Upload
others
View
0
Download
0
Embed Size (px)
Citation preview
1
Hendrik Stiemer: Robert Walsers Atlantiküberquerungen. Ein Ausflug in die
Zeitungslandschaft der Zwischenkriegszeit Vortrag an der Jahrestagung der Robert Walser-Gesellschaft in Berlin, 19.10.2013
I.
Am 20. Mai 1927 meldete das «Berliner Tageblatt», dass der Amerikaner Charles Lindbergh am frühen Morgen zu einem Direktlug von New York nach Paris gestartet war.1 Es handelte sich um einen todesmutigen Rekordversuch, für dessen Gelingen der französischstämmige New Yorker Hotelier Raymond Orteig schon 1919 einen Preis von 25.000 Dollar ausgesetzt hatte.2 In den nächs-‐‑ten Tagen folgten weitere Lindbergh-‐‑Schlagzeilen auf der Titelseite: «Lindbergh über offenem Ozean. / Tausend Kilometer östlich Neufundland gesichtet. – Bis-‐‑her glatter Verlauf des Fluges. / Der ‹fliegende Narr› unterwegs».3 Wegen seines Wagemuts wurde Lindbergh schon vor seinem Atlantikflug «the flying fool»4 genannt. Am 23. Mai konnte die «Prager Presse» vermelden: «Ozeanflieger Lindbergh – der Held des Tages».5 Die darauffolgenden Unterartikel berichte-‐‑ten, dass der Rekordflieger bei seiner Landung von fast 200.000 Schaulustigen empfangen wurde, dass der Ansturm auf den Flughafen ganz Paris in ein Ver-‐‑kehrschaos stürzte und dass Lindberghs Flugzeug beschädigt wurde, weil der Mopp sich vor den Augen der hilflosen Polizei mit Messern Andenken von der Maschine herunterschnitt.6
In diesen Tagen nahm Robert Walser in Bern den Bleistift zur Hand und no-‐‑tierte auf der Rückseite eines Absagebriefs der Satirezeitschrift «Simplicis-‐‑simus» in winzigen Sütterlin-‐‑Buchstaben ein Gedicht und ein Prosastück.7 We-‐‑nig später schrieb er die beiden Texte mit der Feder ins Reine.8 Dabei veränder-‐‑
1 Vgl. «Berliner Tageblatt» Nr. 237, 20.5.1927, S. 1. 2 Vgl. Richard Bak: «The Big Jump. Lindbergh and the Great Atlantic Air Race», Hoboken
(New York) 2011, S. 23–34. 3 «Berliner Tageblatt» Nr. 239, 21.5.1927, S. 1. 4 Ebd. 5 «Prager Presse» Nr. 141, 23.5.1927, S. 1. 6 Vgl. ebd., S. 1f. 7 Vgl. Text Nr. 2 und 3 auf Mikrogrammblatt 51 (Robert Walser-Archiv, Bern); Robert Walser:
«Aus dem Bleistiftgebiet. Mikrogramme 1924–1933», im Auftrag des Robert Walser-Archivs der Carl Seelig-Stiftung (Zürich) entziffert und hg. von Bernhard Echte und Werner Morlang, Frankfurt am Main 1985ff.; Zitate aus dieser Ausgabe werden in Klammern mit der Sigle AdB nachgeführt, hier: AdB 6, S. 753. Die vier Mikrogramme, die ich im vorliegenden Aufsatz erwähne, wurden bisher noch nicht in entzifferter Form publiziert. Allerdings gewährte mir Chris Walt vom Projekt «Kritische Robert Walser-Ausgabe» dankenswerterweise Einblicke in seine laufenden Entzifferungsarbeiten. Das mehrspaltige Schriftbild, das diese und andere Mikrogrammblätter aufweisen, rührt in meinen Augen nicht daher, dass Walser eine «mikrographische Privatzeitung» anfertigte (Peter Utz: «Tanz auf den Rändern. Robert Walsers ‹Jetztzeitstil›», Frankfurt am Main 1998, S. 355–358). In der Regel ergibt sich die Mehrspaltigkeit aus den Zeilenwechseln, die Walser am Ende seiner Gedichtverse vorzunehmen pflegte.
8 Die Reinschriftmanuskripte befinden sich heute im Museum des nationalen Schrifttums in Prag (vgl. Matthias Sprünglin: «Elektronisches Findbuch der Kritischen Robert Walser-Ausgabe. Version 3», S. 46; 164, in: Robert Walser: «Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und
2
te er da und dort den Wortlaut, und er fügte die Überschriften «Lindbergh» und «Der Flieger» hinzu. Die Reinschriften schickte er an Otto Pick, den Feuille-‐‑tonchef der Tageszeitung «Prager Presse». Bislang glaubten wir in der Walser-‐‑Forschung, Otto Pick hätte das Gedicht «Lindbergh» nie zum Druck befördert. Ich bin bei einer Recherche im Zeitungsarchiv der Berliner Staatsbibliothek je-‐‑doch darauf gestoßen, dass der Text acht Tage nach Lindberghs Landung veröf-‐‑fentlicht wurde. Er erschien am 29. Mai auf Seite 4 der «Prager Presse», aller-‐‑dings nicht in der Feuilletonrubrik unter dem Strich, sondern im oberen Seiten-‐‑bereich zwischen aktuellen Meldungen in der Rubrik «Tagesbericht».9
Dieser Druckort mag auf den ersten Blick ungewöhnlich wirken. Bei einer näheren Betrachtung erweist er sich jedoch als durchaus passend, denn es han-‐‑delt sich tatsächlich um ein tagesaktuelles journalistisches Gedicht. Dafür spricht schon der Umstand, dass sich auf dieser Zeitungsseite fast alle Artikel mit dem Thema Luftfahrt befassen. Zunächst trifft man auf einen großen Arti-‐‑kel zur laufenden «Internationalen Flugausstellung»10 in Prag. Im mittleren Sei-‐‑tenbereich wird ein «bedeutsamer Erfolg der tschechoslowakischen Flugzeug-‐‑industrie»11 vermeldet. Unmittelbar unter Walsers Gedicht wird über Lind-‐‑berghs Weiterreise von Paris nach London informiert. Danach beginnt ein Be-‐‑richt über den italienischen Rekordflieger Francesco de Pinedos. Walsers Lind-‐‑bergh-‐‑Verse lauten:
Lindbergh. / Von Robert Walser
O, wie blüh’n Kastanienkerzen reizend nun in Gärten von Administrationen. Wenn sich’s würde lohnen, unternähm‘ ich jetzt eine Reise zu Fuß. Ob denn aber immer etwas muß erlebt, geschrieben werden? Ihre Schmerzen, als ich beschäftigt war, mit ihr zu scherzen, trug mir eine Mutter vor aus beengtem Herzen. Weil ich in gewissem Sinn etwas wie eine Anerkanntheit bin, fliegen Zeitschriftnummern gratis zu mir hin.
Manuskripte», hg. von Wolfram Groddeck und Barbara von Reibnitz, Basel/Frankfurt am Main 2008ff., Bd. 1–3).
9 «Prager Presse» Nr. 147, 29.5.1927, S. 4 (siehe Abb. 1, S. 3). Die Qualitätsmängel sind auf den Zustand des Originals zurückzuführen, nicht auf den Mikrofilm der Staatsbibliothek oder meine Reproduktion.
10 Ebd. 11 Ebd.
3
Abb. 1: «Prager Presse» Nr. 147, 29.5.1927, S. 4 (Staatsbibliothek, Berlin).
4
Abgesehen jedoch davon, daß es hübsch ist, wenn Dienstmädchen Schuhe schwärzen, machte mich Nordamerikas Sohn, dem mit fünfundzwanzig Jahren schon so Großes gelang, sehr anspruchsvoll, vor Begeisterung, ob seinem Schwung, sozusagen zunächst ganz toll, mir mit Kunst und so weiter keiner kommen soll!12
Es mag sein, dass sich manch ein Ästhetizist bei der Lektüre dieser Verse die Haare raufen wird. Als ich vor drei Jahren auf der Jahrestagung der Robert Walser-‐‑Gesellschaft in Bern einen Vortrag hielt, glaubte ich noch, der späte Walser habe im Feuilleton absichtlich schlecht gedichtet, um die Geltungsan-‐‑sprüche der hohen Lyrik zu verspotten.13 Heute glaube ich das nicht mehr, auch wenn ich nach wie vor die Ansicht vertrete, dass der Autor mit der saloppen Form der Spätlyrik sein Dasein als Feuilletonist zur Schau stellte.
Tatsächlich ist das Lindbergh-‐‑Gedicht in vierfacher Hinsicht ein Feuilleton-‐‑gedicht. Erstens erschien es in einer Tageszeitung. Zweitens enthält es zahlrei-‐‑che Bezüge auf die Lindbergh-‐‑Berichterstattung in der Tagespresse. Von «Ad-‐‑ministrationen» (SW 13, S. 144) ist beispielweise die Rede, weil Lindbergh nach seinem Rekordflug einen regelrechten Marathon durch Botschaften, Staatsresi-‐‑denzen und andere Administrationsgebäude absolvierte.14 Die «Kastanienker-‐‑zen» (ebd.), die in den dortigen Gärten blühen, lese ich als Personifikation des «erst 25jährigen»15 Lindbergh, der bei den offiziellen Empfängen in seiner Hel-‐‑denrolle sichtlich aufblühte. Die Rede von einer «Reise», die sich «lohnen» (ebd.) soll, spielt auf den Orteig-‐‑Preis an, dessen Dotierung heute wohl einem Gegenwert von rund 260.000 Euro entspräche.16 Die Frage, ob «denn immer et-‐‑was muß / erlebt, geschrieben werden» (SW 13, S. 145), liest sich wie ein kriti-‐‑scher Kommentar zu den zahlreichen Zeitungsberichten, in denen die banalsten Erlebnisse rund um Lindberghs Rekordflug breitgetreten wurden.17 Dass der Sprecher des Gedichts erklärtermaßen mit einer «Mutter» «scherzte», als diese ihm ihren «Herz»-‐‑«Schmerz» (ebd.) vortrug, verweist wohl auf einen der vielen Zeitungsartikel, die berichteten, wie Lindbergh am Tag nach seinem großen 12 Ebd.; wiederabgedruckt in Robert Walser: «Sämtliche Werke in Einzelausgaben», hg. von
Jochen Greven, Frankfurt am Main/Zürich 1985f.; Zitate aus dieser Ausgabe werden in Klammern mit der Sigle SW nachgeführt, hier: SW 13, S. 144f.
13 Vgl. Hendrik Stiemer: «Feuilletonistische Reimereien auf ‹anspruchsvolle Jungen› und ‹hochgeschätzte Knaben›. Der späte Robert Walser und die hohe Lyrik». Vortrag an der Jahrestagung der Robert Walser-Gesellschaft in Bern, 16.10.2010,
http://www.robertwalser.ch/fileadmin/redaktion/dokumente/jahrestagungen/vortraege/Stiemer10.pdf.
14 Fünf Tage nach der Landung schrieb die «Neue Zürcher Zeitung» lakonisch: «Die Empfänge zu Ehren Lindberghs nehmen ihren unerbittlichen Fortgang» («Neue Zürcher Zeitung» Nr. 885, 27.5.1927, S. 2).
15 Vgl. «Neue Zürcher Zeitung» Nr. 862, 23.5.1927, S. 2. 16 Vgl. Bak 2011 (Anm. 2), S. 29. Angeblich kommentierte Lindbergh seinen Rekordflug mit den
Worten: «Ich habe nur eine kleine Reise gemacht» («Prager Presse» Nr. 144, 26.5.1927, S. 4). 17 Vgl. dazu Hans Natonek: «Die Werkstatt des Ruhms. Eine Studie zu Lindberghs Triumph»,
in: «Neue Zürcher Zeitung» Nr. 943, 5.6.1927, S. 1.
5
Triumph die Mutter des französischen Fliegers Nungesser besuchte.18 Diese Mutter musste tatsächlich gerade einen Schmerz bewältigen, denn Charles Nungesser war zwei Wochen früher zu einem Direktflug von Paris nach New York gestartet und galt seitdem als verschollen.
Drittens ist «Lindbergh» auch formal als Feuilletongedicht konzipiert, denn Walser schlägt hier einen Plauderton an, wie er für den sogenannten feuilleto-‐‑nistischen Stil der Kurzprosa des frühen 20. Jahrhunderts als typisch galt. Mei-‐‑nes Erachtens unternahm Walser in den zwanziger Jahren den Versuch, diesen feuilletonistischen Plauderstil auch auf dem Gebiet der Lyrik zu etablieren.19 Dass es sich bei «Lindbergh» um Lyrik handelt, lässt sich schon am Zeilenfall und an den Endreimen erkennen. Die Verslängen und die Reime erscheinen aber so unsystematisch und die gedanklichen Sprünge so wild, dass das Ganze wirkt, als sei es beinahe gedankenlos dahingeplaudert. Dazu kommen Ausdrü-‐‑cke und Vokalauslassungen, die nicht zu einer Glättung des Versmaßes führen, sondern umgangssprachlich wirken. Die saloppe Form entspringt allerdings keinem Unvermögen und auch keiner «clownesken Gedichtästhetik».20 Walser machte sich diesen lyrischen Plauderton zu eigen, weil er ihn für feuilletontaug-‐‑licher hielt als den sogenannten hohen Ton.
Viertens ist «Lindbergh» ein Feuilletongedicht, weil der Autor darin sein Selbstverständnis als dichtender Journalist zum Ausdruck bringt.21 So spielt die Behauptung, dass «Zeitschriftnummern gratis» zu ihm hin «fliegen», darauf an, dass Walser zu dieser Zeit nicht zu den unsterblichen Dichtern zählte, sondern als Mitarbeiter des kurzlebigen Literaturbetriebs nur «in gewissem Sinn» eine «Anerkanntheit» (ebd.) war.22 Es ist in diesem Zusammenhang gut zu wissen, dass sich seinerzeit neben Lindbergh noch eine ganze Reihe älterer, berühmte-‐‑rer Piloten an einem Direktflug zwischen New York und Paris versuchten.23 Am 24. Mai schrieb ein Kommentator in der «Prager Presse»:
Man stelle sich vor, welche Schwierigkeiten sich einem jungen, unbekannten Flieger in Europa entgegengetürmt hätten, […] wie stark das Gefühl traditioneller Minderwertig-‐‑
18 In der Presse kursierten abweichende Versionen dieser Anekdote, die teils wenig glaubhaft
wirken (vgl. «Prager Presse» Nr. 141, 23.5.1927, S. 1; «Berliner Tageblatt» Nr. 241, 23.5.1927, S. 4; «Neue Zürcher Zeitung» Nr. 864, 23.5.1927, S. 1f).
19 Vgl. Hendrik Stiemer: «Über scheinbar naive und dilettantische Dichtung. Text- und Kontextstudien zu Robert Walser», Würzburg 2013, S. 239–244.
20 Vgl. Stiemer 2010, S. 11. 21 In einem Mikrogramm, das sich als Brief an eine «sehr verehrte Frau» ausgibt und mit den
Worten «Gestatten Sie mir» beginnt, heißt es: «Ich bin Schriftsteller und Literaturverständiger […]. Hie und da fühle ich mich ein ganz klein wenig beschäftigungslos, im allgemeinen aber bin ich fleißig, indem ich in- sowohl wie ausländische Blätter, d. h. Zeitungen mit klein(er)en oder größeren, bescheidenen oder bedeutenden Artikeln bediene. Wenn Sie wollen, dürfen Sie mich also für einen Journalisten halten, in gewisser Hinsicht aber ebensogut für einen Dichter, denn der Journalismus, den ich treibe, enthält eine vorwiegend dichterische Note» (AdB 4, S. 63; vgl. Utz 1998 [Anm. 7], S. 300).
22 Vgl. dazu Almut Todorow: «‹Wollten die Eintagsfliegen in den Rang höherer Insekten aufsteigen?› Die Feuilletonkonzeption der ‹Frankfurter Zeitung› während der Weimarer Republik im redaktionellen Selbstverständnis», in: «Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte» 62 (1988), S. 697–740; Utz 1998 (Anm. 7), S. 295–368.
23 Vgl. «Neue Zürcher Zeitung» Nr. 814, 15.5.1927, S. 2; Bak 2011 (Anm. 2), S. 101–183.
6
keit gegenüber älteren und erfahreneren Kollegen auf ihm gelastet hätte. Und man ver-‐‑gleiche damit die Selbstverständlichkeit, mit der Amerika Lindbergh sein Glück probie-‐‑ren läßt.24
Wenn es Lindbergh möglich war, den traditionellen Hierarchien zum Trotz die Herzen Europas zu erobern, konnte dann nicht auch Walser mit seinen unkon-‐‑ventionellen Plaudergedichten literarische Ansprüche erheben? Sollte er nicht auch «anspruchsvoll» (ebd.) auftreten dürfen? Die Rede ist von ideellen An-‐‑sprüchen und nicht von ökonomischem Reichtum, der die Bezahlung von «Dienstmädchen» (ebd.) ermöglichen würde. Nach meiner Lesart erklärt sich aus diesem Gedankengang die «Begeisterung», von der im Gedicht die Rede ist, denn es ist nicht die eigene «Kunst» (ebd.), die im letzten Vers verabschiedet wird. Es ist die traditionelle hohe Dichtkunst, die der Feuilletonlyriker Robert Walser hier von sich weist.
Wie meine Deutungsversuche erkennen lassen, ist «Lindbergh» alles andere als leicht verständlich. Es steht außer Frage, dass auch andere Lesarten möglich sind.25 Das Gedicht ist in dieser Hinsicht allerdings kein Einzelfall. Der Großteil von Walsers Spätlyrik steckt voller Andeutungen und Anspielungen. In einem Brief an Max Rychner, in dem es um die Frage geht, wie ein schönes Gedicht aussehen sollte, reflektierte Walser diese Anspielungsästhetik. Es heißt dort un-‐‑ter anderem: «Aus den Unausgesprochenheiten entwickelt sich das Gestaltli-‐‑che».26 Das «Gestaltliche», das Walser auch den «Gedichtkörper»27 nennt, be-‐‑zeichnet hier nicht die Form, sondern den Äußerungsgehalt des Gedichts. Die-‐‑ser Gehalt soll nur angedeutet und nicht als Klartext ausgesprochen werden.28
II.
Auch die Seite der «Prager Presse», auf der knapp zwei Wochen später das Pro-‐‑sastück «Der Flieger» (SW 19, S. 228–231) erschien, war fast ausnahmslos der Aviatik gewidmet. Sie enthielt einen weiteren langen Bericht zur Prager Flug-‐‑ausstellung, einen Artikel über den Flieger Chamberlin, der zwei Wochen nach Lindbergh von New York nach Deutschland flog, ein Balkendiagramm, das die geltenden aviatischen Langstreckenrekorde verzeichnete, und andere kleine Meldungen zur Luftfahrt.29 Walsers «Flieger» befindet sich diesmal standesge-‐‑mäß unter dem Strich in der Rubrik «Feuilleton».30 Auch dieser Text enthält zahl-‐‑
24 «Prager Presse» Nr. 142, 24.5.1927, S. 1. 25 Vgl. Urs Allemann: «Der okkupierte Himmel», in: Robert Walser: «Der Schnee fällt nicht
hinauf», hg. von Urs Allemann, Frankfurt am Main/Leipzig 2009, S. 71f.; Gonçalo Vilas-Boas: «Himmlische ‹Spazierfahrten›, Aviatische Texte von Franz Kafka und Robert Walser», in: Vesna Kondrič Horvat (Hg.): «Franz Kafka und Robert Walser im Dialog», Berlin 2010, S. 135–150.
26 Vgl. Robert Walser: «Briefe», hg. von Jörg Schäfer unter Mitarbeit von Robert Mächler, Zürich 1979, S. 267 (Brief Walsers an Rychner vom 18.3.1926).
27 Ebd., S. 266. 28 Vgl. Stiemer 2013, S. 200ff. 29 Vgl. «Prager Presse» Nr. 158, 10.6.1927, S. 3 (siehe Abb. 2, S. 8). 30 Ebd.
7
reiche Stichworte und Motive, die zuvor durch die Tagespresse gegeistert wa-‐‑ren. So bezeichnet er Lindbergh, dessen Name allerdings nicht explizit genannt wird, als den «Helden des Tages» und als «Narr» (SW 19, S. 229f.; vgl. oben, S. 1). Schon die «Martialismus»-‐‑Kommentare zu Beginn des Aufsatzes spielen auf die Lindbergh-‐‑Berichterstattung an, wo nicht ohne Grund die Meinung kursier-‐‑te, dass der ruhmesträchtige Rekordflug ohne die Wettkampfmentalität, die der Orteig-‐‑Preis geschürt hatte, undenkbar gewesen wäre.31 Dass Walser auf die «Mutter» (SW 19, S. 229) des Fliegers zu sprechen kam, lässt sich ebenfalls als ein Zeitungsecho verstehen, denn Lindberghs Mutter und das große Vertrauen, das sie in ihren Sohn setzte, wurden in der damaligen Tagespresse gerne er-‐‑wähnt.32 Die Frage, ob man im «Helden des Tages» einen «von längst aus dem Wirkungskreis verschwundenen Seefahrern Abstammenden» (ebd.) zu erbli-cken habe, knüpft schließlich an einen Artikel an, der in der gleichen Zeitungs-ausgabe wie Walsers Lindbergh-Gedicht erschienen war. Dort war der Rekord-flieger mit «Christopherus Columbus»33 verglichen worden.
Im Gegensatz zum früheren Lindbergh-Gedicht beging Walser in «Der Flie-ger» indes keinen Schulterschluss mit dem jungen Piloten. Stattdessen über-‐‑schüttete er dessen Heldentat mit humorvoller schweizerischer Kritik:
Heute sprach ich zu mir, eigentlich sei jeder, der sich seines Lebens harmlos drauflos-‐‑freue, ein vollendeter Löl. […] Statt des Ausdruckes ‹Löl› bedienen sich manche in einem Lande, das sich eines Gastfreundschaftsberufes erfreut, und worin unter anderem auch ich mich aufhalten darf, gern des Charakterisierungswortes ‹dummer Geib›. Höflich klingt weder erstere noch letztere Sprechweise […]. Paradiesvogelhaft flog er über den weitausgespannten, sich nicht durchweg glatt und ruhig verhaltenden Wiesenteppich hin, der den historischen Titel Meer trägt, der Narr oder Löl, der vielleicht insofern Löl genannt werden dürfte, als er mit einer an Übermut grenzenden Tapferkeit mit der un-‐‑leugbaren Kostbarkeit seines Lebens spielte (SW 19, S. 229f.).
Der Schluss des Aufsatzes nimmt das öffentlichkeitswirksame Auftreten Lind-‐‑berghs aufs Korn:
Wenn sich beispielsweise jemand wichtig macht, so hat er, volkstümlich gesprochen ‹ei-‐‑nen Vogel›. Man darf in Wirklichkeit nach Belieben wichtig sein; demgemäß aufzutreten
31 «Das kühne Unternehmen mit seinen furchtbaren Gefahren imponierte den Massen wie den
Sachverständigen. Der Wettbewerb zwischen den amerikanischen und französischen Fliegern erhöhte die Spannung noch» («Der Bund» Nr. 198, 10.5.1927, S. 1; vgl. auch Bak 2011 (Anm. 2), S. 101–183). Das Wort ‹Martialismus› geht auf den Kriegsgott Mars zurück. Tatsächlich schloss Walser am 13. April 1927 einen «Brief» an Max Rychner mit «martialischem Gruß» (SW 19, S. 28). In diesem Fall spielt der Ausdruck darauf an, dass Walser seinerzeit darum kämpfte, seine unkonventionellen Gedichte zu veröffentlichen. Kurz zuvor hatte Rychner offenbar gezögert, vier bereits angenommene Walser-Gedichte in seiner Zeitschrift «Neue Schweizer Rundschau» abzudrucken. In einem Brief an Otto Pick vom 17. Mai 1927, in dem es um das Ringen nach literarischer Anerkennung geht, äußerte Walser die «Meinung», «es müsse stets» etwas «wie Kampf oder Krieg in der Welt sein, was ein Mittel sei, si[ch] vor dem Einschlafen zu bewahren» (vgl. insgesamt Walser 1979 [Anm. 26], S. 267; 294ff.; 415; 419).
32 Vgl. «Prager Tagblatt» Nr. 120, 21.5.1927, S. 3; «Berliner Tageblatt» Nr. 241, 23.5.1927, S. 4; «Prager Presse» Nr. 140, 22.5.1927, S. 5; Nr. 142, 24.5.1927, S. 2; Nr. 144, 26.5.1927, S. 5; vgl. auch unten, S. 9f.
33 F. C.: «Der atlantische Strichflug. Helden von heute», in: «Prager Presse» Nr. 147, 29.5.1927, S. 9; vgl. auch «Prager Tagblatt» Nr. 133, 5.6.1927, S. 3.
8
ist jedoch für andere nicht immer angenehm. In schönerem als in soeben angedeutetem Sinn lasse ich mit diesmaligem Aufsatz etwas wie einen Vogel zu Ihnen fliegen (SW 19, S. 230).
Mit Peter Utz könnte man vielleicht auch sagen: einen Brief für alle.
III.
Bei den Recherchen zu meinem Vortrag habe ich in sechs Tageszeitungen die Monate Mai bis September 1927 durchforstet. Die «Prager Presse», das «Prager Tagblatt», die «Frankfurter Zeitung» und das «Berliner Tageblatt» wurden ge-‐‑wählt, weil sie in diesem Zeitraum regelmäßig Walser-‐‑Texte druckten. Die «Neue Zürcher Zeitung» und den «Berner Bund» habe ich untersucht, weil Walser diese Blätter in Bern wahrscheinlich ab und zu gelesen hat. Wie man sich denken kann, bin ich darauf gestoßen, dass Walser nicht der einzige Feuil-‐‑letonist war, der sich über Lindberghs Atlantiküberquerung hermachte. Das frühste Lindbergh-‐‑Feuilleton, das ich gefunden habe, erschien schon vier Tage nach dem Rekordflug im «Berliner Tageblatt». Es trägt den Titel «Ode an Charles Lindbergh» und stammt von keinem Geringeren als «Jwan Goll».34 Die Ode weist auf den ersten Blick zwei Gemeinsamkeiten mit Walsers Lindbergh-‐‑Versen auf. Erstens wirkt sie formal sehr frei. Zweitens enthält sie zahlreiche Stichworte aus der Zeitungsberichterstattung.35 Goll verwob diese Stichworte mit Motiven aus der antiken Mythologie zu einem kulturgeschichtlichen Ge-‐‑dicht, demzufolge das jugendliche Amerika im Begriff war, dem bildungsstar-‐‑ren Europa weltgeschichtlich den Rang abzulaufen.
34 «Berliner Tageblatt» Nr. 245, 25.5.1927, S. 4 (siehe Abb. 3, S. 10). 35 Der fliegende Narr Charles Lindbergh war tatsächlich «blond» und hatte «blaue» (ebd.)
Augen. Sein Rekordflug, der auf dem New Yorker «Rooseveltfield» begann, dauerte etwa «33 Stunden» (ebd.). Er führte «Kaffee» (ebd.) mit sich, machte von dem Anregungsmittel aber keinen Gebrauch. Die Durchschnittsgeschwindigkeit seiner Maschine «Spirit of Saint-Louis» betrug etwa «179 Kilometer in der Stunde» (ebd.). Auch von dem großen Vertrauen, das Lindberghs «Mutter» (ebd.) in ihren Sohn setzte, war in der Tagespresse vielfach die Rede (vgl. oben, S. 6).
9
Abb. 2: «Prager Presse» Nr. 158, 10.6.1927, S. 3 (Staatsbibliothek, Berlin).
10
Abb. 4: «Prager Presse» Nr. 312, 13.11.1927, Beilage «Dichtung und Welt» Nr. 46, S. 1, Ausschnitt (Staatsbibliothek, Berlin).
Abb. 3: «Berliner Tageblatt» Nr. 245, 25.5. 1927, S. 3, Zusammenschnitt (Staatsbiblio-thek, Berlin).
11
In der Literaturbeilage der «Prager Presse» erschien dreieinhalb Wochen später ein ähnlicher Heldensang aus der Feder des weniger bekannten Feuilleton-‐‑schriftstellers Kurt Offenburg.36 Ferner druckten der «Bund», das «Prager Tag-‐‑blatt» und die «Prager Presse» bis Ende Juni drei Prosa-‐‑Feuilletons, die sich er-‐‑zählerisch oder essayistisch mit Lindbergh auseinandersetzten.37 Auf diese Tex-‐‑te kann ich hier leider nicht näher eingehen. Es spricht aber jedenfalls für Walsers Professionalität, dass auch er sich an der feuilletonistischen Bewälti-‐‑gung dieses öffentlichen Ereignisses beteiligte. Vermutlich ist es auch kein Zu-‐‑fall, dass er seine Lindbergh-‐‑Stücke ausgerechnet der «Prager Presse» zusandte, denn dieses Blatt berichtete viel umfangreicher und leidenschaftlicher über das Thema Aviatik als die anderen von mir gelesenen Organe.38
IV.
Auf diesen Umstand ist es vielleicht zurückzuführen, dass Walser am 1. Juli 1927 ein weiteres aviatisches Gedicht an Otto Pick sandte.39 Die Rede ist von ei-‐‑nem Sonett auf den verschollenen Ozeanflieger Nungesser. Auch von diesem Text ist neben der Druckfassung und der Reinschrift eine Mikrogrammfassung überliefert.40 Otto Pick gab das Gedicht erst am 13. November in den Druck. Vielleicht wollte er ein wenig Gras über Nungessers Unglück wachsen lassen, bevor er in der Literaturbeilage der «Prager Presse» solch ein frivoles Gedicht veröffentlichte, in dem Walser Nungessers nahrhaften Namen zum Anlass nahm, das aviatische Gebot der größtmöglichen Gewichtsverringerung zu ver-‐‑ulken. Tatsächlich hatten Lindbergh und Nungesser aus Gewichtsgründen so-‐‑gar darauf verzichtet, ein Funkgerät mit an Bord zu nehmen.
Frivol ist an diesen Zeilen allerdings nicht die Form, sondern nur ein Teil des Inhalts und des Wortbestands.41 Deshalb ist das Nungesser-‐‑Sonett in meinen Augen weniger radikal feuilletonistisch gedichtet als die früheren Lindbergh-‐‑
36 Vgl. Kurt Offenburg: «Der Ozeanflieger», in: «Prager Presse» Nr. 167, 19.6.1927, Beilage
«Dichtung und Welt» Nr. 25, S. 1. 37 Vgl. M.: «Lindbergh erwacht», in: «Der Bund» Nr. 223, 26.5.1927, S. 1; Robert Scheu:
«Chronik der Weltereignisse», in: «Prager Tagblatt» Nr. 133, 5.6.1927, S. 3; Reinecke: «Praeco Homerus», in: «Prager Presse» Nr. 173, 25.6.1927, S. 3.
38 Im Übrigen verfügte die «Prager Presse» über einen außerordentlich reichhaltigen Kulturteil, der thematisch und typografisch ausgesprochen viele Berührungspunkte mit dem politischen Teil aufwies. Diese Besonderheiten rührten vermutlich daher, dass dieses staatlich subventionierte Blatt zur Integration des deutschsprachigen Bevölkerungsteils in die tschechische Republik beitragen sollte (vgl. Pavel Doležal: «G. Masaryk, Max Brod und das Prager Tagblatt (1918–1938)», Frankfurt am Main 2004, S. 36; 40; 42; 322; Kurt Ifkovits: «Robert Walsers Prager Spuren», in: Wolfram Groddeck u.a. (Hgg.): «Robert Walsers ‹Ferne Nähe›. Neue Beiträge zur Forschung», München 2007, S. 107–124, hier: S. 115–124).
39 Vgl. Walser 1979 (Anm. 26), S. 302; 420. 40 Vgl. «Prager Presse» Nr. 312, 13.11.1927, Beilage «Dichtung und Welt» Nr. 46, S. 1 (siehe Abb.
4; wiederabgedruckt in SW 13, S. 247f.); Text Nr. 2 auf Mikrogrammblatt 16 (Robert Walser-Archiv, Bern); AdB 4, S. 501; Sprünglin 2012, S. 176.
41 Im Gegensatz zu saloppen Formen war eine solche Kombination von traditionellen Formen mit alltäglicher Thematik, umgangssprachlichem Vokabular und unterhaltsamem Humor durch Lyriker wie Heinrich Heine, Kurt Tucholsky, Joachim Ringelnatz und Erich Kästner schon damals weit verbreitet.
12
Verse. Davon abgesehen zeigt das Sonett, dass der späte Walser durchaus in der Lage war, auch im Korsett strenger metrischer und klanglicher Konventio-‐‑nen eine beachtliche Virtuosität zu entfalten.
V.
Im Juli und August ebbte die Aviatik-‐‑Begeisterung in der Tagespresse langsam ab. Am 6. September verkündete die «Prager Presse» schließlich, dass 1927 wohl «kein Atlantikflug» mehr stattfinden könne, weil die «Wetterlage» schon «zu ungünstig» war.42 Das war ärgerlich, vor allem, weil nach mehreren erfolg-‐‑reichen Ost-‐‑West-‐‑Überquerungen noch immer kein Direktflug von Europa nach Amerika gelungen war. In eben diesen Septembertagen verfasste Robert Walser den Prosatext «Das Drama», der wie die zuvor besprochenen Texte in abwei-‐‑chenden Fassungen als Minischrift, Reinschrift und Zeitungsdruck überliefert ist.43 Der Aufsatz mag auf den ersten Blick wirken, als bestehe er aus einzelnen Bruchstücken, die teils keinen nennenswerten inhaltlichen Zusammenhalt auf-‐‑weisen. Ein zweiter Blick lässt jedoch erkennen, dass sich das Thema Natur & Kultur als eine Art starker roter Faden durch das Textgewebe zieht. Das gilt schon für den Einleitungssatz: «Kinder, die mich zum Spielen in prächtigen Gärten einluden, inspirierten mich zu Aufsätzen, die mir zum Selbstwiederauf-‐‑bau dienten, indem ich vom Springen im Freien gekräftigt in die kultivierte Tä-‐‑tigkeit eintrat» (SW 19, S. 226f.).
Im Folgenden erinnert der Essay motivisch an Jwan Golls «Ode an Charles Lindbergh», denn auch hier wird das aufstrebende, natürliche Amerika dem traditionsstolzen, kultivierten Europa gegenübergestellt:
Auf Amerika blickte ja Europa lange genug mit maßvoller Verächtlichkeit sozusagen herab, als sei es eine Ausgemachtheit, daß der Natur Bildung fehle […]. Indessen scheint die Zeit, worin wir leben, gezeigt zu haben, daß es amerikanischer Wesensart geglückt sei, in die europäischen Salons einzudringen, mit andern Worten, der scheinbar etwas Eingebildeten […] einen auf dem Luftweg eingeleiteten Besuch abzustatten, der unerwi-‐‑dert blieb (SW 19, S. 227).
Den Siegeszug «amerikanischer Wesensart» (ebd.) bezeichnete man damals auch als «Amerikanismus».44 Wie aus einigen Amerikanismus-‐‑Artikeln des Jah-‐‑res 1927 hervorgeht, waren es unter anderem die amerikanische Demokratie, das Wirtschaftssystem, der Jazz und die Filme Charlie Chaplins, die damals in Europa geliebt und geschätzt wurden. Der Amerikanismus-‐‑Diskurs ist für das Verständnis von Walsers Prosastück von Belang, denn es heißt dort unter ande-‐‑rem:
42 «Prager Presse» Nr. 245, 6.9.1927, S. 2. 43 Vgl. Text Nr. 4 auf Mikrogrammblatt 74 (Robert Walser-Archiv, Bern), datiert auf «September
1927» (AdB 4, S. 506); vgl. auch Sprünglin 2012, S. 28; «Prager Presse» Nr. 186, 12.7.1931, Beilage «Dichtung und Welt» Nr. 28, S. 3 (wiederabgedruckt in SW 19, S. 226ff.).
44 «Prager Tagblatt» Nr. 87, 13.4.1927, S. 1; «Prager Presse» Nr. 117, 29.4.1927, S. 4; «Der Bund» Nr. 195, 7./8.5.1927, S. 1; «Neue Zürcher Zeitung» Nr. 867, 23.5.1927, S. 2.
13
Durch eine gewisse Tölpelhaftigkeit zeichnete sich auf der einen Seite der Amerikanis-‐‑mus aus, während sich in anderer Hinsicht im Gesicht des Europäismusses graziöse Töl-‐‑pelhaftigkeitspflästerchen schicklichkeitsmäßig abzeichneten (SW 19, S. 228).
Wie soll man diesen seltsamen Satz verstehen? Folgt man dem Sprachgebrauch der damaligen Tagespresse, dann hat man unter Amerikanismus die europäische Amerikabegeisterung zu verstehen. Dass dieser Amerikanismus im Falle des verunglückten Nungesser tölpelhaft war, klingt einleuchtend. Schließlich koste-‐‑te der Amerikaflug den französischen Piloten das Leben. Umgekehrt bezeichne-‐‑te man mit dem Ausdruck Europäismus die amerikanische Europabegeisterung. Diese gipfelte 1927 in Lindberghs erfolgreichem Europabesuch. Dass der ame-‐‑rikanische Flieger für diese Leistung nicht nur in seiner Heimat, sondern auch in Paris wie ein Volksheld gefeiert wurde, rührte vor allem daher, dass die französische Bevölkerung eine ungeheure Anteilnahme an Nungessers Rekord-‐‑versuch genommen hatte. Nach dem Ausbleiben einer verlässlichen Erfolgs-‐‑meldung war diese Anteilnahme zunächst in Wut und Enttäuschung umge-‐‑schlagen. In dieser Situation kam die Nachricht von Lindberghs geglücktem At-‐‑lantikflug einer Erlösungsbotschaft gleich. So wurden die Wunden, die Nun-‐‑gessers amerikanistische Tölpelhaftigkeit geschlagen hatte, mit einem europäis-‐‑tischen Trostpflästerchen bedeckt.45
Der Essay schließt mit den Worten: «Für mich sowohl wie vermutlich für andere hat dies beinahe etwas von einem Drama» (ebd.). Tatsächlich liest sich die Berichterstattung rund um Nungesser, Lindbergh und den Orteig-‐‑Preis wie ein Drama mit Heldenfiguren, Peripetie, Jammer, Schaudern und allem, was seit Aristoteles dazugehört.46 Hier ist nicht der Ort, dieses historische Drama anhand von Zeitungsmeldungen zur Aufführung zu bringen. Allerdings war der Lindbergh-‐‑Mythos schon den ersten Lesern von Walsers Prosastück nicht mehr unmittelbar präsent, denn die «Prager Presse» druckte den Text erst am 12. Juli 1931, als nicht nur Lindberghs Heldentat, sondern auch der erste Direkt-‐‑flug von Europa nach Amerika zeitungsmäßig schon lange Schnee von gestern waren.47 Nichtsdestotrotz hoffe ich, mit dem vorliegenden Aufsatz zeigen zu können, dass ein Ausflug in die Zeitungslandschaft der Zwischenkriegszeit für die Walser-‐‑Forschung unter Umständen einen erhellenden und erquicklichen Zeitvertreib bilden kann.
45 Vgl. insgesamt «Prager Presse» Nr. 127–130, 9.–12.5.1927; Nr. 158, 10.6.1927, S. 3; «Neue
Zürcher Zeitung» Nr. 773, 9.5.1927, S. 2; Nr. 851, 21.5.1927, S. 2; Nr. 862, 23.5.1927, S. 1; «Der Bund» Nr. 198, 10.5.1927, S. 1; «Berliner Tageblatt» Nr. 240, 22.5.1927, S. 1; Bak 2011 (Anm. 2), S. 270–273.
46 Vgl. Aristoteles: «Poetik. Griechisch / deutsch», übers. und hg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1994.
47 Vgl. Bak 2011 (Anm. 2), S. 246–263.