümlich  gesprochen  ‹ei-­‐‑nen  Vogel›.  Man  darf  in  Wirklichkeit  nach  Belieben  wichtig  sein;  demgemäß  aufzutreten  

                                                                                               31 «Das kühne Unternehmen mit seinen furchtbaren Gefahren imponierte den Massen wie den

Sachverständigen. Der Wettbewerb zwischen den amerikanischen und französischen Fliegern erhöhte die Spannung noch» («Der Bund» Nr. 198, 10.5.1927, S. 1; vgl. auch Bak 2011 (Anm. 2), S. 101–183). Das Wort ‹Martialismus› geht auf den Kriegsgott Mars zurück. Tatsächlich schloss Walser am 13. April 1927 einen «Brief» an Max Rychner mit «martialischem Gruß» (SW 19, S. 28). In diesem Fall spielt der Ausdruck darauf an, dass Walser seinerzeit darum kämpfte, seine unkonventionellen Gedichte zu veröffentlichen. Kurz zuvor hatte Rychner offenbar gezögert, vier bereits angenommene Walser-Gedichte in seiner Zeitschrift «Neue Schweizer Rundschau» abzudrucken. In einem Brief an Otto Pick vom 17. Mai 1927, in dem es um das Ringen nach literarischer Anerkennung geht, äußerte Walser die «Meinung», «es müsse stets» etwas «wie Kampf oder Krieg in der Welt sein, was ein Mittel sei, si[ch] vor dem Einschlafen zu bewahren» (vgl. insgesamt Walser 1979 [Anm. 26], S. 267; 294ff.; 415; 419).

32 Vgl. «Prager Tagblatt» Nr. 120, 21.5.1927, S. 3; «Berliner Tageblatt» Nr. 241, 23.5.1927, S. 4; «Prager Presse» Nr. 140, 22.5.1927, S. 5; Nr. 142, 24.5.1927, S. 2; Nr. 144, 26.5.1927, S. 5; vgl. auch unten, S. 9f.

33 F. C.: «Der atlantische Strichflug. Helden von heute», in: «Prager Presse» Nr. 147, 29.5.1927, S. 9; vgl. auch «Prager Tagblatt» Nr. 133, 5.6.1927, S. 3.

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ist   jedoch  für  andere  nicht   immer  angenehm.  In  schönerem  als   in  soeben  angedeutetem  Sinn  lasse  ich  mit  diesmaligem  Aufsatz  etwas  wie  einen  Vogel  zu  Ihnen  fliegen  (SW  19,  S.  230).  

Mit  Peter  Utz  könnte  man  vielleicht  auch  sagen:  einen  Brief  für  alle.  

III.  

Bei  den  Recherchen  zu  meinem  Vortrag  habe   ich   in   sechs  Tageszeitungen  die  Monate  Mai  bis  September  1927  durchforstet.  Die  «Prager  Presse»,  das  «Prager  Tagblatt»,  die  «Frankfurter  Zeitung»  und  das  «Berliner  Tageblatt»  wurden  ge-­‐‑wählt,   weil   sie   in   diesem   Zeitraum   regelmäßig   Walser-­‐‑Texte   druckten.   Die  «Neue   Zürcher   Zeitung»   und   den   «Berner   Bund»   habe   ich   untersucht,   weil  Walser   diese   Blätter   in   Bern  wahrscheinlich   ab   und   zu   gelesen   hat.  Wie  man  sich  denken  kann,  bin  ich  darauf  gestoßen,  dass  Walser  nicht  der  einzige  Feuil-­‐‑letonist   war,   der   sich   über   Lindberghs   Atlantiküberquerung   hermachte.   Das  frühste  Lindbergh-­‐‑Feuilleton,  das  ich  gefunden  habe,  erschien  schon  vier  Tage  nach   dem   Rekordflug   im   «Berliner   Tageblatt».   Es   trägt   den   Titel   «Ode   an  Charles  Lindbergh»  und  stammt  von  keinem  Geringeren  als  «Jwan  Goll».34  Die  Ode  weist  auf  den  ersten  Blick  zwei  Gemeinsamkeiten  mit  Walsers  Lindbergh-­‐‑Versen   auf.   Erstens  wirkt   sie   formal   sehr   frei.   Zweitens   enthält   sie   zahlreiche  Stichworte   aus   der   Zeitungsberichterstattung.35   Goll   verwob   diese   Stichworte  mit  Motiven   aus   der   antiken  Mythologie   zu   einem   kulturgeschichtlichen  Ge-­‐‑dicht,  demzufolge  das   jugendliche  Amerika  im  Begriff  war,  dem  bildungsstar-­‐‑ren  Europa  weltgeschichtlich  den  Rang  abzulaufen.  

 

                                                                                               34 «Berliner Tageblatt» Nr. 245, 25.5.1927, S. 4 (siehe Abb. 3, S. 10). 35 Der fliegende Narr Charles Lindbergh war tatsächlich «blond» und hatte «blaue» (ebd.)

Augen. Sein Rekordflug, der auf dem New Yorker «Rooseveltfield» begann, dauerte etwa «33 Stunden» (ebd.). Er führte «Kaffee» (ebd.) mit sich, machte von dem Anregungsmittel aber keinen Gebrauch. Die Durchschnittsgeschwindigkeit seiner Maschine «Spirit of Saint-Louis» betrug etwa «179 Kilometer in der Stunde» (ebd.). Auch von dem großen Vertrauen, das Lindberghs «Mutter» (ebd.) in ihren Sohn setzte, war in der Tagespresse vielfach die Rede (vgl. oben, S. 6).

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Abb. 2: «Prager Presse» Nr. 158, 10.6.1927, S. 3 (Staatsbibliothek, Berlin).

 

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Abb. 4: «Prager Presse» Nr. 312, 13.11.1927, Beilage «Dichtung und Welt» Nr. 46, S. 1, Ausschnitt (Staatsbibliothek, Berlin).

Abb. 3: «Berliner Tageblatt» Nr. 245, 25.5. 1927, S. 3, Zusammenschnitt (Staatsbiblio-thek, Berlin).

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In  der  Literaturbeilage  der  «Prager  Presse»  erschien  dreieinhalb  Wochen  später  ein   ähnlicher   Heldensang   aus   der   Feder   des   weniger   bekannten   Feuilleton-­‐‑schriftstellers  Kurt  Offenburg.36  Ferner  druckten  der  «Bund»,  das  «Prager  Tag-­‐‑blatt»  und  die  «Prager  Presse»  bis  Ende  Juni  drei  Prosa-­‐‑Feuilletons,  die  sich  er-­‐‑zählerisch  oder  essayistisch  mit  Lindbergh  auseinandersetzten.37  Auf  diese  Tex-­‐‑te   kann   ich   hier   leider   nicht   näher   eingehen.   Es   spricht   aber   jedenfalls   für  Walsers   Professionalität,   dass   auch   er   sich   an   der   feuilletonistischen   Bewälti-­‐‑gung  dieses  öffentlichen  Ereignisses  beteiligte.  Vermutlich  ist  es  auch  kein  Zu-­‐‑fall,  dass  er  seine  Lindbergh-­‐‑Stücke  ausgerechnet  der  «Prager  Presse»  zusandte,  denn  dieses  Blatt  berichtete  viel  umfangreicher  und  leidenschaftlicher  über  das  Thema  Aviatik  als  die  anderen  von  mir  gelesenen  Organe.38  

IV.  

Auf   diesen  Umstand   ist   es   vielleicht   zurückzuführen,   dass  Walser   am   1.   Juli  1927  ein  weiteres  aviatisches  Gedicht  an  Otto  Pick  sandte.39  Die  Rede  ist  von  ei-­‐‑nem  Sonett   auf  den  verschollenen  Ozeanflieger  Nungesser.  Auch  von  diesem  Text  ist  neben  der  Druckfassung  und  der  Reinschrift  eine  Mikrogrammfassung  überliefert.40  Otto   Pick   gab   das  Gedicht   erst   am   13.  November   in   den  Druck.  Vielleicht  wollte  er  ein  wenig  Gras  über  Nungessers  Unglück  wachsen   lassen,  bevor  er   in  der  Literaturbeilage  der  «Prager  Presse»  solch  ein   frivoles  Gedicht  veröffentlichte,   in   dem   Walser   Nungessers   nahrhaften   Namen   zum   Anlass  nahm,  das  aviatische  Gebot  der  größtmöglichen  Gewichtsverringerung  zu  ver-­‐‑ulken.  Tatsächlich  hatten  Lindbergh  und  Nungesser  aus  Gewichtsgründen  so-­‐‑gar  darauf  verzichtet,  ein  Funkgerät  mit  an  Bord  zu  nehmen.  

Frivol  ist  an  diesen  Zeilen  allerdings  nicht  die  Form,  sondern  nur  ein  Teil  des  Inhalts   und   des  Wortbestands.41   Deshalb   ist   das  Nungesser-­‐‑Sonett   in  meinen  Augen  weniger   radikal   feuilletonistisch   gedichtet   als   die   früheren  Lindbergh-­‐‑

                                                                                               36 Vgl. Kurt Offenburg: «Der Ozeanflieger», in: «Prager Presse» Nr. 167, 19.6.1927, Beilage

«Dichtung und Welt» Nr. 25, S. 1. 37 Vgl. M.: «Lindbergh erwacht», in: «Der Bund» Nr. 223, 26.5.1927, S. 1; Robert Scheu:

«Chronik der Weltereignisse», in: «Prager Tagblatt» Nr. 133, 5.6.1927, S. 3; Reinecke: «Praeco Homerus», in: «Prager Presse» Nr. 173, 25.6.1927, S. 3.

38 Im Übrigen verfügte die «Prager Presse» über einen außerordentlich reichhaltigen Kulturteil, der thematisch und typografisch ausgesprochen viele Berührungspunkte mit dem politischen Teil aufwies. Diese Besonderheiten rührten vermutlich daher, dass dieses staatlich subventionierte Blatt zur Integration des deutschsprachigen Bevölkerungsteils in die tschechische Republik beitragen sollte (vgl. Pavel Doležal: «G. Masaryk, Max Brod und das Prager Tagblatt (1918–1938)», Frankfurt am Main 2004, S. 36; 40; 42; 322; Kurt Ifkovits: «Robert Walsers Prager Spuren», in: Wolfram Groddeck u.a. (Hgg.): «Robert Walsers ‹Ferne Nähe›. Neue Beiträge zur Forschung», München 2007, S. 107–124, hier: S. 115–124).

39 Vgl. Walser 1979 (Anm. 26), S. 302; 420. 40 Vgl. «Prager Presse» Nr. 312, 13.11.1927, Beilage «Dichtung und Welt» Nr. 46, S. 1 (siehe Abb.

4; wiederabgedruckt in SW 13, S. 247f.); Text Nr. 2 auf Mikrogrammblatt 16 (Robert Walser-Archiv, Bern); AdB 4, S. 501; Sprünglin 2012, S. 176.

41 Im Gegensatz zu saloppen Formen war eine solche Kombination von traditionellen Formen mit alltäglicher Thematik, umgangssprachlichem Vokabular und unterhaltsamem Humor durch Lyriker wie Heinrich Heine, Kurt Tucholsky, Joachim Ringelnatz und Erich Kästner schon damals weit verbreitet.

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Verse.  Davon   abgesehen   zeigt   das   Sonett,   dass   der   späte  Walser   durchaus   in  der  Lage  war,  auch  im  Korsett  strenger  metrischer  und  klanglicher  Konventio-­‐‑nen  eine  beachtliche  Virtuosität  zu  entfalten.  

V.  

Im  Juli  und  August  ebbte  die  Aviatik-­‐‑Begeisterung  in  der  Tagespresse  langsam  ab.   Am   6.   September   verkündete   die   «Prager   Presse»   schließlich,   dass   1927  wohl  «kein  Atlantikflug»  mehr  stattfinden  könne,  weil  die  «Wetterlage»  schon  «zu  ungünstig»  war.42  Das  war  ärgerlich,  vor  allem,  weil  nach  mehreren  erfolg-­‐‑reichen  Ost-­‐‑West-­‐‑Überquerungen  noch  immer  kein  Direktflug  von  Europa  nach  Amerika  gelungen  war.  In  eben  diesen  Septembertagen  verfasste  Robert  Walser  den  Prosatext   «Das  Drama»,  der  wie  die   zuvor  besprochenen  Texte   in  abwei-­‐‑chenden   Fassungen   als  Minischrift,   Reinschrift   und  Zeitungsdruck   überliefert  ist.43  Der  Aufsatz  mag  auf  den  ersten  Blick  wirken,  als  bestehe  er  aus  einzelnen  Bruchstücken,  die  teils  keinen  nennenswerten  inhaltlichen  Zusammenhalt  auf-­‐‑weisen.  Ein  zweiter  Blick   lässt   jedoch  erkennen,  dass  sich  das  Thema  Natur  &  Kultur   als   eine   Art   starker   roter   Faden   durch   das   Textgewebe   zieht.   Das   gilt  schon   für   den   Einleitungssatz:   «Kinder,   die   mich   zum   Spielen   in   prächtigen  Gärten  einluden,  inspirierten  mich  zu  Aufsätzen,  die  mir  zum  Selbstwiederauf-­‐‑bau  dienten,  indem  ich  vom  Springen  im  Freien  gekräftigt  in  die  kultivierte  Tä-­‐‑tigkeit  eintrat»  (SW  19,  S.  226f.).  

Im  Folgenden  erinnert  der  Essay  motivisch  an   Jwan  Golls  «Ode  an  Charles  Lindbergh»,   denn   auch   hier   wird   das   aufstrebende,   natürliche   Amerika   dem  traditionsstolzen,  kultivierten  Europa  gegenübergestellt:  

Auf   Amerika   blickte   ja   Europa   lange   genug   mit   maßvoller   Verächtlichkeit   sozusagen  herab,  als  sei  es  eine  Ausgemachtheit,  daß  der  Natur  Bildung  fehle  […].  Indessen  scheint  die  Zeit,  worin  wir   leben,  gezeigt   zu  haben,  daß  es   amerikanischer  Wesensart  geglückt  sei,   in   die   europäischen   Salons   einzudringen,  mit   andern  Worten,   der   scheinbar   etwas  Eingebildeten  […]  einen  auf  dem  Luftweg  eingeleiteten  Besuch  abzustatten,  der  unerwi-­‐‑dert  blieb  (SW  19,  S.  227).  

Den   Siegeszug   «amerikanischer   Wesensart»   (ebd.)   bezeichnete   man   damals  auch  als  «Amerikanismus».44  Wie  aus  einigen  Amerikanismus-­‐‑Artikeln  des  Jah-­‐‑res   1927   hervorgeht,  waren   es   unter   anderem   die   amerikanische  Demokratie,  das  Wirtschaftssystem,  der  Jazz  und  die  Filme  Charlie  Chaplins,  die  damals  in  Europa  geliebt  und  geschätzt  wurden.  Der  Amerikanismus-­‐‑Diskurs  ist  für  das  Verständnis  von  Walsers  Prosastück  von  Belang,  denn  es  heißt  dort  unter  ande-­‐‑rem:  

                                                                                               42 «Prager Presse» Nr. 245, 6.9.1927, S. 2. 43 Vgl. Text Nr. 4 auf Mikrogrammblatt 74 (Robert Walser-Archiv, Bern), datiert auf «September

1927» (AdB 4, S. 506); vgl. auch Sprünglin 2012, S. 28; «Prager Presse» Nr. 186, 12.7.1931, Beilage «Dichtung und Welt» Nr. 28, S. 3 (wiederabgedruckt in SW 19, S. 226ff.).

44 «Prager Tagblatt» Nr. 87, 13.4.1927, S. 1; «Prager Presse» Nr. 117, 29.4.1927, S. 4; «Der Bund» Nr. 195, 7./8.5.1927, S. 1; «Neue Zürcher Zeitung» Nr. 867, 23.5.1927, S. 2.

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Durch   eine  gewisse  Tölpelhaftigkeit   zeichnete   sich   auf  der   einen  Seite  der  Amerikanis-­‐‑mus  aus,  während  sich  in  anderer  Hinsicht  im  Gesicht  des  Europäismusses  graziöse  Töl-­‐‑pelhaftigkeitspflästerchen  schicklichkeitsmäßig  abzeichneten  (SW  19,  S.  228).  

Wie  soll  man  diesen  seltsamen  Satz  verstehen?  Folgt  man  dem  Sprachgebrauch  der  damaligen  Tagespresse,  dann  hat  man  unter  Amerikanismus  die  europäische  Amerikabegeisterung   zu   verstehen.   Dass   dieser   Amerikanismus   im   Falle   des  verunglückten  Nungesser  tölpelhaft  war,  klingt  einleuchtend.  Schließlich  koste-­‐‑te  der  Amerikaflug  den  französischen  Piloten  das  Leben.  Umgekehrt  bezeichne-­‐‑te  man  mit  dem  Ausdruck  Europäismus  die  amerikanische  Europabegeisterung.  Diese  gipfelte  1927  in  Lindberghs  erfolgreichem  Europabesuch.  Dass  der  ame-­‐‑rikanische  Flieger  für  diese  Leistung  nicht  nur  in  seiner  Heimat,  sondern  auch  in   Paris   wie   ein   Volksheld   gefeiert   wurde,   rührte   vor   allem   daher,   dass   die  französische  Bevölkerung  eine  ungeheure  Anteilnahme  an  Nungessers  Rekord-­‐‑versuch   genommen   hatte.   Nach   dem   Ausbleiben   einer   verlässlichen   Erfolgs-­‐‑meldung   war   diese   Anteilnahme   zunächst   in   Wut   und   Enttäuschung   umge-­‐‑schlagen.  In  dieser  Situation  kam  die  Nachricht  von  Lindberghs  geglücktem  At-­‐‑lantikflug   einer   Erlösungsbotschaft   gleich.   So  wurden   die  Wunden,   die  Nun-­‐‑gessers  amerikanistische  Tölpelhaftigkeit  geschlagen  hatte,  mit  einem  europäis-­‐‑tischen  Trostpflästerchen  bedeckt.45  

Der   Essay   schließt  mit   den  Worten:   «Für  mich   sowohl  wie   vermutlich   für  andere  hat  dies  beinahe  etwas  von  einem  Drama»  (ebd.).  Tatsächlich  liest  sich  die  Berichterstattung  rund  um  Nungesser,  Lindbergh  und  den  Orteig-­‐‑Preis  wie  ein   Drama  mit   Heldenfiguren,   Peripetie,   Jammer,   Schaudern   und   allem,   was  seit   Aristoteles   dazugehört.46   Hier   ist   nicht   der  Ort,   dieses   historische  Drama  anhand   von   Zeitungsmeldungen   zur  Aufführung   zu   bringen.  Allerdings  war  der  Lindbergh-­‐‑Mythos   schon  den  ersten  Lesern  von  Walsers  Prosastück  nicht  mehr  unmittelbar  präsent,  denn  die  «Prager  Presse»  druckte  den  Text  erst  am  12.  Juli  1931,  als  nicht  nur  Lindberghs  Heldentat,  sondern  auch  der  erste  Direkt-­‐‑flug  von  Europa  nach  Amerika  zeitungsmäßig  schon  lange  Schnee  von  gestern  waren.47   Nichtsdestotrotz   hoffe   ich,  mit   dem   vorliegenden  Aufsatz   zeigen   zu  können,  dass  ein  Ausflug  in  die  Zeitungslandschaft  der  Zwischenkriegszeit  für  die  Walser-­‐‑Forschung   unter   Umständen   einen   erhellenden   und   erquicklichen  Zeitvertreib  bilden  kann.  

                                                                                               45 Vgl. insgesamt «Prager Presse» Nr. 127–130, 9.–12.5.1927; Nr. 158, 10.6.1927, S. 3; «Neue

Zürcher Zeitung» Nr. 773, 9.5.1927, S. 2; Nr. 851, 21.5.1927, S. 2; Nr. 862, 23.5.1927, S. 1; «Der Bund» Nr. 198, 10.5.1927, S. 1; «Berliner Tageblatt» Nr. 240, 22.5.1927, S. 1; Bak 2011 (Anm. 2), S. 270–273.

46 Vgl. Aristoteles: «Poetik. Griechisch / deutsch», übers. und hg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1994.

47 Vgl. Bak 2011 (Anm. 2), S. 246–263.