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Rollin Becker Leben in Bewegung Aus dem Amerikanischen von Eva Möckel und Noori Mitha Titel der Originalausgaben: Life in Motion © 1997, Rachel E. Brooks, Stillness Press e Stillness of Life © 2000, Rachel E. Brooks, Stillness Press ISBN 978-0-9675851-0-4 ISBN 0-9675851-1-2 Stille des Lebens

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Rollin Becker

Leben in Bewegung

Aus dem Amerikanischen vonEva Möckel und Noori Mitha

Titel der Originalausgaben:

Life in Motion© 1997, Rachel E. Brooks, Stillness Press

Th e Stillness of Life© 2000, Rachel E. Brooks, Stillness Press

ISBN 978-0-9675851-0-4

ISBN 0-9675851-1-2

Stille des Lebens

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Vorwort der amerikanischenHerausgeberin zur deutschen Ausgabe

Die vorliegende deutsche Übersetzung schrift lich und auf Tonträgern aufgezeich-neter Texte von Dr. Rollin E. Becker bildet einen weiteren Meilenstein in dem Be-streben, das osteopathische Erbe und die daraus resultierende Weisheit lebendig zu halten und kontinuierlich weiterwachsen zu lassen. Meine ursprüngliche Hauptmo-tivation beim Veröff entlichen seiner Arbeiten war, sicherzustellen, dass das Wissen dieses engagierten Osteopathen nach seinem Tode nicht verloren geht. Umso erfreu-licher ist es nun, das wachsende Interesse an seinen Ideen mitverfolgen zu dürfen.

Ich möchte den Übersetzerinnen Eva Moeckel, D.O., und Noori Mitha, D.O., meine große Anerkennung und meinen Dank aussprechen. Die außergewöhnliche Sorgfalt und die Mühe, die beide in diese Arbeit investiert haben, waren Grundlage für die hohe Qualität des vorliegenden Buches. Mein Dank geht ebenso an Christian Hartmann von JOLANDOS, dessen Einsatz es erst ermöglicht hat, dass diese Art osteopathischer Texte jetzt auch im deutschsprachigen Raum zugänglich sind.

Dr. Beckers Worte liefern uns in diesem Buch einen Einblick in sein stetiges Be-obachten und Hinterfragen der Natur. Er befand sich ständig auf der Suche nach einer tieferen Bedeutung und einem klareren Verständnis von Gesundheit und Hei-lung. Durch all die Jahre, in denen er praktizierte, wurde er niemals müde in diesem gewissenhaft en Suchen, aus dem ihm ein immer tieferes Verstehen erwuchs.

Sein durch intensives Forschen erreichtes Wissen zeigte ihm schließlich die äußersten Grenzen dieses Bereichs auf. Er sah ein, dass nichts vom dem, was wir über den Mechanismus des Lebens denken, sagen oder zu wissen glauben, ihn ganz umfassen kann, weil sich sein wahres Wesen dem Zugriff unseres logischen Verstan-des entzieht. Am Ende schloss er Frieden mit der eigenen »Unfähigkeit«, jemals das Ganze zu begreifen.

Dr. Becker war sich bewusst, dass dieser wunderbare Mechanismus tagein, tag-aus unabhängig von unseren Erklärungen funktioniert und sich selbst im Wunder des Lebens off enbart.

Obwohl er hart dafür arbeitete, den Blick der Studenten dafür zu öff nen, indem er ihnen seine Art, den Mechanismus zu beeinfl ussen, vermittelte, war Dr. Becker nicht wirklich an bestimmten Arbeitsmethoden oder Behandlungskonzepten inter-essiert. Er wusste, dass jegliche Form von Behandlung dann zu wirken beginnt, wenn

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Anmerkung des deutschen Herausgeberszur deutschen Übersetzung

Die Sprache

Wie bei anderen Vertretern der Osteopathie ist auch bei Becker im amerikanischen Originaltext eine sehr einfache, direkte und teilweise sperrige Rhetorik mit vielen Redundanzen auff ällig. Als Herausgeber steht man hier immer vor dem Problem, den Lesern eine authentische und zugleich gut lesbare Übersetzung zu liefern.

In diesem Fall kam erschwerend hinzu, dass die Rechteinhaber eine möglichst wortgetreue Übersetzung wünschten, um den individuellen Charakter von Beckers Vortragsstil zu erhalten. Womit wir beim zweiten Problem sind:

Die hier veröff entlichten Texte repräsentieren kein zusammenhängendes Buch. Es handelt sich vielmehr um eine Zusammenstellung einzelner Vorträge, Artikel und Korrespondenzen. Ungeschliff ene Sprache, häufi ge Wiederholungen und in-haltliche Sprünge ergeben sich daher fast zwangsläufi g.

Ich hoff e dennoch, dass der geneigte Leser mit dem Ergebnis unserer Arbeit zu-frieden sein wird.

Begriff e

Wie bei allen Übersetzungen von Texten amerikanischer Osteopathen ins Deutsche ergaben sich auch in den vorliegenden Werken von Dr. Rollin Becker einige Hürden in Bezug auf die Interpretation bestimmter amerikanischer Ausdrücke und Rede-wendungen. Da es nicht mehr möglich war, Dr. Becker selbst zu fragen (er verstarb bedauerlicherweise 1996), mussten trotz eines intensiven Austausches aller an die-sem Buchprojekt Beteiligten einige Fragen off en bleiben und eine Übersetzung nach eigenem Ermessen gewählt werden. Hier nur die zwei wichtigsten Beispiele:

Motion and movement: Dr. Becker verwendet diese beiden, in der deutschen Spra-che nicht unterscheidbaren Begriff e häufi g zusammen als einen Ausdruck, womit er möglicherweise auf die allumfassende Bedeutung von Bewegung hinweisen, also eine Durchdringung dieses Lebensphänomens sowohl auf nicht-stoff licher (z. B. emotionaler) als auch auf stoffl icher Ebene erreichen wollte. Seine Affi nität zur

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ixAnmerkung zur Übersetzung

Interpretation

Gerade bei den »großen« Vertretern der Osteopathie muss vor einem vorschnellen Interpretieren der Begriff e gewarnt werden (Stichwort: »Zwischen den Zeilen«), weil keine Nachfrage beim Autor möglich ist bzw. keine Primärquellen zur Deu-tung vorliegen. Hier gilt es, sich an den Vorbildern zu orientieren und jederzeit auch gegenüber Interpretationen fachfremder Menschen off en zu bleiben. So folgt man den Grundmechanismen der fruchtbaren inneren Weiterentwicklung, die bereits in den 1860ern von dem englischen Philosophen und Soziologen Herbert Spencer (1820-1903) treff end als steter Wandel zwischen dissolution (Aufl ösung – auch der eigenen Interpretation) und evolution (Entwicklung einer neuen Interpretation) beschrieben wurde.

Osteopathisches Glossar

Auch bei Rollin Becker zeigt sich wieder die auff ällige Inkonsistenz osteopathischer Fachsprache – und dies umso deutlicher, je weiter sich die Th ematik von den medizi-nischen Grundlagenfächern entfernt. Hier führt eine der großen Stärken der Osteo-pathie – die Bedeutung der individuellen Freiheit – bei der Wortwahl für gleiche Sachverhalte häufi g zu wahrhaft babylonischem Begriff sgewirr, was eine konsistente Wissenschaft lichkeit beim Vermitteln der Inhalte erheblich erschwert.

Umso begrüßenswerter sind daher die Initiativen einzelner Institutionen wie etwa der World Osteopathic Health Organisation, deren Ziel es ist, ein verbindliches osteopathisches Glossar zu erstellen, das in naher Zukunft und international von allen Vertretern der Osteopathie anerkannt wird.

Aber nun wünsche ich allen Lesern viel Vergnügen und Inspiration bei der Lek-türe dieses Buchs. Begleiten Sie Dr. Becker auf seiner Reise ins Grenzland der Osteo-pathie.

Christian HartmannPähl, November 2007

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Rollin Becker

Leben in Bewegung

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Inhalt

Vorwort 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I–5

Vorwort 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I–6

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I–8

Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I–12

Kapitel 1 Studium und Praxis der OsteopathieKapitel 1-1 Ein tiefer Ozean des Studiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I–15Kapitel 1-2 Studenten ein Leben lang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I–19Kapitel 1-3 Schritte vorwärts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I–22Kapitel 1-4 Hilfe ist immer zur Stelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I–24Kapitel 1-5 Die Lebendigkeit nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I–28Kapitel 1-6 Entspanne dich, es eilt nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I–31Kapitel 1-7 Seid still und erkennet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I–36

Kapitel 2 Den Mechanismus verstehenKapitel 1-1 Der unwillkürliche Mechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I–53Kapitel 2-2 Bewegung – der Schlüssel zu Diagnose und Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I–61Kapitel 2-3 Andrew Taylor Still: Arzt – Ingenieur – Menschenfreund . . . . . . . . . . . . . . . . . . I–70Kapitel 2-4 Stillpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I–79Kapitel 2-5 Mit deinem Mechanismus sitzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I–81

Kapitel 3 Die Tide des Liquor cerebrospinalisKapitel 3-1 Der Liquor cerebrospinalis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I–87Kapitel 3-2 Die Potency der Tide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I–104Kapitel 3-3 Die Fluktuation des Liquor cerebrospinalis: ihre Natur und ihr

therapeutischer Gebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I–106Kapitel 3-4 Arbeiten mit dem Liquor cerebrospinalis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I–114Kapitel 3-5 Der Liquor cerebrospinalis – ein Mechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I–119Kapitel 3-6 Zeit, Gewebe und Tiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I–125

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Vorwort 1

Rollin E. Becker, D. O., gehörte zu den Studenten von William Garner Sutherland, D. O., D. Sc.(hon), die zuhörten und über den Sinn und die Bedeutung dessen, was sie bei ihm lernten, nachdachten. Er war ein osteopathisch behandelnder Arzt und un-terrichtete als Lehrer gemeinsam mit Dr. Sutherland. Zum Glück schrieb Dr. Becker einiges von dem auf, was er aus seinen Studien und aus seiner beruflichen Praxis als Osteopath lernte.

Diese Zusammenstellung seiner Schrift en refl ektiert beinahe 60 Jahre klinischer Erfahrung. Obgleich die Lehre der Osteopathie nun schon über 100 Jahre existiert, gibt es nicht viel Literatur, die auf tatsächlicher Erfahrung in osteopathischer Dia-gnose und der Behandlung klinischer Probleme basiert. Das vorliegende Buch über Dr. Beckers Werk leistet deshalb einen wichtigen Beitrag in diesem Bereich.

In den Kursen der Sutherland Cranial Teaching Foundation pfl egte Dr. Becker zu den Teilnehmern zu sagen, dass ihre Lernerfahrung beim Behandeln in ihrer eige-nen Praxis weitergehen würde. Das stimmt, denn kein Patient gleicht dem anderen, wenn es um das Diagnostizieren körperlicher Probleme geht. Behandler, die heut-zutage osteopathisch arbeiten, bemerken in den Körpern ihrer Patienten viele Pro-bleme, mit denen Dr. Still oder Dr. Sutherland nie zu tun hatten. Umgekehrt wird ein Osteopath heute wahrscheinlich manchen der Probleme, mit denen Dr. Still in seinem beruflichen Leben konfrontiert war, nicht begegnen.

Die Naturwissenschaft en bieten uns mittlerweile viele Informationen, die zur Diagnose und zu dem Verständnis beitragen, wie Probleme der Körpermechanik sich als physiologische Störungen zeigen. Dennoch gelten die einfachen mechani-schen Prinzipien des manuellen Arbeitens in der Osteopathie heute ebenso wie vor 100 Jahren, als sie erstmals gelehrt wurden; und diese Prinzipien tragen in sich das Versprechen von etwas Weitreichendem. Deshalb sagte Dr. Sutherland:

»Die Möglichkeiten in Dr. Stills Wissenschaft der Osteopathie sind größer als die Weiten des Himmels.«1

Mit diesen »Möglichkeiten« im Hinterkopf praktizierte Dr. Becker Osteopa-thie und lernte dabei von den Beschwerden seiner Patienten. Die Erforschung die-ser Möglichkeiten gab ihm viel Wertvolles, das er als Lehrer wiederum weitergeben konnte.

Anne L. Wales, D. O., D. Sc.(hon)

1 Still A. T.: Das große Still-Kompendium. 2. A., Band II: Die Philosophie der Osteopathie, JOLANDOS, 2005, S. II-256.

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I–7Vorwort 2

vorsichtigen Kürzen der hier veröff entlichten Texte war ich sorgfältig bemüht, den Sinn in Dr. Beckers Aussagen zu erhalten. In den Fällen, wo eine gewisse Unsicher-heit in Bezug auf die Bedeutung seiner Aussage bestand, wurde diese Zweideutigkeit belassen, damit der Leser selbst darüber nachdenken kann.

An dem Vortrag Seid still und erkennet wurden nur kleine grammatikalische Verbesserungen vorgenommen, denn dieser Text, eine Hommage an seinen Lehrer Dr. Sutherland, hatte für Dr. Becker eine besondere Bedeutung.

Andererseits wurden zwei Gruppen von Artikeln sehr stark überarbeitet, das heißt re-arrangiert und auf etwa die Hälft e der ursprünglichen Länge gekürzt. Ge-meint sind die Artikelserie Diagnostisches Berühren und eine Reihe von Texten zum Th ema Trauma, wozu Körperphysiologie plus Kraft faktoren ebenso gehört wie die Artikel über Schleudertrauma. Beide Textreihen erschienen zuerst im Jahrbuch der Academy of Applied Osteopathy. Hier werden sie nun mit Erlaubnis der American Academy of Osteopathy erneut abgedruckt. Einige Texte aus diesem Buch wurden in den letzten sechs Jahren im Newsletter der Cranial Academy herausgebracht. Fast alle sind seitdem noch weiter überarbeitet worden.

Für ihre Hilfe bei diesem Vorhaben möchte ich mich an dieser Stelle bei vielen Leuten bedanken – vor allem aber bei Patricia Tarzian. Sie hat sich dieses Projekts besonders angenommen und ihre hervorragenden Fähigkeiten als Lektorin ein-gesetzt, um dem Buch die Qualität zu verleihen, die Dr. Beckers Werk entspricht. Unter stützung kam auch von Duncan Soule, M. D., Laura Washington, Julie Han-kin, Harold Goodman, D. O., und vom Vorstand der Sutherland Cranial Teaching Foundation. Sehr dankbar bin ich darüber hinaus für die warmherzige Unterstüt-zung, die sowohl ich als auch dieses Projekt durch Dr. Beckers Familie – seine Frau Ardath und seine Kinder Don und Ginny – erfahren haben.

Zuletzt möchte ich Dr. Becker selbst danken. Er berührte und nährte einen Ort tief in mir und gab mir mehr als meine Lebensarbeit. Er bat mich um keine Gegen-gabe – nur darum, das Beste aus dem zu machen, was mir gegeben wurde. Das vor-liegende Buch ist ein Teil dieses Bemühens.

Rachel E. Brooks, M. D.

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I–9Einführung

zial; eine Stille, die zu palpieren man genauso gut lernen kann, wie man Bewegung palpiert. Diese Eigenschaft en des Lebens, Bewegung, Potency und Stille sind alles Ressourcen, die uns beim Wiederherstellen der Gesundheit zur Verfügung stehen.

Über diese Sichtweise vom Wesen der Gesundheit kommt man zu einem anderen Schlüsselkonzept in Dr. Beckers Lehre und Werk: die Rolle des Behandlers, wie er sie verstand. Der Behandler hat nicht mehr die Funktion, zu entscheiden, was das Problem des Patienten ist, und dann etwas zu tun, um es zu korrigieren. Dr. Becker betonte immer seine Ansicht, dass die gleiche Stille und das gleiche Leben in Bewe-gung sowohl im Behandler als auch im Patienten existieren. Im Patienten drückt sich dies als seine Fähigkeiten zur Selbstheilung aus, die ständig am Arbeiten sind. Der Behandler wiederum kann mit Hilfe seiner bewussten Wahrnehmung und seines direkten, über die Hände hergestellten Kontakts diese Gesundheitsmechanismen anregen, im Patienten eff ektiver zu arbeiten.

Dr. Becker lebte die Osteopathie, die er lehrte – er war einfach und tiefgründig. Sein Verständnis von Gesundheit und Heilen war ebenso tief gehend wie seine Fä-higkeit, dieses Wissen zum Wohle seiner Patienten und Schüler anzuwenden. Diese ausgeprägte Tiefe des Verstehens zeigte sich jedoch immer auf die einfachste und direkteste Art und Weise. So gut er konnte, gab er jedem das, was er brauchte, und versuchte dabei, aus jeder Begegnung etwas Neues über das Leben zu lernen.

Osteopathie und das Kraniale Konzept

Die Wissenschaft der Osteopathie wurde 1874 von Dr. Andrew Taylor Still entdeckt, einem Arzt, der voller Eifer nach einem eff ektiveren Heilungssystem suchte. Sein intensives Studium brachte ihm Einsichten, die ihn dazu führten, eine Reihe von Grundprinzipien zu formulieren. Er lehrte, dass die Struktur des Körpers und seine Funktion untrennbar miteinander verbunden sind und dass jeder Mensch alle für seine Gesundheit notwendigen Ressourcen in sich hat. Ebenso war er der Ansicht, dass der Körper eine Funktionseinheit ist – dass Körper, Geist und Seele als ein zu-sammengehöriges Ganzes funktionieren, das ständig daran arbeitet, sich selbst zu heilen. Nach Dr. Stills Meinung gehört zu allen Erkrankungen und Beschwerden des Körpers eine Einschränkung im freien Fluss der stoff lichen und energetischen Elemente im Körper, was dann den inneren Selbstkorrekturprozess behindert.

Basierend auf der Kenntnis dieser Prinzipien entwickelte Dr. Still einen Behand-lungsansatz, der das Wissen des Behandlers, sein Verständnis und seine Hände als

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I–11Einführung

mit dem man arbeitet. Der folgende Ausspruch von Dr. Sutherland fasst diesen Be-handlungsansatz zusammen:

»Der innewohnenden physiologischen Funktion zu erlauben, ihre unfehlbare Potency zu entfalten, statt von außen blinde Kraft anzuwenden ….«2

Das von Dr. Sutherland gelehrte Verständnis war ebenso wie sein Behandlungs-ansatz nie auf den Kranialen Mechanismus beschränkt.

Dieser Primäre Atemmechanismus ist in der gesamten Körperphysiologie vor-handen. Er eignet sich in einzigartiger Weise zum Behandeln von Problemen im kranialen Bereich, kann jedoch eine jede durch Krankheit oder Traumen entstan-dene Körpersituation möglicherweise beeinfl ussen.

Dr. Sutherland entwickelte einen Lehrkursus, um Ärzten das notwendige Ver-ständnis und die palpatorischen Fähigkeiten beizubringen, um Patienten auf diese Weise zu behandeln. Seine loyalen Schüler, unter ihnen Dr. Becker, führten diese Kurse fort. Auf diese Weise wird Dr. Sutherlands Arbeit weitergegeben.

Rachel E. Brooks, M. D.

2 Rollin Beckers Vorwort aus: Sutherland, W. G. & A. S.: Das große Sutherland-Kompendium. Band I: Unterweisungen in der Wissenschaft der Osteopathie, JOLANDOS, 2004, S. I-ix.

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Kapitel 1

Studium und Praxis der Osteopathie

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Kapitel 1-1Ein tiefer Ozean des Studiums

Überarbeitete Fassung eines Vortrags, gehalten 1982 in einem Grundkurs der Sutherland Cranial Teaching Foundation in Alexandria, Virginia.

Um das, was ihr bislang in eurer Praxis getan habt, mit dem zu verbinden, was ihr während dieser Woche lernen werdet, muss nun ein gewaltiger Übergang stattfi nden. Unsere Hauptaufgabe als Lehrer ist es, euch dabei zu helfen, diese Brücke so bequem wie möglich zu überqueren. Gleichzeitig muss ich euch jedoch auch darauf hinwei-sen, dass das, was wir diese Woche tun werden, vor allem harte Arbeit ist.

Als einen Teil der Brücke, die wir benutzen, um diesen Übergang zu vollziehen, habe ich an die Tafel die vier grundlegenden osteopathischen Prinzipien notiert, die euch am College beigebracht wurden:

1. Der Körper ist eine Einheit.2. Der Körper besitzt selbstregulierende Mechanismen.3. Struktur und Funktion stehen in reziproker Beziehung zueinander.4. Eine vernünft ige Behandlung basiert auf dem Verstehen der selbstregulierenden

Körpermechanismen und der wechselseitigen Beziehung von Struktur und Funk-tion im Körper.

Das sind Grundprinzipien, die ihr schon euer gesamtes Praxisleben lang kennt; zu-erst habt ihr sie in eurem ersten Jahr an einem osteopathischen College gehört. Wir sind uns alle einig, dass das schöne Aussagen sind. Aber wie viele von euch reali-sieren, während ihr diese Behauptungen hört und lest, dass wir hier über einen le-bendigen Mechanismus sprechen? Aus unserer Ausbildung, in der wir nur gesehen haben, wie sich die Dinge bei einem toten, auf dem Seziertisch liegenden Körper verhalten, bringen die meisten von uns das Gefühl mit, dass wir mit ihm machen können, was wir wollen.

In der kommenden Arbeitswoche sprechen wir jedoch über einen lebendigen Kör-per als eine Einheit, einen lebendigen selbstregulierenden Mechanismus, eine leben-dige Struktur und Funktion, die in reziproker Beziehung zueinander stehen, sowie über eine auf diesem Verstehen basierende, lebendige Behandlung. Diese Mechanis-men sind bereits belebt, sie sind gesund. Das ist der Grund, warum wir heute hier

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Kapitel 1 – Studium und Praxis der Osteopathie I–17

ermöglichen, ihre eigene unfehlbare Potency zu off enbaren – dieses Gesundheits-muster zum Vorschein zu bringen.

Um auf diese Art und Weise zu arbeiten, müssen wir tief in ein anderes Meer des Verstehens eintauchen und es der physiologischen Funktion im Patienten erlauben, uns im wahrsten Sinn des Wortes auszubilden. Wir wollen Folgendes lernen: Wo ist in diesem Patienten Gesundheit? Wie bringe ich sie zum Vorschein? Die Körperphy-siologie des Patienten unterweist uns buchstäblich. Der Arzt, der in meinen Patien-ten lebt, hat mich in den letzten achtundvierzig Jahren ausgebildet, und immer noch bin ich ein Student. Dies ist ein Teil des Übergangs, den wir vollbringen müssen.

Wir wollen lernen, diese Mechanismen, die sowohl in uns als auch in unseren Patienten arbeiten, zu spüren und uns ihrer bewusst zu sein. Erlaubt euch während dieser Woche, wenn ihr der Patient seid, diesen Mechanismus bei der Arbeit zu füh-len, während gleichzeitig der behandelnde Student versucht zu spüren, wie dieselben Mechanismen in euch arbeiten. So kann man beginnen, Funktion zu spüren.

Um die hier dargelegten Ziele zu erreichen, muss man drei Lernschritte durch-laufen, wobei der erste am schwierigsten ist. Zunächst musst du die Tatsache akzep-tieren, dass die anatomisch-physiologische Funktion in dir und in deinem Patienten lebendig ist, bereits in Bewegung, verfügbar für deinen Befund und Gebrauch. Du musst diese Tatsache akzeptieren – schließe deine Augen, überschreite diese Grenze und hoff e, dass es immer noch einen Boden unter deinen Füßen gibt, wenn du auf der anderen Seite der Grenze aufsetzt. Plötzlich bist du zweitrangig in Bezug auf diese Sache, an der du arbeitest. Der Boss ist innen. Er ist sowohl in dir als auch in deinem Patienten. Als Behandler bist du dabei, diese Tatsache zu verstehen und zu nutzen.

Zweitens müssen wir die Details des anatomisch-physiologischen Mechanismus im lebendigen Körper studieren. Wir müssen verstehen, dass die lebendigen anato-misch-physiologischen Details des Primär Respiratorischen Mechanismus, des Kra-niosakralen Mechanismus, keine abgetrennten Funktionseinheiten sind, die separat studiert werden müssen. Wir fügen diese Details zu der Anatomie und Physiologie hinzu, die wir in der Schule gelernt haben. In meiner ersten Unterrichtsstunde bei Dr. William Garner Sutherland sagte ich zu ihm, ich sei nicht gekommen, um seine Art zu arbeiten zu lernen, sondern um mein Wissen von Anatomie und Physiolo-gie um den Kraniosakralen Mechanismus zu erweitern, über den wir am College nichts gelernt hatten. Dr. Sutherland war es, der das unserem Berufsstand schenkte, und nun geben wir es euch weiter. Ihr seid hier, um euer Studium der Anatomie und Physiologie des lebendigen Körpers fortzuführen, und dazu gehört der Primäre Atemmechanismus.

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Kapitel 1 – Studium und Praxis der Osteopathie I–19

Kapitel 1-2Studenten ein Leben lang

Überarbeitete Niederschrift eines Vortrages, gehalten 1986 im Rahmen einer Lehrerfortbildung der Sutherland Cranial Teaching Foundation in Philadel-phia, Pennsylvania.

Was ist ein Behandler? Die Rolle eines Behandlers ist es, der Menschheit zu dienen. Die Wissenschaft der Osteopathie hat ihren Ursprung in der sich off enbarenden Struktur und Funktion des Individuums. Diese kommt zum Ausdruck als ein der Körperphysiologie innewohnender Mechanismus, der Motilität, Mobilität und ei-nen Fluid Drive besitzt. Sie stellt sich dar als eine Erfahrung aus dem Inneren des Patienten und als eine selbst erlernte, geschulte, palpatorische Kunstfertigkeit im Behandler. Das Werk von A. T. Still schenkte uns die Wissenschaft der Osteopa-thie. Das Werk von W. G. Sutherland schenkte uns den Primären Atemmechanis-mus mit seiner detaillierten Anatomie und Physiologie, und zwar nicht als eine von Dr. Stills Schaff en abgetrennte Einheit, sondern als einen in die Wissenschaft der Osteopathie integrierten Anteil.

Folgenden wichtigen Punkt müssen wir dabei bedenken: Vom Zeitpunkt ihrer jeweiligen Entdeckungen an akzeptierten Still und Sutherland die Wissenschaft der Osteopathie als ein grundlegendes lebendiges Gesetz der Körperphysiologie und die Notwendigkeit, ein Leben lang Studenten der Autorität zu sein, die der lebendigen Körperphysiologie innewohnt. Sie hörten auf, Ärzte zu sein und wurden zu Studen-ten. Ihre Suche war beendet, sie hatten die Osteopathie gefunden und waren nun für den Rest ihres Lebens Studenten dieser Wissenschaft . Dr. Still und Dr. Sutherland wurden zu ewigen Studenten, so wie es auch alle Behandler, die in ihre Fußstapfen treten, nötig fi nden werden einzuwilligen, sich von den gleichen lebendigen Geset-zen für deren Dienst an der Menschheit benutzen zu lassen.

Wir sind jedoch nicht hier, um uns an das Werk von Still oder Sutherland zu er-innern. Wir sind hier, um Studenten der Gesetze des Mechanismus zu werden, der ihre Entdeckung war. Diese Gesetze sind zugänglich, sie sind ein off ener Raum. Still und Sutherland wurden zu Studenten und gaben etwas von sich her. Sie schenk-ten denen, die ihnen folgten, das Werk – gaben ihnen aber lediglich Hinweise, in dem Wissen, dass jene nachfolgenden Behandler selbst ebenfalls Studenten dieses

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Kapitel 1 – Studium und Praxis der Osteopathie I–21

und in jedem individuellen Fall zeigte ihnen der Körper durch das, was er selbst zu tun versuchte, das geeignete diagnostische Vorgehen und Behandlungsprogramm.

Was ist neu in der Wissenschaft der Osteopathie? Die Antwort ist einfach: Der nächste Patient, der zur Tür hereinkommt und zuvor schon überall war und alles ausprobiert hat. Die Körperphysiologie ist der Lehrer, der Behandelnde ist der Stu-dent. Der Mechanismus der Körperphysiologie bietet viele Türen, um im Dienste einer besseren Gesundheit experimentelle Erfahrungen zu machen. Als Arzt und Studierender zugleich erschaff st du auf dem Verstehen dieses Mechanismus basie-rende Techniken, indem du zunächst visualisierst, was deiner Meinung nach in die-sem Bereich sein sollte, und dann abhängig davon, wie du den Mechanismus in jedem einzelnen Fall und in jedem einzelnen Patienten verstehst, jene Techniken entwickelst. Anders gesagt: Dir wird viel Raum für Experimente zugestanden, so-lange du den Gesetzen der osteopathischen Wissenschaft gehorchst. Resultate er-hältst du proportional zu deinem Wissen und deinem sich verfeinernden Tastsinn. Wir als Studenten der Körperphysiologie, als Ärzte, können beim Behandeln jedes einzelnen Patienten dessen Körperphysiologie nutzen und von ihr benutzt werden. Die Zukunft leuchtet hell für alle, die sich dafür entscheiden, die Werke von Dr. Still und Dr. Sutherland zu studieren und anzuwenden.

Vielen Dank.

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Kapitel 1 – Studium und Praxis der Osteopathie I–23

Schritte:

1. Bejahe den Lebendigen Mechanismus in dir und im Patienten. Leben versucht immer, Gesundheit auszudrücken.

2. Gib dich hin infolge dieses Bejahens. Begreife, dass das, was der Mechanismus dir sagt, wahr ist.

3. Entwickle palpatorische Fähigkeiten. Der Körper ist klüger als du, also lerne von ihm.

Der erste Schritt ist der schwierigste, aber auch der wesentliche, wenn man lebendige Mechanismen der Gesundheit verstehen und nutzen will. Suche und erlerne die Me-chanismen der lebendigen Funktion zuerst in dir selbst; das wird dich dazu führen, sie in deinen Patienten zu verstehen.

Der zweite Schritt besteht darin, ein Betrachter der lebendigen Funktionen beim Arbeiten zu werden. Gib dich den Patienten hin.

Der dritte Schritt erfordert von dir, dass du eine lebendige Palpationskunst ent-wickelst. Palpation ist das Werkzeug, das der Behandler nutzt, um zu lesen, was der primäre Arzt in jedem von uns tut, um Gesundheit aus dem Inneren hervorzu-bringen. Lerne, die Funktion da drinnen zu fühlen, nicht nur kleinere oder größere Bewegungen.

Hast du gedacht, du kommst in diesen Kurs, um Information zu sammeln? Pal-patorische Fähigkeiten zu entwickeln? Um sachkundig zu werden in Bezug auf Dienste an deinen Patienten mit ihren Problemen?

Nein, du bist gekommen, um das Werk zu sein, das du verstehen und in deinem Dienst am Patienten nutzen wirst.

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Kapitel 1 – Studium und Praxis der Osteopathie I–25

gen, wie man selbst diese Situation lösen würde. Ihr möchtet sie darin unterstützen, herauszufi nden, dass ihre eigene Stärke gut ist, egal wie begrenzt sie erscheinen mag. Auf diese Weise unterstützen die ehrenamtlichen Helfer die Anrufer darin, ihre eigenen Ressourcen zu nutzen und ihre Gefühle auf eine konstruktivere Art und Weise auszudrücken. Schlussendlich lehrt die »Hilfe«-Methode, dass es gut ist, sich einzufühlen und klarzustellen, dass es dir wichtig ist, was mit dem Hilfesuchenden passiert. Der Kontakt und die Person selber sind dir wichtig.

Das sind die Grundsätze und Fähigkeiten, die diese »Hilfe«-Methode so ef-fektiv machen. Diese Art des verbalen Kontaktes erfordert eine Ausbildung, aber die Grundprinzipien sind einfach zu erlernen und wir alle können sie in unserem Leben anwenden.

Während ich jetzt hier so spreche, möchte ich gerne, dass ihr auf das lauscht, was in eurem Kopf vorgeht, wenn euch jemand um Hilfe bittet. Ein wichtiger Punkt, den man dabei beachten muss, ist die Notwendigkeit, eure eigenen Gefühle bezüg-lich der Person, mit der ihr sprecht, genau zu kennen, diesen Menschen wirklich als den, der er ist, zu akzeptieren – jemand, der genauso Respekt verdient wie ihr selbst. Hört ihm zu und antwortet, ohne zu bewerten. Menschen fühlen sich sehr viel freier in der Gegenwart eines anderen Menschen, der sie still so akzeptiert, wie sie sind. Es ist eure Aufgabe, einfach entspannt zu bleiben, wenn eigentlich nichts geschieht. Einfach nur anwesend zu sein in so einer Atmosphäre, ist heilsam. Eigentlich ist es diese zugewandte, zuhörende Resonanz, und nicht eine aktive, zur Schau stellende Reaktion, die eine osteopathische Behandlung funktionieren lässt.

Der Psychotherapeut Carl Rogers drückt in seinem Buch Entwicklung der Persön-lichkeit etwas Ähnliches aus. Er schreibt, dass Helfen im Grunde nicht aus Geben, sondern aus Teilen besteht. Er zeigt uns, dass wir anderen helfen können, wenn wir verstehen, unsere wirklichen Gefühle zu zeigen, ohne zu bewerten, und indem wir Hilfebedürft igen warmherzig begegnen als Menschen, die genauso wertvoll sind wie wir, die wir uns für gesund halten. Andere reagieren auf die Wertschätzung, die wir ihnen geben, indem sie Selbstvertrauen gewinnen und beginnen, sich selbst zu helfen.

Wir haben nun eine Brücke geschlagen von einem ehrenamtlichen Helfer, der mit Hilfe von Gesprächen arbeitet, zu einem Arzt, der in der osteopathischen Wis-senschaft tätig ist. Denkt daran: Wenn eine Patientin in eure Praxis kommt, bringt sie eine Körperphysiologie mit, die eure Hilfe sucht. Anstatt dem Patienten diese Hilfe verbal zu vermitteln, werden wir lernen zu palpieren und schweigend die Kör-perphysiologie zu untersuchen. Lernt still mit dieser Patientin zu arbeiten, indem

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Kapitel 1 – Studium und Praxis der Osteopathie I–27

arbeiten. Sie wird anfangen, dem Patienten zu helfen, und ihr müsst nicht darüber nachdenken oder darüber sprechen. Ihr müsst sie nur beachten, indem ihr ihr zuhört und sie mit Hilfe eurer palpatorischen Kunstfertigkeit buchstäblich fühlt. Arbeitet sehr ruhig mit dem Patienten, seid stille Partner, aktive Zuhörer.

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Kapitel 1 – Studium und Praxis der Osteopathie I–29

erkenne ich, das der Patient den gleichen Mechanismus hat wie ich. Erst dann bitte ich den Patienten in den Behandlungsraum. Dann tue ich, was auch immer getan werden muss. Ich arbeite dabei, ohne an das zu denken, was ich für diesen Patienten zu erreichen hoff e. Ich fange einfach an zu arbeiten.

Diese kleine, aus meinem Inneren herauskommende Begrüßung, mit der ich im Patienten meine eigene Stille erkenne, ist ein schweigendes Anerkennen, dass sie lebendig ist. Ein unsichtbares Anerkennen oder Realisieren ist das. Selbst wenn ihr 45 Patienten an einem Tag behandelt, könnt ihr euch Zeit nehmen für diesen sehr kurzen Moment, um Verbindung mit einen Punkt der Stille in euch selbst aufzu-nehmen und dann mit dem gleichen Punkt im Patienten. Denn dann – egal wie ihr mit dem einzelnen Patienten arbeitet – geschieht es 45 Mal am Tag, dass ihr in euch und im Patienten etwas erkannt habt, das schweigend das Behandlungsprogramm unter stützen wird. Was dieses Etwas ist, weiß ich nicht, und das ist auch nicht wich-tig. Es geht einfach darum, sich mit einem Mechanismus zu identifi zieren, der in jedem von uns existiert, und sich seiner zu bedienen.

Dieses Stillewerden wird euch leiten in Bezug auf das, was an diesem bestimmten Tag zu tun ist. Und ich bin überzeugt, dass der Patient daran nicht bewusst teilneh-men muss. Ich behandle viele Patienten, die nicht die leiseste Ahnung haben, was ich tue, und es trotzdem mögen, weil sie spüren, dass etwas in ihnen geschieht. Es fühlt sich für sie an, als ob endlich ein Behandler etwas von ihnen erkannt hat und versucht, ihnen zu helfen. Manchmal haben sie den Verdacht, dass ich überhaupt nichts tue, aber schlussendlich wissen sie, dass ich etwas mache, weil ihr Beschwerde-bild sich ändert.

Diese Kontaktaufnahme dient also einer stillen Bestätigung, und sie gibt mir auch einen Moment Pause zwischen den Patienten. Wenn ihr einen Fall habt, der euch wirklich mitnimmt – und einige tun das – wollt ihr nicht all diesen Müll mit zu dem nächsten Patienten nehmen. Wenn es möglich ist, nehmt euch dann etwas mehr Zeit für diesen Prozess. Nehmt euch eine Dreiviertelminute Zeit, um euch ir-gendwo hinzusetzen, und lasst es einfach aus euch herausfl ießen, spült es heraus. Ihr habt sie dann vergessen, wenn sie den Behandlungsraum verlassen, wisst nicht ein-mal mehr den Namen. Dann lasst euch ganz ruhig werden und bittet den nächsten Patienten, in den Raum zu kommen. Selbst wenn es kein schwieriger Fall ist, könnt ihr euch, wenn der Patient geht, in aller Stille bewusst machen, dass etwas geschehen ist, während er im Behandlungsraum war. Ihr müsst darüber kein Wort verlieren. Dies ist einfach ein schweigender Austausch zwischen meiner Stille und der Stille des Patienten – der Name spielt keine Rolle, Techniken spielen keine Rolle, nichts

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Kapitel 1 – Studium und Praxis der Osteopathie I–31

Kapitel 1-6Entspanne dich, es eilt nicht

Der Mechanismus hat keine Probleme

Überarbeitete Fassung eines Vortrages, gehalten 1986 im Rahmen eines Grund-kurses der Sutherland Cranial Teaching Foundation in Philadelphia, Penn-sylvania.

Ich möchte euch gerne eine interessante Geschichte erzählen über eines meiner Erlebnisse mit Dr. Will Sutherland. Während eines Kurses für Ärzte in Denver, Colorado, brachte einer der Teilnehmer einen Patienten zur Beratung mit, der in-folge eines Traktorunfalls Epilepsie entwickelt hatte und bei dessen Behandlung er seinem Gefühl nach nicht wirklich weiterkam. Er bat deshalb Dr. Sutherland, diesen Patienten zu untersuchen und zu sehen, was man tun konnte, um ihm zu helfen.

Dr. Sutherland, ein sehr schweigsamer Typ, der nie mehr Worte gebrauchte als unbedingt nötig, untersuchte den Patienten, drehte sich schließlich zum Behand-ler um und sagte: »Ich denke, Sie sind auf der richtigen Spur, machen Sie einfach mit der guten Arbeit weiter.« Als Sutherland aufstand, um zu seinen Stuhl zurückzu-gehen, sagte der Behandler: »Dr. Sutherland, eine kurze Frage bitte. Was würden Sie tun, wenn der Patient einen Anfall hätte, während Sie versuchen ihm zu helfen?« Dr. Sutherland sagte einfach: »Blockieren Sie ihn«, und ging weiter. Nun, ich saß zufälligerweise an einem Platz, von wo aus ich die gesamte Zuhörerschaft sehen konnte, und blickte in dreißig verständnislose Gesichter. »Blockieren Sie ihn«, war alles, was er gesagt hatte. Er erwartete, dass wir zu den Mechanismen unserer Pa-tienten zurückgehen und herausfi nden was er meinte. Er war eben ein großartiger Mann, der dir etwas über den Mechanismus beibrachte, indem er es dem Mechanis-mus überließ, dich zu unterrichten.

Wir können also locker und fröhlich sein und aufh ören, uns darüber Sorgen zu machen. Wir müssen die Tatsache annehmen, dass das Leben sowohl im Behand-ler wie im Patienten schon am Wirken ist und wir uns also ebenso gut entspannen können. Wir gehen nirgendwo hin, und eure Patienten ebenfalls da sein. Der Patient muss die Verantwortung übernehmen und bei euch erscheinen. Und die Patienten werden nicht wegrennen, es sei denn, ihr behandelt sie wirklich schlecht. Sie werden

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Kapitel 1 – Studium und Praxis der Osteopathie I–33

seine Arbeit. Wenn es ein Dysfunktionsmuster gibt – z. B. ein Problem des okzipi-tomastoidalen Bereiches in der Schädelbasis – Mensch, das ist tatsächlich ein Prob-lem. Aber diese Dysfunktion zwischen Os occipitale und Pars mastoideus realisiert nicht, dass sie ein Problem ist. Sie ist zu beschäft igt damit, eine okzipitomastoidale Dysfunktion zu sein. Also müssen wir zu dieser Dysfunktion gehen und sie ruhig bitten: »Schau, es kann sein, das du das Leben so genießt, aber der Körper, in dem du lebst, genießt es nicht so sehr. Nun, willst du nicht erwägen, mir zu erlauben, dich mit meinen Händen so zu berühren, dass du deinen Zustand änderst und aufh örst, ein sogenannter Dysfunktionskomplex zu sein?«

Wir besitzen das Recht, das Privileg, und in uns selbst den Mechanismus, diese okzipitomastoidale Dysfunktion im Patienten zu verstehen. Wir haben einen okzi-pitomastoidalen Mechanismus in unserem eigenen Kopf, der vielleicht keine Dys-funktion aufweist; aber wir können diesen Mechanismus, den wir studieren, von uns heraus begreifen. Und wir werden ihn sicherlich noch besser verstehen, sobald wir unsere Hände auf die Person, die zu uns kommt, legen.

Genau die Mechanismen, die gesund werden sollen, sind auch die, die Gesund-heit ausdrücken können. Sie arbeiten und sind in ständiger Bewegung; sie arbeiten stets auf das gleiche Ziel hin, das auch in uns ist. Wir kämpfen – wir leben – um Gesundheit in uns selbst auszudrücken. Alles, worum man uns bittet, alles, was der nächste Patient, der unsere Praxis betritt, zu uns sagen wird, ist: »Ich möchte gerne gesund sein, Doktor, und es ist mir gesagt worden, dass Sie die Mechanismen in sich selbst und mir verstehen, die es mir erlauben werden, zur Gesundheit zurückzufi n-den.« Wir müssen uns dabei nicht beeilen. Wir können antworten: »Für die heutige Behandlung haben wir X Minuten. Was möglich ist, werden wir tun. Wir werden eine kleine Anregung hier geben und eine kleine Anregung da; und dann nehmen Sie das mit nach Hause und lassen es arbeiten. Leben Sie in Ruhe Ihr tägliches Leben, befolgen Sie ein paar Vorschläge, kommen Sie nächste Woche wieder, und wir werden weiter-machen in unseren Bemühungen, uns gegenseitig zu helfen.« In Stille verbindet sich der Patient sozusagen mit dem Mechanismus in mir, und in Stille treff e ich mich mit dem Mechanismus im Patienten. Wir versuchen in aller Stille in einer Atmo-sphäre zu arbeiten, in der wir Ideen und Funktionsmöglichkeiten austauschen, und dann gehen wir ruhig von dort aus weiter. Wenn ihr von diesem Kurs nach Hause geht, werden all diese Mechanismen in euch an den Mechanismen in den Patienten arbeiten; und euch beiden wird es Spaß machen. Alles Gute.

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Kapitel 1 – Studium und Praxis der Osteopathie I–35

ihr Kontakt mit diesem Patienten aufnehmt, kontaktiert euer eigenes Sutherland-Fulkrum und die Stille.

Lasst uns zurück auf die Erde kommen. Wenn ihr nach Hause in eure Praxis zu-rückkehrt, soll dieses Wissen ein Teil dessen sein, was euch verfügbar ist, um den Bedürfnissen des Patienten zu entsprechen. Projiziert es nicht nach außen – die Pa-tienten selber werden euch die Notwendigkeit zeigen, das zu erproben, was ihr ge-lernt habt. Es ist so, wie wenn man für eine Abschlussprüfung lernt. Man studiert wie verrückt, stopft alle möglichen Informationen in sich hinein und ist sich nicht sicher, wie es läuft . Man studiert einfach, liest und lässt es sein Wesen durchdringen. Dann wirft man alle Lehrbücher aus dem Fenster, geht zum Examen und irgendwie fl ießt die Information hervor, die man für die Prüfung braucht.

Also lasst diesen Kurs ein paar Tage euer Wesen durchdringen, bevor ihr versucht, alles anzuwenden – und benutzt es auf entspannte Art und Weise. Lasst das Wissen um die Bewegung der Ossa temporalia, die Muster der Schädelbasis, individuelle, spezifi sche, membranöse Gelenksdysfunktionen, die Kondylen des Okziputs, die Flüssigkeitsdynamik der lebendigen Fluktuation, die wiegende Bewegung einer re-ziproken Spannungsmembran, die gelenkige Beweglichkeit des knöchernen Schä-dels und des Os sacrum zwischen den Ossa ilia – lasst diese Dinge einfach ein paar Tage lang euer Wesen durchdringen. Fügt diese neuen diagnostischen Werkzeuge allmählich hinzu. Wenn ihr wieder daheim seid, sind die Patienten, die in euer Be-handlungszimmer kommen, die gleichen, die ihr in den x Jahren eurer Praxis schon behandelt habt; und wenn sie bislang noch nicht von diesem Behandlungsansatz profi tiert haben, werden ein paar Tage mehr keinen großen Unterschied machen.

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Kapitel 1 – Studium und Praxis der Osteopathie I–37

Dr. Still war beim Entwickeln der Wissenschaft der Osteopathie seinem Schöp-fer näher als rein stoff liches Atmen; er wurde von einem Spirituellen bzw. Geistigen Fulkrum geführt, genauso wie Dr. Sutherland.

Wenn wir, als Studierende der Wissenschaft der Osteopathie, Osteopathie wirk-lich verstehen wollen, werden wir es notwendig fi nden, unser Wissen um die Gott-heit, die uns auf das Zentrum ausrichtet, wieder zu erwecken, sie zu unserem Spiritu-ellen Fulkrum zu machen, das uns führt, und zu lernen, in unserer täglichen Arbeit den Schöpfer im Sinn zu haben, zu fühlen und zu nutzen. Dank seiner Kenntnis und seiner Anwendung der Wissenschaft der Osteopathie gab uns Dr. Sutherland Wegmarkierungen, denen wir folgen können. Lassen Sie uns jedoch für einen Mo-ment diese entschlossene Art des Denkens um 1900 mit der heutigen Wissenschaft vergleichen. Neulich habe ich den eben erschienenen Artikel eines berühmten Wis-senschaft lers gelesen, in dem dieser versucht, spirituelle und wissenschaft liche Wahr-heiten zusammenzubringen. Seine Schlussfolgerung ist, dass Wissenschaft und Spi-ritualität nicht unvereinbar sind, dass jedoch die großen Wahrheiten dieser beiden Bereiche sozusagen mehr oder weniger parallel liegen. In anderen Worten: Beide bewegen sich hin zu jenem unbekannten Verstehen, das für das bekannte Verste-hen notwendig ist. Ich bin mit diesem Gedanken nicht wirklich einverstanden. Wie kann man schlussfolgern, dass dies eine wissenschaft liche Wahrheit und das andere eine spirituelle Wahrheit ist? Da vertraue ich eher einem Wissenschaft ler, der durch eine Geistige Führung zu seinem wissenschaft lichen Verständnis kommt und nicht, indem er versucht, eine getrennte Über-Struktur zu errichten.

Mir gefällt der Gedanke eines Biologen und Wissenschaft lers, der in einer Dis-kussion um die Erscheinungen des Lebens folgende Bemerkung machte: »Es ist eine Tatsache, dass die Lebenswissenschaft en nicht nur sehr viel komplizierter sind als die Naturwissenschaft en, sondern auch einen viel größeren Bedeutungsraum haben; und sie gehen noch weiter in der Erforschung des Universums der Wissenschaft als die Naturwissenschaft en. Sie verwenden zwar alle naturwissenschaft lichen Daten und Er-klärungsgrundlagen, gehen dann aber weit darüber hinaus und umfassen eine noch größere Menge an Daten und zusätzlichen Erklärungsgrundlagen, die nicht weniger, sondern in gewissem Sinne sogar mehr Wissenschaft lichkeit bieten. Der Punkt dabei ist, dass alle uns bekannten stoff lichen Prozesse und erklärenden Prinzipien auf lebendige Organismen zutreff en, nur eine begrenzte Anzahl aber auf nicht lebende Systeme.« Beim osteopathischen Konzept, und dazu gehört der kraniale Bereich, geht es um ein lebendiges System. Dr. Sutherland sagte: »Die kraniale Arbeit ist kein speziel-ler, von der Wissenschaft der Osteopathie getrennter Bereich. Die Wahrheit ist viel-

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Kapitel 1 – Studium und Praxis der Osteopathie I–39

per in Antwort auf seine interne und externe Umgebung vollzieht, um seine will-kürlichen und unwillkürlichen Handlungen. Und mit diesen Faktoren können wir durch den Gebrauch unserer denkenden, fühlenden, sehenden, wissenden Fingern spüren lernen.

Wenn wir unsere Hände an einen Patienten legen, der bei guter Gesundheit ist, spüren wir ein allgemeines Gefühl von Wohlbefi nden. Wir spüren den respirato-rischen Zyklus seiner Atmung. Wir spüren die Flexion und Extension seiner in der Mittellinie verlaufenden Strukturen in ihrer Funktion. Wir fühlen die abwech-selnde externe und interne Rotation seiner bilateralen Strukturen in ihrer Funktion. Wir spüren eventuelle willkürliche Bewegungen dieser Person und viele unwillkür-liche Bewegungen von verschiedenen Organsystemen innerhalb des Körpers. Wenn unsere Hände an seinem Kopf liegen, können wir die Bewegungen des kranialen Gelenkmechanismus, die wiegenden Bewegungen der reziproken Spannungsmemb-ran und die Fluktuation des Liquor cerebrospinalis als einen integrierten Funk tions-mechanismus spüren. Im gesamten Körper ist etwas fühlbar, das in den heutigen Anatomie- und Physiologietexten normalerweise nicht erwähnt wird: eine generelle Tidenbewegung des gesamten Körpers, ein Hereinfl uten und Hinausebben. Es ist, als ob der gesamte, als Einheit wirkende Körper auf eine Kraft reagiert, ähnlich der, die die Tiden des Ozeans bewegt. Es ist eine rhythmische Bewegung innerhalb aller Körperfl üssigkeiten. Sie ist auf ihre ruhige Art und Weise kräft iger als jede andere physiologische Funktion innerhalb des körperlichen Mechanismus, wichtiger und kraft voller als der Atemzyklus, die willkürlichen oder unwillkürlichen Bewegungen oder jede der anderen Bewegungen, die wir normalerweise mit in Betracht ziehen. Unser kundiger Tastsinn lernt, alle diese Faktoren zu erkennen, die als integrierte Funktion in jedem von uns untersuchten Körperteil zusammenarbeiten. Dies ist eine rhythmische Tide im physiologischen Zusammenspiel mit ihrem Höchsten Bekannten Element und ihrer inhärenten Potency.

Wenn wir in unserem Verständnis der körperlichen Mechanismen tiefer gehen, lernen wir, dass jegliches normale Funktionieren der individuellen Körpereinheiten – seien es Knochen, Ligamente, Membranen, Faszien, Organe oder Flüssigkeiten – anscheinend mit Hilfe frei schwebender, automatisch sich verändernder Fulkren er-folgt. Das Sutherland-Fulkrum, das dort liegt, wo die Falx cerebri auf das Tentorium cerebelli trifft , ist ein frei schwebendes, automatisch sich veränderndes Fulkrum für die reziproke Spannungsmembran. Das sternale Ende der Klavikula ist ein ossäres Fulkrum für das Funktionieren der gesamten oberen Extremität. Der Atlas dient bei der Geburt als ossäres Fulkrum für die Partes condylares des Os occipitale. Es

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Kapitel 1 – Studium und Praxis der Osteopathie I–41

Um diesen Gedanken noch weiter zu verdeutlichen, fügt er hinzu:»Der Atem des Lebens in der Tide des Liquor cerebrospinalis ist das zugrunde lie-

gende Prinzip des Primären Atemmechanismus.«Weiter gab er uns detaillierte Anleitungen, wie wir denkende, fühlende, sehende,

wissende Finger entwickeln, um die Tide herunterzubringen zu ihrem Stillpunkt, ihrer Pause-Ruhezeit, um ihre Funktion in der Körperphysiologie zu kontrollieren. Wichtig ist es zu wissen, dass wir in unserem Bemühen, zu lernen, wie man die Tide kontrolliert, nicht auf den Kraniosakralen Mechanismus beschränkt sind. Wenn wir in einem Körperbereich Balance im Gewebe- und Flüssigkeitselement suchen, während wir eine Krankheit oder einen krankhaft en Zustand aufspüren, lernen wir, die Tide in ihren Balance-Punkt oder Fulkrumbereich zu bringen. Wenn wir dies tun, kann ein Transmutationsprozess stattfi nden, der die Mechanik der Dysfunk-tion auflöst, Pathologie korrigiert und wieder Gesundheit für diese Person herstellt. Dies ist das von dem Meistermechaniker entworfene heilende Prinzip, das in unse-ren Patienten arbeitet; und wir können als Behandlerinnen und Behandler unsere Wahrnehmung entwickeln und beobachten, wie es in den Geweben der Patienten arbeitet.

Bislang habe ich mich auf das Funktionieren der Tide im Körper bezogen und auf die vielen Fulkren, die in der Körperphysiologie arbeiten. Nun ist es an der Zeit, über etwas anderes zu sprechen, was uns Dr. Sutherland mit auf den Weg gab, um unser Verständnis zu vertiefen. Das ist die Stille der Tide – nicht das Auf-und-ab-Fluk-tuieren ihrer Wellen, sondern die Stille, die man am Fulkrum-Punkt innerhalb der Tide fi ndet. Es gibt eine Potency innerhalb dieser Stille. Der Begriff Stille verwirrt beim Versuch, diese Art der Arbeit zu verstehen, möglicherweise unser Denken. Wie kann es eine Potency oder Kraft oder Energie in der Stille geben? Dr. Sutherland be-schrieb das bildhaft : Wenn man auf ein Glas Wasser eine Vibration überträgt, kann man beobachten, wie sich im Zentrum der Wasseroberfl äche ein Stillpunkt bildet. Er wies darauf hin, dass dies ein Fulkrum-Punkt innerhalb des Wasserglases sei, und verglich ihn mit dem Fulkrum-Punkt, den wir erreichen, wenn wir die Fluktuation des Liquor cerebrospinalis bei der Kompression des vierten Ventrikels (oder jeder anderen Technik zum Steuern der Tide) zu ihrem Stillpunkt herunterbringen. »Es ist die Stille der Tide, die wir suchen«, pfl egte er zu sagen, denn in dieser Stille liegt die Potency der Tide.

Diejenigen von uns, die das Glück hatten dabei zu sein, wenn er über dieses Th ema sprach, konnten miterleben, wie der gesamte Unterrichtsraum spürbar still wurde. Dr. Sutherland machte uns darauf aufmerksam und erwähnte, dass dies häu-

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Kapitel 1 – Studium und Praxis der Osteopathie I–43

folgende Handlung. Wir müssen den Mechanismus dieser Stille begreifen und beim Behandeln unserer Patienten nutzen. Es ist nicht notwendig, dass wir vollständig verstehen, was sie ist oder woher sie kommt oder wohin sie geht, nachdem sie uns in diesem Moment von Nutzen war – die Stille der Tide in der Körperphysiologie.

Bis jetzt habe ich über Funktion, das frei schwebende, automatisch sich verän-dernde Fulkrum und die Tide, die Stille und die Potency gesprochen, die innerhalb all dieser Facetten in der Körperphysiologie agieren. Es scheint, als ob ich versuche, eine theologische Hypothese zu entwickeln, um dieses Art Arbeit zu erklären. Das ist allerdings nicht der Fall. Ich versuche lediglich, Ihnen zu zeigen, dass der Schöpfer des menschlichen Körpers und seiner Mechanismen mehr als ein passiver Begriff ist, von dem wir nur sprechen, ohne an ihn zu glauben und ihn zu nutzen. Zur Wissen-schaft der Osteopathie gehört das tägliche, aktive Nutzen des Schöpfers. Osteopa-thie ist eine erworbene Kunst, nicht nur eine Wissenschaft ; und ich mag das Zitat, das ich irgendwo gelesen habe: »Sei in Frieden mit Gott, wer und was auch immer Er deiner Meinung nach ist. Und was auch immer Deine Wünsche und Sehnsüchte in dieser lärmenden Verwirrung des Lebens sein mögen: »Sei im Einklang mit Dei-ner Seele.« Daher brauchen wir in unserer täglichen Praxisarbeit Werkzeuge zum Verstehen und Nutzen eines Spirituellen Fulkrums.

Was gehört zu diesen Werkzeugen? Erstens muss ein Behandler meiner Meinung nach eine objektive Wahrnehmung entwickeln. Er sollte die Anatomie, Physiologie und Pathologie kennen und all die integrierten, untereinander und mit sich selbst in Beziehung stehenden Funktionsabläufe, die zwischen all diesen Elementen der Körperphysiologie stattfi nden. Er muss fähig sein, diagnostische und prognostische Erkenntnis zu evaluieren und zu bestimmen, angefangen vom ersten Untersuchen des Patienten bis zu dessen Entlassung aus der Behandlung. Er sollte in der Lage sein, bei jedem Patienten die Veränderungen, die die Nutzung der Potency im Gewebe bewirkt, mit dem objektiven Fortschritt in Richtung Normalität und wiederherge-stellter Kompensation in Zusammenhang zu bringen. Und er sollte sich beim Fest-legen der Vorgehensweise in jedem einzelnen Behandlungsfall von den objektiven Befunden leiten lassen.

Zweitens sollte der Behandler eine subjektive Wahrnehmung des Potenzials ha-ben, das in der Anwendung der hier beschriebenen Heilungsprinzipien liegt. Und er sollte spüren können, wie hoch die Chance ist, den pathologischen Befund beim Patienten umzudrehen, und inwieweit eine Erholung innerhalb der Gewebeeinhei-ten möglich ist. Er hat mit dem subjektiven Phänomen des Lebens selbst zu tun und nimmt an den im Patienten sich vollziehenden subjektiven Veränderungen teil,

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rungen, die ich in meiner Praxis am häufi gsten höre, sind: »Er hat gar nichts gemacht, aber …« oder »Alles, was er gemacht hat, war, seine Hände auf mich zu legen und dazusitzen, und als er fertig war, ging es mir besser.« Es ist immer wichtig, eine gute Beziehung zum Patienten herzustellen und zuzulassen, dass die innere physiologi-sche Funktion ihre eigene, sich nie irrende Potency als bewegende Kraft für die Kor-rektur einbringt, statt eine Kraft blind von außen anzuwenden.

Wenn Sie nun bei jemand gute Resultate erreicht haben, der schon verschiedene andere Behandlungen hinter sich hatte, darunter manchmal auch Osteopathie mit Hilfe von Manipulationen, dann wird Ihnen dieser Patient bzw. diese Patientin gerne seine oder ihre Freunde schickt. Es ist interessant zu sehen, wie diese poten-ziellen Patienten auf Ihre Dienste vorbereitet werden. Dem neuen Patienten wird gesagt: »Wenn du zu meinem Osteopathen gehst, sei nicht überrascht über seine Be-handlungsart. Du wirst denken, er tut nichts, aber es wird dir besser gehen, wenn er mit der Behandlung fertig ist; und wenn er sagt, er will dich noch einmal sehen, bleib dabei, und er wird dafür sorgen, dass es dir wieder gut geht.« Ich habe einen sehr fei-nen Gentleman als Patienten, der mir schon viele andere Patienten geschickt hat, und denen sagt er: »Geh zu meinem Osteopathen mit den magischen Händen. Ich weiß nicht, wie er es macht, aber er kann dir helfen.«

Ihre Patienten kommen wieder und schicken ihre Freunde, weil Sie gute Resul-tate bei Problemen erreichen, die weder von Medizin, Physiotherapie oder einer an-deren Form von Untersuchung oder Tests gelöst werden konnten. Wenn sich Ihre Fähigkeiten dann weiterentwickeln, werden Sie immer komplexere Fälle bekommen; Leute, die schon überall waren und immer noch Hilfe für Ihre Probleme benötigen. Und gerade wenn man meint, das sei jetzt der schwierigste Fall überhaupt, kommt ein neuer Patient, der alle davorliegenden Fälle einfach erscheinen lässt. Wenn man die unfehlbare Potency, als die Hauptkraft für Diagnose und Behandlung nutzt, zieht das komplexe Fälle an, so wie Blumen Bienen anlocken. Das ist der Grund, warum diese Art der Arbeit immer wieder interessant ist. Es gibt stets etwas Neues zu lernen von dem physiologischen Körperbild des Patienten. Wachsendes Verständ-nis – das ist es, was der Behandler braucht, um dem Patienten helfen zu können.

»Sie kommen zurück zur: Ursache«, sagte Dr. Sutherland. »Wenn Sie den Me-chanismus verstehen, ist die Technik einfach.« Denken Sie einen Moment darüber nach, was diese zwei Aussagen für den Osteopathen bedeuten. In dieser Welt der Folgen häufen sich bei den Problemfällen, die zu uns in die Praxis kommen, Folgen auf Folgen, bis diese Folgen völlig den ursächlichen Faktor übertönen, also die ur-sprüngliche Verletzung oder Krankheit, die das Syndrom ausgelöst hat. Jetzt werden

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Skepsis bei einem Patienten beachtet werden und schafft bei dieser Art von Arbeit eine interessante Herausforderung.

Zusätzlich sollte der Behandler über ein objektives und ein subjektives Bewusst-sein sowie über einen denkenden, sehenden fühlenden, wissenden Berührungssinn verfügen. Der folgende knappe Satz von Dr. Sutherland fasst all diese Qualifi katio-nen zusammen: »Wenn Sie den Mechanismus verstehen, ist die Technik einfach.« Und sie ist einfach. Dies war und ist die Wissenschaft der Osteopathie wie sie Dr. Still, Dr. Sutherland, und viele andere führende Kapazitäten in unserem Berufsstand for-muliert und praktiziert haben. Heute geht es uns um die von Dr. Sutherland über-lieferten Wahrheiten und deren Demonstration.

Jetzt müssen wir bedenken, was all dies für uns und für unsere praktische Arbeit jetzt und in der Zukunft bedeutet. Wir brauchen jede Dienstleistung die es heute in-nerhalb unseres hoch qualifi zierten Berufsstands gibt. Wir benötigen unsere Kran-kenhäuser, unsere Chirurgen, Internisten, Pädiater, Gynäkologen, Psychiater und alle anderen Fachbereiche. Jeder Bereich der modernen Medizin ist für die Routine-betreuung unserer Patienten wichtig. Es gibt aber nicht nur für all diese Bereiche Raum, sondern auch für etwas Darüberhinausgehendes. Wir brauchen mindestens 2000 Frauen und Männer, die sich die Zeit nehmen, die notwendige Materie zu ler-nen, um die Wahrheiten von Still und Sutherland in ihrer täglichen Praxis nutzen zu können. Man hat mir gesagt, dass nicht jeder Behandler fähig ist, diese bestimmten Fähigkeiten zu erwerben, dass man dafür besonders begabt sein muss. Dieser Mei-nung bin ich nicht. Ich denke, der Behandler braucht Durchhaltevermögen, Zeit und muss viel Arbeit aufwenden, um diese Kunstfertigkeit und Wissenschaft zu erlernen. Wer gewillt ist, Zeit und Mühe in die Grundvoraussetzung »sei still und erkenne« zu investieren, die einen dem Schöpfer näher bringen kann als rein stoff -liches Atmen, wird auf diesem Pfad unweigerlich ein Verfechter und praktischer Anwender der Prinzipien, die uns von Dr. A. T. Still und Dr. W. G. Sutherland ver-mittelt wurden. Off en gesagt möchte ich gerne sehen, wie 2000 Männer und Frauen diese Art der Osteopathie ausüben, denn solche Osteopathen werden vielen Tau-senden Patienten zu Diensten sein, denen man anderswo gesagt hat: »Wir haben für Sie alles getan, was möglich ist. Sie werden lernen müssen, mit diesem Problem zu leben.« Ein hoher Prozentsatz dieser zahlreichen Menschen kann aber zu einem sehr viel höheren Maß an Gesundheit geführt werden, als ihnen in ihrem jetzigen Zustand zur Verfügung steht. Solche Patienten, denen man helfen kann, liegen mir am Herzen. Damit sie weiterkommen, brauchen sie die Hilfe von Osteopathen mit Fähigkeiten in den besagten Bereichen. Zurzeit gibt es in Amerika aber lediglich

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mir vor vielen Jahren als Antwort auf ein Schreiben geschickt hat, in dem ich mich auf bestimmte Aspekte der Osteopathie im kranialen Bereich bezog. Seine Antwort schließt jedoch die gesamte Körperphysiologie in der Wissenschaft der Osteopathie ein. Ich zitiere ihn hier wörtlich:

»Mir näher als mein Atem ist der Schöpfer des Kranialen Mechanismus … Dem Patienten näher ist der Schöpfer seines oder ihres Kranialen Mechanismus …7 Meine denkenden, fühlenden, sehenden, wissenden Finger werden auf Intelligente Art und Weise vom Meisterlichen Mechaniker geführt, der diesen Mechanismus erschuf. Es ist nicht wichtig, wie man interpretiert, solange man mental Kontakt zur Oberleitung hat wie eine Straßenbahn.«

Lassen Sie mich das wiederholen: »Es ist nicht wichtig, wie man interpretiert, so-lange man mental Kontakt zur Oberleitung hat wie eine Straßenbahn.«

7 Hier bezieht er sich auf Sutherlands Aussage: »›Seien Sie still‹, bezüglich Ihrer physischen Sinne, und kommen Sie Ihrem SCHÖPFER SO nahe wie möglich – näher als das Atmen. Dorthin, wo Sie die Bedeutung des ›ATEMS DES LEBENS‹ erkennen, gemeint ist nicht das ›Atmen der Luft ‹ – dies ist bloß etwas Materielles, was der Mensch während seiner Zeit auf Erden benutzt.« [Aus: Sutherland, W. G. & A. S.: Das große Sutherland-Kompendium. Band II: Einige Gedan-ken, JOLANDOS, 2004, S. II-190].

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Kapitel 2

Den Mechanismus verstehen

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Der unwillkürliche Mechanismus

Überarbeitete Auszüge aus Vorlesungen, gehalten 1976 während eines Grundkur-ses der Sutherland Cranial Teaching Foundation in Milwaukee, Wisconsin.

Wir wollen über das Wesen des primären respiratorischen Mechanismus sprechen, der eine einfache, grundlegende, primäre rhythmische Funktionseinheit darstellt. Er ist ganz und gar unwillkürlich, umfasst die gesamte Anatomie und Physiologie und kann von einem ausgebildeten Behandler in jedem Körperbereich palpiert werden. Ebenso wie er das Indiz für Gesundheit innerhalb der gesamten Körperphysiologie liefert, weist er auch auf eine Verringerung der Gesundheit in jedem Dysfunktions-gebiet hin. Man kann ihn für Diagnose und Behandlung gleichermaßen als Werk-zeug nutzen. Der Primäre Respiratorische Mechanismus ist eine Manifestation des Lebens im Patienten und der Behandler kann bei seinem Dienst, Gesundheit im Patienten wiederherzustellen, seine Hilfe in Anspruch nehmen.

Er ist und bleibt eine Funktionseinheit, dieser Primäre Respiratorische Mechanis-mus, auch wenn er zu Unterrichtszwecken in fünf Komponenten aufgeteilt wurde, von denen also jeder einen Teil dieser einfachen, rhythmischen, primären Funkti-onseinheit innerhalb der Körperphysiologie bildet. Ihr seht, dass ich nicht einfach gesagt habe: »Innerhalb des Primären Atemmechanismus«, sondern »innerhalb der Körperphysiologie.« Die gesamte Einheit hat diesen Faktor. Alles folgt den Gesetzen von Flexion/Außenrotation und Extension/ Innenrotation des anatomisch-physio-logischen Mechanismus. Wir sind vollständig abhängig von diesem simplen, rhyth-mischen, mobilen, motilen Fluid-Drive-Mechanismus.

Der gesamte Körper besitzt einen unwillkürlichen Mechanismus. Auch wenn euer Psoamuskel krank ist, ist er dazu bestimmt, in Außen- und Innenrotation zu gehen. Euer Fuß ist so gestaltet, dass er zehn- bis zwölfmal pro Minute in Außen- und Innenrotation geht – nicht aufgrund des Primär Respiratorischen Mechanis-mus, sondern weil der Primäre Respiratorische Mechanismus nur auf diese Weise funktionieren kann. Deshalb müssen wir seine Regeln und Gesetze lernen.

Lasst mich euch einen Text vorlesen, in dem es um das geht, was ich hier ausdrü-cken möchte. Er stammt aus einem Buch mit Essays des amerikanischen Anthro-pologen Loren Eiseley. Wenn ihr Loren Eiseley noch nicht gelesen habt, solltet ihr das tun – vor allem, wenn ihr lernen wollt, wie man palpiert. Durch seine Bücher

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I–55Kapitel 2 – Den Mechanismus verstehen

nismus, um sich zu bewegen und lebendig zu bleiben, um das zu sein, was er ist: eine Körper-Geist-Struktur, ein anatomisch-physiologischer, funktionierender Mecha-nismus. Wir haben viele unwillkürliche Systeme in unserem Körper – Kreislauf, Ver-dauung usw. Aber die Schlüsselrolle im menschlichen Körper hat ein ganz spezieller unwillkürlichern Mechanismus: Jede einzelne Körperzelle, jede einzelne individu-elle Zelle, die innerhalb der Flüssigkeiten lebt, in denen sie entsteht, wird 10 bis 12 Mal pro Minute in Flexion und Extension, in Außen- und Innenrotation bewegt.

Wenn wir also einen gesunden Patienten haben – egal ob er ruhig sitzt, umher-geht, tief schläft , läuft , ganz aktiv ist oder sich in völliger Ruhe befi ndet – vollzieht sich überall in ihm diese unwillkürliche physiologische Funktionsbewegung. Wir konzentrieren uns auf den neurokranialen und den sakralen Mechanismus als die Teile, die diesen Mechanismus, diese unwillkürliche Bewegung off enbaren. Aber die neurokraniale und die sakrale Aktivitätsachse, ihre physiologische Funktion, ist, wenn man so sagen will, mehr oder weniger die Antriebswelle des Systems, mit deren Hilfe alle Räder und Flaschenzüge sowie alles, was da so direkt aus der Fabrik kommt, zum Verrichten ihrer Arbeit gebracht werden – Flexion/Außenrotation und Extension/ Innenrotation. Also kann man den neurokranialen und sakralen Mecha-nismus auf keinen Fall als eine von der gesamten Körperphysiologie abgetrennte Ein-heit verstehen. Jedes Mal, wenn wir unsere Hände an einen Patienten legen, haben wir es mit dem größten und wichtigsten unwillkürlichen System im menschlichen Körper zu tun. Jedes Mal, wenn wir diesen Patienten berühren, ganz egal ob wir uns dabei auf ein winziges Fingergelenk oder ein ganzes Bein beziehen, müssen wir uns auf diesen unwillkürlichen, physiologischen Mechanismus einstimmen.

Willkürliche Mechanismen entsprechen all dem, was der Entscheidungen fäl-lende Anteil unseres Gehirns mit diesem unwillkürlichen Ding zu tun beschließt. Ich entscheide mich zu gehen, zu stehen oder zu sitzen; ich entscheide mich zu reden, zu essen und zu denken (oder zu denken, dass ich denke); ich kann eine Million Ent-scheidungen treff en. Ich entscheide mich, Emotionen zu haben oder Gedanken – das alles ist willkürlich. Dies sind Aktivitäten, die wir auf intelligente Art und Weise nutzen können, indem wir versuchen, sie weder zu beleidigen noch sie verhungern zu lassen oder auf übermäßige Weise zu beanspruchen. Wir benutzen sie einfach im normalen täglichen Leben, und sobald wir aufh ören, sie zu einzusetzen, sinken sie einfach dorthin zurück, wo sie herkamen, und unser unwillkürlicher Mechanis-mus fährt fort, uns zu unterstützen, bis wir wieder die Anweisung geben, dass das Willkürliche etwas anderes tun soll. Es ist die willkürliche Seite im Leben, die uns in schwierige Situationen bringt, nicht die unwillkürliche.

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I–57Kapitel 2 – Den Mechanismus verstehen

unterführenden Stufen. Das ist die Veränderung, von der Eiseley spricht, die un-endliche Vielfalt an Mustern, von einem Funktionszustand zum andern, in dem unwillkürlichen Mechanismus, mit dem ihr arbeitet. So lang dauert es. Das ist der Zeitraum, den die Veränderung braucht. Unser Job als Behandler ist es, uns still von innen heraus einzustimmen, um dieses Geschehen zu begreifen. Unser Verständnis entsteht aus etwas heraus, das wir spüren, wenn auch nicht erklären können. Was wir, weil es für uns wahrnehmbar ist, fühlen, ist eine Folge. Und doch können wir beobachten, dass in dieser Nanosekunde tatsächlich etwas geschieht. Wir können beobachten, welches Muster zuvor da war und welches danach, und sind – weil wir die Details der physiologischen Bewegung eines jeden Teils dieses unwillkürlichen Mechanismus nicht nur in den kraniosakralen Achsen, sondern im gesamten System studiert haben – mit unserem intelligenten Verstehen in der Lage, dies für klinische Zwecke nutzbar zu machen.

Ein universelles Design

Es gibt in diesem Kraniosakralen Mechanismus und in der gesamten Anatomie und Physiologie des ganzen Körpers auch den Aspekt der Universalität. Ungefähr zehn-tausend Generationen oder drei Millionen Jahre hat es gedauert, um den mensch-lichen Körper zu dem zu machen, was er heute ist. Grundsätzlich ist er so gestaltet, dass er als willkürlicher und unwillkürlicher Mechanismus funktioniert. Der ein-zige Grund, warum wir heute hier sitzen, ist, dass wir das Produkt von x Menschen-generationen sind, die es geschafft haben, zu überleben. Daher sind die Mechanismen in uns allesamt solche, die von der Natur zum Überleben bestimmt wurden.

Mit anderen Worten: Der fundamentale Leitgedanke in den Heilkünsten (ich habe absichtlich nicht gesagt »im osteopathischen Berufsstand«, weil es hier um etwas geht, was die Angehörigen aller Heilkünste verstehen sollten), der fundamen-tale Leitgedanke also ist, dass der Körper vom Kopf bis zu den Füßen einen wun-derschönen Mechanismus darstellt und, obgleich aus vielen Teilen bestehend, als umfassende Einheit, als universelle Funktionseinheit gestaltet wurde. Je klarer wir verstehen, wie er in uns selbst als ein ganzheitlicher Mechanismus funktioniert – und damit meine ich sowohl den willkürlichen als auch den unwillkürlichen Teil –, desto präziser kann unsere Diagnose werden und desto fähiger sicherlich auch un-sere Behandlung.

Gestern sprach man im Fachbereich über die architektonischen Grundlagen

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I–59Kapitel 2 – Den Mechanismus verstehen

Kraniosakralen Mechanismus hat Prinzipien, die allgemeingültig in jedem von uns funktionieren und dann ihren individuellen Ausdruck in der Persönlichkeit, zu der sie gehören, fi nden.

Dass wir beim Studieren in diesen Kursen nicht nach Pathologien suchen, son-dern nach den Grundlagen, die diesen Mechanismus funktionieren lassen, erwei-tert unseren Horizont um einiges. Nicht um das sogenannte Normale zu studieren, seid ihr also hier, sondern um die Prinzipien zu verstehen, die bei dem individuellen Menschen, mit dem ihr gerade arbeitet, zum sogenannten Normalen gehören.

DNS-Muster

Wenn ihr die unwillkürliche Struktur eines Menschen ohne jegliche Einmischung des Willkürlichen untersuchen könntet, würdet ihr fi nden, dass es für jeden einzel-nen Menschen auf dieser Welt ein individuelles Muster der Gesundheit gibt. Jeder anatomisch-physiologische, unwillkürliche Mechanismus folgt vom obersten Punkt des Kopfes bis zu den Füßen einem Muster, das ihm eingeimpft , für ihn geschaff en wurde von der DNS, die zum Zeitpunkt der Empfängnis da war und um die herum jeder Mensch sein Muster der Gesundheit aufbaut. Er hat Energie erhalten, um die-ses Muster aufzubauen. Es dauert neun Monate, um auf die Welt zu kommen, und 90 Jahre, um sie wieder zu verlassen; aber all diese Zeit über wird die unwillkürliche Struktur ständig Zelle für Zelle wieder aufgebaut, wobei einzig das DNS-Muster dieses speziellen Körpers den inneren Mechanismus erschafft , der sie zu einem funk-tionierenden unwillkürlichen System macht.

Wenn du dich mit deinen Händen auf diesen Patienten einstimmst mit dem Ziel, Probleme ausfi ndig zu machen, dann fi ndest du auch Probleme, hervorgerufen durch willkürlich geschaff enen Stress, Krankheit oder Traumen – also durch etwas, was der Patient von außen nach innen getragen hat. Wenn du aber in der Lage bist, durch das, was dieser Sache aufgebürdet wurde, hindurchzuarbeiten und deinen Fokus auf die Gesamtheit des unwillkürlichen Musters richtest, rufst du stattdessen die stärks-ten Energien der Welt – die DNS und ihr Muster oder ihre Blaupause – herbei, die sagen: »Das ist es, was ich sein will.« Dieses Muster ist individuell entworfen für diese eine Seele, dieses eine Individuum.

Wenn ich also diesen Kranialen Mechanismus, oder was auch immer ich zu be-handeln versuche, berühre, während ich den Fokus meines Bewusstseins auf den Mechanismus dieses Patienten richte, bemühe ich mich, darunter zu lesen mit der

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Kapitel 2-2Bewegung – der Schlüssel zu Diagnose und Behandlung

Vortrag auf einer Konferenz der Cranial Academy, die 1979 mit Unterstützung der Sutherland Cranial Teaching Foundation stattfand.

Bewegung ist nicht Leben. Bewegung ist eine Manifestation des Lebens. Das Wun-der des Lebens drückt sich in Bewegung aus, vom Fluss der Elektronen um einen Nu-cleus herum bis hin zu den lebendigen Wesen, die wir Viren, Bakterien, Pilze, Pfl an-zen, Tiere und die Menschheit nennen. Dieses Leben kann man im Meer fi nden, auf dem Land und in der Luft – vielleicht sogar im Weltraum. Die Menschheit hat in all diesen Umgebungen gelebt bzw. sich angepasst, um dort leben zu können.

Webster defi niert Bewegung als:»Die Handlung bzw. den Prozess des sich Bewegens; die örtliche Veränderung eines

Körpers von einer Stelle zur andern; die Handlung, seinen Körper oder einen Kör-perteil zu bewegen; in der Mechanik: eine Kombination von sich bewegenden Teilen; Mechanismus.«9

Zu Dorlands insgesamt 30 Defi nitionen von Bewegung gehören auch folgende: 1. Der Vorgang des Sich-Bewegens. 2. Aktive Bewegung: eine durch die eigene Mus-kulatur hervorgerufene Bewegung. 3. Automatische Bewegung: eine Bewegung, die ihren Ursprung im Organismus hat, aber nicht willentlich ausgelöst ist. 4. Über-tragene Bewegung: eine durch Kraft einwirkung von außen ausgelöste Bewegung. 5. Passive Bewegung: jede von einer außerhalb des Organismus befi ndlichen Kraft verursachte Körperbewegung. 6. Refl exbewegung: eine unwillkürliche Bewe-gung, provoziert durch einen externen Stimulus, der auf ein Nervenzentrum wirkt. 7. Spontanbewegung: eine Bewegung, die ihren Ursprung innerhalb des Organis-mus hat. 8. Indexbewegung: eine Bewegung eines kranialen Körperteils in Relation zu einem fi xierten kaudalen Teil. 9. Brownsche Bewegung: die tanzende Bewegung winziger Partikel, die in einer Flüssigkeit schweben.

Diese neun Defi nitionen des Begriff s Bewegung sind für unsere Diskussion wich-tig. So ist zum Beispiel Defi nition Nummer acht: »Indexbewegung: eine Bewegung eines kranialen Körperteils in Relation zu einem fi xierten kaudalen Teil«, eine sehr klare Bestimmung des klinischen Zustandes, den wir bei einem Schleudertrauma

9 Keine Quellenangabe im Originaltext.

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ihren off ensichtlichen Bewegungen, die, egal ob grob oder fein, ihre Kraft von einer inhärenten Potency beziehen, ermöglichen es mir als Behandler, zuzulassen, dass die innere physiologische Funktion ihre eigene, sich nie irrende Potency off enbart, statt bei der Behandlung meiner Patienten blinde Kraft von außen anzuwenden.

Unsere namenlosen Körper haben andere Ressourcen, die die gesamten Funk-tionsabläufe in unserer inneren und äußeren Umgebung ergänzen, komplizieren, fördern und stützen. Wir haben einen Namen, der uns von unseren Eltern gegeben wurde. Wir haben ein Ego, einen Geist und Emotionen. Diese drei – Ego, Geist und Emotionen – sind ebenfalls Manifestationen des Lebens als Bewegung, allerdings auf anderen Frequenzen als auf der, die der physischen und physiologischen Struktur unseres namenlosen Körpers zu eigen ist. Alle drei sind ein inhärenter Anteil unse-rer ganzheitlichen Natur und gehören somit zu unserer Gesamtexistenz. Ego, Geist und Emotionen schaff en Bereiche sich manifestierender Bewegungen mit so vielen rasch wechselnden Variablen, wie es Menschen auf der Erde gibt. Auch hier wieder beantwortet und refl ektiert unser namenloser Körper eine nach innen und außen bestehende natürliche Wechselbeziehung mit all diesen Variablen in den Bereichen von Ego, Geist und Emotionen.

Vergleiche den Körper eines Mannes, dessen ganzes Wesen Wut ausdrückt, mit dem eines Menschen, der gelassen ist, sich in einem Zustand völliger Hingabe, in meditativem Schweigen befi ndet. Beobachte den Einfl uss einer verängstigten Mutter auf ihr verletztes Kind. Einmal brachte man mir ein Baby, das aus seinem Hochstuhl gefallen und bewusstlos war. Während ich es untersuchte, saß seine Mutter auf der anderen Seite des Raumes. Ich sah mir den immer noch bewusstlos erscheinenden kleinen Jungen gründlich an und fand keine körperlichen Verletzungen. »Sie müs-sen sich keine Sorgen machen, es ist nichts passiert«, sagte ich zu der Mutter. »Gott sei Dank!«, rief sie und entspannte sich. Sofort reagierte der Kleine darauf, indem er begann, sich normal zu bewegen und zu weinen. Die Angst der Mutter hatte zu der Regungslosigkeit des Kindes beigetragen.

Wir haben nun kurz über die Gesamtheit der vielfältigen Arten von Bewegung in einem namenlosen Körper gesprochen, der von sich heraus fähig ist, seine innere und äußere Umgebung als eine Funktionseinheit an sich zu beantworten und zu refl ektieren. Wir haben sie ergänzt durch die vielfältigen Variablen, die Ego, Geist und Emotionen mit ihren Formen von Bewegung beitragen können. Dies sind keine Ursache-Wirkung-Zusammenhänge. Hier geht es, egal ob es sich um den Arzt oder den Patienten handelt, um ein ungeteiltes Individuum in einer nach außen und innen bestehenden Wechselbeziehung mit seiner individuellen Umgebung.

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Die nun folgenden Kriterien für Behandler und Patient lassen sich aus den Funk-tionsabläufen der Körperphysiologie herauslesen. Die Physiologie unseres namenlo-sen Körpers hat vier Hauptbewegungsmuster, fünf Sinne, die der Behandler zusätz-lich zu seiner bewussten Wahrnehmung für die Diagnose nutzen kann, und fünf Grundprinzipien der potenziellen Behandlung.

Die vier Hauptbewegungsmuster sind:1. Die neuromuskulären Bewegungen des Bewegungsapparates; man könnte es

auch als den willkürlichen Mechanismus der physiologischen Funktionsabläufe im Körper bezeichnen.

2. Die sekundären Rippen- und Atemmechanismen, die alle Körpergewebe wäh-rend der Atemzyklen bewegen.

3. Das inhärente, rhythmisch motile und mobile, unwillkürliche kraniosakrale Fluktuieren des Liquor cerebrospinalis und des gesamten lymphatischen Systems mit einer Zyklusgeschwindigkeit von 10 bis 14 Mal pro Minute im gesunden Zu-stand. Dr. William G. Sutherland hat diese vollkommen rhythmische Bewegung als eine Art Tidenphänomen beschrieben. Das bedeutet, dass in einem Zeitraum von zehn Minuten die gesamte Körperphysiologie jeweils etwa 100 Mal einen Be-wegungszyklus von Flexion mit Außenrotation und Extension mit Innenrotation durchläuft . Dies ist ein mächtiges Werkzeug für Diagnose und Th erapie.

4. Eine große tidenartige Bewegung, die in einem Zeitraum von neun Minuten un-gefähr 6 Mal stattfi ndet, ein fl uktuierender Mechanismus, der für jeden rhythmi-schen Zyklus ungefähr eineinhalb Minuten braucht. Ich konnte diese große Tide in meinen Patienten zum ersten Mal vor zehn Jahren beobachten und ich habe keine Ahnung, was ihr Ursprung oder ihre grundlegende Natur ist. Es ist eine Tide, die sich massiver anfühlt, mit einer allmählich anschwellenden Expansion der gesamten Körperphysiologie und einer allmählich rückläufi gen Bewegung, gefolgt von einer nächsten, allmählich massiv werdenden Expansion in einem rhythmisch balancierten Austausch innerhalb der gesamten Körperphysiologie. Ich habe diese Bewegung in zwei Patienten simultan gezählt, und sie war in bei-den vorhanden, aber jeweils auf eine individuelle Art und Weise. Auch das ist ein kraft volles therapeutisches Werkzeug, wie wir später noch erörtern werden.Die kompletten Ressourcen der Körperphysiologie, inklusive der vier Hauptbe-

wegungsmuster, beantworten und spiegeln die kreativen Spannungen der normalen Funktionsabläufe innerhalb der unwillkürlichen artikulär-membranösen Mechanis-men des Primären Atemmechanismus und der faszial-ligamentären willkürlichen und unwillkürlichen Gelenkmechanismen der übrigen Körperphysiologie. Diese

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der Gelenkmechanismen bis hin zur tiefsten Ebene der willkürlichen und unwill-kürlichen Bewegung in der Gesamtphysiologie des Patienten.

Je sensibler wir als Beteiligte bei der Palpation werden, desto mehr Bewusstsein entwickeln wir den wahren Wert des Leistungsvermögens und der Ressourcen, die den willkürlichen und unwillkürlichen Mechanismen unseres Patienten innewoh-nen. Sie sind es, die uns diagnostische Einschätzung erlauben und uns die therapeu-tischen Mechanismen zur Verfügung stellen, mit deren Hilfe sich die vielen Pro-bleme, die uns in unserer Praxis begegnen, behandeln lassen. Die Möglichkeiten sind grenzenlos.

Das Konzept der Bewegung bei der Behandlung in den Heilkünsten umfasst ei-nen weiten Bereich und viele Wissenszweige: Medizin und Chirurgie, Psychologie, Radiologie, Physiotherapie, Krankenpfl ege, und jede andere zusätzliche Versorgung. All diese Wissensbereiche basieren auf einer Reihe von Prinzipien, die so ausgerich-tet sind, dass sie sich für jede Art von Dienst nutzen lassen und sich zur Bewälti-gung spezifi scher Probleme beim Erstellen einer brauchbaren Diagnose und eines klinischen Behandlungsplan für eine Wiederherstellung in Richtung Gesundheit eignen. In unserer Erörterung geht es weiterhin um die von uns aufgestellten Krite-rien für einige der Hauptbewegungsformen in einer namenlosen Körperphysiologie sowie um die Kriterien für den Gebrauch der bewussten Wahrnehmung, der fünf projizierten Sinneseindrücke und der sensiblen motorischen Fähigkeiten durch den Behandler, der diese Werkzeuge mit dem Befund seiner von ihm als Beteiligter vor-genommenen Palpation koordiniert.

Folgende therapeutischen Prinzipien werden angewandt, wenn wir Bewegung nutzen: 1. Verstärkung, 2. Auseinanderführen, 3. Direkte Aktion, 4. Entgegenge-setzte Physiologische Bewegung und 5. Kompression.

Die Kunstfertigkeit und Wissenschaft der Palpation für einen diagnostischen Befund lässt sich, wenn man bewusst als Beteiligter dient, nicht von den therapeuti-schen Prinzipien trennen, da es sich um einen synchronen Prozess in den physiologi-schen Funktionsabläufen des namenlosen Körpers handelt, wenn der Behandler mit dem Problem im Patienten arbeitet. Der Grund dafür ist einfach: Der namenlose Körper des Patienten hat ein Problem entwickelt, das den Patienten zu uns bringt. Unser sorgfältiges Einschätzen mit Hilfe unserer teilnehmenden Palpation und un-serer motorischen Fähigkeiten lässt uns das Bewegungsmuster in diesem Patienten erfahren. Wir werden von der Bewegungsvielfalt geführt und verwenden die eben genannten fünf Prinzipien, nicht die Techniken, von Verstärkung, Auseinanderfüh-ren, Direkter Aktion, Entgegengesetzter physiologischer Bewegung, Kompression

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Es ist wiederum interessant zu erleben, dass dann, wenn wir den Balancepunkt bzw. die Balancepunkte erreicht haben und die Gewebe so unterstützen, dass sie durch den Behandlungszyklus gehen, die kreativen Spannungen des namenlosen Körpers von innen heraus Verstärkung, Auseinanderführen, Direkte Aktion, Ent-gegengesetzte physiologische Bewegung und Kompression – oder eine Kombination aus den fünfen – zeigen, während der Körper sucht und durch den ruhigen Zeitraum der Veränderung der reziproken Spannungsbalance geht, was Korrektur bedeutet. Der namenlose Körper nutzt in sich selbst die gleiche Reihe von Prinzipien, die wir als Behandler anwenden, um jenen Balancepunkt zu fi nden, der dem Körper erlaubt, durch seinen Behandlungszyklus zu gehen.

Noch eine kurze Bemerkung über die große tidenartige Bewegung als therapeu-tisches Werkzeug: Sie ist nicht in jedem Patienten deutlich spürbar. Wenn sie beob-achtet werden kann, fühlt sie sich massiver an, mit einer allmählich anschwellenden Expansion von tidenartigen Flüssigkeitsfi ngern, die die Bündel von membranösen und faszialen Umhüllungen im gesamten Körper infi ltrieren. Würde man Rande des Ozeans leben und sähe die heranfl utenden Finger der Tide, die allmählich die Ritzen und Winkel einer Flussmündung am Meer füllen, so bekäme man eine Vor-stellung, wie diese große Tide funktioniert. Während des zurücklaufenden Musters ziehen sich die tidenartigen Finger von den membranösen und faszialen Bündeln zurück, um dann beim nächsten rhythmischen Zyklus wiederzukehren. Diese Tide ist ein kraft volles therapeutisches Werkzeug. Man kann spüren, wie Dutzende oder Hunderte von winzigen membranösen und faszial-ligamentären Gelenkkorrektu-ren stattfi nden – ein Bindegewebe, das sich aus einer Quelle angereichert hat, die es in seiner eff ektivsten Phase der lebendigen Funktion arbeiten lässt. Unsere teil-nehmenden palpatorischen und sensiblen motorischen Fähigkeiten können lernen, diese Tide zu fi nden und zu nutzen, nicht notwendigerweise in jedem Behandlungs-fall, aber oft genug, um es interessant und produktiv werden zu lassen, wenn sie sich dem Behandler zeigt.

Zusammenfassend möchte ich sagen, dass mir als Behandler und meinem Patient als Individuen Leben verliehen ist, das sich als Bewegung manifestiert. Wir erfahren die Ressourcen dieses Lebens auf allen Ebenen unseres Wesens, in unserem spirituel-len Bewusstsein, in unserem Ego, unserem Geist, in den Emotionen und in den phy-siologischen Funktionsabläufen unseres namenlosen Körpers. Es ist off ensichtlich, dass wir als Behandler diese vorhandene Bewegung als Schlüssel für Diagnose und Behandlung im Dienst unserer Patienten nutzen können. Ich möchte euch gerne mit der Frage zurücklassen: »Was ist der Schlüssel zu Bewegung?«

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siologie, die angeborene Vitalität in jedem lebendigen Menschen und die Möglich-keit des Arztes diesen grundlegenden anatomisch-physiologischen Mechanismus im lebendigen Patienten zu nutzen, um Gesundheit wiederherzustellen. Fünfund-dreißig Jahre hatte er damit verbracht, diese Prinzipien zu erfahren. Dr. Still kannte die grundlegende Anatomie und Physiologie des lebendigen Körpers, war fähig, ein geistiges Bild von den Gesundheitsmechanismen im einzelnen Menschen zu emp-fangen und entwickelte einen geschickten manuellen Ansatz zur Korrektur der Kör-perphysiologie des Patienten, um deren Rückkehr zum gesunden Funktionieren zu leiten. Dr. Still kannte diese Prinzipien, und – noch wichtiger – er nutzte sie und beobachtete bei den Patienten, die seinen Dienst in Anspruch nahmen, das Resultat: eine von innen heraus sich vollziehende Rückkehr zur Gesundheit.

Die Prinzipien, die Dr. Still 1874 entdeckte, sind heute noch genauso anwendbar und wahr wie damals. Der Begriff »Prinzip« wird im Wörterbuch folgenderma-ßen defi niert:

»1) Die ursprüngliche Quelle, Herkunft oder Ursache von etwas oder 2) eine natür-liche oder originale Tendenz oder Grundlage.«

Diese Defi nitionen beschreiben die von Dr. Still vorgestellten grundlegenden Konzepte.

Es ist erfrischend, die Werke von Dr. Still zu lesen, und man fi ndet leicht Hun-derte von Zitaten, die die Ein-zu-eins-Beziehungen zwischen Dr. Still und seinen ver-schiedenen Patienten betreff en. Durch seine Entdeckung erkannte Dr. Still, dass: – diese aktiven Prinzipien und Konzepte inhärent im Geist, im Körper und in der

Seele eines jeden Patienten leben, – es die oberste Aufgabe des Arztes ist, für den Menschen »Gesundheit zu fi nden«

(denn: »Krankheit kann jeder fi nden«)10, – die Ressourcen des lebendigen Körpers dem aufmerksamen Behandler zur Ver-

fügung stehen, damit dieser sich ein geistiges Bild machen kann, das sich – kom-biniert mit palpatorischem Können – zum Evaluieren der Körperphysiologie im gesunden, kranken oder traumatisierten Zustand nutzen lässt,

– der lebendige Körper des Patienten Werkzeuge in sich trägt, mit denen man die im Patienten vorhandenen selbstheilenden Prinzipien fördern und zum Wirken veranlassen kann.

10 Anm. d. Hrsg.: Hier bezieht sich Becker auf das berühmte Still-Zitat »Die Gesundheit zu fi n-den sollte das Anliegen eines Arztes sein. Jeder kann die Krankheit fi nden.« [Aus: Still A. T.: Das große Still-Kompendium. 2. A., Band II: Die Philosophie der Osteopathie, JOLANDOS, 2005, S. II-16.]

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Das Zitat von Dr. Still betont die Normalität von Gesundheit im lebendigen menschlichen Körper. Dieser Hauptfokus auf Gesundheit zieht sich durch alle Still’schen Schrift en. Die zweite Lektion, die man von diesem Zitat lernen kann, ist die Tatsache, dass die Anwesenheit von jeglicher Krankheit bzw. von Traumen in der Körperphysiologie lediglich eine Folge ist, ein Verlassen der Normalität in Be-zug auf Position und Funktion in den Gebieten, wo die Krankheit bzw. das Trauma zu fi nden ist.

Gesundheit ist ein lebendiges Prinzip im lebendigen Körper und sie lässt sich nicht defi nieren. Ursache und Wirkung ist ein Prinzip der Körperphysiologie, das beim Vorhandensein von Krankheit und/oder Traumen defi niert werden kann.

Zum Beispiel: Ein Patient kommt mit einem ernsthaft verstauchten Knöchel, mit möglicherweise gerissenen Bändern. Der Knöchel zeigt Symptome und eine Funkti-onsstörung; diese aber sind lediglich Folgen, nicht die Ursache der Einschränkung. Vielleicht hat der Patient versucht, sich mit einer ausgestreckten Hand oder mit bei-den Händen zu fangen, während er umknickte und fi el. An allen möglichen Stellen in seinem Körper kann die Normalität gestört worden sein, und jede dieser Stellen steuert als Ursache zu der letztendlichen Entwicklung des verstauchten Knöchels bei. Es mag eine abnormale Drehung im Knie oder in der Hüft e im rechten oder linken Bein geben, ein Dysfunktionsmuster im M. psoas oder einen ligamentären Gelenkstrain in Arm und Hand, und zwar dort, wo sie beim Fallen auf dem Boden aufgeschlagen sind. Die akkumulierten Resultate dieser einzelnen Ursachenberei-che addieren sich und werden die Ursache der Knöchelverletzung. Jeder dieser Berei-che muss evaluiert und eine korrigierende Behandlung durchgeführt werden, damit die gesunde Funktion sowohl an den ursächlichen Bereichen als auch im Knöchel wiederhergestellt wird. Mit der Rückkehr zur Normalität sieht man wieder Gesund-heit am Knöchel und sogar gerissene Bänder werden besser abheilen.

Ein anderes Beispiel für eine Abweichung von der Gesundheit und ebenso wie die Knöchelverletzung lediglich eine Folge ist Krankheit. Sie kann viele Formen annehmen: Es gibt chronische Probleme wie rheumatoide Arthritis, die jahrelang andauert, oder relativ akute Erkrankungen wie Lobärpneumonie. Die – im letzte-ren Fall – kranke Lunge ist nicht die Ursache von irgendetwas. Es sind eine Reihe von Auswirkungen, die in einem spezifi schen Muster ablaufen und die Abweichung von der Normalität bedingen. Die Gesundheit kehrt zur Lunge zurück, wenn all diese Folgen aufgelöst werden. Um eine korrigierende Evaluation und Behandlung durchzuführen, die die Ursache anspricht, muss man an den Bereichen der Kör-perphysiologie arbeiten, die es der Lunge erlaubt haben, ihren Widerstand gegen

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Dr. Stills Arbeit begann zu der Stunde, als er dem ineff ektiven Gesundheitssys-tems seiner Zeit den Rücken kehrte. Er beschreibt seine Entdeckung der Wissen-schaft der Osteopathie am 22. Juni 1874 folgendermaßen:

»Vor 22 Jahren traf mich ein Schuss nicht ins Herz, sondern in die Kuppel des Ver-standes. Diese Kuppel war damals in einem armseligen Zustand, um von einem Pfeil mit den Prinzipien der Philosophie durchbohrt zu werden. … Einen Teil der Zeit habe ich mich zurückgezogen, um über dieses Ereignis nachzudenken, worin ich Dank der Kraft des Schließens erkannte, dass das Wort Gott Vollkommenheit in allen Dingen und an allen Orten bedeutet. Zu diesem Zeitpunkt begann ich mit dem Mikroskop des Verstandes sorg fältig die Annahme zu prüfen, die oft in unserer Anwesenheit gemacht wurde, dass die göttliche Vollkommenheit in Seinen Werken zu sehen ist.«12

Dr. Still nahm es auf sich, mit all den verborgenen Faktoren, die zu den Grund-lagen der Wissenschaft der Osteopathie gehören, zu arbeiten, sie zu untersuchen, mit ihnen zu experimentieren, sie zu studieren, zu testen, zu überdenken und zu fühlen. Es war ein jäher Umbruch für einen Menschen, dieser Wechsel von »Be-seitigung von Schmerz und Leiden« hin zu »Wiederherstellung der Gesundheit von innen heraus.«

Es gibt viele Facetten des Wissens und Verstehens, die man aus der lebendigen Körperphysiologie des Patienten lernen kann. Und es gibt viele lebendige Diagnose- und Behandlungskünste, die sich mit der Entwicklung einer wahrnehmenden Koor-dination des lebendigen Behandlers bei dessen Arbeit mit dem lebendigen Patienten nutzen lassen, um eine Korrektur in Richtung Gesundheit zu erzielen.

Die Betonung des Wortes lebendig ist absichtlich. Zu Dr. Stills Entdeckung ge-hört sein Erkennen, dass der menschliche Körper eine Maschine ist, die von der unsichtbaren Kraft namens Leben angetrieben wird. Es ist die Lebendigkeit des menschlichen Körpers, die ihn reagieren lässt auf Tests, Techniken und Werkzeuge der medizinischen Wissenschaft – von den technisch weit fortgeschrittenen Com-putertomographien und Magnetresonanztomographien über Impfungen, die einige der gefährlichsten Erkrankungen der Menschheit ausgerottet haben, bis hin zu ge-nau wirkenden Antibiotika oder anderen Medikamenten und anspruchsvoller Herz-chirurgie usw. In dieser Richtung gab es in den letzten sechs bis zehn Jahren mehr Fortschritte als in den fünfzig Jahren davor. Viele Tausend Leben sind dank dieser Fortschritte gerettet worden.

12 Still A. T.: Das große Still-Kompendium. 2. A., Band I: Autobiographie, JOLANDOS, 2005, S. I-121.

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I–77Kapitel 2 – Den Mechanismus verstehen

seres Dienstes zu erklären. Vor seiner Entdeckung arbeitete Dr. Still für die Mensch-heit als Arzt »besonders durch die Beseitigung von Schmerz und Leiden«, von außen nach innen, mit der medizinischen Kunst und Wissenschaft seiner Zeit. Er war, wie es ein Menschenfreund sein sollte, unzufrieden mit seinen Resultaten und suchte nach Antworten und Möglichkeiten, sich zu verbessern. Zum Zeitpunkt seiner Ent-deckung »geschah etwas«, ein unsichtbarer Faktor, ein Schritt ins Unbekannte. Die Qualität seines Lebens als Behandler war verändert, transformiert. Oder könnte man das Wort »Transmutation« benutzen, um zu erklären was geschah? Als ein Resultat dieses »stillen« Geschehens wurde er zu einem Menschenfreund, dessen primäres Interesse darin bestand, der Menschheit durch die »Wiederherstellung der Gesundheit von innen heraus« zu dienen. Er selbst verstand jetzt die Bedeutung und Erfahrung der »Lebendigkeit« seines eigenen Wesens und die gleiche »Lebendig-keit« in seinem Patienten als eine Einheit des Lebens. Er nahm diese Qualität der »Lebendigkeit«, die ihm gegeben wurde, ohne Frage an; das Wissen darum diente ihm in seiner täglichen Praxis als Arzt, Ingenieur und Menschenfreund.

Was zum Zeitpunkt seiner Entdeckung geschah, ist etwas, was schon Hunderte von Malen Menschen in den verschiedensten Bereichen widerfahren ist. Es ist Teil eines Lernprozesses bei solchen Menschen und Autodidakten, die aus tiefstem Her-zen eine Antwort auf ihre spezifi schen Fragen suchen. Es geschieht genau dann, wenn es geschehen will, und nicht durch Intention.

Dr. Still gab der Welt die Wissenschaft der Osteopathie und zwei klare, grundle-gende Prinzipien, die genutzt werden können, um den Bedürfnissen der Menschheit zu dienen: erstens das Prinzip der Gesundheit in der Körperphysiologie, das man als ein Gesetz an sich betrachten kann, und zweitens das Prinzip von Ursache und Wirkung, das sich beim Behandeln von Krankheit und/oder Traumen in der Kör-perphysiologie nutzen lässt, worin jedes derartige Problem lediglich eine Folge ist, die durch ursächliche Bereiche diagnostiziert und behandelt werden kann, um die Prozesse der Gesundheit wiederherzustellen. Beide Prinzipien können vom lebendi-gen Behandler in seiner Arbeit mit einem lebendigen Patienten genutzt werden.

Das folgende Zitat von Dr. Still gibt uns eine Einsicht in sein tiefes Wissen und die Qualität seiner Erfahrungen:

»Ich hoff e alle die, die dies nach mir lesen, werden meine volle Überzeugung wahrneh-men, dass der Verstand Gottes in der Natur seine Planungsfähigkeit – sofern Pläne nötig sind – und die Schaff ung selbst organisierender Gesetze ohne Muster für die Myriaden von Lebensformen bewiesen hat; er hat sie bestens mit den Maschinen und

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I–79Kapitel 2 – Den Mechanismus verstehen

Kapitel 2-4 Stillpunkte

Überarbeitete Fassung einer Erörterung, die 1986 während einer internen Fort-bildung der Sutherland Cranial Teaching Foundation in Philadelphia, Penn-sylvania, stattfand.

Ihr habt die Frage gestellt: Was passiert bei einem Stillpunkt? Das ist eine gute Frage, und ich werde versuchen, etwas dazu zu sagen – aber es ist nicht die Antwort, denn es gibt keine Antwort auf die Frage, was bei einem Stillpunkt geschieht.

Man geht durch einen Stillpunkt, indem man die relative Funktion eines Hebels über einem Fulkrum verändert. Du schaff st einen kompletten Austausch zwischen den zwei Enden des Hebels.

Nun, ich möchte euch nicht verwirren, aber ich habe es aufgegeben, den Still-punkt zu nutzen; er ist nicht ein Ziel der Behandlung. Ich habe sogar aufgegeben, danach zu suchen. Ich fand eine Million Stillpunkte – davor, während, danach … und schlussendlich gab ich auf. Ich nehme mich einfach so weit wie möglich aus dem Weg, so weit, wie es nötig ist, damit etwas geschehen kann.

Ein Stillpunkt ist ein physiologischer Balance-Akt, den die Körperphysiologie eines jeden Patienten durchmacht. Er kann zu jedem Zeitpunkt, an jedem Ort, auf irgendeine Weise geschehen. Wahrscheinlich kommt es spontan dazu, wenn der Pa-tient nachts gut schläft oder in ähnlichen Situationen. Der Stillpunkt ist der Versuch des Körpers, sich selbst frei zu machen, zurück in einen komplett motilen Mecha-nismus. In einer Behandlung ist er ein beobachtbares Geschehen, das der Behandler erkennen kann als etwas, das in der Körperphysiologie stattfi ndet, das er aber nicht willentlich erstrebt oder zu evaluieren versucht. Es ist eine anatomisch-physiologi-sche Veränderung, die der Körper herbeiführt, und ich als Behandler habe nichts damit zu tun. Ich muss den Stillpunkt nicht einmal erkennen. Die Tatsache, dass er stattfi ndet, weist darauf hin, dass die Körperphysiologie beschließt, ihn zu benutzen. Ich bin dabei einfach ein Beobachter und nicht einer, der ein Ziel verfolgt.

Oft werden Stillpunkte direkt vor euch geschehen, aber ihr könnt auch häufi g die Erfahrung machen, dass sie in einiger Entfernung stattfi nden. Du bist dabei, ruhig an einem Gebiet in einem Patienten zu arbeiten, zuzuhören, und plötzlich bemerkst du, dass woanders etwas geschieht. Nun, es muss durch einen Stillpunkt gegangen

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I–81Kapitel 2 – Den Mechanismus verstehen

Kapitel 2-5 Mit deinem Mechanismus sitzen

Überarbeitete Version von Vorträgen, die 1976 im Rahmen eines Grundkurses der Sutherland Cranial Teaching Foundation in Milwaukee, Wisconsin, gehalten wurden.

Die Erfahrung des inneren Spürens

In diesem Kurs haben wir mit den Knochen des Kraniums an der Außenseite begon-nen, sind dann nach innen weitergegangen durch die reziproke Spannungsmembran, haben das Einrollen und Ausrollen des Zentralen Nervensystems dazugenommen und einen Fluid Drive, den Liquor cerebrospinalis, in den neurokranialen Mecha-nismus eingeführt. Wir haben gesehen, dass dieser Mechanismus die Kapazität hat, gewisse Dinge zu tun und bestimmte Muster zu schaff en – Torsion, Sidebending-Rotation, Vertikale und Laterale Scherkraft muster14 sowie Kompression. Wir ha-ben festgestellt, dass er bestimmte membranöse Gelenkdysfunktionen haben kann und dass er sehr viele Gelenke hat. Und heute haben wir ein detailliertes Gesicht drangehängt.

Jetzt möchte ich, dass ihr euch für eine kleine Weile gerade hinsetzt und euch auf euch selbst besinnt. Wir wollen den Prozess des Trainings-Programms dieser Woche umkehren. Ich will, dass ihr euch ganz still und ohne Anstrengung der Fluktuation des Liquor cerebrospinalis bewusst werdet, die in euren Köpfen stattfi ndet – der Fluktuation des Fluid Drive. Fühle ganz still den Liquor cerebrospinalis, die fun-damentale Grundlage des Primären Atemmechanismus. Egal ob du sie tatsächlich spüren kannst oder nicht: Sei dir einfach des Liquor cerebrospinalis bewusst. Ich bitte dich nicht, sie aktiv zu spüren. Sei dir ihrer einfach nur bewusst als eines Fluid Drive, der rhythmisch fl uktuiert, heranfl ießt und abebbt wie die Tide eines Oze-ans, innerhalb deines vollständigen Kraniosakralen Mechanismus hineinströmt und herausströmt, herausströmt entlang der Hirnnerven und entlang der Spinalnerven, weitertreibt in das lymphatische System und ein Teil des lymphatischen Systems wird – dein ganzer Körper wird zu einem Einströmen und Ausströmen des Liquor cerebrospinalis.

14 Originaltext: strain

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I–83Kapitel 2 – Den Mechanismus verstehen

Meditation

An diesem Morgen möchte ich etwas machen, was ich noch nie zuvor getan habe. Ich weiß nicht, ob es funktionieren wird, aber es ist ein interessanter Gedanke. Bei uns in Dallas gibt es ziemlich viele Yoga-Gruppen, und da die Yogaschüler westliche Körper haben, die versuchen, in nicht-westlichen Positionen zu sitzen, kommen sie zu mir mit physiologischen Dysfunktionen, die sie durch ihre Versuche, eine gewisse Zeit lang zu sitzen und zu meditieren, erworben haben. Gleichzeitig habe ich Kon-takt mit mindestens zwei Menschen, die Meditationsgruppen anleiten und gut in der Position sitzen können, die für Yoga-Meditation angebracht ist; und ich glaube, dass es einen physiologischen Grund gibt, warum diese Position benutzt wird.

In der Lotus-Position sitzt man nicht so auf seinem Hinterteil, wie es beim zu-rückgelehnten Sitzen auf einem Stuhl der Fall ist, wo man Druck auf das Sakrum ausübt, was den Primären und sekundären Atemmechanismus einschränkt. Statt-dessen sitzt man aufrecht und leicht nach vorne gebeugt, mit gerader Wirbelsäule, auf seinen Sitzhöckern und Oberschenkeln. Was geschieht dabei? Der Primäre Atemmechanismus schwebt frei – der gesamte Mechanismus vom Schädeldach bis zum Os sacrum hängt sozusagen in der Luft .

Da dieser unwillkürliche Mechanismus sich rhythmisch hin und her bewegt, können die Flüssigkeit, die reziproke Spannungsmembran, das Zentrale Nerven-system und der Gelenkmechanismus so einfach frei schwebend hängen. Das erlaubt der Potency im Liquor cerebrospinalis, jede einzelne Zelle im Körper zu nähren, und der reziproken Spannungsmembran, die Faszien sanft in Flexion/Außenrotation und die Gegenbewegung zu schaukeln. Es ermöglicht den Knochen, den Bändern, dem Zentralen Nervensystem und allem anderen, sich zu verändern. Ihr Muster wird auf einer Mikroebene umgeformt, so dass sie sich in einen normaleren physio-logischen Mechanismus zurückzukorrigieren können. Sie befi nden sich geradezu in einem Zustand der Selbst-Behandlung wenn sie in dieser Position sind; sie machen diesen Mechanismus zu einem lebendigen Faktor der Funktion.

Setzt euch also jetzt in euren Stuhl, mit den Füßen auf dem Boden, mit gera-der Wirbelsäule und leicht nach vorne gebeugt: So sitzt ihr auf euren Sitzhöckern und lehnt euch bestimmt nicht in den Stuhl zurück. Dann, in aller Stille, mit ge-schlossenen Augen, denkt an einen kräft igen Liquor cerebrospinalis, der rhythmisch expandiert und kontrahiert. Dies ist ein inneres Gefühl – versucht ganz still in euch selbst einen Flüssigkeitskörper zu spüren, der zu einem Stillpunkt kommt und expan diert, zu einem Stillpunkt kommt und abebbt, zu einem Stillpunkt kommt

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Kapitel 3

Die Tide des Liquor cerebrospinalis

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Kapitel 3-1 Der Liquor cerebrospinalis

Diese Texte stammen von einem schrift lich niedergelegten Vortrag aus dem Jahr 1977.

Aus dem Verstehen des Liquor cerebrospinalis in der anatomisch-physiologischen Gesamtstruktur des Körpers erschließen sich uns Konzepte, die reich sind an ana-tomischen und physiologischen Einzelheiten und – noch wichtiger – an philosophi-schen Details. Dr. Still stellte fest:

»Ein Gedanke kommt ihm, dass die zerebrospinale Flüssigkeit das höchste bekannte Element ist, das der menschliche Körper enthält. Solange das Gehirn diese Flüssigkeit nicht in großer Menge liefert, bleibt der invalide Zustand des Körpers erhalten. Wer schließen kann, wird sehen, dass dieser große Fluss des Lebens angezapft und das aus-getrocknete Feld sofort gewässert werden muss, sonst ist die Ernte der Gesundheit für immer verloren.«15

Und W. G. Sutherland fügte hinzu, dass der arterielle Strom zwar am wichtigsten sei, der Liquor cerebrospinalis aber den »Oberbefehl« habe und man seine Fluk-tuation innerhalb einer natürlichen Höhlung mittels Palpation beobachten könne. Der Schlüssel zum Verständnis des Liquor cerebrospinalis ist, dass er aufgrund seiner Fluktuationsmuster vom Behandler sowohl für die Diagnose als auch die Behand-lung genutzt werden kann, und, noch wichtiger, innerhalb des lebendigen Körpers als eine anatomisch-physiologische Einheit in integrierter Funktion mit dem gesam-ten Körper. Man könnte sagen, dass man es mit der wiederaufladbaren Batterie des Lebens und der Gesundheit in der menschlichen Physiologie zu tun hat, wenn man den Liquor und seine Fluktuationsmuster richtig versteht.

Anatomische Überlegungen

Die Entdeckung des Liquor cerebrospinalis schreibt man im Allgemeinen Dome-nico Cotugno zu. Aber die erste ernsthaft e Untersuchung des Liquor hat 1825 der

15 Still A. T.: Das große Still-Kompendium. 2. A., Band II: Die Philosophie der Osteopathie, JOLANDOS, 2005, S. II-20.

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I–89Kapitel 3 – Die Tide des Liquor cerebrospinalis

Liquor im ventrikulären und im subarachnoidalen Raum variiert normalerweise zwischen 125 und 150 ccm.16

Naturwissenschaft lich gesehen ist der Liquor eine lebendige Flüssigkeit, deren Wasseranteil etwas höher liegt als der des Blutes. Verglichen mit Blut ist der Protein-gehalt sehr niedrig, und der Zuckergehalt liegt etwas niedriger. Andere Substanzen wie Kreatinin, Harnsäure, Harnstoff , nichtorganisches Phospat, Bikarbonat, Was-serstoffi onen, Natrium, Kalium, Magnesium, Kalzium, und Milchsäure sind in der spinalen Flüssigkeit in gleichem oder etwas geringerem Umfang wie in Blutplasma zu fi nden. Durch eine Lumbalpunktion gewonnene spinale Flüssigkeit, wird sich von der in den Ventrikeln gefundenen Flüssigkeit leicht unterscheiden.

Einige Studien beziehen sich außer auf die beschriebenen Zirkulationswegen auch auf eine Art Ebbe und Flut innerhalb des Liquor, ein Charakteristikum einer Fluktuation. Allerdings gehen derartige Hinweise nicht mit einer eindeutigen Ak-zeptanz des Phänomens einher, sondern sagen stattdessen, dass man zwar die Exis-tenz eines solchen Musters beobachtet hat, es aber nicht erklären kann.

Da die meisten dieser Studien dem Zweck dienten, die Faktoren der Liquorzir-kulation zu bestimmen, lagen ihre primären Interessen bei diesem Th ema und nicht darin, ein Fluktuationsmuster zu fi nden und dessen Bedeutung zu erklären.

Physiologische Überlegungen

In einem Leitartikel des Lancet von 1975 stand folgendes bemerkenswerte Zitat:»Eine Funktion des lymphatischen Systems ist es, die Geweberäume von Substanzen

zu reinigen, die aus Blutkapillaren austreten oder aus dem Gewebe selbst stammen und nicht in den Blutstrom re-absorbiert werden. Die Hirnhäute und das Nervengewebe des Gehirns haben keine lymphatischen Kanäle; bedeutet dieses Fehlen, dass das Pro-blem des Abtransports nicht existiert?

… abgesehen vom Hauptfl uss des Liquor zurück in den Blutstrom durch die Arach-noidalzotten könnte der Liquor auch durch die Plexi chorodei von Substanzen gereinigt werden. Diese Vorstellung erscheint bizarr, wenn man nur an die Plexi in den seitli-chen Ventrikeln denkt, denn da sie schon den Liquor produzieren, fr agt man sich, wie

16 Anm. d. amerik. Hrsg.: Ein Artikel, in dem es um die Überprüfung der verschiedenen Wege des Liquorfl usses geht, ist unter dem Titel Recent Research into the Nature of Cerebrospinal Fluid Formation and Absorption im J. Neurosurg 1983, 59: 369–383, zu fi nden.

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I–91Kapitel 3 – Die Tide des Liquor cerebrospinalis

Gehirns mit dem lymphatischen System«, »Unsere Untersuchungen der Verbindung der submembranösen Räume mit dem lymphatischen System«, »Die Bewegung des Liquor cerebrospinalis innerhalb der Medulla und der submembranösen Räume« und »Über das Eindringen verschiedener Substanzen in den Nervenstamm und ihre Be-wegung entlang des Nervs.«

In seinem Kapitel über »Rheumatismus« beschreibt Speransky eine Methode, den Liquor zu »pumpen«: »Das Pumpen geschah mit Hilfe einer Lumbarpunktion, vorgenommen am sitzenden Patienten. Wir benutzten eine 10.0-cc-›Record‹-Nadel. Das Zurückziehen und Wiedereinspritzen der Flüssigkeit wurde zwischen 8 und 40 Mal wiederholt. Beim letzten Mal wurde die Flüssigkeit entfernt. Das Ganze darf weder zu langsam noch zu schnell vor sich gehen. Ein schnelles Extrahieren, besonders im zweiten Teil der Punktion, bringt immer Kopfschmerzen mit sich, die bis zum Abend und manchmal auch noch am nächsten Tag andauern. In einigen wenigen Fäl-len kam es zu Erbrechen.«

Dieses plump mechanische Pumpen des Liquor innerhalb der duralen Umhül-lung und der Subarachnoidalräume wurde bei einer Reihe von neurodystrophen Prozessen oder Erkrankungen angewandt. Die verwendeten Methoden waren ge-linde gesagt nicht ungefährlich. Spreranskys Arbeit wurde zu seiner Zeit und auch danach sehr kontrovers diskutiert.

Bezeichnend ist seine das Kapitel 21 einleitende Feststellung: »Dieses Buch kann kein Endergebnis liefern.« Es mag in der Tat keine anderen Schlussfolgerungen ge-ben außer der Erkenntnis, dass das Wissen im Bereich des Liquor cerebrospinalis höchst komplex ist. Der Liquor tauscht Ionen, Stoff wechselprodukte und trophische Faktoren mit den Plexi choroidei, mit den Nervenzellen des zentralen, peripheren und autonomen Nervensystems, mit der Hypophyse-Hypothalamus-Achse, mit der Epiphyse und mit dem lymphatischen System aus. Zusätzlich dient der dünne Li-quorfi lm in den Subarachnoidalräumen zusammen mit den Cisternas als Wasser-bett, um Gehirn und Rückenmark zu schützen.

Philosophische Überlegungen

Um den Liquor cerebrospinalis in einem Diagnose- und Behandlungsplan zu nutzen, braucht es mehr als eine Synthese anatomisch-physiologischer Details und mehr als ein von Laboruntersuchungen begleitetes Studium der Liquor-Charakteristika in Gesundheit, Traumen oder Krankheit. Um die Erfahrung, mit dieser lebendigen

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I–93Kapitel 3 – Die Tide des Liquor cerebrospinalis

Mir geht es um Folgendes: Wenn ich als Behandler mit den lebendigen Fluktu-ationsmustern des Liquor cerebrospinalis im Patienten arbeite, bin ich an diesem Fluktuationsmuster beteiligt. Ich habe teil an der Erfahrung dessen, was ich durch die Palpation mit sensorischem Input beobachte, und dessen, was sich als Resultat des in Form eines motorischen Outputs angewandten palpatorischen Könnens in-nerhalb des Musters verändert. Die einzige in Betracht zu ziehende Realität ist stän-dige Veränderung – Veränderung, die stattfi ndet, während ich die Muster beobachte, Veränderung, die stattfi ndet, während angewandtes palpatorisches Können Muster modifi ziert, und Veränderung, die sich in der anatomisch-physiologischen Struktur des Patienten vollzieht, wenn sie im Anschluss an mein Diagnose- und Behandlungs-programm die an diesem Tag geschehene Arbeit fortsetzt.

Es ist äußerst wichtig, dass der Behandler bei seinem Palpieren der Funktions-weise des Liquor cerebrospinalis die Rolle des Beteiligten einnimmt.

Mir gefällt der Gedanke, Beteiligter zu sein anstatt außenstehender Beobachter, wenn es gilt, sich um ein Problem im Körper des Patienten zu kümmern – mag dies nun eine Dysfunktion des Bewegungsapparates, ein fasziales Dysfunktionsmuster oder ein mit dem Primären Atemmechanismus zusammenhängendes sein. Ich habe bei der Diagnose wie bei der Behandlung das Gefühl, dass ich die Veränderungen, die im Patienten stattfi nden, direkt erfahre und so in Bezug auf die Art der Dysfunk-tion einen besseren diagnostischen Einblick bekomme. Ich kann daher bei den an diesem Tag möglichen Korrekturen auch die Behandlungsresultate besser beeinfl us-sen. Ich fi nde es notwendig, den Gedanken zu akzeptieren, dass ich ein Beteiligter bin, und dieses Bewusstsein während meiner diagnostischen und therapeutischen Überprüfung aufrechtzuerhalten. Denn als Beteiligter erreiche ich bei dem, was ich erfahre, wie auch bei den Behandlungsresultaten eine viel tiefere Qualität als in der Rolle eines außenstehender Beobachters.

Wenn wir beim Arbeiten mit den natürlichen Resourcen im Körper, zu denen auch der Liquor cerebrospinalis gehört, die sensorischen und motorischen Qualitä-ten unseres Bewusstseins nutzen wollen, müssen wir, um die Mechanismen, um die es hier geht, besser verstehen zu können, zunächst drei Begriff e – Selbst-Organisa-tion, Fluktuation und Transmutation – defi nieren und zwei Prinzipien – den Atem des Lebens und das Atmen von Luft – erläutern.

Selbstorganisation: die dem Menschen angeborene Fähigkeit, Leben physisch, mental, emotional und philosophisch auszudrücken.

Jeder Mensch hat zwei Mechanismen, die lebenslang zusammenwirken: eine will-kürliche Fähigkeit zu arbeiten, zu spielen und zu ruhen, und einen komplexen un-

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I–95Kapitel 3 – Die Tide des Liquor cerebrospinalis

Die durch Palpieren feststellbaren, grundlegenden rhythmischen Fluktuations-muster des Liquor cerebrospinalis stellen longitudinale, alternierend laterale und spi-ralförmige Muster dar. Es gibt wahrscheinlich noch viele andere Muster oder Mus-terkombinationen, die sehr klein und daher nicht so leicht zu bemerken sind. Ein spezifi scheres rhythmisches Fluktuationsmuster des Liquor cerebrospinalis kann palpiert werden, indem man den Liquor cerebrospinalis entlang einer maximalen diagonalen Richtung in einem beliebigen Körperteil lenkt.

Allgemein nimmt man an, dass die Fluktuationsgeschwindigkeit des Liquor cere-brospinalis im gesunden Zustand bei 10 bis 14 Mal pro Minute liegt. Sie kann jedoch den verschiedenen Dysfunktionszuständen im einzelnen Menschen entsprechend variieren und ist so bei chronischen Erkrankungen möglicherweise sehr verlangsamt, bei Fieber dagegen erhöht.

Wesentlich wichtiger als ihre Geschwindigkeit ist aber die Qualität der Fluktuati-onsmuster. Ist der Zustand gesund, spürt man beim Palpieren eine volle Amplitude, Vitalität und lebendige Dynamik. Liegt dagegen rheumatoide Arthritis vor, fi ndet man aufgrund einer Stase in Bindegewebe und Lymphsystem eine dünne, verwäs-serte, niedrige Amplitude, und nach einer Meningitis oder Enzephalitis empfi ndet man sie als träge, da die reziproke Spannungsmembran die Qualität ihres physiolo-gischen Tonus verloren hat. Das sind nur ein paar von vielen klaren Beispielen für die variable Qualität des Liquor-Fluktuationsmusters. Der lebendige Liquor cereb-rospinalis reagiert mit ihrer off enkundigen Fluktuation auf die Herausforderungen eines von Stunde zu Stunde und von Tag zu Tag wechselnden Gesundheitsmusters im einzelnen Organismus und refl ektiert durch Veränderungen ihrer Qualität und Geschwindigkeit diese Vorgänge.

Dr. Sutherland sagt uns, dass die Fluktuation des Liquor cerebrospinalis an ers-ter Stelle steht, als ein Phänomen an sich, und ich bin mit diesem Gedanken voll-kommen einverstanden. Es gibt andere, die anderer Meinung sind, und sie mit der Kontraktilität des Zentralen Nervensystems oder der rhythmischen Inhalation oder Exhalation des respiratorischen Systems in Verbindung bringen möchten. Es ist off ensichtlich, dass es Zusammenhänge und Beziehungen gibt zwischen allen lebendigen Geweben und der Geschwindigkeit ihrer rhythmischen Funktion, der Motilität des Zentralen Nervensystems, der wiegenden Bewegung der reziproken Spannungsmembran, dem rhythmischen respiratorischen Mechanismus und ande-ren, sowohl willkürlichen als auch unwillkürlichen Mechanismen und dass diese die Fluktuation des Liquor modifi zieren und umgekehrt wiederum von ihr modi-fi ziert werden. Trotzdem werden wir als Behandler mit unserer bewussten Wahr-

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I–97Kapitel 3 – Die Tide des Liquor cerebrospinalis

sem Bereich verbessert, aber seine inhärente Funktion steht dem Körper nicht zum sofortigen Gebrauch zur Verfügung.

2. Sei dir mit einer aufmerksamen und gleichzeitig ruhigen Palpation aller Kom-ponenten der Selbstorganisation bewusst, die mit der Qualität der Liquorfl uktuation und der unwillkürlichen Bewegung im Körper verknüpft sind. Palpiere nun, um die Gesamtvitalität der anatomisch-physiologischen Mechanismen zu befunden. Ob-wohl diese Vitalität nicht unbedingt elektrischer Natur ist, vergleiche ich es gerne mit einem Messen von Voltspannung und erstelle für jeden Patienten einen geschätzten Befund. Anders gesagt: Die Vitalität des Durchschnittspatienten sollte sich so anfüh-len, als läge sie bei 110 Volt. Bei einer Dysfunktion, zum Beispiel einem chronischen Zusammenbruch des Nervensystems, kann die Voltspannung dagegen 60, 50 oder weniger betragen. Dasselbe gilt für rheumatoide Arthritis. Ist der Patient in einem Zustand akuter Müdigkeit, kann dieser Vergleich mit einer Voltspannung ebenfalls einen niedrigen Befund ergeben, bei dem man aber spürt, dass er zeitlich begrenzt ist und sich während eines guten Nachtschlafes vermutlich selbst korrigieren wird. Bei einem professionellen Athleten liegt die Spannung nicht bei 110, sondern bei 220 Volt. Das ist auch nötig bei all dem, was diese Leute in ihrem Sport aushalten müssen.

Dies ist ein nützlicher Test, weil er dir ein Gefühl für die Qualität der Vita-lität gibt, mit der du bei der Diagnose und Behandlung von Problemen arbeitest. Ausreichende VOLTAGE bedeutet ausreichend Vitalität, um damit eine Korrektur durchzuführen und diese sich weiter entfalten zu lassen, so wie du es dir wünschst. Niedrige VOLTAGE ist ein Hinweis darauf, dass deine Korrekturversuche die Mög-lichkeiten des Patienten, die Korrektur zu nutzen, nicht übersteigen sollten, weil eine Überkorrektur in diesem Zustand verringerter Vitalität nicht von Dauer sein und die bereits herrschende lokale und generelle Erschöpfung des Patienten noch verstärken wird.

Diesen zweiten von mir empfohlenen Test sollte man nicht mit dem Zählen des Cranial Rhythmic Impulse (CRI) verwechseln, denn er ist einfühlsamer und aussa-gekäft iger. Über beide von mir erwähnten Tests könnte man noch länger sprechen; ich habe aber hoff entlich genug gesagt, um eure Aufmerksamkeit darauf zu richten.

Transmutation: Die Umwandlung einer Sache in eine andere; die Veränderung eines chemischen Elements in ein anderes.

Die Fähigkeit zur Transmutation ist ein natürliches Phänomen, das im Körper ein Leben lang vorhanden ist. Zur rhythmischen Fluktuation des Liquor cerebro-spinalis gehört diese Fähigkeit zur Transmutation. Sie schafft einen rhythmisch ba-lancierten Austausch mit dem Plexus choroideus, den physiologischen Zentren im

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I–99Kapitel 3 – Die Tide des Liquor cerebrospinalis

einer CV4-Technik; diesmal dauerte es 30 Minuten. Innerhalb einer weiteren Wo-che heilte die Haut auf seinen Beinen komplett und blieb auch gesund.

Howard Lippincott, D. O., beschreibt die Resultate der CV4-Technik so:»Es ist schwer, zurückhaltend zu sein, wenn es um den Nutzen geht, den wir durch

die Kompression des vierten Ventrikels erreichen. Denn wenn diese mächtige Flüssig-keit durch besagte Technik aktiviert wird, kommt es zu Ergebnissen, die Begeisterung rechtfertigen.

Es kommt zu einer günstigen Wirkung auf das gesamte zirkulatorische System, mit Abnahme von Stauungen, Ischämien und Ödemen, soweit dies ohne Chirurgie über-haupt möglich ist.

Die Stoff wechselvorgänge werden verbessert, einschließlich der Ernährung aller Ge-webe und der schrittweisen Absorption fi bröser und kalziumhaltiger Ablagerungen, die nicht physiologischer oder kompensatorischer Natur sind.

Die Kompression des vierten Ventrikels verbessert auch die Funktion der Organe, und bei Infektionen wird das Immunsystem durch die Wirkung auf die Milz, Pank-reas und Leber gestärkt.

Das endokrine System wird entsprechend der unmittelbaren Bedürfnisse des Kör-pers reguliert.

Der Liquor cerebrospinalis hat das Kommando über den Stoff wechsel, einen Groß-teil der unwillkürlichen Funktionen, und den autoprotektiven Mechanismus des Or-ganismus.

Dr. Sutherland machte darauf aufmerksam, dass sekundäre osteopathische Dys-funktionen nach der Kompression des Ventrikels weniger off ensichtlich sind. Die Kom-pression ist daher nützlich, um die primäre Dysfunktion zu bestimmen.«21

Wie man sieht, wird die unwillkürliche Mobilität des Körpers, mit seinen Mik-robewegungen der Flexion/Außenrotation und Extension/Innenrotation revitali-siert. Außerdem wird die Lebens-Batterie – die wir vergleichbar mit Voltspannung evaluieren – sofort transmutiert/umgewandelt in Richtung auf den physiologischen Idealzustand für diesen Patienten, seien das nun 110 oder 220 Volt.

Eine kontrollierte Kompression der Fluktuation des Liquor cerebrospinalis, in-dem man sie zur ihrer kurzen rhythmischen Periode bzw. ihrem Stillpunkt herun-ter- und durch diesen hindurchbringt, lässt sich von den Ossa parietalia, dem Os frontalis bzw. den Ossa frontalia, den Ossa temporalia oder dem Os sacrum aus durchführen. Es muss aber nicht unbedingt eine Kompression des vierten Vent-

21 Sutherland, W. G. & A. S.: Das große Sutherland-Kompendium. Band II: Einige Gedanken, JOLANDOS, 2004, S. II-197.

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I–101Kapitel 3 – Die Tide des Liquor cerebrospinalis

Patienten viel Überzeugungskraft aufbringen musste, um sie so lange bei der Stange zu halten, bis die gewünschten Resultate erreicht waren.

Eine vergleichbare Anzahl von Fällen mit rheumatoider Arthritis reagierten ähnlich positiv und erlangten ihre inhärente Vitalität wieder. Obwohl die betroff e-nen Gelenke weiterhin eingeschränkt waren, schmerzten sie doch sehr viel weniger. Auch zog sich die Behandlung über sechs bis neun Monate hin. Zwei der Patienten reagierten nicht so stark, aber sogar sie spürten eine Verbesserung. Wie bei dem vorhin beschriebenen Fall des 55-Jährigen dauerte es auch bei ihnen zu Beginn der Behandlungen lange, bis sich der Stillpunkt einstellte. Das wurde jedoch von Wo-che zu Woche besser und sie reagierten auf den rhythmisch balancierten Austausch in ihrem verstopft en Gewebe.

In vielen Fällen konnten sterbenskranke Krebspatienten, einige zum Beispiel mit inoperablen Gehirntumoren, in den letzten Wochen und Monaten vor ihrem Tod relativ schmerzfrei und erträglich leben.

Dieses Kontrollieren der Fluktuationen des Liquor cerebrospinalis, indem man sie hinunterbringt zu ihrer kurzen rhythmischen Zeitspanne, habe ich auf verschie-denste Art und Weise und in Hunderten von Fällen angewandt, um den unter-schiedlichsten Erfordernissen gerecht zu werden. Ich benutze das nicht bei jedem Pa-tienten, der in meine Praxis kommt, sondern immer dann, wenn es mir bewusst wird, dass es angebracht ist. Es entspricht stets der jeweiligen Herausforderung, wenn auch meist mit viel weniger dramatischen Wirkungen als in den beschriebenen Fällen. Durch Palpation und angewandte palpatorische Fähigkeiten erspüre ich jedoch, dass das erreicht wurde, was an diesem Behandlungstag notwendig war.

Das Prinzip des Lebensatems: Dr. Sutherland zufolge kann die Potency des Liquor cerebrospinalis als ein grundlegendes Prinzip in der Funktion des Primä-ren Atemmechanismus angesehen werden. Er bezeichnete sie auch als Atem des Lebens, als ein Unsichtbares Element und gab ihr noch andere Namen, die unsere Aufmerksamkeit auf ihre hohe Bedeutung für das Funktionieren des Liquor cerebro-spinalis lenken. Dr. Sutherland verbrachte viel Jahre damit, sämtliche Elemente und Komponenten des Kraniosakralen Mechanismus verstehen zu lernen: die kranialen Gelenkmechanismen und das Os sacrum, die reziproke Spannungsmembran, die Motilität des Zentralen Nervensystems und die Fluktuation des Liquor cerebrospi-nalis. Er arbeitete ganz für sich alleine und experimentierte mit komprimierenden Bandagen am eigenen Schädel, um Dysfunktionen der Extension, der Flexions, der Sidebending-Rotation und der Torsion zu erzeugen; er produzierte auch membra-nöse Gelenksdysfunktionen, einige davon recht extrem, und korrigierte sie dann.

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I–103Kapitel 3 – Die Tide des Liquor cerebrospinalis

logischen zirkulatorischen und rhythmischen Funktionssysteme, die wir für unsere Anwesenheit auf dieser Erde brauchen. Um uns als ein Individuum zu manifestieren, benötigen wir nämlich einiges mehr als lediglich eine Lebenskraft . Wir brauchen Nahrung, Wasser, Luft , Licht, Dunkelheit, Mobilität, Motilität und andere Fakto-ren; wir haben eine Vielzahl von internen Systemen, einige willkürlich und einige unwillkürlich – alle geschaff en, um andere zu modifi zieren und gleichzeitig von anderen modifi ziert zu werden, wenn sie ihre zirkulatorischen und rhythmischen Dienste und Funktionen ausüben. Wir besitzen etwas, das wir Geist nennen oder Bewusstsein, und das lässt uns begreifen, dass wir nicht einfach nur unsere eigenes Produkt sind (auch wenn wir denken, das sei das Wichtigste), sondern das Produkt unseren gesamten Umgebung, und in einem rhythmisch balancierten Austausch mit dieser Umgebung stehen müssen. Dies sind einige der Elemente, die für eine integrierte Funktion der Selbstorganisation des menschlichen Lebens notwendig sind, um Gesundheit aufrechtzuerhalten und sich an Krankheit bzw. Traumen an-zupassen.

Als Behandler ist uns eine ständig sich entwickelnde, riesige Auswahl an dia-gnostischen und therapeutischen Werkzeugen gegeben, die wir nutzen, um bei dem Menschen, der mit einem Problem zu uns kommt, einen Befund zu erheben und ihn zu behandeln. Zu den wertvollsten dieser Werkzeuge gehören unser eigenes bewusstes Wahrnehmen, unser Spüren und unsere angewandte palpatorische Fä-higkeit. Mit ihnen haben wir teil am innerlichen Milieu des Patienten, sei es bei ei-ner primären Betreuung oder bei einer ergänzenden Behandlung im Rahmen eines Untersuchungs- und Behandlungsprogramms.

Zum Zwecke dieser Erörterung habe ich die Selbstorganisation des Menschen in ein Prinzip des Lebensatems und ein Prinzip des Atmens von Luft unterteilt. In Wirklichkeit sind sie jedoch eins – eins in der inhärenten Fähigkeit des Indivi-duums, das Leben physisch, mental, emotional und philosophisch auszudrücken. Als Osteopath kann ich alle Möglichkeiten der modernen Medizin und Chirurgie nutzen, um dem Patienten zu helfen, der meine Unterstützung sucht. Und als ein Beteiligter kann ich dank meines bewussten Wahrnehmens, meines Gespürs und meines angewandten palpatorischen Könnens mit den dem Patienten innewohnen-den Fähigkeiten arbeiten, um in diesem dynamischen, homöostatisch gesteuerten, dem »einen ewigen Gesetz des Lebens und der Bewegung« gehorchenden Körper eine Balance der Funktion zu erreichen

Der Liquor cerebrospinalis als eine jener inhärenten Fähigkeiten eröff net uns noch einen weiten Raum, um seine Möglichkeiten zu erforschen.

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I–105Kapitel 3 – Die Tide des Liquor cerebrospinalis

Wie Dr. A. T. Still in seiner Autobiografi e bemerkt, hat er die Grundlagen der Wissenschaft der Osteopathie nicht erfunden – er hat sie entdeckt. Genauso erfand Dr. W. G. Sutherland das Kraniale Konzept nicht – er entdeckte seine grundlegen-den Prinzipien. Er fand heraus, dass der Liquor cerebrospinalis sich mit dem aus-tauscht, was er den Atem des Lebens nannte. Kontrolliert man die Fluktuation des Liquor cerebrospinalis, indem man ihn hinunterbringt zu einem relativen Stillpunkt, erfolgt sofort eine Transmutation, ein Austausch zwischen dem Höchsten Bekann-ten Element und dem Liquor cerebrospinalis. Durch diesen Austausch ergibt sich ein nährender Faktor, den man Funken und Bioenergie nennen kann, und ebenso weitere, erst noch zu entdeckende Faktoren, die zwischen dem Liquor cerebrospi-nalis und dem Zentralen Nervensystem, den Kapillaren des Plexus choroideus, und wo auch immer Liquor cerebrospinalis in der gesamten Körperphysiologie zu fi nden ist, wirken. Komplizierte, leblose Maschinerie – wie in einem Auto, einer Spülma-schine, einer Mondrakete – braucht einen Funken in ihren Systemen, damit sie star-tet und läuft . Biologische Systeme haben seit Jahrtausenden einen Funken und ein Bio energie-System in ihre Mechanismen eingebaut. Dies ist keine esoterische oder religiöse Fantasie; es ist eine einfache, bioenergetische, physiologische Tatsache.

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I–107Kapitel 3 – Die Tide des Liquor cerebrospinalis

Körper geht von Kopf bis Fuß in seiner unwillkürlichen Mobilität zehn Mal pro Minute in anatomisch-physiologische Flexion/Außenrotation und Extension/In-nenrotation – eine Mikromobilität durch das gesamte Funktionsmuster des ganzen Körpers hindurch.

Ich habe einen willkürlichen Körper, mit dem ich herumgehe, den ich sich schüt-teln oder sonst etwas tun lassen kann, was ich will. Und gleichzeitig, während ich das tue, während ich hier stehe, vollzieht sich diese unwillkürliche Flexion/Außenrota-tion und Extension/Innenrotation im gesamten Mechanismus, der zu uns gehört.

Mögen uns auch »wissenschaft liche« Beweise fehlen, dass der Primäre Atemme-chanismus für dieses ganze unwillkürliche System im gesamten Körper verantwort-lich ist: Wir können dennoch kategorisch sagen – und diese Behauptung lässt sich defi nitiv aufstellen – dass dies die einzige Art ist, wie der Primäre Atemmechanis-mus arbeitet. Es gibt innerhalb des Primären Atemmechanismus keine Muskelarbeit oder sonstige willkürlichen Mechanismen, die ihn zu dieser Flexion/Außenrotation und Extension/Innenrotation veranlassen – dies ist wirklich die einzige Art und Weise, wie er arbeitet.

Es ist ein Mechanismus, und dies bedeutet, dass wir ihn auch als Mechanismus studieren müssen. Wir müssen die Knochen, die Hirnhäute, das Zentrale Nerven-system und den Liquor cerebrospinalis als Arbeitseinheiten studieren – als Arbeits-einheiten, die zu etwas gehören, das tut, was es tut, weil es dafür bestimmt wurde und weil das eben einfach die einzige Art und Weise ist, wie es funktionieren kann.

Meine Aufgabe ist es nun, über den Anteil des Liquor in diesem Mechanismus zu sprechen. Laut Dr. Sutherland ist der Liquor cerebrospinalis das primäre, grund-legende Prinzip im Primären Atemmechanismus. Nach Dr. A. T. Still ist er das Höchste Bekannte Element im menschlichen Körper, und es gibt weitere Stellen in seinen Schrift en, die andeuten, dass da etwas anders ist als bei anderen Körper-fl üssigkeiten, dass es da etwas gibt im Liquor cerebrospinalis, das ein grundlegendes Gesetz ausdrückt.

Der Liquor ist ein Fluid Drive. Er fl uktuiert und verändert sich und benötigt nicht das Einrollen und Ausrollen des Zentralen Nervensystems, damit er fl uktuie-ren kann. Er fl uktuiert, Punkt. Diese Tatsache muss man annehmen. Ich habe sie an dem Tag akzeptiert, als ich Will Sutherland sie aussprechen hörte. Ich nahm an, dass es wahr sei, und ich habe niemals einen gegenteiligen Beweis in meinen Patienten gefunden. Es ist mir eigentlich vollkommen egal, was ihn zum Fluid Drive macht – ich möchte ihn einfach arbeiten lassen – er ist ein Prinzip.

Der Liquor cerebrospinalis hat einen automatischen Fluid Drive, der Dinge ge-

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I–109Kapitel 3 – Die Tide des Liquor cerebrospinalis

suchte, eine Torsion links zu initiieren, stoppte es, bevor es überhaupt anfi ng. Nun, was ist das Resultat einer ausgeprägten Torsion wie dieser? Das Zentrale Nervensys-tem muss in eine Torsion verdreht sein und ebenso die reziproke Spannungsmemb-ran und die knöchernen Elemente. Aufgrund der ausgeprägten Torsionsmechanik war der Aquaeductus sylvii dieser Patientin wie ein Schlauch verdreht und es fand kein guter Flüssigkeitsaustausch zwischen dem dritten und vierten Ventrikel statt. Wahrscheinlich hatte sie schon ihr ganzes Leben lang einen Torsionsmechanismus, aber dann war ihr etwas widerfahren: Sie war hingefallen, hatte sich verdreht, zu hart hingesetzt oder sonst irgendetwas und dadurch diesen Mechanismus in eine noch stärkere Torsion gebracht.

Um dies zu korrigieren, nahm ich sie in das Rechtstorionsmuster, verstärkte es, und wartete. Auf diese Art und Weise ließen wir den gesamten Mechanismus – den Fluid Drive, das motile Nervensystem und die reziproke Spannungsmembran – da-mit beginnen, dieses Torsionsmuster behandeln. Das Ende der an diesem Tag vor-genommenen Behandlung war der Zeitpunkt, als das Zentrale Nervensystem so ruhig wurde, dass es praktisch keine Bewegung mehr gab, als auch die reziproke Spannungsmembran so ruhig wurde, dass es praktisch keine Bewegung mehr gab, und als der Liquor cerebrospinalis ruhig wurde bis zu einem Punkt unendlicher Stille. Die Patientin ging also durch einen Stillpunkt für die Flüssigkeit, das Zentrale Nervensystem und die reziproke Spannungsmembran. In dem Stillpunkt begann ihr Kopf, sich bequem in einen Mechanismus zurückzuentspannen, der für sie stimmig war. Später, als ich sie wieder untersuchte, war sie immer noch in einem ausgepräg-ten Rechtstorsionsmuster, aber jetzt konnte der Schlauch, der Aquaeductus sylvii, seine Aufgabe erfüllen. Er konnte die Flüssigkeiten wieder durchlassen und das war das Ende ihrer Kopfschmerzen. Was ich hierbei betonen möchte, ist, dass der Liquor cerebrospinalis von uns durch einen Stillpunkt gebracht werden musste, damit sie richtig funktionieren konnte – um die Korrektur zu bekommen.

Genau das Gleiche versuchen wir mit der CV4-Technik, also der Kompression des vierten Ventrikels, zu erreichen. Wir sind daran interessiert, dieses grundlegende Prinzip zu einem Punkt herunterzubringen, wo es sozusagen in sich den Gang än-dern kann. In dem es dies tut, erfüllt es die Bedürfnisse der Physiologie des betref-fenden Patienten. Es lässt seinen Potency-Faktor entstehen. Es tauscht sich mit den Körperfl üssigkeiten aus. Bis zu den Lymphbahnen der Zehen hinunter klärt sich alles. Wenn wir es zu einem Stillpunkt hinunterbringen, kann es in all diesen Berei-chen den Gang wechseln, und wir haben die komplette Physiologie beeinfl usst.

Wenn wir über eine CV4-Technik (oder laterale Fluktuation) sprechen, sprechen

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I–111Kapitel 3 – Die Tide des Liquor cerebrospinalis

eine Korrektur einer membranös-gelenkigen Verbindung hinzubekommen. Vergesst es. Kranke Membranen korrigieren sich nicht gut, sie können es nicht. Es gibt keine Tonusqualität in dieser reziproken Spannungsmembran; sie ist schon da, ja – aber sie funktioniert nicht.

So wird eure CV4-Technik als ein regulärer Teil eurer Behandlung über einen Zeitraum von mehreren Wochen oder Monaten, abhängig von der Chronizität des Problems, allmählich die gesamte Qualität des Tonus, die Funktion der reziproken Spannungsmembran und die normale Spannung und Dicke wiederherstellen. Wenn dies korrigiert ist, bekommt ihr anschließend nicht nur bessere weitere Korrekturen, sondern macht aus den Patienten auch wieder lebendige Menschen.

In heft igen Fällen fragen die Patienten immer, wie lang es dauern werde. Ich sage ihnen dann: »Vergessen Sie, wie lange es dauern wird. Wir werden dranbleiben, bis Sie meiner müde sind und ich Ihrer, und es wird in den ersten sechs Monaten keine spürbare Veränderung geben. Wenn Sie das nicht mitmachen wollen, brauchen wir gar nicht anzufangen.« Unter diesen Umständen lässt sich dann vielleicht einer von dreien auf die Behandlung ein. Aber der bekommt auch Resultate.

Nervöser Zusammenbruch: Es gibt Menschen mit einem totalen Nervenzu-sammenbruch zu uns kommen – und ich spreche hier nicht über psychosomatische Fälle – ich spreche über Menschen, die physiologisch einen nervösen Zusammen-bruch erlitten haben. Man fasst ihren Mechanismus an und spürt, dass sie überhaupt keine elektrische Ladung haben. Sie kommen kaum auf 20 Volt (und sollten doch auf 110 Volt sein) – ein krankes Nervensystem eben. Sie hatten einen nervösen Zu-sammenbruch und ihr Mechanismus ist schwach, müde, läuft mit niedriger Ener-gie. Das ist chronisch, es ist schon seit Jahren so; manche Monate waren besser und andere waren schlechter, aber es ist ein lausiger Mechanismus. Das Nervensystem ist krank. Es hat keine Ladung.

Was lädt diese Menschen wieder auf? Wöchentlich einmal eine CV4-Technik, und zwar so lange wie bei einer Behandlung rheumatoider Arthritis – also sechs bis zwölf Monate. Man muss ihnen sagen »Sie werden sich einige Zeit noch nicht besser fühlen, und ich werde nicht versuchen, Ihnen zu beweisen, dass es aufwärtsgeht. Der Mechanismus muss uns beiden beweisen, dass Sie es Ihnen besser geht.« Plötzlich, nach zwei bis drei Monaten, fühlt es sich nicht wie 20, sondern wie 25 Volt an. Wenn die Patienten das nächste Mal kommen, fällt es wieder auf 23 zurück und steigt dann auf 27. Später kommen sie, und das Ding ist dabei, sich aufzuladen. Und schließlich kommen sie eines Tages in die Praxis (die Korrekturen fi nden normalerweise zwi-schen den Behandlungen statt, nicht während der Patient auf der Behandlungsbank

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I–113Kapitel 3 – Die Tide des Liquor cerebrospinalis

Rheumatoide Arthritis: Ich gehe davon aus, dass all meine Patienten mit rheu-matoider Arthritis auch anderen Ärzte konsultieren. Mich suchen sie auf wegen der Dinge, die ich über die Wissenschaft des menschlichen Körpers weiß, und das bekommen sie von mir, so gut wie ich es vermag. Meine Patienten mit rheumatoider Arthritis behandle ich mit der CV4-Technik, Punkt. Techniken, bei denen man mit den einzelnen Gelenken arbeitet usw., verwende ich nicht. Für mich ist rheumatoide Arthritis eine Erkrankung des Bindegewebes, des Kollagens, vom Kopf oben bis zu den Fußsohlen. Überall gibt es eine Stase. Angenommen, ihr wollt eine Methode, mit der ihr das komplette Kollagen-System auf direkteste und schnellste Art und Weise beeinfl ussen und in ihm den Wunsch verankern könnt, alle seine Flüssigkei-ten und Zellen auszutauschen, damit es so sein kann, wie es wirklich sein soll, und zwar von Kopf bis Fuß, auch in all den kranken Gelenken. Was für eine Art physio-logischer Medizin würdet ihr dann anwenden? Eine CV4-Technik, Punkt.

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I–115Kapitel 3 – Die Tide des Liquor cerebrospinalis

bringt. In jedem Körpergewebe gibt es Ärger, in allen Faszien, in allen Lymphbah-nen des Körpers. Ich mache also nicht nur eine CV4-Technik im Bereich des vierten Ventrikels, ich mache eine CV4-Technik, die das gesamte Muster des Liquor cerebro-spinalis im ganzen Körper beeinfl usst.

In einem Fall musste ich 45 Minuten sitzen und warten, bis diese Flüssigkeit in einen Stillpunkt und durch ihn hindurch kam, bevor dieses Supraokziput heiß wurde. Als der Patient das nächste Mal wiederkam, dauerte es lediglich 40 Minuten, und das nächste Mal nur noch 30. Wir bewegten uns also in die richtige Richtung. In ungefähr sechs bis zwölf Monaten wird es die normalen sieben Minuten dauern, und der Patient wird lebendig sein. Er wird immer noch rheumatoide Arthritis ha-ben – das ist nicht der Punkt. Aber er wird wieder lebendig sein.

Betonen möchte ich hier, dass die CV4-Technik eine lebendige Behandlung ist. Man muss die Qualität der Flüssigkeit im Mechanismus lesen und die Qualität der Gewebe. Bei einer CV4-Technik geht es nicht einfach um eine Routine, bei der man seine Hände anlegt, etwas macht, und dann passiert’s. Ihr müsst wirklich die Quali-tät des gesamten Mechanismus lesen, wenn ihr eine CV4-Technik anwendet.

Wie viel Druck ihr am Supraokziput ausübt, ist von Patient zu Patient und von Behandlung zu Behandlung unterschiedlich – manche sind zäher und manche sind sanft er. Ihr könnt Überreaktionen bekommen, wenn ihr eine CV4-Technik am Su-praokziput macht, besonders wenn der Patient eine Dysfunktion im okzipitomas-toidalen Bereich hat – egal ob diese Dysfunktion seit 25 Jahren oder 25 Minuten existiert. Diese Patienten haben auf der Seite der Dysfunktion bereits eine Kom-pression des Supraokziputs in Relation zum Os temporale – und jetzt komprimiert ihr es noch mehr. Dysfunktionen im okzipitomastoidalen Bereich sind berüchtigt dafür, Überreaktionen auszulösen. Man kann wirklich ein Problem bekommen, wenn man eine CV4-Technik im Bereich einer okzipitomastoidalen Dysfunktion macht und dabei von beiden Seiten des Supraokziputs aufs Geratewohl die gleiche Kraft anwendet.

Ich möchte euch einen kleinen Tipp geben – es ist jedoch bei jedem Patienten un-terschiedlich, und wird nicht bei jedem so funktionieren, wie ich es beschreibe. Ihr werdet es je nach der Qualität und Erfordernis auf jeden Patienten anpassen müssen. Hier also mein Tipp: Da dieses Supraokziput bereits nach oben in das Os temporale hineingetrieben worden ist, hat es auf dieser Seite schon die Kompression, die man durch eine CV4-Technik erreichen möchte. Daher gibt man der Seite, wo das Su-praokziput die okzipitomastoidale Dysfunktion hat, lediglich Unterstützung und wendet auf der anderen Seite eine Kompression an, bis man die Tide des Liquor ce-

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I–117Kapitel 3 – Die Tide des Liquor cerebrospinalis

hält es, bis man die Reaktion des Liquor spürt, die darin besteht, dass er still wird und zu einem Punkt kommt, wo er sein inneres Fulkrum verändert. Diese Annähe-rung vom Sakrum aus wird in allen Fällen benutzt, wo man am Kranium ein derart starkes Trauma vermutet, dass man sich dort nicht ranwagt, trotzdem aber etwas Th erapeutisches für den Patienten tun möchte. Wir wissen, dass es, wenn wir den Liquor in die Stille bringen, zu einem Austausch der Flüssigkeitsbalance kommt; die vitalen, physiologischen Zentren werden stimuliert; die Spannung in den Intrazellu-lärräumen der Faszien und Ligamente wird modifi ziert; eine Immunantwort wird angeregt – es geschieht sehr viel. Wenn wir also den Liquor cerebrospinalis über eine Annäherung am Sakrum in die Stille bringen, können wir viel Gutes bewirken ohne uns zu sorgen, dass wir vielleicht bei einer potenziellen Schädelfraktur oder irgend-einer anderen traumatischen Verletzung zusätzlich Probleme erzeugen.

Laterale Fluktuation

Wir besitzen eine Technik, mit der wir eine laterale Fluktuation schaff en. Dabei fassen wir die Ossa temporalia in der Weise an, wie wir es auch zum Befunden ihrer Bewegung tun: Unsere Hände liegen unter dem Schädel mit den Daumen entlang den Proc. mastoidei und den Mastoid-Anteilen; unsere Finger befi nden sich unter dem Nacken. Wenn wir dann unsere Finger, unsere Mittelfi nger, sehr sachte rollen, werden wir automatisch ein Os temporale sanft in die Außenrotation und das an-dere in die Innenrotation drehen, und der Flüssigkeitskörper des Liquor wird ein Fluktuationsmuster starten, das von einer Seite zur andern fl uktuiert. Dabei rollen wir unsere Mittelfi nger wie gesagt kaum, nur bis wir diese laterale Fluktuation spü-ren, die sich herüberbewegt und auf der anderen Seite anschwillt. Sobald wir spüren, dass sich diese Sache von einer Seite zur andern bewegt, verringern wir das Ausmaß unserer Rollbewegung, so dass wir sie zurückhalten. Wir haben etwas gestartet, und nun fangen wir an, es zurückzuhalten, es allmählich zu verlangsamen. Anders ausge-drückt: Die Flüssigkeit will da hinüber, aber wir erlauben ihr das nicht ganz, wir be-ginnen sie zurückzubringen. Ganz allmählich verlangsamen wir diese Fluktuation, bis es zu einer Veränderung im Fulkrum innerhalb des Liquor kommt. Auf diese Art und Weise durchgeführt ist es eine beruhigende Sache. Es beruhigt potenzielle Überreaktionen nach einer Behandlung. Die laterale Fluktuation zu verstehen und in der Praxis zu gebrauchen, ist wichtig.

Auch wenn wir einen Patienten haben, der dringend einen Energiefl uss braucht

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I–119Kapitel 3 – Die Tide des Liquor cerebrospinalis

Kapitel 3-5 Der Liquor cerebrospinalis – ein MechanismusÜberarbeitete Fassung eines Vortrages, gehalten 1986 während eines

Grundkurses der Sutherland Cranial Teaching Foundation in Philadelphia, Pennsylvania.

Wir als Individuen leben ein Leben voller willkürlicher und unwillkürlicher Me-chanismen. Es gibt Millionen von verschiedenen Mechanismen innerhalb der ge-samten Körperphysiologie des Patienten. Unser willkürlicher Mechanismus erlaubt uns, alles zu tun – vom Joggen bis hin zum ruhigen Schlafen. Dieser Aktionsme-chanismus ist in jedem Individuum unterschiedlich, abhängig von seiner gesamten Lebensqualität.

Auf der anderen Seite gibt es den ruhigen Primären Atemmechanismus – eine vollkommen unwillkürliche Einheit von Funktion, Physiologie, Aktivität und Le-bendigkeit, die uns einen aktiven, lebendigen, willkürlichen Mechanismus sein lässt. Wir verschwenden keinen Gedanken an die Veränderungen, die in der Funktion in-nerhalb der Fluktuation des Liquor cerebrospinalis und des Primären Atemmecha-nismus geschehen – es gibt sie einfach. Wir akzeptieren das Leben so, wie es ist. Wir nehmen die Tatsache an, dass unser Mechanismus arbeitet – wir denken darüber nicht nach. Wenn wir uns treff en und darüber sprechen, wird es zum Gesprächs-thema – aber normalerweise verschwenden wir keinen Gedanken daran, dass wir ein Primärer Atemmechanismus sind. Der unwillkürliche Mechanismus ist die Sache, die uns lebendig erhält und als eine Manifestation des Lebens funktioniert.

Die Fluktuation des Liquor cerebrospinalis ist ein Teil des Primären Atemmecha-nismus, zu dem auch die Motilität des Zentralen Nervensystems und die Mobilität der reziproken Spannungsmembran, der Schädelknochen und des Os sacrum gehö-ren. Wir können keinen von ihnen abtrennen – sie alle bilden eine Einheit. Jedes Trauma oder jede Krankheit, die irgendeinen Teil des Körpers betrifft , wird einen Eff ekt auf den Primären Atemmechanismus haben; und jede Wiederherstellung in Richtung Gesundheit, jede Korrektur einer Dysfunktion innerhalb des willkürli-chen Mechanismus im Körper, muss eine Verbesserung der Funktion des Primären Atemmechanismus mit einschließen – es ist eine Funktionseinheit. Und ebenso ist es ein Mechanismus.

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I–121Kapitel 3 – Die Tide des Liquor cerebrospinalis

Dies sind kleine Strudel, die sich – vielleicht in verschiedenen Bereichen des Zent-ralen Nervensystems – einrollen und ausrollen.

Ich spreche zu euch über Dinge, die von jedem Behandler beobachtet werden kön-nen, der den Mechanismus versteht und mit Hilfe seiner palpatorischen Fähigkeiten das zu lesen lernt, was vom Patienten kommt. Die laterale Tide ist wie die longitu-dinale relativ leicht zu fi nden; beide sind groß und der gesamte Körper bewegt sich mit ihnen. Die spiralförmigen Tiden sind dagegen wie diese kleinen Tiere, die den Strand entlangkrabbeln, oder wie die Spiralen, die das hin und her wehende See-gras nahe der Küste manchmal bildet. Sie sind nicht laut und off ensichtlich. Solche spiralförmigen Tiden deuten möglicherweise auf eine gerade stattfi ndende lokale Veränderung hin.

Und dann gibt es noch das, was ich »Unterströmungen«24 nenne. Eine »Unter-strömung« ist eine Tide, die vom Behandler genutzt werden kann, um eine Verän-derung zu bewirken, als Motivation für den existierenden Tidenmechanismus des Patienten sein Funktionsmuster zu ändern. Indem man sie nutzt, kann man den Tidenmechanismus im Patienten etwas modifi zieren. Lässt man den Patienten in Rückenlage seine Füße in Dorsifl exion bringen, veranlasst dies den Mechanismus der gesamten Körpereinheit, in Flexion zu gehen. Wird dann, während der Pati-ent seine Füße in Dorsifl exion hält, eine laterale Fluktuation induziert, haben wir ziemlich bald zwei Tiden, die im Körper arbeiten: eine longitudinale und darüber die laterale. Selbstverständlich geschieht all dies unter der Kontrolle eines Behand-lers, der das sanft e Arbeiten mit dem Mechanismus gelernt hat und die Fluktuation langsam induzieren kann, wobei er liest, was er sorgfältig palpiert, und diese Dinge innerhalb des Patienten geschehen lässt. Probiert das aus und versucht dann selbst herauszufi nden, warum ihr es vielleicht anwenden wollt.

Es gibt eine weitere Tide, die, denke ich, aus dem Weltall zu mir kam. Ich hatte einen Patienten mit einem recht ernsthaft en, weitereichenden, komplizierten Prob-lem. Ich versuchte ruhig, diesen Fluid Drive zu lesen, und arbeitete dabei innerhalb der Körperphysiologie dieses Patienten. Plötzlich wurde mir die Tatsache bewusst, dass eine größere Tide da war, und zwar parallel zu der, die 8 Zyklen pro Minute vollzog. Hier war eine große Tide, die sich anfühlte als käme sie von irgendwo her herein, und sie expandierte, stoppte, expandierte, stoppte, expandierte, stoppte. Es

24 Anm. d. Übers.: Unterströmungen ziehen vom Ufer ins Meer und gefährden Schwimmer. Sie sind ein Hinweis auf einen aufziehenden starken Sturm, dessen heft ige Winde das Wasser in Richtung Ufer drücken.

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I–123Kapitel 3 – Die Tide des Liquor cerebrospinalis

ihre Beschwerden sind. Im Falle eines Psoas-Spasmus, legt ihr eine Hand unter die-sen spastischen Lumbarbereich und die andere Hand auf das Abdomen darüber, so dass das Problem zwischen euren Händen liegt. Nun spürt nach diesem unwillkür-lichen Tiden-Mechanismus des Liquor cerebrospinalis, den ihr schon im gesamten Körper gefühlt habt. Fühlt er sich in diesem Bereich der Dysfunktion gleich an? Nein, er ist eingeschänkt, es gibt so viel Behinderung, die das Fluktuationsmuster stört. Man stellt fest, dass man nicht die gleiche Vitalität wie in der gesamten Person fühlt. Merkt euch, wie sich diese Dysfunktion anfühlt.

Jetzt macht ihr eure Behandlung. Ihr gebt der Patientin eine für diesen Tag und dieses besondere Problem passende Behandlung. Was für eine Technik ihr benutzt, spielt keine Rolle. Wenn ihr mit der Behandlung fertig seid und denkt, ihr habt eure Korrektur oder was auch immer gemacht, legt eure Hand wieder unter diesen Lumbarbereich und spürt nach der gleichen Tide, die ihr zuerst im ganzen Körper gespürt habt. Wenn ihr dann merkt, dass der eben behandelte Lumbarbereich die unwillkürliche Bewegung besser ausdrücken kann, bedeutet dies, dass eure Behand-lung des Lumbar-Spasmus wirklich korrigierende Resultate erbracht hat, denn der »Boss«, der gesamte unwillkürliche Mechanismus, ist jetzt auch lokal in diesem Bereich anwesend. Man kann das fühlen, es ist geschehen, etwas ist los.

Wenn ihr jedoch zu diesem Bereich zurückgeht, wieder untersucht und das glei-che Gefühl von Stase fi ndet wie vor der Behandlung der Patientin, kann ich euch garantieren, dass ihr nicht viel erreicht habt. Schon wenn sie die Praxis verlässt, wird sie wieder bei den gleichen Beschwerden angelangt sein, mit denen sie hereinge-kommen ist. Diese Tide lässt sich also als ein kleiner, unsichtbarer diagnostischer Anhaltspunkt verwenden. Wir können diesen schweigenden, unwillkürlichen Me-chanismus als einen Hinweis nutzen, der uns bei unseren Behandlungsprogrammen für den restlichen Körper führt.

Fragt euch bei jedem Patienten still: Wie ist die Qualität dieser primären Le-bensfunktion in diesem Patienten? Wie ist die Qualität in den gesunden Bereichen, wie ist sie im Bereich der Dysfunktion, wie ist sie vor und nach jedem Praxisbesuch? Wenn ihr mit den Stressmustern und Dysfunktionen eurer Patienten arbeitet, seid euch auf ruhige Weise immer der Tatsache bewusst, dass dieses Fluktuationsmus-ter, diese gesamte Einheit, ständig euer stiller Partner ist und euch hilft , korrigie-rende Veränderungen in den Dysfunktionsbereichen zu bewirken; denn euer Ziel für diesen Patienten ist es, Gesundheit wiederherzustellen. Die Patienten sind nicht nur da, damit ihre Dysfunktion geknackt oder korrigiert wird. Sie sind da, um die Spannungen, den Funktionsverlust, die Bewegungsstörung loszuwerden, um die

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I–125Kapitel 3 – Die Tide des Liquor cerebrospinalis

Kapitel 3-6Zeit, Gewebe und Tiden

Vortragstext vom September 1983.

»Gesundheit zu fi nden sollte das Ziel des Behandlers sein. Krankheit kann jeder fi n-den.« Diese Maxime hat uns A. T. Still gegeben. Gesundheit ist sehr viel mehr als einfach nur die Abwesenheit von Krankheit oder Traumen. Sie ist ein lebendiges, dynamisches Erfahren anatomisch-physiologischer Funktionsabläufe auf physischer, mentaler und spriritueller Ebene.

Bestimmte Grundprinzipien nimmt der osteopathische Behandler als gegeben an:

1. Der Körper ist eine Einheit.2. Der Körper ist ein selbstregulierender Mechanismus.3. Der Körper besitzt die Fähigkeit, sich selbst zu heilen.4. Zwischen Struktur und Funktion besteht eine Wechselbeziehung.

Auf diesen Prinzipien basierend sind die Zeit, die Gewebe und die Tiden die Werk-zeuge, die der Körper nutzt, um Gesundheit oder bestimmte traumatisierte bzw. erkrankte Bereiche auszudrücken.

Der Körper ist eine Einheit

Dafür vorgesehen, eine bestimmte Zeit zu existieren, ist der Körper ein komplet-tes System, bestehend aus Geweben und Flüssigkeiten in ständiger Mobilität und Motilität. Er ist mit willkürlichen und unwillkürlichen Mechanismen ausgestattet, die es ermöglichen, ihn im Alltagsleben und zum Aufrechterhalten der Gesundheit zu nutzen. Dr. Still schenkte uns die Wissenschaft der Osteopathie, mit der wir den Körper als eine Einheit verstehen können, inklusive des Kranialen Konzeptes. Dr. Sutherland hat häufi g betont, dass sein Beitrag der detaillierten Anatomie und Physiologie des Kraniosakralen Mechanismus ein Weiterführen der Wissenschaft der Osteopathie im Sinne von Dr. Stills Vision ist. Ein Körper – eine Funktions-einheit.

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I–127Kapitel 3 – Die Tide des Liquor cerebrospinalis

werden, falls sie sich manifestiert. Ich kenne ihren Ursprung nicht; ich spüre nicht, dass sie in jedem Patienten vorkommt, und ich induziere sie nicht, ihr rhythmisches Muster zu beginnen. Sie zeigte sich mir erstmals vor einigen Jahren, als ich einen Patienten behandelte und beobachtete, wie die 8 bis 12 Mal pro Minute an- und ab-schwellende Tide ihre Arbeit im Patienten tat. Seitdem habe ich diese massive Tide oft beobachtet und kann berichten, dass sie nicht in jedem Patienten universell die gleiche ist, sie drückt sich in jedem Patienten individuell aus. Ich weiß nie, wann sie auft auchen wird, und ich weiß auch nicht, wohin sie zurückkehrt, wenn sie bei einem bestimmten Patienten aufh ört zu arbeiten.

Es gibt Hunderte selbstregulierender Mechanismen in der Körperphysiologie, aber jetzt wollen wir uns mit der unwillkürlichen Mobilität der schnellen, 8 bis 12 Mal pro Minute ablaufenden und der langsamen, innerhalb von 10 Minuten 6 Mal stattfi ndenden Tide befassen. Beide Tidenbewegungen können palpiert wer-den, wenn man einen trainierten Tastsinn entwickelt. Palpiert man das Vorhanden-sein dieser Tiden, sollte man das vorzugsweise als ein Beteiligter tun, so wie in der Quantenmechanik. Bei diesem Prozess stimmt sich der Behandler mit seinem sen-sorischen Input ein, um an der Bewegung der jeweiligen Tide teilzuhaben, während sie in der Physiologie des Patienten ihre Arbeit verrichtet. Beide Tiden sind sowohl im gesunden Zustand als auch bei Traumen und/oder Krankheit feststellbar. Die Qualität der Tidenbewegung variiert jedoch, je nachdem, ob ein gesunder, ein trau-matisierter oder kranken Zustand herrscht, manchmal abhängig vom Problem nur lokal, manchmal als eine Gesamtkörpereinheit der Gewebsfunktion.

Beide Tiden sind inhärente, innewohnende und unwillkürliche selbstregulie-rende Mechanismen, deren Hauptziel das Aufrechterhalten von Gesundheit ist. Sie sind Faktoren, die zu den Bemühungen des Körpers beitragen, sich im Falle von Traumen und/oder Krankheit selbst zu heilen. Der reziproke balancierte Austausch, der zwischen den Flüssigkeiten und Geweben des Körpers stattfi ndet, ist ein Resul-tat der schnellen und langsamen, ein Menschenleben lang ununterbrochen arbei-tenden Tiden und wird durch sie verstärkt.

Der Körper besitzt die Fähigkeit, sich selbst zu heilen.

Die rhythmische, unwillkürliche Mobilität der Gewebe und Flüssigkeiten und die der verschiedenen Tiden sind alle vollständig ineinander und innerhalb des Körpers als eine Einheit integriert. Sie sind Faktoren, die zu den selbstheilerischen Fähig-

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I–129Kapitel 3 – Die Tide des Liquor cerebrospinalis

Die schnelle Tide: Die Fluktuation des Liquor cerebrospinalis, die 8 bis 12 Mal pro Minute stattfi ndet, ist eine der fl üssigen Komponenten der unwillkürlichen Be-wegung der mittellinigen und paarigen Strukturen. Der Liquor cerebrospinalis und seine tidenartige Fluktuation ist schon seit Jahren studiert worden. Seine Fluktua-tionsmuster können modifi ziert werden, um das zu erfüllen, was die Physiologie im Patienten braucht. Ein Verständnis dafür, wie man den Liquor cerebrospinalis und seine schnelle Tide nutzen kann, wird wahrscheinlich das Verstehen der Funktion der langsamen Tide fördern. Eine Tide innerhalb der Tide.

Der Liquor cerebrospinalis ist eine Komponente des Primären Atemmmechanis-mus; ein unwillkürlicher Mechanismus, zu dem grundsätzlich das höchste bekannte Element – der Liquor – dazugehört, in dem der unsichtbare Atem des Lebens zu Hause ist. Die Wissenschaft der Osteopathie erkennt und akzeptiert all die physio-logischen Mechanismen, die die Gesundheit eines jeden Menschen schaff en und aufrechterhalten; und die Vitalitätsfaktoren der schnellen und langsamen Tiden sind sicherlich grundlegende Aspekte dieser Gesundheitsprinzipien.

Die Fluktuation des Liquors cerebrospinalis kann mit Hilfe von Palpation be-obachtet werden. Das existierende Fluktuationsmuster der schnellen Tide lässt sich modifi zieren, indem man sanft , auf intelligente Weise, allmählich die Bewegung des Liquor in seiner rhythmischen Ebbe und Flut einschränkt, bis seine Fluktuation zu einem Stillpunkt absinkt und diesen durchläuft . Bei diesem Durchschreiten des Stillpunkt fi ndet in der rhythmischen Fluktuation des Liquor ein Veränderung statt, die der gesamten Körperphysiologie auf physiologischer Ebene gut tut – eine kurze, aber potente Transmutation von innen, aus dem Liquor heraus.

Dr. Howard Lippincott beschreibt das Resultat einer Kompression des vierten Ventrikels, also der Technik zum Verlangsamen der longitudinalen Fluktuation, wenn sie vorsichtig angewendet wird, um die Fluktuation des Liquor zu modifi -zieren:

»Es ist schwer, zurückhaltend zu sein, wenn es um den Nutzen geht, den wir durch die Kompression des Ventrikels erreichen. Denn wenn diese mächtige Flüssigkeit durch besagte Technik aktiviert wird, kommt es zu Ergebnissen, die Begeisterung rechtfertigen.

Es kommt zu einer günstigen Wirkung auf das gesamte zirkulatorische System, mit Abnahme von Stauungen, Ischämien und Ödemen, soweit dies ohne Chirurgie mög-lich ist.

Die Stoff wechselvorgänge werden verbessert, einschließlich der Ernährung aller Ge-webe und der schrittweisen Absorption fi bröser und kalziumhaltiger Ablagerungen, die nicht physiologischer oder kompensatorischer Natur sind.

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hinunter und durch ihn hindurch zu bringen. Wiederholt man diese Technik über einen Zeitraum von Wochen und Monaten einmal wöchentlich, werden diese Fälle von rheumatoider Arthritis nicht nur erstaunliche Veränderungen hinsichtlich ih-rer physiologischen Vitalität aufweisen, sondern auch in Bezug auf ihre Symptome einen generell positiven Trend Richtung Gesundheit zeigen. Die bei der ersten Be-handlung benötigten 30 Minuten, reduzieren sich auf 15 Minuten und von Mal zu Mal verkürzt sich dann die Behandlungszeit weiter.

Dieser Typus eines klinischen Problems veranschaulicht eine wichtige Tatsache: Auch die gesamte Körperphysiologie der Bewegung der mittellinigen und paarigen Strukturen ist mit dabei, wenn die Fluktuation des Liquor cerebrospinalis zu ihrem Stillpunkt hinunter und durch ihn hindurchgebracht wird.

Wie von Dr. Lippincott beschrieben, ändern sich alle unwillkürlichen Mecha-nismen, wenn die Tidenfunktion modifi ziert wird. Der Tonus des Gewebes und der Flüssigkeit kann vor und nach dem Gebrauch einer solchen Technik gecheckt werden. Wer einen trainierten Tastsinn und palpatorische Fähigkeiten hat und die anatomisch-physiologischen Mechanismen kennt, dem liefern die schnelle Tide und die unwillkürliche Bewegung der mittellinigen und paarigen Strukturen in der Kör-pereinheit diagnostische Daten vor und nach einer korrigierenden Behandlung, und er kann sie auch im Behandlungsprozess selbst nutzen. »Die Gesundheit suchen« bedeutet für den Behandler im Falle einer rheumatoiden Arthritis, eine Kompres-sion des vierten Ventrikels in den Mechanismus einzubringen, was dazu führt, dass die nach Gesundheit suchenden Ressourcen des Patienten von innen dessen eigene selbstheilende Fähigkeiten stimulieren. Es ist ein kontinuierlicher Prozess, in dem Korrektur und Veränderung meist zwischen den einzelnen Behandlungen stattfi n-den. Mit der Zeit wird sich die relative Gesundheit, die für einen Menschen mit dieser Art von klinischem Problem erreichbar ist, manifestieren. Der Punkt dabei ist, dass in diesem Patienten ein Leben lang Gesundheit gesucht wird, nicht eine Heilung seiner Arthritis.

Die langsame Tide: 6 Mal in 10 Minuten; sie ist ein physisches Phänomen, dass in der Körperphysiologie vorkommt. In manchen Fällen zeigt die langsame Tide ihre Anwesenheit während der Anwendung einer bestimmten korrigierenden Be-handlung, während sie in einem anderen Fall, wenn man die gleiche korrigierende Technik durchführt, nicht erscheint.

Ich vermute, dass es der Typus der von mir benutzten korrigierenden Behand-lungstechnik war, der es mir ermöglichte, die langsame Tide erstmals vor einigen Jahren und seither oft zu spüren. Es gibt in der Osteopathie verschiedene Arten von

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auch den relativ gesunden. Wenn diese Tidenwelle ihren höchsten Füllstand erreicht hat, gibt es eine kurze Pause und dann beginnt sie, herauszuebben. Es scheint, dass das vollständige Hinausebben aus allen Geweben und Flüssigkeitsräumen ebenso viel Zeit in Anspruch nimmt, wie das Füllen. Nach einer erneuten kurzen Pause, kommt sie wieder herein, pausiert, ebbt hinaus – und das ereignet sich 6 Mal in ei-nem Zeitraum von 10 Minuten.

Die Qualität der langsamen Tide variiert bei Problemen verschiedener Patienten und kann beim gleichen Patienten zu unterschiedlichen Zeiten jeweils anders sein. Folgendes interessante Fallbeispiel zeigt, wie diese langsame Tide arbeitet: Der Pa-tient hatte ein ernsthaft es klinisches Problem, das wöchentlich eine Behandlung erforderte, um ihm als Unterstützung für seine Wiederherstellung den maximalen Selbstbehandlungsinput zu geben. Während mehrerer Behandlungen zeigte sich die langsame Tide nicht. Als sie dann aber erschien, war ihre erste Welle ein kraft voll anschwellendes Füllen der Körperphysiologie und vermittelte ein Gefühl, als müsse sie sich ihren Weg gegen den Widerstand der Flüssigkeiten und Gewebe des Körpers buchstäblich erzwingen. Sie kam zu ihrem Höhepunkt, pausierte und ebbte dann mit beinahe der gleichen Dringlichkeit hinaus. Dann entstand eine kurze Pause, und die zweite Welle kam herein, und mit ihr ein Gefühl, als versuche sie, die Folgen der ersten Welle zu glätten – ein beruhigender Einfl uss. Die dritte Welle wirkte in ihrem Auff üllen und Hinausebben praktisch wie eine Linderung. Damit war das Erscheinen der langsamen Tide in dieser Behandlung abgeschlossen; insgesamt er-schienen drei Wellen in 6 Minuten. Zwischenzeitlich ging die selbstkorrigierende Behandlung im Bereich der lokalen somatischen Dysfunktion weiter, wurde aber während der drei Zyklen der langsamen Tide und auch danach effi zienter. Bei den folgenden wöchentlichen Behandlungen erschien die langsame Tide nicht jedes Mal. Off ensichtlich war sie für die Physiologie des Patienten genau zum Zeitpunkt ihres Erscheinens in seinem Behandlungsprogramm nötig.

Anders als die schnelle, 8 bis 12 Mal pro Minute stattfi ndende Tide, die sich mit einer Reihe von Techniken in ihrer Funktionweise modifi zieren lässt, scheint die langsame Tide eine in sich selbst und in der Physiologie des Patienten inhärente Einheit zu sein, bei der man nicht versuchen muss, sie oder ihre Arbeit zu modifi zie-ren. Ich fi nde es effi zienter, einfach mein Bemühen fortzusetzen, selbstkorrigierende, heilende Veränderungen in den lokalen Bereichen der Dysfunktion zu induzieren, und integriere alle Auswirkungen der langsamen Tide in die lokale Behandlung, während sie im gesamten Körper am Füllen und Abebben ist. Einen ligamentären oder faszialen Strain durch seinen Stillpunkt hindurchzubringen, hin zu einer aus

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der somatischen Dysfunktion, um endlich das gesunde Element zum Vorschein zu bringen, das da sein sollte. Wenn dieser Gesundheitsfaktor sich dann den palpieren-den Händen des Behandlers zeigt, ist dieser bemüht, mit ihm statt mit dem überla-gernden Stressmechanismus zu arbeiten. Anders ausgedrückt: Der Behandler sucht sozusagen Hand in Hand mit der Körperphysiologie des Patienten nach von innen kommender Gesundung.

Er bejaht Struktur und Funktion und deren reziproke Wechselbeziehung und entwickelt palpatorische Fähigkeiten, um diese Prinzipien zu nutzen. Die Körper-physiologie des Patienten leitet den Behandler in seinem Bemühen, ihren Bedürfnis-sen zu entsprechen, indem sie ihm drei Werkzeuge bietet: die unwillkürliche Mobi-lität der mittellinigen und paarigen Strukturen, die lebenslang in einem Rhythmus von 8 bis 12 Mal pro Minute am Arbeiten ist; die innerhalb dieser Mobilität der mit-tellinigen und paarigen Strukturen stattfi ndende schnelle Tide – ein Mechanismus des Liquor cerebrospinalis mit seiner Potency, modifi zierbar für die Bedürfnisse der Patientenphysiologie; und die langsame Tide, die innerhalb von 10 Minuten unge-fähr 6 Mal hereinkommt und hinausebbt, und deren Funktionieren innerhalb der Körperphysiologie vermutlich einen Vitalitätsfaktor besitzt. Und auch die schon am Anfang erwähnte, von Dr. A. T. Still immer wieder betonte Maxime: »Gesundheit zu fi nden sollte das Ziel des Behandlers sein« gehört zu den grundlegenden Prinzi-pien eines korrigierenden Behandlungsprogramms.

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Kapitel 4

Die Kunst der Palpation

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Kapitel 4-1Die Aufgabe der diagnostischen Palpation im

Kraniosakralen Mechanismus

Vortrag vom Februar 1983.

Palpation des Kraniosakralen Mechanismus

Dr. A. T. Still vermittelte dem osteopathischen Behandler folgende Konzepte: Die Rolle der Arterie ist herausragend. Der Körper hat eine ihm angeborene Fähigkeit, sich selbst zu heilen; und zwischen Struktur und Funktion besteht eine wechselsei-tige Beziehung. Dr. William G. Sutherland fügte ein weiteres grundlegendes Kon-zept hinzu: Der arterielle Strom ist das Höchste, aber das Oberkommando hat der Liquor cerebrospinalis, dessen Fluktuation innerhalb einer natürlichen Höhle man mit Hilfe von Palpation beobachten kann, wenn man kranial arbeitet.

Obgleich Dr. Sutherland über den Mechanismus der Primäratmung – den Kra-niosakralen Mechanismus – sprach, wissen wir, dass die Körperphysiologie eine ana-tomisch-physiologische Funktionseinheit ist, zu der der Primäre Atemmechanismus dazugehört. Der Kraniosakrale Mechanismus ist kein eigener Bereich.

Um diese rhythmische, unwillkürliche, bewegliche, wechselseitige Struktur-Funktion-Beziehung zu demonstrieren, wollen wir über Folgendes nachdenken:

Liquor cerebrospinalis: Er wird ständig produziert, und zwar, wie man an-nimmt, von den in den Seitenventrikeln und im dritten und vierten Ventrikel des Zentralen Nervensystems befi ndlichen Plexi choroidei. Vom vierten Ventrikel aus fl ießt der Liquor cerebrospinalis in die Subarachnoidalräume um das Gehirn herum und den Spinalkanal hinunter zum Os sacrum. Durch die Granulationes arachnoi-dales im Sinus sagittalis superior wird er wieder in das venöse System resorbiert. Er folgt auch den perineuralen Kanälen oder Umhüllungen der kranialen und spinalen peripheren Nerven und wird dann in das lymphatische Flüssigkeitssystem, die dritte Zirkulation der Körperphysiologie, resorbiert. Was die Zirkulation anbelangt, sind der Liquor cerebrospinalis und die physiologischen Körperfl üssigkeiten also eine gemeinsame Funktionseinheit.

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füllen sich mit der hereinkommenden Tide des Liquor cerebrospinalis. In der ent-gegengesetzten Phase werden die Ventrikel mit der abebbenden Tide schmal. Diese konstante, unwillkürliche, rhythmische Motilität des Zentralen Nervensystems trägt zusammen mit dem fl uktuierenden Liquor cerebrospinalis und der reziproken Spannungsmembran zu einer guten venösen Drainage des Gehirns, der Hypohyse, der Epiphyse, und anderen Schlüsselfunktionen bei.

Hinweise zur Palpation: Es ist schwierig, die Motilität des Zentralen Nervensys-tems zu erspüren, und im Allgemeinen auch nicht notwendig. Die Expansion eines komprimierten Teiles einer Großhirnhälft e kann gelegentlich während einer Kor-rekturphase eines membranösen Gelenkstrains palpiert werden.

Reziproke Spannungsmembran: Es gibt drei Hirnhautschichten, die das Zent-rale Nervensystem umhüllen – die Pia mater, die Arachnoidea und die Dura mater. Die Dura mater wurde von Dr. Sutherland reziproke Spannungsmembran genannt, da sie als eine Einheit in ihrer Beziehung mit dem Kraniosakralen Mechanismus funktioniert.

Die Dura mater kleidet das Neurokranium als ihr inneres Periost aus, geht wei-ter durch die Suturen, vereint sich mit der äußeren Schicht des Periosts im Schädel und geht dann über in die gesamten, von der Schädelbasis herabhängenden Binde-gewebssysteme des Körpers. Innerhalb des Neurokraniums hat die Dura drei Ver-doppelungen: die Falx cerebri, das Tentorium cerebelli und die Falx cerebelli. Wich-tig an diesem Arrangement ist, dass sich Falx cerebri und Tentorium cerebelli am Sinus rectus treff en, um ein Fulkrum zu bilden, wobei die Falx und die zwei Hälf-ten des Tentorium drei bewegliche Sicheln werden. Diese Verbindung nennt man Sutherland-Fulkrum.

Die drei Sicheln – Falx cerebri, rechtes und linkes Tentrorium cerebelli – mit ihren vorderen, hinteren, seitlichen und unteren Anhaft ungen an den knöchernen Elementen des Schädels und des Os sacrums agieren als eine reziproke Spannungs-membran. Es ist wohlgemerkt eine reziproke Spannungsmebran, es sind keine Mem-branen. Es ist eine Funktionseinheit.

Entsprechend bewegt sich die reziproke Spannungsmembran in der Flexions-phase in einer anterior-superioren Richtung, wobei sich die Schädelbasis in der Fron-talebene des Kopfes weitet. In der Extensionsphase bewegt sie sich in eine posterior-inferiore Richtung, wobei sich die Schädelbasis in der Frontalebene verengt. Das Sutherland-Fulkrum ist das Fulkrum, über oder durch das die drei Sicheln physio-logisch funktionieren, wenn sie die Balance im kranialen membranösen Gelenkme-

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Fulkrum und die reziproke Spannungsmembran kontrolliert. Die relative Mobilität des Os sphenoidale beeinfl usst das Os frontale (bzw. beide Ossa frontalia) und die Knochen des Gesichts, und das Os occipitale beeinfl usst die Ossa temporalia, die Ossa parietalia und die Mandibula.

Die membranösen Gelenkmuster im Kraniosakralen Mechanismus werden an-hand ihrer Beziehung zu der SSB beschrieben. Zu ihnen gehören Torsion (nach rechts oder links), Sidebending-Rotation (rechts oder links) und Kompression. Zu-sätzlich gibt es im Zusammenhang mit den wechselseitigen Beziehungen der einzel-nen Suturen spezifi sche membranöse Gelenkstrains, z. B. einen Strain der Sutura oc-cipitomastoidea, also der Beziehung zwischen Frontale und Sphenoid oder Frontale und Parietale, oder einen Strain am Angulus mastoideus des Parietale – und noch so viele mehr, wie es gelenkige Verbindungen gibt.

Die grundlegenden, in Bezug auf die SSB beschriebenen Muster, also z. B. eine Torsion, spiegeln sich in allen Knochenteilen und im Bindegewebe der gesamten Körperphysiologie wider. Das Gleiche gilt für einige schwere spezifi sche membra-nöse Gelenkstrains, wie z. B. eine Dysfunktion der Sutura occipitomastoidea.

Hinweise zur Palpation: Die knöchernen Elemente liegen an der Oberfl äche des Kraniosakralen Mechanismus und sind für taktiles Evaluieren besser zugänglich. Es ist jedoch wichtig, zu verstehen, dass sie Teil eines membranösen Gelenkmecha-nismus sind. Und die Kunst der Diagnose besteht darin, das mobile Funktionieren dieser knöchernen Elemente in Gesundheit und in Dysfunktion zu palpieren. Die Knochen werden sozusagen von einem beweglichen Mechanismus auf die Fahrt mitgenommen.

Os sacrum: Das Os sacrum spielt eine wichtige Rolle in der Mobilität der Körper-physiologie, denn es hat ein kompliziertes wiegendes Muster für willkürliche oder haltungsbedingte Beckenbewegung und eine konstante, rhythmische, unwillkür-liche Flexion-Extension-Mobilität als Teil des Kraniosakralen Mechanismus. Das Sakrum bildet den unteren Pol der reziproken Spannungsmembran und gehört zum Sutherland-Fulkrum und den drei Hebelarmen oder Sicheln. Durch ein Trauma in seiner unwillkürlichen Mobilität blockiert, kann das Os sacrum die Bewegung der gesamten reziproken Spannungsmembran und der Bindegewebe des Körpers einschränken. So eine Einschränkung kann zu vielerlei Problemen in der gesamten Körperphysiologie beitragen. Ein Verlust an unwillkürlicher Mobilität des Sakrum wird jedoch nicht notwendigerweise zu einem Verlust an willkürlicher bzw. Hal-tungsmobilität des Sakrum führen, und der Verlust an unwillkürlicher Bewegung wird oft übersehen.

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Rotations-Muster des SSB, wobei die prodromalen Symptome auf der Seite anfan-gen, wo die Ala major des Os sphenoidalis und das Os occipitale hoch stehen. Das Vorhandensein dieses Musters ist nicht ursächlich für die Migräne, aber nützlich, um die Diagnose abzusichern.

Hoher Blutdruck: Ein häufi ger palpatorischer Befund bei chronisch hohem Blut-druck ist eine Abfl achung des Tentorium cerebelli, was dessen anatomische Funk-tion beeinträchtigt. Bei der Extension wird es nicht so steil, wie es bei seiner rhyth-mischen Bewegung sollte.

Dyslexie: In vielen dieser Fälle liegt ein intraossales Muster des Os temporale vor.Trigeminusneuralgie: häufi g mit zahnärztlich verursachten traumatischen Strain-

mustern verbunden.Hormonelle Störungen: Eine Einschränkung der Motilität der Hypothalamus-

Hypophyse-Achse kann zu einer Unter- oder Überaktivität der hormonellen Funk-tion führen und hängt möglicherweise mit einem vertikalen oder lateralen memb-ranösen Gelenkstrain der SSB zusammen.

Gehirnerschütterung: Hier vermittelt die reziproke Spannungsmembran das Ge-fühl einer schockartigen Rigidität in ihrer Funktionsweise.

Meningitis, postmeningitischer Zustand: Die reziproke Spannungsmembran än-dert hier ihre Tonus- und Funktionsqualität. Im akuten Zustand fühlt sie sich an wie ein nasses Papiertaschentuch, im chronischen postmeningitischen Zustand wie durchweichter Pappkarton. Und in jedem der beiden Zustände ist eine das Zentrale Nervensystem betreff ende chronische venöse Stauung feststellbar.

Muster der SSB: Verstärktes Trauma kann vorhandene Muster dekompensieren und kraniosakrale und andere Körpermechanismen beeinträchtigen.

Spezifi sche membranöse Gelenkstrains: Sie können, egal ob akut oder chronisch, über einen Zeitraum von Monaten oder Jahren sehr schwächend wirken.

Die 12 Hirnnerven: Jeder von ihnen kann in seiner Funktionsbeziehung einge-schränkt sein. Damit verbundene Probleme können im Gesichtsbereich auft reten, mit Symptomen an Augen, Ohren, Nase, Rachenraum, oder im Neurokranium und der Schädelbasis und dort ein Vagus-Syndrom auslösen, oder unten am Sakrum und dessen parasympathischen eff erenten Fluss beeinträchtigen. In einem interessanten Fall verlor der Patient seine Sehfähigkeit als Folge einer durch ein Trauma verursach-ten Kompression des Parietale, die den Lobus occipitalis des ZNS und seinen Sulcus calcarinus im Bereich des Sinus tectus gegen die Falx cerebri presste. Die Kompres-sion des Os parietale und der damit einhergehende Verlust an membranöser und artikulärer Mobilität, wurde durch Palpieren festgestellt.

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arbeiten und ihnen erlauben, ihr grundlegendes Funktionsmuster innerhalb des Kraniosakralen Mechanismus sowie – durch die Bindegewebe und die Flüssigkeits-matrix des Körpers – für die gesamte Körperphysiologie zu zeigen. Zukünft ige Ge-sundheits- und Dysfunktionsmuster eines Individuums kann der Behandler besser verstehen, wenn er eine palpatorische Aufzeichnung der lebenslangen grundlegen-den unwillkürlichen Mobilität des betreff enden Patienten hat.

Insgesamt betrachtet gibt es also von Kopfschmerzen bis zur Behandlung von Neugeborenen eine Menge medizinische Probleme, die mit Hilfe von ausgebilde-ter Palpationskunst diagnostiziert und behandelt werden können. In vielen Fällen sind die palpatorischen Werkzeuge sogar der einzige Weg, um Resultate zu erzielen. Daneben ist es auch eine medizinische Tatsache, dass ligamentäre Gelenkdysfunk-tionen, faszialer Zug nach unten und andere traumatisch oder durch Krankheit be-dingte Probleme verschiedene Funktionsbereiche des Primären Atemmechanismus beeinträchtigen können. Umgekehrt können Probleme im Kraniosakralen Mecha-nismus einen negativen Eff ekt auf den Rest des Körpers haben. Man kann daraus schließen, dass die Körperphysiologie eine Funktionseinheit ist, egal ob in Gesund-heit, traumatisch bedingten Zuständen und/oder Krankheit. Mit palpatorischem Geschick kann man im gesamten Körper – von Kopf bis Fuß und umgekehrt – ge-sund funktionierende wechselseitige Beziehungen, aber auch medizinische Prob-leme aufspüren.

Diagnostische Palpation als Kunstf ertigkeit und Wissenschaft

Beim Palpieren des Primären Atemmechanismus und der Körperphysiologie sind Diagnose und Behandlung nicht voneinander zu trennen. Palpation ist beides: eine Kunstfertigkeit und eine Wissenschaft . Vom wissenschaft lichen Standpunkt aus ist sie ein Quantensprung in der Sinneswahrnehmung. Sobald der Behandler seine Hände an einen Patienten legt, um palpatorisch zu diagnostizieren und zu behan-deln, nimmt er mit ihm an dieser Quantenerfahrung teil. Es ist für ihn vollkommen unmöglich, ein neutraler oder unabhängiger Beobachter zu sein, während er mit den lebendigen Geweben des Patienten arbeitet.

Der Behandler ist ein unwillkürlicher Primärer Atemmechanismus innerhalb einer lebendigen willkürlichen Körperphysiologie. Sein Patient ist mit den gleichen Qualitäten ausgestattet: einem unwillkürlichen Primären Atemmechanismus in einer lebendigen willkürlichen Körperphysiologie. Und mit Hilfe von Palpation

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Aktivität vermittelt. Das erfordert ein Beteiligtsein an diesen von innen, aus dem Patienten heraus arbeitenden Einheiten und zudem genügend Zeit, den Geweben zu erlauben, ihre Funktionsweise zu off enbaren. Während der Behandler mit sei-nem propriozeptiven sensorischen Input palpiert, muss er ein paar Momente oder sogar Minuten warten, bis der erwachte Primäre Atemmechanismus und die Me-chanismen der Körperphysiologie zu arbeiten beginnen. Zu diesen Mechanismen gehören alle Zellen, Flüssigkeiten, Bindegewebe und deren tidenartige Bewegung, Mobilität und Motilität.

Ist der palpierte Bereich gesund, wird er dem Behandler diese Tatsache durch entsprechende Tonus-Qualität der willkürlich bewegten Gewebe mitteilen sowie durch die Qualität der unwillkürlichen Mobilität des Grundrhythmus, dem der Primäre Atemmechanismus bei der Flexion/Außenrotation, Extension/ Innenro-tation der mittellinigen und bilateralen Strukturen folgt. Herrscht dagegen in pal-pierten Bereichen eine Dysfunktion, wird das dem Behandler durch die veränderte Tonus-Qualität der willkürlich bewegten Gewebe sowie durch eine Einschränkung bzw. das Nicht-Stattfi nden der tidenartigen Grundbewegung des Primären Atem-mechanismus gemeldet. Der Behandler sollte sich von der Körperphysiologie des Pa-tienten diese Befunde zeigen lassen, bevor er sie analysiert. Funktion, so wie lebende Gewebe sie sichtbar machen, kann, wenn sie ihre Arbeit abgeschlossen hat, besser verstanden werden, als wenn sie noch am Arbeiten ist. Hat man eine korrigierende Behandlung initiiert, um die Funktion in Richtung Gesundheit zurückzuführen, ist es ratsam, den Dysfunktionsbereich zu untersuchen, um zu erspüren, wie sich der tidenartige Rhythmus des Primären Atemmechanismus wieder seinen Weg durch die korrigierte Stelle bahnt. Die Anwesenheit der Tide stellt sicher, dass eine weiter-gehende inhärente Selbstheilung durch die lebendigen Mechanismen des Patienten stattfi ndet. Ist die Tide nicht oder nur in verringertem Ausmaß vorhanden, deutet dies auf eine verlangsamte lokale Heil-Funktion hin.

Palpation ist etwas, das man sich selbst beibringen muss. So wird die Palpations-kunst Teil palpatorischer Fähigkeiten. Wenn der Behandler objektive, passive Bewe-gungstests anwendet, lernt er, anhand palpatorischer Techniken die Qualität seiner eigenen Bewegungen und der des Patienten zu ertasten. Nutzt er als Beteiligter die unwillkürlichen Mechanismen und die Körperphysiologie des Patienten, dann lernt er, mit Hilfe seiner propriozeptiven Nervenbahnen und der sensorisch-motorischen Bereiche seines Zentralen Nervensystems die Qualität der Bewegung, der Mobilität und Motilität von innen, aus dem Patienten heraus, zu lesen. Um aus dem Primären Atemmechanismus maximale sensorische Erkenntnis für die Diagnose schöpfen zu

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Kapitel 4-2 Palpationsfähigkeiten entwickeln

Überarbeitete Fassung eines Vortrages, gehalten 1986 in einem Grundkurs der Sutherland Cranial Teaching Foundation in Philadelphia, Pennsylvania.

Als ich in den 1930er-Jahren Student in einem Osteopathie-College war, waren wir mit Lehrern gesegnet, die uns die Kunst der Patientenbehandlung mittels verschie-dener Manipulationskünste vermittelten, hauptsächlich High Velocity Th rusting (HVT). Was wir an der Schule lernten, war eff ektiv; und als ich graduierte, konnte ich eine gute osteopathische Behandlung durchführen. Ich hatte viele Patienten und musste ihnen beim Versuch, ihre Probleme zu lösen, viele Behandlungen geben. Nachdem ich acht bis zehn Jahre mit dieser Art von Allgemeinmedizin zugebracht hatte, begann es mich zu langweilen, dass diese Patienten immer wieder mit den glei-chen Problemen in den gleichen Bereichen kamen – Problemen, die eigentlich schon das letzte Mal, als sie da waren, hätten in Ordnung gebracht werden sollen. Von zehn Fällen einer bestimmten Problem-Art ging es dreien oder vieren innerhalb eines an-gemessenen Zeitraumes besser, anderen dreien oder vieren ging es irgendwann besser und bei den restlichen zeigte sich überhaupt keine positive Reaktion, egal was ich tat. Was mich frustrierte, war der Umstand, dass ich mit meiner Palpationsfähig-keit nicht zu diff erenzieren vermochte, warum die eine Person positiv reagierte und die andere nicht. Ich erkannte schließlich, dass man über ein breites Spektrum an Palpationsfähigkeiten verfügen kann, die einem nicht wirklich weiterhelfen – und off ensichtlich war das bei mir der Fall.

Deshalb beschloss ich, wieder die Schrift en von A. T. Still zu lesen, gab im wahrs-ten Sinne des Wortes die Praxis der »Osteopathie« auf und beschloss stattdessen, die Praxis von A. T. Still zu studieren. Nach einiger Zeit realisierte ich, dass ich, wenn ich sein besonders in einem bestimmten Absatz26 ausgedrücktes Konzept als ein Entwicklungsziel verstehen und nutzen wollte, alle meine sogenannten palpato-rischen Fähigkeiten aufgeben und etwas ganz Neues lernen musste. Dies begann ich, indem ich einfach meine Hände auf verschiedene, mit den Symptomen zusammen-

26 Anm. d. Hrsg.: Für den vollen Wortlaut dieses Absatzes aus A.T. Stills Autobiographie siehe Stille des Lebens, Seite II-16.

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nommen lausig sind? Fühlt ihr irgendetwas? Spürt ihr wirklich, was da los ist? Wisst ihr wirklich, was los ist? Wir müssen unseren Tastsinn entwickeln, indem wir das sensorische Areal unseres Gehirns trainieren, das dieser Art des Spürens ja nie zuvor ausgesetzt war. Wir nehmen eine Orange und einen Apfel in die Hand und spüren, dass die eine Frucht eine unebene Oberfl äche hat und die andere eine relativ glatte – toll! Wie aber steht’s denn nun mit den feinen Motilitäten und Mobilitäten, die hier in diesem Körper stattfnden, den wir fühlen? Wir müssen palpatorische Werkzeuge entwickeln, die der Komplexität und Einfachheit dieses Primären Atemmechanis-mus entsprechen. Wir müssen lernen zu spüren. Aber dies geschieht nicht durch Unterricht. Ich kann euch nichts darüber beibringen – ihr müsst es selbst auf einer Eins-zu-eins-Basis lernen. Patienten haben es mir beigebracht, aus ihrem Inneren heraus. Indem ich aus meinem Inneren heraus zuhörte, habe ich von ihrem Inneren gelernt, wie man mit der Körperphysiologie arbeitet. Ich weiß auch jetzt noch nicht alles, was ich eigentlich wissen müsste, ich lerne immer noch.

Fünf Jahre nachdem ich mit dieser neuen Arbeitsweise begonnen hatte, zog ich von Michigan nach Texas. Als es so weit war, kamen über dreihundert Leute zu mir und sagten: »Es gefällt uns, was Sie tun. Wo können wir uns weiter auf diese Art be-handeln lassen?« Ihr könnt es glauben oder nicht, aber das war das erste Mal in den fünf Jahren, in denen auf diese Weise gearbeitet hatte, dass Leute sagten, es gefalle ihnen. Vor diesem Zeitpunkt hatte mir keine einzige Person gesagt, dass es ein guter Ansatz sei. Ich wusste nur deshalb, dass der Ansatz gut war, weil er funktionierte.

Interessanterweise war aber der Umstand, dass ich in diesen ersten Jahren nichts spürte, nicht bestimmend für die Effi zienz der Behandlung. Ich konnte nichts von dem spüren, was ich heute spüre, aber ich arbeitete mit einer Körperphysiologie im Patienten, die verstand, dass etwas geschah. Sie tat etwas für diesen Patienten – nicht weil ich es fühlen oder ihr Anweisungen geben oder ihr sagen konnte: »Sei ruhig« oder sie irgendetwas anderes tun ließ, sondern einfach weil ich den Job übernahm, des Bereichs im Patienten habhaft zu werden, der etwas zu sagen hatte. Es ging da-rum, meine Hände ruhig zu positionieren und dann mit Hilfe meiner Hände zu lauschen, mit Hilfe meiner Hände zu lesen, in aller Stille zu erspüren, was mir der Patient zu sagen versuchte. Es war nicht das Ego des Patienten oder sein Intellekt, sondern die Ruhe seiner Gewebefunktion, die mir Bericht erstattete, die die not-wendigen Veränderungen durchführte und dem Patienten erlaubte, physiologische Veränderungen in Richtung Gesundheit zu machen.

Die Körperphysiologie arbeitet ausschließlich auf diese Art und Weise, und das ist auch der einzige Grund, weshalb wir über die Entwicklung entsprechender pal-

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I–155Kapitel 4 – Die Kunst der Palpation

Versucht es selber: Lasst zuerst eure Hände irgendwo auf eurem Körper Kontakt herstellen. Dann macht nichts anderes als ein kleines bisschen eure Mm. fl exor pol-licis und Mm. fl exor digitorum zu kontrahieren. Fühlt ihr jetzt etwas, was ihr vor-her nicht gespürt habt? Geht jetzt zurück zum Spüren ohne Propriozeptoren. Die unterschiedliche Qualität des Spürens entsteht, weil ihr mit dem propriozeptiven Kontakt hindurchreicht zu einem Körper mit Flüssigkeit, einer Reihe von Ligamen-ten und Muskeln, und all dies bewegt sich. Bei oberfl ächlichem Kontakt spürt ihr keine Bewegung – alles, was ihr macht, ist, den Körper anfassen. Wenn ihr aber die Propriozeptoren nutzt, hört ihr auf mechanische Weise der Funktion zu, die sich in diesem bestimmten Gebiet vollzieht.

Hilfreich für das Funktionieren dieses propriozeptiven Kontakts ist es, ein Fulk-rum zu schaff en. Legt eure Unterarme bequem auf die Behandlungsbank und stützt euch dann sanft auf euren Ellenbogen. Das führt zu einer leichten Kompression. Wenn ihr euch zu stark auf die Ellenbogen stützt, dann blockiert ihr das, was ihr zu spüren versucht. Ihr verhindert dann, dass etwas geschieht. Eine Methode, den richtigen Druck zu fi nden, ist, sich zunächst zu stark hineinzulehnen und dann den Druck allmählich wieder teilweise aufzugeben. Nehmt den Druck von den Armen, aber bewegt die Hände nicht – und plötzlich merkt ihr, dass etwas geschieht. An diesem Punkt seid ihr weder zu fest am Behandlungstisch fi xiert noch hängt ihr frei – ihr habt einen schwebenden Kontakt. Durch diesen Kontakt wird alles, was im Patienten geschieht, refl ektiert, was ihr daran merkt, dass eure Propriozeptoren jetzt genau in Einklang sind mit der Spannung in dem Teil des Mechanismus des Patienten, den ihr anfasst.

Diese Vorstellung, mit der Spannung in Übereinstimmung zu sein, wird beson-ders deutlich bei einem Patienten, der einen extrem verspannten, fi brotischen und dysfunktionalen Lumbarbereich hat. Wenn ein derartiger Fall zu euch in die Praxis kommt, legt eine Hand unter den M. psoas, schafft einen Kontakt- bzw. Fulkrum-punkt und stützt euch dann fest auf euren Ellenbogen. Ihr werdet wahrscheinlich feststellen, dass ihr sehr stark gegen die Behandlungsliege drücken müsst, gegen die-sen Fulkrumpunkt, bis euer Druck endlich mit der Spannung in diesem M. psoas übereinstimmt. Wenn ihr dann etwas Druck wegnehmt, kommt ihr an den Punkt, wo dieser Muskel zu arbeiten anfängt. Das ist ein Beispiel, wie man über propriozep-tiven Kontakt Kompression anwenden und so steuern kann, dass sie mit der im Kör-per spürbaren Pathologie übereinstimmt. Dies bringt das Ganze zum Arbeiten.

Bislang haben wir über die Fingerspitzen und Unterarme gesprochen – jetzt wollen wir weiter nach oben gehen. Wenn ihr euren Handkontakt hergestellt und

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I–157Kapitel 4 – Die Kunst der Palpation

angespannte Gebiete. Als Behandler kann man also durch den Wasserläufer dem zuhören, sich auf das konzentrieren, was in der Körperphysiologie geschieht. Ist das nicht schön? Das Käferchen macht all die Arbeit und ihr sitzt da und hört zu. Wenn ihr diesen kleinen Wasserläufervergleich aufnehmt, könnt ihr andere Eindrücke von der Funktionsweise bekommen. Es gibt euch einfach eine Vorstellung – und es macht Spaß, damit zu spielen.

Wenn ihr anfangt, das Problem eines Patienten zu untersuchen, denkt still darü-ber nach, was hier geschieht, und begreift , dass ihr beim Lesen dieses Mechanismus die Rolle eines Behandlers zu spielen habt. Ihr nutzt euren oberfl ächlichen Hand-kontakt und holt euch so viel Information wie möglich. Dann nehmt über den pro-priozeptiven und den sensorisch-motorischen Kontakt Fühlung auf, um nun Input von diesen Ebenen zu bekommen, und schaut schließlich mit dem Wasserläufer in die gesamte Körperphysiologie des Patienten. Ihr seid damit einverstanden, euch von der Körperphysiologie dieses Patienten benutzen zu lassen, während ihr den Nach-richten zuhört, die euch durch den Wasserläufer übermittelt werden. Mit diesen Nachrichten, versucht der innere Behandler des Patienten zu zeigen, wie ihr diesem Patienten helfen könnt, sich in Richtung der Wiederherstellung von Gesundheit zu bewegen.

Jetzt möchte ich gerne, dass ihr an die Behandlungsliegen geht, eure Hände ir-gendwo am Körper anlegt, zum Wasserläufer werdet, und dem zuhört, was geschieht – was auch immer es ist – beobachtet einfach für zehn Minuten.

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I–159Kapitel 4 – Die Kunst der Palpation

Geist interpretieren, mit dem Geist lesen. Entwickelt ein »mentales Bild« davon, was, wann und warum der physiologische Mechanismus des Patienten diese Art von Bewegung möchte.

Was der Behandlers beim Palpieren des Mechanismus tun soll:Mit sensorisch-motorischem Input beobachten.Mit sensorisch-motorischem Input fühlen.Mit sensorisch-motorischem Input lesen.Mit sensorisch-motorischem Input zuhören.Dem Wasserläufer28 erlauben, still zu sein, während er sich mit dem Mechanis-

mus bewegt.Damit einverstanden sein, von der Körperphysiologie des Patienten genutzt zu

werden.Und noch ein Hinweis zum Th ema Zuhören: Wenn ihr der Körperphysiologie

des Patienten zuhört, seid euch bewusst, wie viel in dem anatomisch-physiologischen Gesamtgebilde des Patientenkörpers geschieht – verglichen mit dem Wenigen, das sich tut, wenn der Behandler nicht zuhört. Je tiefer der Behandler in sich selbst hi-neingeht, um durch seinen palpatorischen Kontakt hindurch der Aktivität in der Körperphysiologie des Patienten zuzuhören, desto mehr Information wird ihm bei seiner Untersuchung gezeigt.

Hört bei diesem Prozess auf, darüber nachzudenken, und gebt euch ganz dem hin, was aus der anatomisch-physiologischen Gesamtheit des Patienten kommt. Lasst zu, dass es gespeichert wird als sensorischer Input für euch als Behandler, der diesen In-put aufnimmt und annimmt, ohne seinen Inhalt zu beurteilen. Das ermöglicht dem anatomisch-physiologischen Mechanismus des Patienten »der ihm innewohnenden physiologischen Funktion zu erlauben, ihre eigene, unfehlbare Potency zu off enbaren, statt blinde Kraft von außen anzuwenden«29. Der Behandler ist damit einverstanden, dass die Körperphysiologie des Patienten ihn benutzt.

28 Für weitere Erläuterungen zum Wasserläufer siehe S. I-156. 29 Rollin Beckers Vorwort aus: Sutherland, W. G. & A. S.: Das große Sutherland-Kompendium.

Band I: Unterweisungen in der Wissenschaft der Osteopathie, JOLANDOS, 2004, S. I-ix.

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Kapitel 5

Diagnostisches Berühren:Prinzipien und Anwendung

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Vier von Dr. Becker verfasste Artikel zum Th ema »Diagnostisches Berühren: Prinzi-pien und Anwendung« wurden im Yearbook der Academy of Applied Osteopathy veröff entlicht. Teil I dieser Artikelreihe erschien 1963, die Teile II und III in 1964 und Teil IV im Band 2 in 1965.

Für die Veröff entlichung im vorliegenden Buch wurden diese Artikel in größerem Umfang überarbeitet. Die Originalversion von Teil III wurde fast vollständig durch Material ersetzt, das für einen Vortrag bei einem Treff en der Academy vorbereitet wor-den war. Für die vollständigen Texte sei der Leser auf die Originalquellen verwiesen. Die Überschrift en der Teile I-III hat die Herausgeberin gewählt, der Titel für Teil IV stammt von Dr. Becker.

Die Terminologie aus Diagnostisches Berühren, inklusive der Bezeichnungen bio-dynamische und biokinetische Energien, wurde später von Dr. Becker wieder aufge-geben. In einem Brief, der 1969 an Anne Wales, D. O. ging, erklärte er seine diesbezüg-liche Entscheidung damit, dass diese Terminologie auf zu geringe Akzeptanz gestoßen sei und seiner Ansicht nach praktizierende Ärzte bei deren Versuch, das Umsetzen der Konzepte zu lernen, eher behindere. Wiederholt bemerkte er Dr. Wales gegenüber, dass er es, obgleich das Material seiner Meinung nach stimmig sei, für besser halte, eine bekanntere Terminologie zu verwenden, wenn man über ›Stills und Sutherlands Grundprinzipien der Anatomie und Physiologie und die für deren klinische Anwen-dung erforderliche palpatorische Kunst‹ spreche.

Diagnostisches Berühren Teil 1:Lebendige Funktion fühlen

Diagnostik ist beides: Kunst und Wissenschaft . Im Bereich der Wissenschaft ha-ben wir unsere Sinne durch Geräte erweitert: Es gibt heutzutage eine Vielzahl an Tests, mit denen man Krankheiten im menschlichen Körper diagnostizieren kann. Die Vielfalt und Komplexität solcher Tests und die von ihnen erfassten Parameter, sind schier unendlich. Diagnostik als Wissenschaft gibt dem Behandler Informa-tionen, die sich objektiv erfassen lassen, wobei sich menschliches Versagen auf ein Minimum reduziert.

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I–165Kapitel 5 – Diagnostisches Berühren: Prinzipien und Anwendung

selbst für sein Problem hält; dann das Konzept des Behandlers von dem, was seiner Meinung nach das Problem des Patienten ausmacht, und schließlich das, was die anatomisch-physiologische Gesamtheit des Patientenkörpers über dieses Problem weiß. Die Meinung des Patienten über das, was hier falsch läuft , mag auf dem beru-hen, was andere Ärzte schon über seinen Zustand gesagt haben. Wenn euch ein Bild einfällt, dass ihm sein Problem zufriedenstellend erklärt, kann er mit euch kooperie-ren. Letztlich hat er aber immer noch seine Meinung, richtig oder falsch.

Die Auff assung des Arztes von dem, was bei dem Patienten falsch läuft , basiert auf langjähriger Ausbildung. Man hat ihm beigebracht, diagnostische Schubladen zu schaff en, ausgedrückt durch eine Terminologie, mit der er seine Befunde kommu-nizieren kann. So überträgt zum Beispiel die Diagnose eines Magengeschwürs, einer viral bedingten Lungenentzündung oder eines Schleudertraumas jeweils ein ganzes Syndrom von Befunden in den Kopf von Patienten oder anderen Ärzten. Mag diese Art zu kommunizieren auch notwendig sein, so ist sie doch ein einschränkender Faktor für wahres Diagnostizieren.

Der Körper denkt über sein Problem nicht auf eine derart begrenzte Weise.Und dann gibt es noch den dritten Faktor: das Wissen des anatomisch-physiolo-

gischen Mechanismus um seinen eigenen Fall. Er hat die Antwort. Der anatomisch-physiologische Mechanismus und seine Einheit aus Struktur und Funktion tragen in sich das komplette Bild der Krankheit und der wiederhergestellten Gesundheit.

Zusammenfassend kann man sagen: Der Patient stellt in Bezug auf eine Dia-gnose Vermutungen an, der Behandler stellt wissenschaft lich basierte Vermutun-gen an, der Körper des Patienten jedoch kennt das Problem und drückt es in seinen Geweben aus. Man kann beim Diagnostizieren ein genaueres Ergebnis erreichen, eines, das näher am wahren Muster liegt, wenn man dazu die Information und das Know-how aus dem Körper des Patienten nutzt. Wir können unsere Sinne, vor allem umseren Tastsinn, trainieren, damit sie uns in die Einheit von Struktur und Funktion der anatomisch-physiologischen Mechanismen des Patienten führen und diese veranlassen, uns die benötigte Information zu geben. Den genauen Weg in die Struktur-Funktion hinein und durch sie hindurch muss jeder Behandler, der diesen Pfad beschreiten möchte, für sich selbst herausfi nden. Es ist einfach etwas, das man sich selbst beibringt. Anleitung ist zwar möglich, aber letztlich muss der Behandler allein entscheiden, welche Methoden ihm Resultate bringen. Wir müssen lernen, die Botschaft en, die uns die Struktur-Funktion-Einheit aus dem Körper des Patienten übermittelt, zu spüren. – Was geschieht jetzt? Wann fi ng es an? Und wie geht es weiter? Dies ist wirklich eine Herausforderung.

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I–167Kapitel 5 – Diagnostisches Berühren: Prinzipien und Anwendung

von Potency zu entwickeln. Das diagnostische Werkzeug, mit dem wir lernen wer-den, diese Potency zu lesen und zu verstehen, ist der Gebrauch des Fulkrums. Wir werden das Prinzip des Fulkrums nutzen, indem wir unsere Hände und Finger so einsetzen, dass wir eine Umgebung schaff en, in der das Prinzip der Potency für uns erfassbar und bei Diagnose und Behandlung nutzbar wird.

Die Wörterbuch-Defi nition von »Potency« ist »der Zustand oder die Qualität, kraft voll zu sein, oder das Ausmaß dieser Macht; Kraft ; Stärke.« Und »potent« wird defi niert als »fähig sein, zu kontrollieren und Einfl uss auszuüben; Autorität oder Macht haben.« Jahrelang haben wir gehört, dass der Körper in sich all die Faktoren hat, mit denen er sich gesund erhalten kann oder im Falle eines Traumas oder einer Krankheit heilen kann. Diese Aussage ist grundsätzlich wahr. Der Körper besitzt die Fähigkeit, mit Hilfe dieser inhärenten Potency Gesundheit auszudrücken, und er ist in der Lage, kompensatorische Mechanismen als Reaktion auf Traumen oder Krankheit mit Hilfe unterschiedlicher Potencys aufrechtzuerhalten. Im innersten Zentrum völliger Gesundheit im menschlichen Körper wohnt eine Potency, die ihn in Gesundheit manifestiert. Ebenso wohnt im innersten Zentrum eines jegli-chen traumatischen oder krankheitsbedingten Zustandes im menschlichen Körper eine Potency, die ihre wechselseitige Beziehung mit dem Körper in Traumen oder Krankheit manifestiert.

Es liegt an uns, zu lernen, diese Potency zu spüren. Es ist relativ leicht, die Span-nungs- und Stressmuster von Traumen und Krankheit zu fühlen; aber innerhalb die-ser sich off enbarenden Elemente existiert eine Potency, die fähig ist zu kontrollieren und Einfl uss auszuüben, weil sie Autorität oder Macht hat. Sie zentriert die Störung. Dies kann mit Hilfe der fühlenden Berührung gespürt und gelesen werden.

Um eine klarere Vorstellung davon zu bekommen, was es bedeutet, innerhalb ei-nes bestimmten Problems die Potency zu spüren, nehmen wir als Beispiel ein Natur-ereignis, das die Kraft in der Potency demonstriert – ein Hurrikan. Man kann zeigen, dass die Prinzipien und Manifestationen eines Hurrikans den Prinzipien und Mani-festationen von Krankheit und Traumen im menschlichen Körper gleichen.

Ich habe die Potency als einen Fulkrumpunkt betrachtet, über den, um den he-rum und durch den hindurch der menschlichen Physiologie innewohnende biody-namische Kräft e ihre Arbeit bei Gesundheit tun ebenso wie inhärente biodynami-sche Kräft e durch ihn ihre Krankheiten oder traumatisierten Zustände im Körper aufrechterhalten. Diese Potency ist der Kraft oder dem Energiefeld im Fulkrum-punkt einer sich bewegenden Wippe oder im Auge eines Hurrikans ähnlich. Zum Beispiel wird in großen, ausgereift en Hurrikanen eine kinetische Energie produ-

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während ich lernte, die Struktur-Funktion in den Patienten zu lesen, die mit ih-ren Problemen zu mir kamen. Mir wurde dieser Bereich der Stille bewusst, der das Zentrum jedes Traumas oder jeder Krankheit bildet. Langsam, über einen langen Zeitraum hin, entwickelte sich das Wissen und Verstehen, warum er existiert und was seine Aufgabe im Trauma- oder Krankheitsprozess ist.

Hätte irgendeine Veränderung im Auge von Carla stattgefunden hätte, bevor sie auf die texanische Küste traf, dann hätten sich auch das gesamte Muster ihrer Spiralen, die Intensität ihrer Winde und andere Faktoren verändert, um sich dieser Veränderung der Potency im Auge anzupassen. Genauso kann ich beobachten, dass sich immer dann, wenn irgendeine Veränderung in dem Bereich der Stille im Pati-enten stattfi ndet, eine völlig Neugestaltung in dem traumatisch oder durch Krank-heit bedingten Muster oder anders gesagt in der Potency manifestiert. Und das habe nicht etwa ich entdeckt. Es existiert aus sich heraus. Es bittet nur, dass man seine Existenz anerkennt und dass man sich Zeit nimmt, um ein Gefühl für die Berüh-rung und Wahrnehmungsfähigkeit zu entwickeln, mit der man es sehen kann. Wie immer bleibt das Problem, das, was ist, in Worten auszudrücken, und Methoden zu fi nden, die es zu einem Teil unserer Erfahrung werden lassen. Es ist eben etwas, das man nur aus sich selbst heraus lernt.

Fulkrum

Um dieses Gefühl für Berührung zu entwickeln, muss man zunächst das Prinzip des Fulkrums erlernen und kann dann eine Methode erarbeiten, um das Fulkrum bei der diagnostischen Annäherung zu nutzen. Das Wörterbuch defi niert Fulkrum als »Stütze oder Unterstützungspunkt, über den sich ein Hebel dreht, wenn er etwas bewegt oder hochhebt.« Es ist also etwas, mit dem man Einfl uss, Druck usw. ausüben kann. Es gibt eine Aussage von Dr. W. G. Sutherland, wo er das Fulkrum in Bezie-hung zu den zwei Hälft en des Tentorium cerebelli und der Falx cerebri beschreibt:

»Das Fulkrum ist jene stille, sich nicht bewegende Hebelverbindung, über die bzw. durch welche die drei Sicheln physiologisch im kranialen membranösen Spannungs-mechanismus wirken, wenn sie die Spannung aufr echterhalten. Wie bei allen Fulkren, kann es von einem Punkt zu einem anderen verschoben werden, aber es bleibt bezüglich seiner Hebelfunktion still und unbewegt.«31

31 Sutherland, W. G. & A. S.: Das große Sutherland-Kompendium. Band II: Einige Gedanken, JOLANDOS, 2004, S. II-266.

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hendes Berühren erspürbar, das mit der Zeit zu einem wissenden Berühren wird. Es ist wie das Aufspringen auf einen fahrenden Zug. Der Zug ist weiter in Aktion und bewegt sich, während ich aufspringe, die Unebenheit des Schotterbetts einschätze und die relative Geschwindigkeit des Zuges, wenn er sich in die Kurve legt. Und dann springe ich vom Zug, während er weiterfährt. Genauso ist es beim Behandeln der Probleme des Patienten: Ich steige ein in einen lebendigen Mechanismus, der weiterhin in Funktion ist, ich mache meine Diagnose, führe meine Behandlung durch und verlasse sie dann wieder, die Mechanismen, die in ihren ewig sich ändern-den Mustern weitermachen. Meine Art des Berührens ist tief denkend, tief sehend, tief fühlend – und doch begrenzt oder blockiert sie nicht die Struktur-Funktion der Gewebe, die ich untersuche.

Beim Ausbilden meines Tastsinns kann ich noch einen Schritt weiter gehen. Durch den Stillpunkt des Fulkrums und durch die Tiefen meiner Finger-Berührung kann ich eine bewusste Wahrnehmung der Potency und der Struktur-Funktion im Gewebe des Körpers meines Patienten entwickeln. Diese Wahrnehmung geht über die physischen Empfi ndungen der fünf Sinne des Behandlers hinaus. Meiner Mei-nung nach ist es nicht das, was ich mit meiner Finger-Berührung spüre. Es ist statt-dessen das, was der Körper des Patienten mit Hilfe meines Fulkrums und meiner Finger-Berührung berichtet. Das bedeutet Wahrnehmung. Das bedeutet zuhörende Finger-Berührung. Das sind Meinung und Wissen des Patientenkörpers, nicht ein-fach nur Information.

Ich kann den sanft en und dabei gleichzeitig bestimmten Kontakt meiner Hände und Finger durch die Art und Weise, wie ich ein Fulkrum herstelle, kontrollieren. Ihr etabliert ein Fulkrum, um einen Ausgangspunkt zu schaff en, von dem aus ihr arbeiten und den Fall evaluieren könnt; und gleichzeitig müsst ihr es frei genug lassen, damit es sich in Anpassung an die wechselnden Anforderungen der unter-suchten Mechanismen verändern, dabei aber seine Hebelfunktion in Ruhestellung belassen kann. Versucht mal, ein hyperaktives Kind zu untersuchen, und ihr wer-det sehen, wie sehr man ein änderungsfähiges Fulkrum und einen entsprechenden Hand-Finger-Hebel braucht, und zwar nicht nur innerhalb der Mechanismen des Kindes, sondern auch für das Kind selbst.

Ihr werdet auch herausfi nden, dass sich bei Erhöhen des Drucks am Fulkrum automatisch die Tiefe des palpatorischen Kontaktes am Ende des Hebels – also der Hand und der Finger – verstärkt. Umgekehrt ist es genauso der Fall. Ich kann meine Berührung so anpassen, dass sie den jeweiligen Erfordernissen der kinetischen, Ener-gien entspricht, die von den sich off enbarenden anatomisch-physiologischen Mecha-

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gen oder den Unterarm dieser Hand auf sein eigenes Knie legen und so einen Fulk-rumpunkt einrichten. Die andere Hand wird über die Leber gelegt und Ellenbogen oder Unterarm werden so bequem platziert, dass man den Kontakt länger halten kann. Das kranke Organ befi ndet sich also zwischen den untersuchenden Händen des Behandlers. Von diesen Doppel-Fulkren ausgehend kann der Behandler jetzt die im Leberbereich stattfi ndenden Veränderungen in der Struktur-Funktion wahrneh-men. Er kann spüren, ob sich die Leber so bewegt oder um das Lig. falciforme herum so funktioniert, wie sie es im gesunden Zustand tun sollte. Und er wird auch spüren, ob sie, wie sie es im gesunden Zustand ebenfalls tun sollte, auf das rhythmische Auf und Ab des Zwerchfells während des Ein- und Ausatmens reagiert. Er kann nun dem Bereich der Stille, also der Potency für dieses spezifi sche Problem, erlauben, sich zu fokussieren, und er wird mit der Zeit und in wiederholten Untersuchungen viel über diese kranke Leber erfahren. Während die anatomisch-physiologische Einheit der Leber wieder fähig wird, auf die Atemwechsel des Zwerchfells zu reagieren, beginnen ihre normalen Bewegungen in Bezug auf das Lig. falciforme, und ihre venöse und ihre lymphatische Drainage fangen an, sich zu öff nen und zu funktionieren. Der Behandler weiß nun, dass dies ein Fall von Hepatitis ist, der aus der pathologischen Situation herauskommt und zum normalen Zustand zurückkehrt. All diese Verän-derungen sind durch ein klarsichtiges Berühren wahrnehmbar.

Die Anwendungsmöglichkeiten des Fulkrumprinzips sind so vielfältig wie die Liste der Beschwerden, mit denen wir es in der Praxis zu tun haben. Jeder Fall muss individuell angegangen werden und jeder Behandler bzw. jede Behandlerin muss seine oder ihre eigene Herangehensweise entwickeln. Der Behandler sollte mög-lichst viel über Anatomie und Physiologie wissen und ebenso über die zu den anato-misch-physiologischen Einheiten gehörige Struktur-Funktion. Wenn er diese Art des Berührens stetig weiterentwickelt, indem er mit Hilfe der Fulkrumpunkte in die Struktur-Funktion-Muster, die ihre Veränderungen unter seinen Händen zeigen, hinein- und durch sie hindurchfühlt, erwirbt der Behandler Wissen, dass sein Ver-ständnis vertieft . Diese Berührung öff net die Tür und lässt ihn verstehen, warum die-ser Patient an jenen Beschwerden leidet, die er manifestiert. Sogar dann, wenn Labor-untersuchungen keine Klarheit über die Ursache der Beschwerden bringen, wird die geschulte Berührungsfähigkeit des Behandlers dieses Verstehen möglich machen.

Warum ist es notwendig, diese Fulkrumpunkte einzurichten? Der Behandler ver-sucht, Funktion in lebendigem Gewebe zu spüren und den Stillpunkt zu fi nden, von dem aus ein Stressmuster seine Symptome manifestiert. Dazu muss er aus dem Her-zen seiner eigenen Stille heraus in das Herz der Stille im Patienten hineinfühlen.

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Das Fulkrumprinzip lässt sich auch bei Th rust-Techniken nutzen, um deren An-wendung effi zienter zu machen. Nachdem man den Hebel, den man bei der Ma-nipulation nutzen möchte, eingesetzt hat, pausiert man einen Moment, etabliert ein Fulkrum, pausiert wieder und lässt die denkenden, fühlenden, sehenden Finger einschätzen, wie viel Hebelwirkung und Kraft man braucht, um das Verfahren ab-zuschließen. Ihr werdet feststellen, dass man weniger Kraft anwendung von außen braucht und diese Hebelwirkung sehr viel präziser steuern kann.

Die inhärenten Kräft e zu nutzen, ist kein zeitaufwendiger Prozess. Da wir ja Mechanismen nutzen, die schon am Arbeiten sind, ist es lediglich notwendig, mit ihnen in Kontakt zu treten und sie für sich sprechen zulassen. Der Patient kommt in die Praxis mit einem Symptom in einem spezifi schen Bereich. Es ist möglich, zu diesem Bereich zu gehen und eine Untersuchung durchzuführen, die einem die In-formation gibt, die man braucht, um zu erklären, warum er seine Schwierigkeiten hat. Natürlich mag das nur ein kleiner Teil des Gesamtbildes seines Problems sein, das in wechselseitiger Beziehung zu vielem steht, aber es ist ein Anfang. Von hier aus kann man zu anderen Gebieten gehen und schlussendlich die gesamte Dia gnose zusammenstellen. Hierbei spielen das anatomische Wissen des Behandlers und seine Physiologiekenntnisse eine wichtige Rolle. Er kann sein Wissen mit seinem Tastsinn zusammenbringen und das Muster der Einschränkung und Dysfunktion nachzeich-nen, bis die gesamte Diagnose in seinem Kopf klar ist. Jedes Mal, wenn der Patient wiederkommt, wird sich das Verständnis des Behandlers vertiefen – bis er dann sein Wissen nutzen kann, um die Geschichte der Dysfunktion und ihren gegenwärtigen Zustand zu verstehen, und in der Lage ist, eine Prognose der möglichen Entwick-lung abzugeben. Denkt also immer daran, dass sich das, was schon in den Proble-men steckt, die wir bei unseren Patienten fi nden, nutzen lässt. Wir müssen es nur kontaktieren und für uns arbeiten lassen.

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post-koronare Syndrom begleitet? Wisst ihr, dass im Falle einer Lobärpneumonie eine relative Bewegungseinschränkung des Os temporale auf der Seite des konso-lidierten Lungenlappens besteht? Versteht ihr die anatomisch-physiologische Ver-bindung der Gewebe, die erklärt, warum diese Behauptung stimmt? Könnt ihr mit Hilfe einer diagnostischen Berührung bei einer Sinusitis den betroff enen Sinus lo-kalisieren und das Ausmaß der Erkrankung bestimmen?

Wenn ihr eine Bursitis im Schulterbereich oder eine Neuralgie im Armbereich behandelt, könnt ihr während der Behandlung spüren, wann die Drainage dieser ge-stauten Bereiche besser wird? Bei einem schweren Fall ist dies der Moment, in dem man für diesen Tag aufh ören sollte zu behandeln, um eine Erschöpfung der kranken Gewebe zu vermeiden. Denkt daran: Die meisten Dysfunktionen des Körpers verän-dern sich im Zentrum des gestörten Gebietes auf einer mikrometrischen Ebene von Struktur und Funktion. Könnt ihr fühlen, wie die Kräft e das Dysfunktionsmuster dahinschmelzen lassen, während ihr zuschaut?

Könnt ihr die Flachheit und den Vitalitätsverlust spüren, der jeden sogenannten »Nervenzusammenbruch« und alle Fälle eines postenzephalitischen Syndroms be-gleitet? Könnt ihr spüren, wie in solch einem Fall während eurer Behandlung die normale Vitalität wieder ansteigt?

Könnt ihr bei einem frisch erlebten Schleudertrauma die Kraft richtung des Un-falls bestimmen, wenn ihr eure diagnostizierenden Hände auf die betroff enen Ge-webe legt? Könnt ihr Erschöpfung im Gewebe spüren, ob nun im ganzen Körper des Patienten oder in spezifi schen kranken oder traumatisierten Bereichen? Dies ist ein extrem wichtiger Faktor bei diagnostischen und therapeutischen Überlegungen: Verstehe ich, was ich fühle?

Das sind nur einige der unzähligen Möglichkeiten, die der diagnostischen Berüh-rung off enstehen. In jedem erwähnten Bereich sind qualitative, quantitative, pro-gnostische, diagnostische und therapeutische Überlegungen anzustellen. In diesem Feld des Sich-Bemühens, des diagnostischen Berührens, ist niemand ein Experte. Dieser lebendige Körper, der vor euch auf der Behandlungsbank liegt, ist der Lehrer. Er fordert euch heraus, sein Problem zu entdecken.

Beim Entwickeln des diagnostischen Berührens gibt es mehrere Schritte, die sich folgendermaßen zusammenfassen lassen: Positioniert eure Hand bzw. eure Hände auf oder unter die Gewebe, die ihr untersuchen wollt. Etabliert einen Fulkrumpunkt für jeden Handkontakt, von dem aus ihr arbeiten könnt. Lasst eure palpierenden Hände und Fulkrumpunkte eins werden mit dem zu behandelnden Gewebe. Lasst zu, dass Funktion und Dysfunktion der Gewebe durch eure Hände und Fulkrum-

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bzw. eine Dysfunktion gibt, wird euch die Erfahrung lehren, dass es notwendig ist, einen festeren Kontakt an den Fulkrumpunkten aufzubauen, damit man beobach-ten kann, wie sich die Dysfunktion in diesem Gebiet zeigt. Erfahrung und die Art des untersuchten Problems werden euer Verständnis perfektionieren.

Lasst mich verdeutlichen, was ich meine, wenn ich sage Druck am Fulkrumkon-takt und nicht am Handkontakt. Wenn man das eine Ende eines Hebels, der über einem Fulkrum arbeitet, hinunterdrückt, hebt sich automatisch das andere Hebel-Ende. Das ist aber nicht die Art von Hebelmechanismus, die ich meine, wenn ich von Kraft - oder Druckanwendung an meinem Fulkrumpunkt spreche. Mein Hand-kontakt wird nicht hochgehoben, in den Körper des Patienten hinein. Mein Hand-kontakt ist sanft , aber bestimmt mit dem Körper des Patienten in Kontakt und ich wende proportional zum Ausmaß der Dysfunktion, die ich im Gewebe spüre, Druck oder Kraft direkt nach unten an meinem Fulkrumpunkt an. Der Handkon-takt bleibt dabei sanft , aber bestimmt in Kontakt mit der Körperphysiologie des Patienten. Wenn also etwa ein Mann einen 50 Kilo schweren Sack falsch hochge-hoben hat, wende ich an meinem Fulkrumpunkt wahrscheinlich einen erheblichen Druck nach unten an, um ein Gegengewicht zu dieser durch Anheben des 50-Kilo-Gewichts hervorgerufenen Dysfunktion aufzubauen. Dabei drückt meine Hand je-doch nicht mit dem gleichen Intensitätsgrad, denn dadurch würde ich Sinneseindrü-cke abblocken, die man aus den Bioenergiefeldern im Patienten empfängt, zerstört. Probiert beides mal aus und macht eure eigenen Erfahrungen.

Solch ein Prozess kann sehr viel Druck am Fulkrumpunkt des Behandlers erfor-dern oder sehr wenig. Im Falle einer Dysfunktion wie der, die durch das Hochheben der 50 Kilo entstanden war, muss der Druck am Fulkrumpunkt wie gesagt erheblich sein, um ein Gegengewicht zum Kraft ausmaß im Dysfunktionsmuster zu bilden. Die Handkontakte werden dabei vielleicht fester werden, aber doch sanft genug bleiben, um dem Problem im Patienten zu erlauben, an die Arbeit zu gehen. Wenn der Behandler die Kräft e im Patienten mit Hilfe seiner Fulkrumpunkte ausgegli-chen hat, bekommt er die maximale Reaktion von den dysfunktionalen Geweben in ihrem Bemühen, sich selbst zu positionieren, zu diagnostizieren und zu behandeln. Interessanterweise ergibt sich für den Patienten ein gewisses Maß an Wohlbefi nden, wenn die Kräft e in seinem physiologischen Mechanismus vom Behandler angegli-chen werden. Ich erlebe häufi g, dass der Patient meint, ich übe wenig oder keinen Druck aus – auch wenn ich mich eigentlich mit all meiner Kraft auf meinen Fulk-rumpunkt bzw. meine Fulkrumpunkte stütze.

Der Behandler muss seine Anatomie und Physiologie kennen, um zu interpre-

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spüren, wie es geschieht, und seid mit eurem anatomisch-physiologischen Wissen in der Lage, zu erkennen, ob es ein normaler physiologischer Mechanismus ist, der hier arbeitet, oder einer im Zustand von Dysfunktion. Wenn ihr nicht sicher seid, geht zum anderen Knie und Oberschenkel und testet sie. Es kann sein, dass beide normal sind, oder eines normal und das andere nicht. Das müsst ihr herausfi nden.

Diagnostisches Berühren ist deshalb essenziell, weil es in der Funktion und Dys-funktion der Gewebe etwas Subtiles gibt, das man auf keine andere Weise erforschen kann als durch fachmännisches, sensibles, wissendes Wahrnehmen mit Hilfe dieser Art des Berührens. Dazu ein interessantes Fallbeispiel: Eine Frau kommt in die Pra-xis und klagt über heft ige Kopfschmerzen, die sie seit zwei Jahren hat. Ihr nehmt ihre Anamnese auf, lasst verschiedene Untersuchungen machen und ihr könnt dann sagen, unter was für einer Art von Kopfschmerzen sie leidet. So weit, so gut. Wenn ihr aber jetzt auch noch diagnostisches Berühren anwendet, stoßt ihr auf die Folgen einer alten Gehirnerschütterung an der Schädelbasis, die dort die Mobilität einge-schränkt hat, was wiederum die venöse Drainage aus ihrem Kopf stört und eine Irritation der intrakranialen und extrakranialen Gewebe produziert, durch die die Nerven hindurchlaufen, die mit den Kopfschmerzen der Patientin zu tun haben. Ihr fragt die Patientin, ob sie irgendwann einen Unfall mit Gehirnerschütterung hatte oder einen, bei dem sie »Sternchen sah«, und sie erzählt euch von einem Unfall in ihrer Kindheit, bei dem sie sich so hart hinsetzte, dass sie für kurze Zeit ohne Bewusstsein war und tatsächlich »Sternchen sah.« Jetzt habt ihr nicht nur Bereich und Typ ihrer Kopfschmerzen lokalisiert und bestimmt, sondern auch de-ren Ätiologie herausgefunden – und zwar sowohl in Bezug auf den ursprünglichen Auslöser als auch auf die Ursache des jetzigen Schmerzzustands. Diese Information hätte man auf keine andere Weise bekommen als durch diagnostisches Berühren – ein diagnostisches Berühren, das euch gesagt hat, dass dies eine alte, vor 40 Jahren zugefügte Verletzung war, die sich jetzt als Kopfschmerzen manifestiert; ein Berüh-ren, das die Dysfunktion in diesen Geweben tatsächlich spürt und euch genau sagt, welche Gewebe was machen, ob in Funktion oder Dysfunktion. Durch die gleiche Art des Berührens bekommt ihr auch prognostische Information: Welche Hilfsmög-lichkeiten gibt es in diesem Fall?

Diagnostisches Berühren ist auch deshalb essenziell, weil es Hand in Hand geht mit etwas, das man therapeutisches Berühren nennen könnte. Kommen wir noch einmal zurück auf den eben beschriebenen Fall: Man kann dieser Frau mit Me-dikamenten und Physiotherapie etwas symptomatische Erleichterung verschaff en; wenn man aber versuchen möchte, das Problem auf jeden Fall zu lösen, muss man

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drückt. Durch diagnostisches Berühren gewonnene Befunde stammen von einer viel subtileren, subklinischen Ebene.

Das bringt uns zu einem interessanten Punkt: Wenn unsere Untersuchungen ergeben, dass die Erklärung für die Einschränkungen, unter denen diese Menschen seit Monaten und Jahren leiden, tatsächlich Probleme physischer Art sind, darf man dann solche Probleme wirklich als neurotisch oder psychosomatisch bezeichnen? Ich denke nicht. Der Hypochonder, stellt man fest, ist gar kein Hypochonder. Meine Gründe für dieses Gefühl basieren auf der Tatsache, dass jemand, der in der Lage ist, die für die Beschwerden verantwortlichen subklinischen Dysfunktionen zu diagnos-tizieren, auch den Weg gefunden hat, auf dem diese Dysfunktionen korrigierbar sind, und es somit wieder zu einem Zustand der Normalität bzw. Re-Kompensation im Patienten kommt. Ein sensibles, sehr gut geschultes diagnostisches Berühren kann das Werkzeug liefern, mit dem sich das in solchen Fällen notwendige Verstehen er-schließen lässt. Für diese Menschen ist es eine Riesenhilfe, wenn sich herausstellt, dass ihre Probleme eine physische Ausgangsebene haben.

Der Körper besteht im Grunde genommen aus festen Bestandteilen (Knochen), halbfesten Bestandteilen (Bindegewebe) und Flüssigkeiten (Körperfl üssigkeiten). Diese fest-halbfest-fl üssige Struktur ist mit biodynamischen lebendigen Lebensprin-zipien ausgestattet. Sie ist in hohem Grade organisiert und fähig, lebendige Verän-derungen auszudrücken, die in ihrer eigenen Umgebung stattfi nden. Ein Bereich mit einer Dysfunktion, kann in diesem lebendigen Körper gefunden werden, weil er die Dysfunktion ausdrückt. Was man beim diagnostischen Berühren spürt, sind kinetische Energien in diesem gestressten Bereich, die im Körper, jenem fest-halb-fest-fl üssigen Mechanismus, als dysfunktionales Muster agieren. Der Behandler in-terpretiert diese Manifestation kinetischer Energie in einer physiologischen und klinischen Sprache, die auf anatomisch-physiologischen Kenntnissen über die Kör-perfunktionen basiert.

Alle anatomisch-physiologischen Einheiten drücken kinetische Energie aus und benutzen sie, um in Gesundheit, Krankheit oder traumatisiertem Zustand ihre Funktionsweise zu zeigen. Diagnostisches Berühren ist die Kunst zu lernen, wie man diese kinetischen Energien und die Potencys in ihren Zentren nutzt. Abhängig von der aktuellen Situation im Patienten variieren Intensität, Quantität und Quali-tät dieser Energien. Als ich darüber einmal mit einem Elektroingenieur diskutierte, sagte er: »Es braucht viel Energie, um einen Transistor oder eine Vakuumröhre zum Arbeiten zu bringen, aber nur wenig Energie, um diese Arbeit zu lenken.« Genauso gibt es in der menschlichen Physiologie viel biodynamische Energie, die ständig am

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stattfi ndet, denn sie beginnen, das in ihnen vorhandende Einschränkungsmuster zu off enbaren Das heißt, dass die biodynamische inhärente Energie in diesem Muster zu arbeiten beginnt. Wenn jemand von außen unserer Arbeit zusieht, liegen unsere Hände anscheinend ruhig auf dem Patienten, die Bewegung, Mobilität und Motili-tät, die wir im Patienten spüren, ist jedoch – abhängig vom Problem – beträchtlich. In den Geweben gibt es ein planmäßiges Muster, durch das sie gehen, wenn sie ihre Dysfunktion zeigen. Sie arbeiten ihren Weg hindurch bis zu einem Punkt, an dem je-des Gefühl von Bewegung oder Mobilität aufzuhören scheint. Das ist der Stillpunkt. Er ist still – und doch voll biodynamischer Kraft . Das ist der Potency-Bereich für dieses Dysfunktionsmuster. Ein Stillpunkt innerhalb dieser Funktionseinheit. Zu diesem Zeitpunkt vollzieht sich eine Veränderung, die der Behandler nicht wirklich spüren kann, sondern eher als das Gefühl wahrnimmt, dass eine Veränderung statt-gefunden hat. Danach manifestiert sich ein neues Muster, weil die Gewebe einen neuen Funktionszustand erzeugen. Es ist ein normaleres Funktionsmuster, vergli-chen mit der Einschränkung, die zu Beginn der Untersuchung vorhanden war. Das Ausmaß der Korrektur, die stattfi ndet, mag nicht groß erscheinen, es ist jedoch eine der vorhandenen Gewebspathologie entsprechende physiologische Korrektur und sie ist alles, was die Gewebe bei dieser einen Behandlung physiologisch an Korrek-tur vollbringen können.

Indem ich den biodynamischen inhärenten Kräft en und ihrer Potency und den biokinetischen inhärenten Kräft en und ihren Potencys durch die Potency oder den Stillpunkt im Gewebsmuster des Patienten folgte, konnte ich bei den meisten pa-thologischen Zuständen, die mir bei Patienten begegnet sind, therapeutische Erfolge erzielen. Unnötig, zu erwähnen, dass die todkranken Patienten, beispielsweise sol-che mit Krebs, letztendlich starben. Aber die Resultate dieser Behandlungsform brachten ihnen in der Zwischenzeit symptomatische Erleichterung, und zwar mehr Erleichterung, als mit anderen therapeutischen Mitteln möglich gewesen wäre.

In anderen Fälle, wo das Potenzial für eine Umkehr des pathologischen Zustands in Richtung normale Gesundheit vorhanden war, reagierte die Physiologie des Pa-tienten mit ihrem maximalen Leistungsvermögen, um zu Normalität oder Rekom-pensation zurückzukehren. Ein mit mir befreundeter Behandler sagte einmal Fol-gendes zu mir:

»Wenn man diagnostisches und therapeutisches Berühren so nutzt, wie du es machst, durchlaufen Krankheitszustände zwar ihren Zyklus, tun dies aber mit einem Mini-mun an Zeit für jede Krankheitsphase und mit einem Minimum an Komplikationen und Langzeitfolgen. In traumatisch bedingten Zuständen wird der Stressfaktor, der zu

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sich von einem Punkt zum anderen bewegen, bleibt dabei jedoch in seiner Hebel-funktion still. Ihr könnt ein Glas Wasser nehmen und eine feine Vibration darauf übertragen, bis ihr seht, dass das Wasser ein Muster formt, das sich in der Mitte des Glases zentriert. Dort ist ein stiller Punkt, um den herum sich als Reaktion auf die Vibration das Muster des Wassers bildet. Es ist wichtig zu verstehen, dass in der Peripherie um ein Fulkrumzentrum herum eine unglaubliche Aktivität stattfi ndet, und auch, dass die Potency im Fulkrumbereich ein Teil dieses gesamten kinetischen Energiemusters ist. Fulkrumpunkte existieren in allen Stoff en, in Luft massen, in Flüssigkeiten, aber auch in festen Substanzen.

Es gibt eine Potency in allen Fulkren für die Aktivitäten in den Funktionsabläu-fen des Körpers; und wie der Welt der Natur, in der dieser Körper existiert, stellen diese Funktionsabläufe biodynamisch ihre eigene Antriebskraft bereit. Es braucht Befähigung, Zeit und Geduld, zu lernen, wie man dieses Funktionieren erspürt, zu lernen, wie man die von diesen lebendigen Strukturen initiierte Bewegung in Ge-weben spürt – nicht die willkürliche Bewegung, die vom Behandler oder Patienten ausgeht, sondern jene Bewegung, die schon da ist, wenn dieser Patient ganz ruhig auf der Behandlungsbank liegt. Es braucht Zeit und Geduld, zu lernen, wie man den Mustern folgt, die sich innerhalb dieser Muster zeigen, wie man sich der Potency in den Fulkrumpunkten bewusst wird und wie man während der diagnostischen oder therapeutischen Untersuchung den Moment wahrnimmt, in dem eine Ver-änderung in der Potency stattgefunden hat. Ebenso lernt man erst mit der Zeit, zu erspüren, wie sich das Muster entfaltet, nachdem es durch den Stillpunkt gegangen ist, und dieses Material zu analysieren und in klares physiologisches Gedankengut zu übersetzen. In Worte gefasst hört sich das Entwickeln eines diagnostischen Be-rührens ziemlich komplex an, in der praktischen Umsetzung ist es aber eine relativ einfache Sache.

Menschen ohne jegliche Erfahrung in diesem Bereich sind häufi g recht skeptisch. Sie glauben nicht, dass diagnostisches Berühren all das erfüllen kann, was man ihm an Positivem zuschreibt. Ein Gefühl von Skepsis ist jedoch eine wertvolle Hilfe bei dieser Arbeit. Es hilft einem, mit beiden Beinen auf dem Boden zu bleiben. Der Be-handler bittet einen lebendigen Körper um Informationen. Wenn er absolut nicht glauben kann, dass es möglich ist, diese Informationen durch diagnostisches Berüh-ren zu empfangen, wird er sehr wenig Information bekommen. Nur wenn er seinem Geist erlaubt, sich der Möglichkeit zu öff nen, dass man tatsächlich Informationen auf diese Weise erhalten kann, und wenn er dabei gerade so viel Skepsis mitbringt, dass der Körper herausgefordert wird, sich als Informationslieferant zu beweisen,

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Kapitel 5-3Diagnostisches Berühren Teil 3:

Anwendung

Teil III von Diagnostisches Berühren, ursprünglich von der Academy of Ap-plied Osteopathy publiziert, ist für das vorliegende Buch größtenteils durch Ma-terial ersetzt worden, das Dr. Becker für einen Vortrag bei einem Treff en der Academy vorbereitet hatte, und enthält alle 26 Fotos, die Dr. Becker für diesen Vortrag machen ließ – im Originalartikel waren es nur zehn.

Ein Behandler hat zwei Aufgaben, wenn ein Patient zum ersten Mal zu ihm kommt: Er muss zunächst die Probleme des Patienten diagnostizieren und ihm dann thera-peutische Hilfe für diese Probleme anbieten. Diagnostisches Berühren hilft bei bei-dem. Der Patient und sein Problem sind eine Herausforderung für den Behandler. Beim Arbeiten mit diagnostischem Berühren ist der Patient der Lehrmeister. Sein Problem stellt quasi den Raum dar, in dem seine biodynamischen inhärenten Kräft e und deren unfehlbare Potency den Schüler – das ist der Behandler mit seinem diag-nostischen Berühren – unterrichten. Beim diagnostischen Berühren geht es darum, zu lernen, wie man die biodynamischen inhärenten Kräft e spürt und versteht, und wie man sich der in ihnen verborgenen, unfehlbaren Potency bewusst wird. Ich bitte die biodynamischen und biokinetischen Kräft e des Patienten und ihre Potencys, mir ihren Befund durch meine Fulkrumpunkte mitzuteilen. Und das tun sie, ohne sich jemals zu irren. Tritt ein Fehler auf, dann liegt das an meiner Unfähigkeit, diese Kräft e und Potencys richtig wahrzunehmen und zu interpretieren.

Ich habe gelernt, dass diese Kraft felder im Patienten immer in Aktion sind. Die von ihrem Bindegewebe umhüllten Gewebeelemente und die fl üssigen Inhalte be-wegen sich automatisch mit, während sich die Bioenergiemuster in ihrer Funktions-weise entfalten. Ich muss sozusagen aus dem Weg gehen und den Bioenergiemustern folgen. Man kann diese Rolle mit einem begleitenden Musiker bei einem Konzert vergleichen. Ein guter Begleitmusiker folgt der Sängerin, für die er spielt, und lässt sie die Führung übernehmen. Wenn der Behandler sich für eine Annäherung via Fulkrum und Druck entscheidet, regt er durch seine Fulkrum-Druckpunkte die Bioenergiefaktoren im Patienten an und lässt sich dann von dem Muster im Patien-ten durch dessen Aktivitätszyklus mitnehmen.

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I–191Kapitel 5 – Diagnostisches Berühren: Prinzipien und Anwendung

renten biokinetischen Kräft en in der Körperphysiologie, über, um und durch die sich diese Aktivitätsmuster manifestieren. Sie ist vergleichbar mit der Kraft in dem Punkt, der als Fulkrum für ein Balancebrett dient, oder mit dem Auge eines Hurri-kans. Ein Fulkrum besitzt Energie und Kraft . Der Behandler bemerkt diese Pause-Ruhe-Zeit und ihre Potency, wenn er diese Muster durch sein diagnostisches Be-rühren studiert.

Nachdem der Behandler seine Handkontakte positioniert und für jeden von ih-nen einen Fulkrumpunkt etabliert hat, initiiert er durch Anwenden von Druck bzw. Kraft an seinem Fulkrumpunkt eine Aktivität in den inhärenten biodynamischen Kräft en und den inhärenten biokinetischen Kräft en im Patienten. Über seine Fulk-rumpunkte kann er dann erspüren, wie die Gewebeelemente und diese Energien auf einer mikrometrischen Ebene drei unterscheidbare Aktivitätsphasen durchlaufen:1) Es fühlt sich an, als ob diese Energiefelder und Gewebeelemente innerhalb ihres

Musters auf den Balancepunkt für dieses Muster hinarbeiten.2) Eine stille Pause-Ruhe-Phase, die Potency, wird erreicht und alle Bewegung

scheint aufzuhören. Bis dahin kann der Behandler diesen Veränderungen mit Hilfe seiner Handkontakte und Fulkrumpunkte folgen und so die Probleme des Patienten besser verstehen. Wenn das Muster durch die Stille geht, fi ndet eine Veränderung in der Potency statt. »Etwas passiert« aufgrund dieser Verände-rung in der Potency. Das ist die Korrekturphase im Behandlungsverlauf.

3) In den Energiefeldern und Gewebeelemente ist wieder Bewegung spürbar. Das Muster, das sich jetzt entfaltet, zeigt sich als ein normaleres Funktionsmuster für den gestörten Bereich.Diese drei Phasen können ihren Zyklus innerhalb einer kurzen Zeit, z. B. in ei-

ner Minute, durchlaufen, es kann aber auch sein, dass es mehrere Minuten dauert, abhängig vom Ausmaß und der Intensität der pathologischen Physiologie, um die es hier geht.

Phase 2, der physiologische Pause-Ruhe-Moment, ist das Ziel, das der Behandler durch diagnostisches Berühren erreichen möchte. Druck am Fulkrum des Behand-lers nutzt die Kraft in der Potency, der Pause-Ruhe-Phase der Körperphysiologie. Die physiologischen Energiefelder spenden die bewegende Kraft sowohl für die dia-gnostische Information, die den Einblick des Behandlers vertieft , als auch für den therapeutischen Nutzen des Patienten.

Als Behandler, der diagnostisches Berühren anwendet, habe ich meine Aufmerk-samkeit auf die Potency in diesem Patienten gerichtet, weil ich weiß, dass sich dann, wenn eine Veränderung in dieser Potency stattfi ndet, ein vollkommen neues, Rich-

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I–193Kapitel 5 – Diagnostisches Berühren: Prinzipien und Anwendung

Abbildung Nr. 1: Sakrum und BeckenDer Patient befi ndet sich in Rückenlage, sein Os sacrum liegt in der Innenfl äche der rechten Hand des Behandlers, deren Fingerspitzen den Processi spinosi des fünft en Lumbarwirbels berühren. Der Fulkrumpunkt ist am rechten Ellenbogen, der sich auf die Behandlungsbank stützt. Der Patient hat beide Beine ausgestreckt, könnte bei der Behandlung aber ebenso gut auch beide oder nur eines aufstellen. Der linke Arm und die Hand des Behandlers liegen wie eine Brücke über den Spinae iliaca ant.sup. Fulkrumpunkte sind hier an beiden Beckenschaufeln angezeigt, weil der Behandler abwechselnd die eine oder andere Spina als Fulkrumpunkt nutzen wird, wenn er das jeweils gegenüberliegende Os ilium in seiner Funktionsbeziehung mit dem Os sacrum überprüft .

Diese Position – übrigens hervorragend geeignet, um nach einem Schleuder-trauma die Funktionsfähigkeit des Os sacrum zu überprüfen – lässt uns das Be-cken in seiner Gesamtheit verstehen: das Os sakrum, die beiden Hüft beine und die Wechselbeziehungen des Beckens zum oberhalb liegenden Lumbarbereich und zu den unterhalb liegenden Hüft bereichen.

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I–195Kapitel 5 – Diagnostisches Berühren: Prinzipien und Anwendung

Abbildung Nr. 3: Sakrum, Iliosakrale Beziehung, unterer LumbalbereichDie rechte Hand ist unter dem Os sacrum, der Fulkrumpunkt ist dabei am Ellen-bogen auf der Behandlungsbank. Die linke Hand ist unter dem Gelenk zwischen Os sacrum und Os ilium, mit den Fingerspitzen auf den Processi spinosi der unte-ren Lumbarwirbel. Der linke Fulkrumpunkt liegt auf den überkreuzten Knien des Behandlers. Ich verwende hier den Begriff »iliosakral« statt »sakroiliakal«, um aus physiologischer Sicht zu verdeutlichen, dass die Dysfunktion von der Ossa ilia ausgehend Richtung Os sacrum entsteht und nicht umgekehrt.

Mit dieser Handhaltung kann man iliosakrale Dysfunktionen und Probleme des unteren Lumbarbereiches gut diagnostizieren und behandeln.

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I–197Kapitel 5 – Diagnostisches Berühren: Prinzipien und Anwendung

Abbildung Nr. 6: Unterer Th oraxDer Behandler sitzt am Kopfende der Behandlungsbank. Er legt seine Hände auf beiden Seiten unter den Pa-tienten, auf der Höhe der Ansätze der Mm. trapezii. Seine Fulkrumpunkte sind an seinen auf die Behandlungs-bank gestützten Ellenbogen.

Diese Position koordiniert die aus dem Lumbarbereich empfangenen Eindrücke mit denen, die man vom unteren Dorsalbereich, den unteren Rippen und via Divergenz der Mm. trapezii vom Schultergürtel bekom-men kann.

Abbildung Nr. 7: Oberer Th oraxDie Fulkrumpunkte sind an den Un-terarmen, die auf beiden Seiten auf der Behandlungsbank aufliegen. Der Kontakt der einen Hand ist unter dem oberen Dorsalbereich, die andere Hand liegt unter dieser Hand. So ver-stärkt man sein aufmerksames Wahr-nehmen der inhärenten biodynami-schen und biokinetischen Kräft e und ihrer Potencys im oberen Dorsalbe-reich und kann Zusammenhänge mit dem HWS-Bereich und dem unteren Dorsalbereich analysieren.

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I–199Kapitel 5 – Diagnostisches Berühren: Prinzipien und Anwendung

Abbildung Nr. 9: Die RippenDie rechte Hand liegt unter den Rippen, mit den Fingerspitzen auf der anderen Seite der Proc. spinosi der jeweiligen dorsalen Wirbel, die zu den untersuchten Rippen gehören. Die Hand passt sich dem Verlauf der Rippe bzw. der Rippen an. Der Ful-krumpunkt ist auf den überkreuzten Knien des Behandlers. Die linke Hand liegt auf den anterioren Enden der zu untersuchenden Rippen. Ihr Fulkrumpunkt ist der Unterarm oder Ellenbogen, der auf der Spina iliaca des Patienten auf der glei-chen Seite ruht.

Auf der Abbildung ist der Arm des Patienten neben dem Kopf ausgestreckt; dies geschah lediglich, damit man die Handkontakte und Fulkrumpunkte des Behand-lers besser sehen kann. Normalerweise lasse ich während dieser Phase der Unter-suchung den Patienten seinen Arm bequem auf meinem ablegen.

Ein leichter Druck am Fulkrumpunkt auf den überkreuzten Knien initiiert eine Bewegung an den zu untersuchenden Rippenköpfchen. Dysfunktionen der Rippen lassen sich problemlos – und für Patienten und Behandler bequem – diagnostizieren und behandeln, indem man die inhärenten Kräft e und ihre Potencys im Dysfunk-tionsmuster nutzt. Die Hände mit ihren Fulkrumkontakten können weiter oben oder weiter unten am Th orax liegen, um den Dysfunktionsbereich zu fi nden und zu behandeln.

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I–201Kapitel 5 – Diagnostisches Berühren: Prinzipien und Anwendung

Die gleiche Form des Kontaktes kann man nutzen, um eine verdichtete Lunge bei einer Lobärpneumonie zu lokalisieren. Dazu legt man eine Hand anterior, die andere posterior über den betroff enen Lungenlappen und baut einen Fulkrumpunkt auf, durch den man das Ausmaß der Gesundheit oder Pathologie in der Lunge spü-ren kann. Bei der Untersuchung der Lungenlappen kann man einen Fulkrumpunkt für die rechte Hand auf der Spina iliaca anterior superior des Patienten etablieren. Dadurch hat man zwei Fulkrumpunkte, was die Evaluation verbessert.

Abbildung Nr. 12: Bereich der HalswirbelsäuleDie Hände des Behandlers überbrücken auf beiden Sei-ten den gesamten Bereich der Halswirbelsäule, von der Schädelbasis bis zum oberen Th orax. Die Fulk-rumpunkte werden von den Unterarmen gebildet, die auf der Behandlungsbank aufliegen. Der oberere Pfeil im Bild deutet auf den Ful-krumpunkt, den man nicht sieht.

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I–203Kapitel 5 – Diagnostisches Berühren: Prinzipien und Anwendung

Abbildung Nr. 14: Spezifi sche Dysfunktion in der HWSDie Fulkrumpunkte werden von den Unterarmen gebildet, die auf der Behandlungs-bank aufliegen. Mit den Fingerspitzen lokalisiert man die spezifi sche Dysfunktion in der HWS. Die biokinetischen Kräft e und ihre Potencys sind die bewegende Kraft für Diagnose und Behandlung.

Abbildung Nr. 15: SchädelbasisDie Fulkrumpunkte werden von den Unterarmen gebildet, die auf der Behandlungsbank aufliegen. Die Finger sind leicht überkreuzt; dies ist bequem für den Behand-ler und bildet auch eine bequeme Unterlage für den Kopf des Patien-ten auf seinen Händen. Ein dritter Fulkrumpunkt wird am Kontakt-punkt der beiden dritten Finger gezeigt, man kann jedoch auch den Kontaktpunkt von zwei anderen Fingern als Fulkrumpunkt für die Arbeit in diesem Bereich wählen.

Dieses Bild zeigt lediglich, dass die Untersuchung bzw. Behandlung der Schädel-basis für beide, Patienten und Behandler, angenehm sein sollte.

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I–205Kapitel 5 – Diagnostisches Berühren: Prinzipien und Anwendung

turen des posterioren Schädelbereiches und seines Inhaltes umfasst: des Os occipi-tale, der Ossa temporalia, der SSB, der reziproken Spannungsmembran, der Fluktu-ation des Liquor cerebrospinalis, der Schädelbasis und des Bereiches der HWS.

Abbildung Nr. 18: Obere Extremität – Hand bis SchulterFulkrumpunkte: rechter Ellen-bogen gegen die Rückenlehne des Stuhles. Linker Unterarm auf ge-kreuzten Knien. Rechte Hand mit Daumen und kleinem Finger ver-schränkt, um durch Ulna und Ra-dius zu spüren (siehe Kreis).

Sowohl die kleinen Finger als auch die Daumen sind verschränkt, damit man die Knochen des Unter-arms besser evaluieren kann. Ver-sucht es mit und ohne Verschränkung. Ihr werdet mehr beobachten, wenn ihr die Finger wie angegeben verschränkt habt.

Abbildung Nr. 19: Obere Extremität – Hand bis EllenbogenFulkrumpunkte: rechter Ellenbogen gegen die Rückenlehne des Stuh-les. Linker Unterarm auf gekreuz-ten Knien. Im Kreis wird der ver-schränkte Handkontakt des Dau-mens und kleinen Fingers gezeigt.

Statt gegen die Rückenlehne des Stuhles kann der rechte Arm auch gegen den eigenen Körper des Be-handlers gedrückt werden, um als Fulkrumpunkt zu dienen.

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I–207Kapitel 5 – Diagnostisches Berühren: Prinzipien und Anwendung

Abbildung Nr. 22: Untere Extremität – FußDer Patient befi ndet sich in Rückenlage; sein Bein hängt seitlich von der Behand-lungsbank.

Die Fulkrumpunkte werden von den Unterarmen des Behandlers gebildet, die auf seinen Oberschenkeln abgestützt sind. Eine der der beiden Hände liegt an der

Abbildung Nr. 23: Untere Extremität – Membrana interossea zwischen Tibia und FibulaFulkrumpunkte: rechter Ellen-bogen auf der Behandlungsbank. Linker Unterarm gegen die Seite des Behandlers.

Eine Hand kontrolliert die Ti-bia, die andere die Fibula, wäh-rend man die Membrana inter-ossea zwischen beiden evaluiert. Eine andere Möglichkeit ist, die oberen und unteren Finger in Richtung Membrana interossea hin auszustrecken. Dysfunktio-nen der Membrana begleiten normalerweise Verletzungen des Knies oder Knöchels.

Ferse. Fingerkontakte lokalisieren die spezifi schen Dysfunktionen des Fußes.

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I–209Kapitel 5 – Diagnostisches Berühren: Prinzipien und Anwendung

Abbildung Nr. 26: Untere Extremität – Hüft bereich und iliosakraler BereichFulkrumpunkte: Der rechte Ellenbogen stützt sich auf die Behandlungsbank,

der linke Unterarm auf die gekreuzten Knie. Handkontakte: Die rechten Finger-spitzen sind im Bereich des M. piriformis. Die linke Hand liegt unter dem iliosak-ralen Gelenk.

Die Fingerspitzen im Bereich des M. piriformis zeigen in Richtung des N. ischia-dicus, dort, wo er am Os sacrum vorbeiläuft . Diese Methode fi nde ich sehr nützlich bei Reizungen des Ischiasnerves – welcher Ursache auch immer.

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I–211Kapitel 5 – Diagnostisches Berühren: Prinzipien und Anwendung

Das Bioenergiefeld von Wohlbefi nden oder Gesundheit

Die Bioenergie des Wohlbefi ndens ist die stärkste Kraft der Welt. Sie ist dynamisch. Sie ist rhythmisch. Sie ist ein Kraft feld, das mit dem Moment der Empfängnis be-ginnt und bis zum letzten Moment des Todes dauert.

Der Körper ist ein unabhängiger Mechanismus, ausgestattet mit der Fähigkeit zur Homöostase, die der Stabilisation seiner internen Umgebung dient. So kann er seine Gesundheit aufrechterhalten und mit Krankheit, Traumen und Stress-Situa-tionen umgehen. Alles, was er braucht, um seine lebenserhaltenden Grundbedürf-nisse zu erfüllen, bezieht er aus seiner äußeren Umgebung. Physisch, mental und emotional ist er in ständigem Austausch mit dieser äußeren Umgebung, die von seinem direkten Umfeld bis ins weitestentfernte Universum reicht. Warum dann innere und äußere Umgebung trennen? Statt die Begriff e »der Mensch« und »seine Umgebung« getrennt zu verwenden, kann man sie auch in einem Wort zusammen-fassen: Biosphäre.

Das Bioenergiefeld der Gesundheit ist eine spürbare Erfahrung. Es ist möglich, genau zu spüren, wie die Bioenergie der Gesundheit in unseren Patienten arbeitet. Es ist ein ruhiges, rhythmisches Empfi nden eines kompletten Austausches zwischen dem Körper des Patienten und seiner übrigen Biosphäre. Im gesunden Zustand fi n-det ein vollständiger Austausch statt, ohne irgendeinen Bereich von Restriktion, Belastung, Traumen oder Stress.

Jeder Mensch hat sein eigenes Bioenergiefeld des Sich-Wohlfühlens, das sich von der Wiege bis zum Grab ständig ändert. Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind hat sein bzw. ihr individuelles Muster. Bei einer jungen Frau, die seit Jahren an einer Darm-entzündung leidet, ist bestimmt ein anderes Gesundheitsmuster normal als bei einer Athletin ihres Alters. Wenn der Behandler bei einem Patienten spüren kann, dass dieser und seine Biosphäre in harmonischem Austausch stehen, kann er ihn mit der Sicherheit entlassen, dass er wieder gesund ist.

Kraft faktoren in der Körperphysiologie

Um in der Körperphysiologie ein Trauma zu erzeugen, ist Kraft von außen erforder-lich, und etwas von dieser Kraft bleibt als Teil jeder traumatischen Erfahrung zu-rück. Einige dieser hinzukommenden Kraft faktoren, die ich biokinetische Energien nennen möchte, absorbiert der Körper. Diese Kraft wird ein Teil der Physiologie in

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I–213Kapitel 5 – Diagnostisches Berühren: Prinzipien und Anwendung

gehen, wobei sie ihre eigene inhärente Energie im Verein mit der Bioenergie der ge-samten Körperphysiologie des Patienten Nutzen. Ihr Aktivitätsmuster liefert mir die diagnostische Information, die ich dahin gehend interpretiere, dass der Patient eine Rotations-Kompressions-Dysfunktion im Bereich des vierten und fünft en Len-denwirbels hat und dass beidseitig ein beträchtlicher Muskelspasmus im M. psoas besteht. Das Muster fährt fort, sich mir zu zeigen, indem es seinen Fokus erreicht, zu einem Stillpunkt kommt, durch einen Punkt geht, wo in der Potency »etwas ge-schieht« und sich schließlich in eine korrigierende, normalisierende Veränderung aller beteiligten Strukturen hineinentfaltet. Die Gesamtzeit für die Behandlung schwankt zwischen fünf und fünfzehn Minuten. Der Patient verlässt die Behand-lungsbank sehr erleichtert, und falls seine Gewebe nicht zu sehr geschädigt waren, wird bei ihm innerhalb der nächsten paar Stunden oder Tage alles wieder zum Nor-malzustand zurückkehren.

Nach Meinung des Patienten habe ich nicht viel getan. In dem dreiphasigen Zyk-lus des Prozesses mag er Veränderungen in sich gespürt haben oder auch nicht. Auch ein außenstehender Beobachter würde wahrscheinlich sagen, dass ich nicht viel ge-tan habe, denn er sieht weder mich noch den Patienten in Bewegung. Hätte er aber seine Hand zwischen meinen Ellenbogen und meinen Fulkrum-Druckpunkt auf dem Knie gelegt, wäre es eine andere Geschichte. Ich habe genug Druck angewen-det, um ein Gegengewicht zu dem 40-Kilo-Sack zu erzeugen, genug Druck, um jene biokinetische Kraft auszugleichen, die zur Körperphysiologie des Patienten hinzu-gekommen war, um das geschilderte Dysfunktionsmuster zu produzieren. Als ich dieser Kraft im Patienten entsprach, begannen die Bioenergie-Faktoren in ihm, auf ihrem maximalen Effi zienzlevel zu arbeiten, um die biokinetischen Kraft faktoren wieder in seine Biosphäre zurückzugeben. Was blieb, war das Muster des bioener-getischen Wohlbefi ndens dieses Patienten. Manchmal habe ich mich so stark auf meine Fulkrum-Druckpunkte gelehnt, dass ich blaue Flecken bekam. Der Patient spürt das nicht, denn indem ich ein Gegengewicht zu den Kräft en in ihm aufbaue, habe ich sein Gefühl für die Faktoren, die sein Dysfunktionsmuster bilden, aufge-hoben. Er spürt lediglich die Erleichterung, die entsteht, wenn die Energien, um die es geht, kompensiert werden. Es ist also wesentlich mehr als einfach ein »Händeauf-legen.« Es ist bei jedem Patienten und jedes Mal, wenn man es nutzt, ein Wissen um die Körperphysiologie, die Bioenergien und die biokinetischen Energien sowie ein wissenschaft liches Anwenden vieler Faktoren.

Tiefer sitzende, chronische Probleme reagieren ähnlich gut auf die Nutzung von Bioenergie als Antriebskraft . Die Korrektur und die Resultate, die ihr erhaltet, hän-

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I–215Kapitel 5 – Diagnostisches Berühren: Prinzipien und Anwendung

wurde, wird Tausende von sensorischen Impulsen in die Rückenmarksegmente und Gehirnareale senden, die diesen Körperteil versorgen. Wenn die Verletzung schwer und lang andauernd ist, werden diese Botschaft en in das Nervensystem eingeprägt, vergleichbar mit dem Aufnehmen von Nachrichten auf einem Kassettenrecorder. Auch wenn die lokale Verletzung abgeheilt ist, lässt das Nervensystem nicht notwen-digerweise seine Erinnerung los. Es tendiert dazu, sich an die störende Botschaft zu er-innern, und bleibt noch lange nach dem Unfall ein facilitierter Dysfunktionsbereich.

Bei einem Mann, dessen linkes, sehr schwer verletztes Bein Monate gebraucht hatte, um zu heilen, schien der Lumbarbereich des Rückenmarks in einem Zustand von Schock zu sein. Das Bioenergiefeld für diesen Bereich fühlte sich abnormal an. Auch als sein Bein schon abgeheilt war, empfand der Mann seine Beine immer als sehr kalt. Als der Lumbarbereich mit Hilfe einer korrigierenden Behandlung seinen normalen Bioenergiefaktor der Gesundheit wiederherstellte, verschwand dieses Ge-fühl. So eine Situation konnte ich auch bei zwei anderen Fällen beobachten: Im einen Fall hatte der Patient einen vollkommen kalten unteren Rückenbereich. Er entwi-ckelte ein bilaterales Dysfunktionsmuster des M. psoas, das therapieresistent war, bis der lumbare Rückenmarksbereich zu seinem normalen Bioenergiemuster zurückge-bracht wurde. Im anderen Fall hatten die toxischen Folgen einer Reihe von Tollwut-impfungen in den M. rectus des Abdomens den spinalen Ursprung seiner Nervenver-sorgung beeinträchtigt. Es lohnt sich, beim Behandlungsprogramm an den segmen-talen Ursprung eines jeden traumatisch bedingten Zustandes zu denken. Jede der Techniken, die mit der Fluktuation des Liquor cerebrospinalis arbeiten, kann genutzt werden, um einen Einfl uss auf das Zentrale Nervensystem auszuüben. Sie wirken alle normalisierend und löschen alteingeprägte Botschaft en aus gestörten Bereichen.

Wie fühlt sich das Areal eines Rückenmarksegmentes an, wenn es geprägt ist von Nervenimpulsen aus einem gestörten Bereich? Man kann das nur herausfi nden, in-dem man einen Menschen untersucht, der in der Vergangenheit eine schwere Ver-letzung erlitten hat. Geht an den segmentalen Bereich des Rückenmarks, der die-sen Teil versorgt, legt eine Hand über, eine Hand unter diesen Bereich – also mit posteriorem und anteriorem Kontakt –, etabliert Fulkrumpunkte, wendet Druck an den Fulkrumpunkten an und fühlt die Veränderung in den Bioenergiefeldern im untersuchten Bereich. Vergleicht bei eurem Behandlungsprogramm, bei jedem erneuten Besuch, wie er sich normalisiert. Die Tonusqualität der Gewebe im trau-matisierten Bereich wird, verglichen mit benachbarten normalen Bereichen, eine markante Veränderung aufweisen. Wenn man das einmal gefühlt und verstanden hat, wird es bei jedem neuen Fall einfacher, dies zu spüren.

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I–217Kapitel 5 – Diagnostisches Berühren: Prinzipien und Anwendung

Dr. Sutherlands positive und lakonische Antwort war: »ein echter Ballen Baum-wolle.«34

Stressfaktoren bei Traumen

Das allgemeine Adaptionssyndrom, so wie Dr. Hans Selye, bekannt als »Vater der Stressforschung«, es beschreibt, begleitet jede traumatische Erfahrung35. »Stress zeigt sich als ein spezifi sches Syndrom, wird jedoch unspezifi sch hervorgerufen«, sagt Selye. Ein Trauma als Stressor bringt den generellen Mechanismus des Adaptions-syndroms zum Reagieren. Ein Trauma stimuliert die Hypophyse, die dann die Ne-bennieren anregt. Diese wiederum lassen den Magen, die Endothelsysteme und die weißen Blutkörperchen reagieren. Selye erklärt, dass die ganze Entwicklung dieser Reaktion zum größten Teil von konditionierenden Faktoren abhängt. Das können Variablen sein, die von innen her auf uns einwirken – beispielsweise ererbte Prädis-positionen und frühere Erfahrungen (Konditionierung von innen) –, oder solche, die unseren Körper gleichzeitig mit der Ursache von außen beeinfl ussen (Konditio-nierung von außen). All dies sind integrale Elemente der Stressreaktion. Sie alle tra-gen etwas zu dem Bild des allgemeinen Adaptionssyndroms bei.

Selye erwähnt auch Gewebeerinnerungen, ebenso wie A. D. Speransky: »Die permanenten Körperveränderungen (in der Struktur oder der chemischen Zu-

sammensetzung), die der eff ektiven Adaption oder deren Zusammenbruch zugrunde liegen, sind Folgen von Stress. Sie repräsentieren Gewebeerinnerungen, die unser künf-tiges somatisches Verhalten in ähnlichen stressigen Situationen beeinfl ussen. Sie kön-nen gespeichert werden.« 36

Um erklären zu können, was in der Körperphysiologie und ihrer Biosphäre ge-schieht, war es für Selye notwendig, das Basis-Konzept einer funktionellen Lebens-einheit – die Reaktion – zu entwickeln. Sie ist eine funktionelle Energieeinheit in der Körperphysiologie und klassifi zierbar als eine der vielen Formen von Bioenergie, aus-gedrückt durch physiologische Funktionsabläufe. Selye defi niert Reaktion als »das kleinste biologische Ziel, das noch selektiv auf eine Stimulierung reagieren kann.«

Ein Trauma ist ganz klar ein Stressauslöser; und wir können eine weitere Phase von Selyes Konzept erörtern, die sich auf einen Bereich bezieht, der uns als Behandler noch mehr interessiert: Selye spricht von »Konditionierung« durch Chemikalien,

34 Amerikanische Redensart für: Du hast den Nagel auf den Kopf getroff en! 35 Hans Selye, Th e Stress of Life, überarbeitete Aufl age, McGraw Hill, New York 1976. 36 A. D. Speransky, A basis for the Th eory of Medicine, herausgegeben und übersetzt von C. P. Dutt.

International Publishers, New York 1943.

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I–219Kapitel 5 – Diagnostisches Berühren: Prinzipien und Anwendung

Stress beeinträchtigt auch die Bioenergiefaktoren in der Körperfunktion; und egal ob sie Reaktionen genannt werden oder Bioenergie: Die Palpationsfähigkeiten des Behandlers können diese Energien lokalisieren und analysieren und sie in ei-nem Diagnose- und Behandlungsprogramm nutzen, das mit dem traumatisch ver-ursachten Stressmuster fertig wird. Dabei ist jede Behandlung und jeder Fall wieder anders. Es ist wichtig, Selyes Werk zu studieren, damit man das Stress-Syndrom in traumatisch bedingten Fällen defi nieren kann und fähig ist, den dazugehörigen Symptomkreis und die Pathologie zu erkennen und auch die Tatsache, dass Stress einen chronologischen Zeitfaktor in Bezug auf die Gesundung im betreff enden Fall hinzufügt. Der traumatisch bedingte Zustand mag sich in angemessener Weise ver-bessern, aber der Patient fühlt sich immer noch nicht wohl. Und was seine völlige Gesundung hinauszögert, ist meiner Ansicht nach zweifellos das Stress-Syndrom. Um seine Bioenergie des Wohlbefi ndens wiederherzustellen, muss dieser Faktor eliminiert werden. Diese Stress-Energien können wieder in die Biosphäre zurück-kehren oder wohin auch immer sie gehen. Dann bleibt die Bioenergie der Gesund-heit als einzig funktionierende Kraft zurück. Da das Kraniale Konzept auch die Primärmechanismen umfasst, die die Mobilität und Motilität der Hypophyse und des Hypothalamus wiederherstellen, vergewissere ich mich, dass sich in allen trau-matisch bedingten Fällen die Bioenergiefelder in diesem Areal normalisieren. Ich überprüfe auch die Segmentzonen der Schilddrüse und der Nebennieren, die spi-nalen Segmente der traumatisierten Bereiche und alle anderen Regionen, die mit dem allgemeinen Adaptionssyndrom zu tun haben. Meinem Gefühl nach sind diese biokinetischen Bereiche des Stress-Syndroms ein Teil des gesamten traumatischen Muster und ich schließe sie deshalb bei einem traumatisch bedingten Fall in meine Gesamtbetreuung mit ein. Das trägt zu einer schnelleren Wiederherstellung des gesamten Problems bei.

Eine Formel der Bioenergie

Um die bisherige Diskussion zusammenzufassen, kann man eine beliebige Reihe von Gleichungen aufstellen, um die Reaktionen einer Körperphysiologie auf Traumen und Stress und das Bemühen des Körpers, diese hinzugekommenen Kraft faktoren wieder zurück in die Biosphäre zu verteilen, zu erklären.

Um die Gleichungen zu verdeutlichen, sind ein paar Defi nitionen erforderlich. In früheren Vorträgen nannte ich die Bioenergie des Wohlbefi ndens und der Ge-

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I–221Kapitel 5 – Diagnostisches Berühren: Prinzipien und Anwendung

Fulkrumpunkte Kompression anwendet, während seine Hände unter oder auf dem Bereich liegen, wo der Patient Beschwerden hat. Diese Kompression an seinen Fulk-rumpunkten regt die biodynamischen und biokinetischen Energien und die Potency im Patienten an, zu arbeiten; sie gehen nun durch den dreiphasigen Behandlungs-zyklus. Es ist also jetzt notwendig, die Gleichung durch F (für Fulkrum) und C (für Kompression) zu ergänzen, um die Rolle des Behandlers in diesem Diagnose- und Behandlungsprogramm zu bezeichnen.

Gleichung 6, in der FC für den Fulkrumkompressionspunkt des Behandlers steht, lautet: DK+FC � Potency � EG � (-K) = D. Sie stellt einen Fall dar, wo der Patient sich in einer einzigen Behandlungssitzung vollständig erholt, während Gleichung 7: DK+FC � Potency � EG � (-K) = Dk oder Gleichung 8: Dk+FC � Potency � EG � (-k) = Dk-n den Fall zeigen, der viele Behandlungen benötigt, um allmählich die K-Faktoren in die Biosphäre abzugeben. Wenn diese Art von ar-beitsintensiverem Fall letztendlich einen Fokus für das gesamte Muster und wieder in die Normalität fi ndet, wird das durch Gleichung 9 ausgedrückt: Dk-n + FC � Potency � EG � (-k-n) = D. Nun ist der Patient wieder in seinem grundlegenden Muster der Gesundheit. D = 1 ist wieder da. Der Behandler spürt das mit Hilfe seiner Handkontakte und Fulkrumpunkte und er kann diesen Patienten in dem sicheren Wissen entlassen, dass er gesund ist.

Die Gleichungen 1 bis 5 repräsentieren die Körperphysiologie des Patienten, die innerhalb ihrer eigenen Mechanismen arbeitet, um ihre Störungen zu beseitigen. Die Gleichungen 6 bis 9 stellen die Rolle des Behandlers dar, der die Bioenergiefak-toren der Körperphysiologie verstärkt und unterstützt, damit eine vollständigere Lösung der traumatischen und stressigen Erfahrungen stattfi nden kann.

Die Antwort auf die Frage, wie und warum all dies funktioniert, ist ein quali-fi ziertes: »Ich weiß es nicht.« Ich sage qualifi ziert, weil ich diesbezüglich Vorstel-lungen habe, die mich zufrieden stellen, wenn ich meine von traumatischen und stressbedingten Problemen geplagten Patienten betreue. Die Bioenergiefaktoren in den Patienten haben mir Hinweise gegeben, die es mir erlauben, den Fortschritt in jedem Fall zu verfolgen, bis ich spüre, wie sich die Bioenergie der Gesundheit bei jedem Patienten wieder ausbreitet. Ich kann den Prozess in jedem beliebigen Fall mitverfolgen, bis hin zur Normalität – oder bis zu dem Punkt, wo ich weiß, der Fall kann sich nicht weiter verbessern und bestimmte traumatische und stressbedingte Faktoren werden ein Teil der Körperphysiologie dieses Patienten bleiben.

Was die Tatsache anbelangt, dass wir diese Bioenergiefaktoren nutzen, ohne sie so umfassend zu verstehen, wie wir es uns beim Behandeln unserer Patienten wünschen

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Kapitel 6

Behandlungsprinzipien und Behandlungsmethoden

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Kapitel 6-1Philosophie und Methoden des Behandelns

Überarbeitete Fassung eines Vortrags, gehalten 1983 während eines Grundkurses der Sutherland Cranial Teaching Foundation in Colorado Springs, Colorado.

Dieser Vortrag über Behandlungsphilosophie und Behandlungsmethoden ist ledig-lich eine Zusammenfassung und eine Erinnerung an das, was ihr während dieses Kurses schon erfahren habt. In den ersten paar Kurstagen habt ihr daran gearbei-tet, Funktion zu spüren und eine Diagnose zu stellen. Aber in Wirklichkeit habt ihr die ganze Zeit schon behandelt. Diagnose und Behandlung sind nämlich nicht voneinander zu trennen.

Es ist ausgesprochen schwierig, Gesundheit in Worten auszudrücken. Gesund-heit ist ein Wort von unbekannter Bedeutung. Für uns ist Gesundheit einfach Ge-sundheit. Wir haben keine Defi nitionen dafür. Wir können nicht beweisen, dass wir gesund sind; wir können nicht beweisen, dass wir Gesundheit spüren. Und doch ist Gesundheit im weitesten Sinne, GESUNDHEIT groß geschrieben, ein Etwas. Sie ist der Grund dafür, dass wir alle hier sind – ich meine nicht hier, bei dieser Unter-richtsveranstaltung, sondern hier auf der Erde. Wir sind hier, weil wir GESUND-HEIT besitzen. Als Behandler wollen wir diese Qualität der Gesundheit in der le-bendigen Körperphysiologie unserer Patienten erkennen und erfahren. Wir nutzen unsere palpatorischen Fähigkeiten, um diese lebendige Körperphysiologie zu lesen und lassen dadurch zu, dass die Körperphysiologie des Patienten uns ihr Muster der Gesundheit ebenso zeigt wie ihr durch Krankheit oder Stress entstandenes Muster. Deshalb sind Diagnose und Behandlung untrennbar miteinander verbunden.

Wenn man die Wissenschaft der Osteopathie erlernt, bekommt man keine spe-zifi schen Anleitungen. Es ist ein Weg des Erfahrens, ein Weg des Entwickelns. Ich bin beim Entwickeln meiner Prinzipien der Osteopathie für meine Arbeitsweise in jede Sackgasse geraten, die man sich vorstellen kann. Viele Male habe ich mich auf die Hauptstraße zurückgekämpft , nur um dann festzustellen, dass ich wieder in ei-ner Sackgasse steckte. Ich habe alle bekannten Fehler gemacht, die man nur machen kann – und bis ich fertig bin, werde ich wahrscheinlich noch mehr machen. Sogar Dr. Sutherland lernte bis zur letzten Woche seines Lebens mehr über die Wissen-schaft der Osteopathie und entwickelte bessere Möglichkeiten, sich an sie anzupas-sen. Es ist eine unterhaltsame Reise.

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I–227Kapitel 6 – Behandlungsprinzipien und Behandlungsmethoden

seiner Gesundung beitragen kann. Danach müsst ihr schauen, wenn ihr einen Pati-enten erneut untersucht. Fühlt sich die Tide besser an? Wenn ja, dann ist es gut; aber wenn der Patient in sechs Monaten wiederkommt und ihr das Gefühl habt, die Tide ist wieder eingeschränkt, ist das ein Hinweis darauf, dass ihr vielleicht eure Ansicht neu bewerten sollt, dass ihr ein bisschen mehr loslassen, ein bisschen genauer hinhö-ren, ein bisschen mehr lernen und wieder für diesen Patienten arbeiten sollt.

Wir sprechen hier über Behandlungsprinzipien. Ich versuche nicht, euch irgend-was beizubringen – niemand kann diese Art der Arbeit lehren, man kann sie nur selbst lernen. Dr. Irvin Korr, einer unserer berühmten Physiologen, sagte vor einigen Jahren bei einer Konferenz, dass es unmöglich sei, palpatorische Fähigkeiten zu ver-mitteln, da jeweils nur eine Person ihren Finger auf einen Fleck legen könne. Das ist wirklich wahr. Palpation ist etwas, das sich jeder selbst beibringen muss. Man kann die Ideen und Grundprinzipien unterrichten, und einige der Dinge erwähnen, auf die ihr als Behandler vielleicht stoßt – aber herauszufi nden, wie du es in deine Kör-perphysiologie übersetzt, und wie du es nutzt, um die Körperphysiologie des Pati-enten zu verstehen, das ist dann deine Sache.

Gesundheit suchen

Ich möchte noch etwas über die Philosophie der Behandlung sagen, das ich erst in den letzten paar Jahren gelernt habe. Wenn ein Patient in die Praxis kommt, möchte er dieses linke Iliosakralgelenk korrigiert haben, damit es aufh ört, ihm weh zu tun. Er möchte, dass etwas für diese Ischialgie gemacht wird oder dass jene Rippe be-handelt wird, damit sie ihn nicht mehr stört. Das ist in Ordnung. Meine Idee, wenn ein Patient mit einem bestimmten Problem in die Praxis kommt, ist jedoch, das Gesundheitsmuster aus diesem Dysfunktionsmuster herauszulocken. Ich möchte mich nicht darauf beschränken, das Problem zu diagnostizieren und zu versuchen, den anatomisch-physiologischen Prozess zu behandeln, auf dem das ISG-Problem oder die Ischialgie beruht.

Als Beispiel möchte ich euch von einem meiner Patienten erzählen. (Dies ist keine Heldengeschichte – ich kenne keine. In den 49 Jahren, die ich arbeite, war ich noch nie ein Held – der Patient ist der Held). Dieser Mann also war durch ein Ober-licht aus sieben Metern Höhe herabgestürzt. Sein Bein war mehrfach gebrochen – die Tibia hatte es richtig hochgedrückt in den Femur. In der Folge hatte er das Problem, dass seine Beine 24 Stunden am Tag eiskalt waren. Auch wenn die Tem-

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I–229Kapitel 6 – Behandlungsprinzipien und Behandlungsmethoden

Chronische Muster und geschlossene Kreise

Natürlich wird nicht jedes Problem einfach dahinschmelzen. Die Physiologie von Gewebe, das mit altem Narbengewebe funktioniert – Narbengewebe, das schon seit zwanzig Jahren existiert – wird nicht einfach aufwachen und gesund sein; man muss solche Gewebe sozusagen zur Gesundheit zurücktrainieren. Chronisch geschädigte Gewebe müssen trainiert werden. Chronische Dysfunktionen haben die Tendenz, einen geschlossenen Kreis zu bilden. Meine Erfahrung mit einer bestimmten Un-winding-Technik, die man mir gezeigt hatte, war, dass sich der Patient nach all der Bewegung besser fühlte – die Behandlung gab sozusagen Öl in die ganze Sache hin-ein. Aber als der Patient in der nächsten Woche wiederkam, hatte er die gleiche Dys-funktion, am gleichen Ort, alles gleich. Ein geschlossener Kreis – einmal angestoßen, nahm er kein Ende. Es ging ständig im Kreis. Der Körper hatte im wahrsten Sinne des Wortes einen neuromuskulären geschlossenen Biofeedback-Kreis gebildet.

So eine Situation bedeutet, dass man durch dieses Dysfunktionsmuster hin-durchspüren muss. Man fragt sich: Wie sieht Gesundheit für diesen Bereich aus? Und wenn man an besagtes Dysfunktionsmuster herangekommen ist, muss man ein Loch hineinbohren, so dass es sich auflöst; es muss etwas anderes tun als einfach in einem geschlossenen Kreis zu bleiben. Dann kann man anfangen, eine Korrektur für dieses Problem zu erreichen. War es schon jahrelang da, müssen erst die Bänder weich werden, Spannungen im Bewegungsapparat müssen sich ändern, die vegetati-ven Systeme müssen ihre Funktion modifi zieren, das Lymphsystem muss aufwachen und feststellen, dass es was zu tun gibt, und der Atem des Lebens muss im wahrs-ten Sinne des Wortes in diese Gewebe hineinfl ießen und so stark wie im restlichen Körper werden. Viele Dinge müssen sich ändern, und das werden sie langsam tun. Ihr könnt spüren, wie diese Sache sich allmählich – nein, nicht auf eine Korrektur, sondern sozusagen auf ein Sich-selbst-Aufl ösen zubewegt und wie das Gesundheits-muster zum vorherrschenden Muster wird.

Pathologien benennen

Noch ein ähnlicher Gedanke: Wenn ihr lernt, zu den Pathologien in lebendigen Ge-weben hindurchzuspüren, sind sie nicht wie in einem Buch anhand von Überschrif-ten identifi zierbar. Ihr fühlt die Funktion der Körperphysiologie so, wie sie gestaltet ist, ohne ein Etikett. Zum Beispiel behandelt ihr nicht einfach eine Bursitis oder ein

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I–231Kapitel 6 – Behandlungsprinzipien und Behandlungsmethoden

ter habe, in dem ich bitte auch dann noch sein möchte, wenn ich aus eurem Behand-lungsprogramm entlassen werde. Ich versuche also, das Gesamtmuster der Körper-physiologie zu fi nden, das darstellt, wie diese Person zurechtkommt. Denn das lässt mich verstehen, wie das Grundmuster aussieht, mit dem dieser Patient bislang gelebt hat, und wie dieses Muster in Flexion/Außenrotation und Extension/Innenrotation funktioniert. Dann kann ich zurück zum problematischen Bereich gehen und sehen, wie dieser Patient zu seinem Mustertypus in Beziehung steht.

Bei dieser Evaluation vermerke ich auch, von welcher Qualität des Mechanismus des Patienten ist. Dafür nutze ich die Vorstellung, dass der Mechanismus im gesun-den Zustand sozusagen 110 Volt hat. Ich beobachte: Fühlt es ich so an, als ob 110 Volt in den Mechanismus des Patienten hinein- und wieder herausströmen? Strömt er nur mit 50 Volt hinein und wieder heraus, ist dies ein Hinweis. Eine 110-Volt-Batterie in einem lebendigen Patienten deutet auf eine gute Qualität in diesen Geweben hin, so dass sich ligamentäre oder membranöse Gelenkdysfunktionen korrigieren können. In so einem Fall hat man ausreichend Saft , um damit zu arbeiten; die Batterie ist voller Kraft und Leben. Hat der Patient dagegen nur 50 Volt, werden seine lokalen Gewebe, besonders im Gebiet der Dysfunktion, sehr viel schneller ermüden und man muss entsprechend vorsichtiger vorgehen bei dem, was man im Körper initiiert oder an diesem Tag zu erreichen versucht. Möglicherweise erträgt dieser Körper nur eine Behandlung von ein paar Minuten, bevor er ermüdet.

Zu diesem Th ema passt eine sehr nette Geschichte über einen Typen, der eine unglaublich akute Entzündung des M. psoas hatte. Ich legte meine Hände auf die-sen Psoasmuskel und nach exakt 30 Sekunden wurde mir gesagt, dass ich verdammt noch mal von da verschwinden solle. »Ich hab dich gehört, halt jetzt die Klappe«, sagte mir sein Mechanismus. Zwei Tage später kam der Patient wieder; diesmal konnte ich beinahe zwei Minuten bleiben, bis eine weitere, minimale Veränderung stattfand. Dann waren die lokalen Batterien hinüber. Er sollte nach ein paar Tagen wiederkommen, war aber geschäft lich verhindert. Sein Primärer Atemmechanismus und seine Körperphysiologie hatten jedoch Anweisungen erhalten – und auf seinem Weg zu einem Meeting in East Texas brach plötzlich die Hölle los. Er wurde beinahe aus seinem Auto hinausgeworfen, während sich die Selbstkorrektur vollzog. Bei sei-nem nächsten Besuch in der Praxis sagte er: »Als ich nach meinem ersten Termin bei Ihnen nach Hause kam, hat mich meine Frau gefr agt: ›Was hat er gemacht?‹ Und ich antwortete: ›Er hat mich nur untersucht, in zwei Tagen will er mich wiedersehen.‹ Nach dem zweiten Besuch hat sie wieder gefr agt, und ich sagte: ›Er hat gar nichts gemacht. Er hat mich wieder nur untersucht und gesagt, dass es wieder in Ordnung

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I–233Kapitel 6 – Behandlungsprinzipien und Behandlungsmethoden

die Teile zurück in die neutrale oder gesunde Position. Direkte Aktion wird beson-ders bei einer sehr akuten Dysfunktion angewendet, denn durch Verstärkung würde man in einem solchen Fall die Beschwerden des Patienten intensivieren. Wenn ihr stattdessen versucht, es zurückzuführen und zulasst, dass die physiologische Funk-tion euch hilft , ist es angenehmer für den Patienten. Dies nennt man also Direkte Aktion (wobei ich noch mal betonen möchte, dass ich das Etikettieren nicht mag – auch hier nicht).

Eine weitere Behandlungsmethode ist Auseinanderführen39. Das funktioniert so, wie sein Name es schon andeutet. Bei einer Dysfunktion zwischen Os frontale und Os sphenoidale kann es zum Beispiel ein heft iges Zusammentreff en geben, mit all diesen verzahnten Zacken – das muss man dann auseinanderführen.

Beim Muster der Entgegengesetzten Physiologischen Bewegung40 fällt einem als Beispiel eine Dysfunktion des okzipitomastoidalen Bereichs ein. Durch ein Trauma kann das Os temporale in ein Muster der Innenrotation getrieben werden, dass sich auch über die Membranen erstreckt. Dabei wird das Os occipitale in eine Flexions-haltung getrieben. Wenn wir eine alte chronische Dysfunktion des okzipitomasto-idalen Bereichs haben, die unbemerkt schon seit vielen Jahren schlummert, benut-zen wir vielleicht die Entgegengesetzte Physiologische Bewegung. Wir führen das Os temporale oder versuchen, es in Richtung Außenrotation zu bringen, während wir zur gleichen Zeit das Os occipitale in eine Extension führen. Dabei sind wir extrem vorsichtig und lesen mit größter Zartfühligkeit die Qualität der Gewebeverände-rungen, die im membranösen Gelenkmuster stattfi nden. Ich gebe euch hier keine Technik für den okzipitomastoidalen Bereich, ich beschreibe die Entgegengesetzte Physiologische Bewegung.

Und schließlich gibt es noch das Formen41. Dies alles sind keine Techniken; es sind im wahrsten Sinne des Wortes die Grundprinzipien, die der Primäre Atemme-chanismus, die reziproke Spannungsmembran und die Körperphysiologie des Pati-enten nutzen, um ihre eigenen Probleme selbst zu korrigieren.

Für die Neulinge in diesem Kurs sind dies wertvolle Methoden, um den Patien-ten zu berühren und diese Gewebe zurückzuleiten, indem man Verstärkung, Direkte Aktion oder Auseinanderführen nutzt, um einen Punkt in der Membranspannung zu fi nden, wo die Körperphysiologie des Patienten anfangen wird, für euch zu arbeiten

39 Originaltext: Disengagement 40 Originaltext: Opposing Physiologic Motion 41 Originaltext: Moulding

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zen Körpers und ihr fl üssiger Inhalt in reziproker, wechselseitiger Beziehung mit dem Primären Atemmechanismus. Das Anstoßen einer Funktion in einem dieser Elemente initiiert wiederum eine physiologische Aktion in allen Elementen. Das ist der Grund, warum es funktioniert. Es sind nur Worte, aber die palpatorische Erfahrung beweist es.

Reaktion auf die Behandlung

Wie oft behandle ich? Ich habe gerne mindestens eine Woche zwischen den Be-handlungen, es sei denn, man hat einen Patienten mit einer akuten Entzündung des Psoasmuskels, der einen umbringt, wenn man ihn nicht früher empfängt. Wenn der Patient das nächste Mal kommt, legt eure Hände auf ihn und beginnt euer Diagno-seprogramm, um festzustellen, wie sich die Dinge entwickelt oder nicht entwickelt haben. Fühlt es sich an wie: »Ja, ich hab in dieser Woche schon versucht, etwas zu arbeiten, aber ich bin nicht sicher, ob ich dich verstanden habe«, dann wisst ihr, dass ihr noch irgendetwas anderes tun müsst. Kommt der Patient dann in der darauf-folgenden Woche wieder, macht ihr das Gleiche. Noch eine Woche später sagt sein Mechanismus: »Hallo, Doktor, ich fange an, dich zu hören; aber ich bin mit diesen anderen Dingen noch nicht fertig – ich arbeite noch an den letzten drei Anweisungen.« Also verlängert ihr den Behandlungsabstand auf zwei Mal, und dann auf ein Mal pro Monat. Ich versuche, meine Patienten gerade oft genug zu behandeln, um sie immer wieder zu dem zurückzuleiten, woran ich gerade arbeite – zurück zu den Mustern, die für diesen speziellen Menschen gesund sind.

Im Verlauf einer Behandlungsreihe kann es auch passieren, dass man statt posi-tiver Antworten aus der Körperphysiologie ein paar prächtig unangenehme Reakti-onen produziert. Besonders in meinen Anfängerjahren ist es mir in einigen Fällen gelungen, ein paar geradezu großartige Überreaktionen zu bewerkstelligen. Es kam beispielsweise vor, dass Patienten, nachdem ich versucht hatte, eine Korrektur ir-gendwo im Bereich des Os temporale durchzuführen, erst mal zweieinhalb Stunden auf der Behandlungsbank liegen bleiben mussten, bevor sie wieder aufstehen konn-ten. Man bekommt so was aber wieder unter Kontrolle. Wir können unangenehme Reaktionen beruhigen, indem wir bestimmte Techniken – etwa eine Kompression des vierten Ventrikels – anwenden, die wir später noch besprechen werden.

Abgesehen von derartigen Überreaktionen hat es, wenn ein Patient nach Verlas-sen der Praxis etwas spürt, meist mit der Arbeit zu tun, die gerade in Bezug auf sein

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Kapitel 6-2Flexibilität in der OsteopathieDieser Text wurde in den 1980ern geschrieben.

Die Rolle des Behandlers ist es, der Menschheit zu dienen. Die Wissenschaft der Osteopathie bietet eine direkte, auf einer Ein-zu-eins-Beziehung zum Patienten ba-sierende klinische Herangehensweise für diesen Dienst an der Menschheit. Zweck der folgenden Abhandlung ist es, aufzuzeigen, für welch weites Spektrum von klini-schen Syndromen sich die Wissenschaft der Osteopathie anwenden lässt, und ergän-zend eine Evaluation sowie eine anatomisch-physiologische Interpretation der Resul-tate aus Diagnose und Behandlung in den gewählten Fallbeispielen vorzunehmen.

Um den Ausgangspunkt klarzustellen: Ich setze voraus, dass der Behandler die Wissenschaft der Osteopathie so anwendet, wie sie von A. T. Still und W. G. Suther-land formuliert wurde, dass die Struktur-Funktion der Körperphysiologie des Pati-enten ihren inhärenten, unwillkürlichen Primären Atemmechanismus sowie ihre anatomisch-physiologisch integrierte Mobilität, ihre Motilität und ihren Fluid Drive off enbart und dass der Behandler diese Elemente des sich von innen, aus der Körperphysiologie des Patienten zeigenden Lebens für seinen Dienst an der Mensch-heit in Diagnose und Behandlung nutzen kann.

Aus persönlicher Erfahrung habe ich gelernt, dass es jedes Mal, wenn ein Patient in die Praxis kommt, drei Faktoren gibt, die für die Erneuerung seiner Gesundheit wesentlich sind: erstens die Meinung des Patienten bzw. der Patientin in Bezug auf seine bzw. ihre Diagnose und auf das Behandlungsprogramm, zweitens das Wis-sen des Behandlers bei seiner Diagnose und seinem Behandlungsprogramm und drittens die Körperphysiologie des Patienten, die in einer direkten Eins-zu-eins-Beziehung zu ihren sich off enbarenden, spezifi schen Funktions- und Dys funktions-mustern steht.

Um bei Diagnose und Behandlung eine größere Treff genauigkeit sicherzustellen, ist es hilfreich, die Meinung des Patienten bezüglich seiner Erkrankung zu kennen. Es ist für den Behandler auch von Nutzen, Ideen für eine Diagnose und einen Be-handlungsansatz zu haben. Am wichtigsten ist jedoch, dass er über eine ausgebildete Palpationsfähigkeit verfügt, mit der er die Dynamiken der Körperphysiologie des Patienten lesen, spüren und ihnen zuhören kann – ob diese nun ihr gesundes Funk-

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mit Extension und Innenrotation. Dieser rhythmisch balancierte, unwillkürliche Austausch geschieht 8 bis 12 Mal pro Minute. Als eine Gesamteinheit in der Kör-perphysiologie ist er essenziell für Leben und Gesundheit. Der sekundäre mobile, motile Fluid Drive in der Körperphysiologie ist der willkürliche Mechanismus, den das Individuum bei seinen bzw. ihren täglichen Aktivitäten gebraucht. Im einzel-nen Patienten kann der Behandler sowohl unwillkürliche als auch willkürliche Me-chanismen beobachten und anhand seiner ausgebildeten palpatorischen Wahrneh-mungsfähigkeit mit ihnen arbeiten.

In der klinischen Anwendung wirken diese Prinzipien (unwillkürliche und willkürliche Mobilität, Motilität und Fluid Drive) als eine Einheit zusammen. Ich möchte den Fall einer jungen Frau vorstellen, die auf dem Rücksitz eines Autos schlief, als dieses im Zuge eines Unfalls gegen einen Pfeiler prallte und so abrupt gestoppt wurde. Nachdem die Notfallbehandlung abgeschlossen war, kam diese Frau in meine Praxis, weil ihr rechtes Bein immer anschwoll. Morgens war es noch relativ normal, verdickte sich aber dann im Laufe des Tages.

Eine palpatorische Untersuchung der unwillkürlichen und willkürlichen Ein-heiten ihrer Körperphysiologie zeigte, dass sich die faszialen Umhüllungen am lin-ken, gesunden Bein ganz frei zusammen mit der gesamten Körperphysiologie al-ternierend in ein Außen- und ein Innenrotationsmuster bewegten. Beim rechten Bein dagegen bewegten sich die faszialen Umhüllungen nur in Innenrotation; die Außenrotation war in ihrem Muster relativ blockiert und störte so die venöse und lymphatische Drainage. Es stellte sich heraus, dass das rechte Bein der Patientin sich in einem Muster der Innenrotation befunden hatte, als sie zur Zeit des Aufpralls auf dem Rücksitz schlief. Eine korrigierende Behandlung löste diesen faszialen Zug der Innenrotation und brachte das Ganze wieder in Richtung Gesundheitsmechanis-mus und guter Funktion – eine befriedigende venöse und lymphatische Drainage war wiederhergestellt.

Ein weiterer interessanter Fall war der eines 46-jährigen Mannes, der kam, weil er schon mehrere Jahre lang an chronischen Rückenschmerzen litt. Bei der Anamnese stellte sich heraus, dass er vor 16 Jahren einen Autounfall mit Frontalaufprall gehabt hatte. Der palpatorische Befund zeigte zwei größere Defi zite in der Funktion der Körperphysiologie. Das eine war, dass sich alle Muskeln und Faszien im Bereich der Hals- und Brustwirbelsäule wie Glas anfühlten. Das zweite Defi zit äußerte sich als ein »blockiertes« Os sacrum mit komplettem Verlust der unwillkürlichen Bewe-gung. Der gesamte Beckenring – das Os Sakrum, die Ossa Ilia, der lumbosakrale Bereich und die beiden Hüft en – wurde nicht mit Hilfe der Bewegungseinheit aus

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Dieser zuletzt erwähnte Fall ist ein Beispiel für ein Schleudertrauma bzw. eine Art Trägheitsdysfunktion mit Verlust der unwillkürlichen Mobilität des Sakrum. Diesen Typus einer Dysfunktion fi ndet man häufi g. Meine Unterlagen zeigen, dass in den letzten dreißig Jahren jeder siebte neue Patient mit dieser Art Dysfunkti-onsmuster kam, mit einem relativen Verlust der unwillkürlichen Mobilität des Os sacrums zwischen den Ossa ilia – auch wenn dies nicht ein Teil seiner aktuellen Be-schwerden war. Wenn der Patient dann gefragt wurde: »Hatten Sie irgenwann einen Autounfall?«, war die Antwort häufi g negativ. Lautete die Frage aber: »Hatten Sie mal einen Autounfall, bei dem Sie unverletzt blieben?«, war die Antwort positiv und der Patient bzw. die Patientin erinnerte sich dann an eine solche, schon Monate oder auch Jahre zurückliegende Trägheitdysfunktion.

Obleich dies meistens nicht der Grund ist, warum Patienten eine Behandlung wünschen, stößt der Behandler bei der palpatorischen Untersuchung auf eine ein-seitige oder beidseitige Restriktion der unwillkürlichen Beweglichkeit des Os sac-rum, die dazu führt, dass der mobile, motile, 8 bis 12 Mal pro Minute stattfi ndende, rhythmische Fluid-Drive-Zyklus der Körperphysiologie des Patienten nicht sein vol-les Nährpotenzial liefert. Da der Patient aber aufgrund von anderen Problemen und nicht seines blockierten Sakrum wegen gekommen ist, entwickelt man ein Behand-lungsprogramm für das, woran der Patient leidet, und nimmt sich dann während der Behandlungsphase etwas Zeit, um die Dysfunktion des Sakrum zu lösen, damit es in seiner unwillkürlichen Bewegung wieder frei funktioniert. Dieser Lösungs-prozess koordiniert sich mit allen anderen Behandlungskorrekturen in Richtung Gesundheit. Es gibt viele verschiedene Formen und Typen von Trägheitsdysfunkti-onen und alle erfordern einen spezifi schen Befund, eine spezifi sche Diagnose und Behandlung. Das Syndrom des Sakrum bei Schleudertrauma wird hier als Beispiel verwendet, weil es so häufi g zu beobachten, zu diagnostizieren und in Richtung Ge-sundheit zu korrigieren ist.

Wenn man mit der Körperphysiologie und ihrer inhärenten Einheit aus unwill-kürlicher und willkürlicher Mobilität, Motilität und Fluid Drive arbeitet, zeigen sich, wenn der Behandler untersucht, palpatorisch erfassbare Muster. Hier drei bei-spielhaft e Fälle einer »geschockten« lumbalen Verdickung des Rückenmarks: Beim ersten Fall handelt es sich um einen meiner Kollegen, der durch ein Oberlicht he-

»Nicht den Kranken zu heilen ist die Pflicht des Maschinisten, sondern einen Teil des ganzen Systems wieder so anzupassen, dass die Lebensfl üsse fl ießen und die ausgetrockneten Felder be-wässern können.« [Aus: Still A. T.: Das große Still-Kompendium. 2. A., Band I: Autobiographie, JOLANDOS, 2005, S. I-94].

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I–243Kapitel 6 – Behandlungsprinzipien und Behandlungsmethoden

vollziehen, wenn der Patient daheim ist – und meist geschieht es auch so. Wenn der Patient dann beim nächsten Besuch von dieser Veränderung berichtet, kann der Be-handler dieses Ergebnis verifi zieren. Eine Tatsache beim Arbeiten mit der Körper-physiologie im Patienten ist, dass die Körperphysiologie während der Behandlung in der Praxis zwar ihre korrigierende Veränderung in Richtung Gesundheit initiiert, die eigentlichen Behandlungsresultate sich aber zwischen den Behandlungen ein-stellen. Beim nächsten Besuch in der Praxis bestätigen sich die vollzogenen Verän-derungen und man sieht, was weiterhin nötig ist, um das Behandlungsprogramm fortzusetzen. Die Körperphysiologie als Lehrerin ist äußerst präzise in ihrer Dia-gnose und ihren Behandlungsergebnissen.

Beim dritten Fall zeigte sich eine ähnliche Einschränkung in der lumbalen Ver-dickung des Rückenmarks; die Ursache war jedoch eine völlig andere. Ein Mann, in seinen Fünfzigern litt bereits einige Jahre unter chronischen Durchblutungsstö-rungen der unteren Körperhälft e und war schon ohne Erfolg bei mehreren Ärzten gewesen. Bei seiner Anamnese ergab sich, dass er vor zwanzig Jahren eine Reihe von 28 Tollwutimpfungen erhalten hatte; diese waren in die abdominelle Muskula-tur injiziert worden, die von der lumbalen Verdickung des Rückenmarks innerviert wird. Mit der Zeit hatten die toxischen Eff ekte dieser Impfungen die Qualität und die Funktionsfähigkeit des Rückenmarks in diesem Segment beeinträchtigt. Die Tonusqualität in den Muskeln und in der lumbalen Verdickung war sehr schlecht. Diese provisorische Diagnose wurde ihm erklärt; er wollte sich aber nicht weiter behandeln lassen.

Befunde, die mit Funktionsstörungen der lumbalen Verdickung des Rücken-marks einhergehen, sind nicht selten. Die drei hier vorgestellten Fälle sind Beispiele für verschiedene Typen von Mechanismen, die im Rückenmark eine Reaktion aus-lösen können. In diesem Fall bestand die Reaktion in einer Überlastung oder einem Schock in spezifi schen sensorischen, motorischen und vegetativen Segmenten des Nervensystems. Wenn der von dem traumatisierten Gebiet kommende aff erente sensorische Input andauert, etabliert das geschockte Rückenmark in der lumbalen Verdickung das Phänomen eines geschlossenen Kreislaufs. Das kann man mit einer Nachricht auf einem Kassettenrecorder vergleichen, die immer wieder abgespielt wird. Nachrichten aus dem verletzten Bereich melden ein Trauma, und das Feedback wird ein sich ständig wiederholendes Ereignis, das sogar andauert, wenn das verletzte Gebiet stabilisiert ist. Das kann Wochen, Monate und Jahre so gehen.

Die grundlegende Aktivität der Körperphysiologie ist eine rhythmische, unwill-kürliche, 8 bis 12 Mal pro Minute stattfi ndene Flexion und Extension der Strukturen

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Sitzung fortführen wird. Wenn dagegen zwar eine Art von Korrektur stattfi ndet, es aber keine Anzeichen dafür gibt, dass die Körperphysiologie des Patienten ihre Qua-lität in den traumatisierten Bereichen verbessert hat, entsprechen diese sogenannten Korrekturen nicht dem, was die Physiologie braucht. Ein davor und danach durch-geführter Test, der die Gesundheitsqualität in den Bereichen relativer Gesundheit sowie in den Bereichen eines geschlossenen Kreislaufes einzuschätzen hilft , gibt wertvolle Einsichten in die Arbeit mit dem lebendigen Mechanismus des Patienten. Der Tag wird kommen, wenn der Patient in die Praxis tritt und sein Mechanismus verkündet: »Es geht mir gut.« Ein Test der elementaren Werkzeuge seiner Körper-physiologie, nämlich der Funktionseinheit aus Mobilität, Motilität und Fluid Drive, wird diese Aussage bestätigen. Die geschlossenen Kreisläufe sind verschwunden und alle traumatisierten Einheiten arbeiten sich in Richtung Gesundheit vor.

Der Behandler, der seinen Tastsinn weiterentwickelt, um mit der Körperphy-siologie des Patienten zu arbeiten, kann beim Palpieren auch Folgendes herausfi n-den: Wenn es zu einem Herzinfarkt kommt, erfolgt zeitgleich eine Implosion in der Th oraxhöhle. Erstmals beobachten konnte ich das im Falle einer Frau, die in den Sechzigern war, sich wegen relativ geringfügiger Beschwerden behandeln ließ und dann einen massiven Herzinfarkt erlitt. Sie überlebte ihn und kam danach für wei-tere Behandlungen in die Praxis. Als ich die Qualität der Funktion im thorakalen Bereich evaluierte, fühlte es sich an, als sei die gesamte Wand des Th orax in einem faszial eingeschränkten Zustand – eine auffallende Veränderung im Vergleich zum thorakalen Tonus im Brustraum vor dem Herzinfarkt. Es war, als beinträchtige ein mäßiger Schock oder eine Implosion den Brustraum – eine Implosion, die es zu fi n-den und zu behandeln galt, damit sie wieder verschwand und weitere Gesundung möglich war.

Über die Jahre konnte ich eine derartige Implosion bei mehreren Patienten be-obachten und alle entwickelten dieses Phänomen als Teil einer thorakalen faszialen Reaktion auf den Schock eines Herzinfarktes. Was auch immer die Beschwerden sind, derentwegen die Patienten uns aufsuchen: Man kann zusätzlich diese Implo-sion behandeln, um ein weiteres Heilen des Herzinfarktes zu ermöglichen. Dies ist ein Beispiel für eines dieser stillen physiologischen Geschehnisse, die sich der Pal-pationskunst des Behandlers von innen, aus der Körperphysiologie heraus, zeigen. Ein Lösen des durch die Implosion entstandenen faszialen Zuges kann für die Ge-samtförderung der Gesundheit des Patienten nur nützlich sein.

Die Körperphysiologie ist der stille Teilhaber und die Grundlage für Gesund-heit im gesamten menschlichen Wesen. Zwei grundlegende Prinzipien sind es, die

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zustände, die sich aufgrund von Traumen und/ oder Krankheit in einem bestimm-ten Bereich zeigen, machen mehr als sich einfach nur zu korrigieren: Sie schmelzen förmlich hinweg und lassen Gesundheit zurück, die wieder zentriert ist in der phy-siologischen Funktion. Was auch immer der Behandler anwendet, um zu korrigie-ren: Die rhythmischen Tideneinheiten arbeiten ungefähr 10 Mal pro Minute und wirken dabei wie Schmieröl, das mit anderen trophischen Faktoren zusammenwirkt, um Stressfolgen aufzulösen und den Bereich zur Gesundheit zurückzuführen. Der Behandler kann seine Berührungsfähigkeit entwickeln, um diese heilenden Verän-derungen in der Körperphysiologie des Patienten zu fühlen, zu lesen und zu erfahren. Als ein Teil des Heilprozesses wird die Flexibilität wiederhergestellt.

Die Rolle, die die Körperphysiologie in ihrem Dienst an der Menschheit und in jedem einzelnen Menschen spielt, ist sehr real und man kann sie im Rahmen einer Eins-zu-eins-Beziehung zwischen Behandler und Patient sehr gut nutzen. Der sprin-gende Punkt ist nicht, was der Behandler für den Patienten tun kann, sondern was er tun kann, um die Türen für eine Selbstheilung des Patienten bzw. der Patientin zu öff nen. In allen vorhin beschriebenen Fällen haben sich die Patienten, die sich behandeln ließen, erholt und auf den Rückweg Richtung Gesundheit begeben, in-dem sie die grundlegenden Prinzipien der Körperphysiologie nutzten – nämlich die unwillkürliche Mobilität, Motilität und die Funktion des Fluid Drive zusammen mit der willkürlichen, im täglichen Leben benötigten Mobilität. Der Behandler ak-zeptiert die Lebendigkeit dieser im Patienten wirkenden Prinzipien und entwickelt die palpatorischen Fähigkeiten, die Qualitäten relativer Gesundheit, wie sie sich im einzelnen Patienten zeigt, ebenso zu fühlen, zu erlauschen, zu lesen und zu erken-nen wie die spezifi schen Qualitäten, durch die sich Traumen oder Krankheit im ge-stressten Bereich ausdrücken. Er kann solche lokalen spezifi schen Dysfunktionen dank seines feinstgeschulten Tastsinns ausfi ndig machen und mit den inhärenten kräft igenden Grundprinzipien arbeiten, damit der Patient wieder gesund wird. Es ist eine – zumindest verbal – allgemein akzeptierte Tatsache, dass die Körperphysiolo-gie eines jeden Menschen ständig nach Gesundheit strebt, ob ihm das nun bewusst ist oder nicht. Dieses verbale Anerkennen jedoch Tag für Tag im Rahmen einer Ein-zu-eins-Beziehung zu jedem Patienten, der kommt, in persönliche Erfahrung umzusetzen, ist eine echte Herausforderung.

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chen Schmerz im gleichen Bereich und ist natürlich nicht besonders glücklich damit. Da muss ich einsehen, dass ich wohl am falschen Ende des Hebels sitze. Der ganze Lärm kommt von der oberen Körperhälft e, aber nichts zeigt dort einen Eff ekt. Der Patient erfährt keine Erleichterung. Ich gehe also weiter nach unten und lege meine Hände unter das Sakrum – und das Ding ist so vollkommen blockiert, dass es weder in Flexion noch in Extension gehen kann. Um die Bewegung in diesem Bereich zu testen, lege ich eine Hand unter das Sakrum und den anderen Unterarm quer über die Hüft beine. Während der Patient nun seine Füße abwechselnd in Flexion und Extension bringt, spüre ich, wie sich das gesamte Becken als Einheit bewegt. Das bedeutet, dass sein Sakrum unten in diesem Becken vollkommen fi xiert ist, denn sonst würden sich, wenn er seine Füße bewegt, das Sakrum und die Hüft beine wie drei unabhängig voneinander bewegliche Einheiten anfühlen.

Das Sakrum war also in seinem Becken blockiert – aber wo äußerten sich alle Symptome des Patienten? Oben, am anderen Ende. Dort oben beschwerten sie sich, weil sie buchstäblich gegen ein vollkommen blockiertes Becken funktionieren muss-ten. Dort war der Schmerz, dort die Neuralgie, dort der Zug an den Faszien. Seine Symptome waren also alle von einem vollkommen blockierten Becken verursacht. Für diese Blockade musste es einen Grund geben und als ich den Patienten deswe-gen befragte, kam heraus, dass er – der selbst nur etwa 75 Kilo wog – aus seinen Sportwagen dessen 125 Kilo schweren Motor herausgenommen hatte, um ihn auf ein paar Blöcke zu wuchten. Und bei diesem Vorgang hatte er off enbar eine so un-günstig Körperhaltung eingenommen, dass sein Sakrum runter- und zwischen die beiden Ossa ilia hineingedrückt wurde. Es konnte nirgendwo anders hin. Um das zu behandeln, verwendete ich einen Griff quer über das Becken, über die betroff e-nen Gewebe, und arbeitete daran, wobei ich die Tide nutzte, die dort 10 Mal pro Minute hindurchkommt.

Wenn ihr ein Dysfunktionsmuster anfasst, lasst es arbeiten. Ihr packt das Ge-webe in diesem Gebiet und drumherum und fügt etwas Kompression dazu. Ihr for-dert den Mechanismus, der automatisch in Flexion, Extension, Innen- und Außen-rotation geht, und folgt dem Dysfunktionsmuster in diesem Bereich. Ich positio-niere meine Hände im betroff enen Bereich und wende mit Hilfe meiner Arme oder auf andere Weise genug Kompression an, dass es zu einer Veränderung kommt. Diese Kompression regt dann die Ossa ilia an, als würde sie ihnen zurufen: »He, wacht auf – wir arbeiten an euch!«

Im Falle dieses jungen Mannes konnte ich nach ein paar weiteren Behandlungen in den Geweben lesen, dass in diesem 18 Monate alten Problem etwas zu funktionie-

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Kapitel 6-4Über das Behandeln

Auszüge aus Vortragsnotizen, die zwischen 1969 und 1986 entstanden.

In unserem Denken besteht eine bewusste und unbewusste Tendenz, Kraniale Os-teopathie von der Körperosteopathie zu trennen. Diese Vorstellung einer Separation, mag sie nun bewusst oder unbewusst sein, müssen wir aus unserem Denken elimi-nieren. Es ist unbedingt notwendig, dass wir diese Zweiteilung aus unserem Denken entfernen und den Körper in der Wissenschaft der Osteopathie als etwas Ganzes verstehen. Er ist von Kopf bis Fuß eine Funktionseinheit. Wenn es darum geht, ein Problem anzupacken, muss man dieses Problem immer als etwas betrachten, das die gesamte Wissenschaft der Osteopathie betrifft .

– Technik im Gegensatz zu einem Prinzip: Etwas mit einem Problem tun ist Tech-nik; mit einem inhärenten Mechanismus innerhalb des Problems zu arbeiten ist die Anwendung eines Prinzips, keine Technik.

– Heilung: eine individuelle Manifestation eines universellen Prinzips – Gesundheit: harmonisches, wirksames Leben – Behandlung: Behandelt Menschen, nicht die klinischen Probleme in Menschen! – Könnt ihr dem inhärenten Bemühen der Anatomie-Physiologie des Patienten zu-

hören und sie beobachten, wie sie sich selbst korrigiert? Könnt ihr zulassen, dass sich die lebendigen Bedürfnisse des Patienten zeigen, und mit ihrem Programm für die Rückkehr zur Gesundheit kooperieren?

– Wenn ihr die Tür öff net – also den ersten Kontakt mit dem Mechanismus des Patienten herstellt – kann es 30 Sekunden oder sogar eine Minute dauern, bis ihm klar wird, dass die Tür nun off en steht.

– Gesundheit wird wiederhergestellt, wenn sich Flexion /Außenrotation und Ex-tension/Innenrotation der unwillkürlichen Mechanismen des Körpers zeigen.

– Die Behandlungsphase bedeutet, zu wissen, wann man seine Hände wegnehmen muss – zu wissen, wann die Behandlung zu Ende ist. Bis dahin ist alles eine dia-gnostische Phase.

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I–253Kapitel 6 – Behandlungsprinzipien und Behandlungsmethoden

die andere. Genauso spürt man, wenn die Fluktuation des Liquor cerebrospinalis in ihrer Tidenbewegung expandiert, dass der Körper auf einer Seite leichter in Au-ßenrotation geht als auf der anderen; die andere Körperseite bewegt sich dann in der Phase von Extension / Innenrotation freier.

Vater Dura

Bei einem Treff en der Fakultät der Sutherland Cranial Teaching Foundation, das 1986 stattfand, beschrieb Dr. Becker eine Vater Dura genannte Technik, die ihm Dr. Sutherland gezeigt hat.

Dr. Sutherland zufolge kann man, was die Bewegungsrichtung anbelangt, tat-sächlich einen Unterschied zwischen der inneren und der äußeren Schicht der Schä-deldachknochen spüren. Wenn man sorgfältig beobachtet, bewegt sich die innere Schicht etwas anders als die äußere. Um damit zu arbeiten, sitzt man ganz still da und verstärkt sanft den Druck auf dieses Ossifi kationszentrum, bis man den Punkt der Balance fi ndet. Still hält man dann diesen Punkt der Balance, liest ihn und lässt eine Veränderung zwischen der inneren und der äußeren Schicht jedes Knochens im Schädeldach zu.

Schädelbasismuster

Die Erfahrung, zu lernen, wie wir mit unserem Geist und unseren Händen durch die Muster der Schädelbasis gehen, und wahrzunehmen, wie die lebendige reziproke Spannungsmembran fähig ist, den sphenobasilären Mechanismus in verschiedene Muster zu nehmen, ist nützlich, weil diese Muster eindeutig eine klinische Rele-vanz bei bestimmten Arten von Problemen haben. Es ist auch wichtig, diese Muster im weitesten Sinne zu verstehen. Wenn wir durch diese Muster der Synchondrosis sphenobasilaris gehen, fi nden wir für uns heraus, in welchem Muster der betref-fende Patient lebt. Es steckt mehr dahinter, als lediglich herauszufi nden, dass die reziproke Spannungsmembran all dieses Herumgewackle in unseren Köpfen ver-anstalten kann.

Es ist wichtig zu wissen, ob ein Patient unter einer spezifi schen membranösen Gelenkdysfunktion, von der zwei Knochen betroff en sind, ein grundlegendes Tor-sions-, Sidebending-Rotations- oder ein vertikales oder laterales Scherkraft -Muster

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Kapitel 6-5Ursache und Wirkung

Dieser Vortrag wurde in den 1960ern geschrieben.

»Ursache und Wirkung bestehen fortwährend. Die Ursache mag in einigen Fäl-len am Anfang gar nicht so groß sein wie in anderen, aber die Zeit verstärkt die Wirkung bis die Wirkung die Ursache überragt und es im Tod endet. Der Tod ist das Ende oder die Summe aller Wirkungen.Ich erwarte vom Leser nur, dass er sorg fältig den Unterschied und die fortschrei-tende Änderung in der Wirkung als zusätzliches Element, das in die Ausein-andersetzung eingreift und der Wirkung steigende Bedeutung zukommen lässt, zur Kenntnis nimmt.«43

Lasst uns diesen Gedanken von Dr. A. T. Still nutzen und kurz über die Rolle der osteopathischen Dysfunktion bei Ursache und Wirkung sprechen. Wie viele Male jeden Tag manipulieren oder mobilisieren wir die osteopathische Dysfunktion bzw. Dysfunktionen bei unseren Patienten und denken dabei, dass wir für diese Fälle in diesem Bereich unseres Behandlungsprogramms alles tun, was uns möglich ist? Wenn wir uns jedoch bei der Analyse eines Dysfunktionsproblems tief in die Denk-weise von Dr. Still hineinbegeben würden, könnten wir entdecken, dass wir es bei unserer Art des Umgehens mit diesem Fall mit Auswirkungen und nicht mit Ur-sachen zu tun haben.

Wir sind uns bei unserer medizinischen Versorgung bewusst, dass die von uns verschriebenen Medikamente zu einem hohen Prozentsatz dafür geschaff en sind, die Auswirkungen oder Symptome eines Problems zu beseitigen, aber keinen An-spruch darauf erheben, die Ursache zu verändern. Das trifft auch auf die reine Ma-nipulation oder Mobilisation einer osteopathischen Dysfunktion zu, wenn wir un-ser Bemühen und unsere Gedanken alleine auf diese Methoden beschränken. Wir verändern das Bewegungsmuster des Patienten und das Resultat ist eine Verände-rung des Symptomkomplexes für eine gewisse Zeit. Wenn dann dieser Patient das

43 Still A. T.: Das große Still-Kompendium. 2. A., Band I: Autobiographie, JOLANDOS, 2005, S. I-95.

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I–257Kapitel 6 – Behandlungsprinzipien und Behandlungsmethoden

schleunigungskräft e in dem Moment, wo die Stoßstange seines Autos auf das etwa 1,80 Meter von seinem Körper entfernte Hindernis aufprallt, bis zu 15 Tonnen betra-gen kann. Jedes Molekül seines Körpers wird mit voller Kraft in Richtung Aufprall geschleudert. Die gesamte Aufprallwucht muss in die Behandlung seines Falles ein-bezogen werden. Es gibt auch die vielen Tausend kleinen, durch unsere Umgebung bedingten traumatischen Kräft e, die verschiedene Dysfunktionen in der Körper-mechanik schaff en: Wenn man etwa einen 50-Kilo-Sack Dünger falsch hochhebt, sich beim Bettenmachen zu sehr streckt oder verdreht, einen schweren Gegenstand aus einem Regal in Überkopfh öhe holt, in einer ungünstigen Körperhaltung einen plötzlichen Husten- oder Niesanfall bekommt, von einer Bordsteinkante tritt, die man nicht gesehen hat, eine Ladung Feuerholz beim Tragen zu weit vom Körper entfernt hält, um die Kleidung nicht zu beschmutzen, und bei unzähligen anderen Vorfällen im Alltag, die wir selbst schon erlebt, erdacht oder aus Patientenerzählun-gen erfahren haben. Jeder dieser von Fall zu Fall unterschiedlichen Kraft faktoren wurde der Körperphysiologie des Patienten, der eure Unterstützung sucht, hinzu-gefügt. Alle diese Kraft faktoren müssen evaluiert und dem diagnostischen Über-blick, den ihr euch von diesem Patienten verschafft , hinzugefügt werden. Einige der Details kann man durch eine sorgfältige Anamnese herausfi nden: exakte Art und Weise der Belastung, Aufprallrichtung, quantitative und qualitative Menge der Last, um die es hier ging, Körperbewegungen des Patienten, seit dem Unfall verstriche-ner Zeitraum und weitere Informationen, die wichtig für den Fall sind. Trainiertes palpatorisches Berühren kann die betroff enen Gewebe lesen und genauso viel oder noch mehr Informationen herausfi nden wie die Anamnese.

Wie steht es mit osteopathischen Dysfunktionen, die nicht durch eine bekannte traumatisierende Kraft , sondern durch Krankheit verursacht wurden? Auch hier gibt es wirkende Kräft e; sie sind aber subtiler in ihrem Ursprung als Auslöser für osteopathische Dysfunktionen. Es sind dies Kräft e auf der molekularen Ebene von Bakterien- und Virenteilchen, die genauso zu unserem Verursacherumfeld gehören wie die schwere Ladung Feuerholz, die wir ins Haus zu tragen versuchen.

Egal ob durch Trauma oder Krankheit bedingt: Die osteopathische(n) Dys-funktion(en) sind Auswirkungen und nicht Ursache. Wenn man sie fi ndet und als eine in sich abgeschlossene Einheit behandelt, vernachlässigt man die Hälft e des Grundes, warum die Patientin zu uns kam. Wenn dies alles ist, was wir in der Betreu-ung ihres Falls bedenken, verschaff en wir ihr lediglich symptomatische Erleichte-rung. Wir müssen lernen, durch das osteopathische Dysfunktionsmuster hindurch-zulesen, dessen Ursprünge als traumatischer oder krankheitsbedingter Prozess zu

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I–259Kapitel 6 – Behandlungsprinzipien und Behandlungsmethoden

Kapitel 6-6Die Herrschaft der Gesundheit

Diese Texte stammen aus Vortragsnotizen vom 23. Mai 1973.

»Die Gesundheit beherrscht den Körper mit der Hilfe von Gesetzen, so unver-änderlich wie die Gesetze der Schwerkraft , und solange wir den Gesetzen gehor-chen, die zur Gesundheit führen, brauchen wir keine Angst vor Krankheit zu haben.«

Ursache und Wirkung – Teil 1: Fallstudien

1. Eine Frau, Alter 26. Schwere Kopfschmerzen, seitdem sie 18 Jahre alt ist. Als sie 19 Jahre alt war, wurde auf der rechten Seite ein Teil des Os parietale und Os tem-porale entfernt, um eine zerebrale Dekompression zu erreichen. Zerebrales Ödem, verschiedene Störungen des zentralen und peripheren Nervensystems, Vagussyn-drom, und somatische Beschwerden. Hatte im letzten Jahr 5 große allgemeine Untersuchungen, dabei jedes Mal Pneumoenzephalogramm45 ohne Befund. Im Alter von 18 Jahren schwere Geburt des zweiten Kindes.

2. Eine Frau, Alter 44. Schwere, kaum zu beeinfl ussende Kopfschmerzen seit vier Jahren. Mehrfach medizinische Untersuchungen. Keine Erleichterung. Mit 10 Jahren heft iger Sturz mit dem Os sacrum auf einen Felsen – damals eine Wo-che Bettruhe.

3. Junge Frau, die Drillinge geboren hatte – die drei wogen zusammen 21 Pfund. Neun Monate nach der Geburt kam sie; der Beckenmechanismus funktionierte immer noch so, als ob er die Drillinge trüge.

4. Eine Frau, die in ihren Zwanzigern eine Lungenentzündung durchgemacht, sich damals aber »gut erholt« hatte. 15 Jahre später bekam sie eine sekundär indu-zierte Hepatitis, war drei Jahre lang eingeschränkt, Cortison etc. Sie entwickelte eine Leberzirrhose.

5. Ein Mann, der als Teenager bei einen Autounfall seine normale unwillkürliche Mobilität verloren hatte und 20 Jahre danach folgende Symptome entwickelte:

45 Anm. d. Hrsg.: Einbringen von Luft oder Helium in die Liquorräume mittels subokzipitaler oder lumbaler Punktion – weitgehend überfl üssig geworden durch CT.

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I–261Kapitel 6 – Behandlungsprinzipien und Behandlungsmethoden

Alle diese sind integriert, alle sind miteinander und ineinander verwoben zum Zwe-cke der Gesundheit und besitzen die Fähigkeit, zu arbeiten, zu spielen, zu denken, Gefühle zu entwickeln, zu beten, sich in ihrer Funktionsweise an jede Erfordernis anzupassen und sich im Inneren und im Äußeren mit der Umgebung und dem Uni-versum auszutauschen, in dem sie existieren.

Dies ist das Muster in dem »die Gesundheit den Körper beherrscht mit der Hilfe von Gesetzen, so unveränderlich wie die Gesetze der Schwerkraft .«

Dies ist ein vorherrschendes, in jedem Individuum einzigartiges Muster funktio-nierender Gesundheit und es bezieht Kraft von einer Potency.

Ursache und Wirkung – Teil 3: Diagnose und Behandlung

Wenn ein Patient zu uns kommt, bringt er eine oder viele Beschwerden und eine Geschichte von Traumen oder Krankheit mit.

Wir erheben die Anamnese, machen eine Untersuchung, lassen Labortests ma-chen usw. und spüren mit unseren geübten Händen, ob es da möglicherweise eine physiologische und pathologische Ursache für die Probleme des Patienten gibt. Wir diagnostizieren das Problem als ein Problem gestörter Gesundheit.

Unsere wichtigste Aufgabe sollte es sein, das in jedem Menschen vorhandene vorherrschende Funktionsmuster der Gesundheit zu suchen, uns seiner bewusst zu werden, es bei seinem Funktionieren zu erspüren und zu begreifen, wie Gesund-heit für dieses Individuum zum Zeitpunkt der Erstuntersuchung aussieht. Unsere zweite Aufgabe sollte es sein, die bestehenden Dysfunktionsmuster zu erkennen, die das vorherrschende Muster der Gesundheit überlagern. Man muss das spezifi sche Grund-Gesundheitsmuster verstehen, das wir für dieses Individuum bei diesem Pra-xisbesuch zu diesem Zeitpunkt der Diagnose und Behandlung suchen, und einen Plan entwerfen, um es hervorzubringen, damit es einwandfrei funktionieren kann. Alle in Teil 1 beschriebenen Fälle sind Auswirkungen, Folgen von Traumen oder Erkrankung, die im Lauf der Zeit zu weiteren Folgen führen, die die betreff ende Person noch mehr einschränken.

Auch die in Teil 2 beschriebenen vorherrschenden Muster der Gesundheit sind Auswirkungen.

Durch Traumen oder Krankheit bedingte Muster bekommen, damit sie existie-ren können, Kraft von Potencys, die spezifi sch sind für jede Auswirkung und für jedes vom traumatischen oder krankheitsbedingten Zustand betroff ene Gewebe.

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I–263Kapitel 6 – Behandlungsprinzipien und Behandlungsmethoden

Kapitel 6-7Emotionale Faktoren

Überarbeiteter Auszug aus dem Artikel Ein osteopathisches Konzept und seine Beziehung zur osteopathischen Dysfunktion, der im 1952er Yearbook der Aca-demy of Applied Osteopathy (heute: American Academy of Osteopathy) ver-öff entlicht wurde.

Man hat uns beigebracht, dass die Diff erenzialdiagnose zwischen einer Neurose und einer psychosomatischen Erkrankung so aussieht: beim Neurotiker sind die gegen-über Umweltfaktoren entwickelten Widerstände bewusst ausgelöst, beim psycho-somatisch Erkrankten dagegen unbewusst und »diese Widerstände sind objektive Phänomene, die dazu dienen, die dynamische biologische Signifi kanz der gesamten Krankheit zu zeigen«46. Solche Patienten wissen selten, was sie stört, und sagen oft protestierend, dass bei ihnen alles in Ordnung ist, wenn man ihre Aufmerksamkeit darauf lenkt, dass sie vielleicht unter einer versteckten Spannung leiden.

Für beide Arten von Patienten ist eine osteopathische Behandlung eine der bes-ten therapeutischen Möglichkeiten. Werden die erkannten bestehenden osteopathi-schen Dysfunktionen normalisiert, kommen normalerweise die versteckten Span-nungen an die Oberfl äche und lösen sich auf. Die osteopathische Behandlung, wenn sie »mit wissenschaft lichem Sachverstand verschrieben, präzise dosiert und fähig ange-wandt« wird, wie Dr. Arthur D. Becker zu sagen pfl egte, zielt darauf ab, den freien Fluss des Blutes, der Flüssigkeiten, der Energie und anderer vitaler Kräft e, der zu den Dysfunktionsbereichen hinführt und – noch wichtiger – auch den freien Fluss von Blut, Flüssigkeiten, Energie und anderen vitalen Kräft en, der von den dysfunktio-nalen Bereichen wegführt, zu normalisieren – also ein wirklich normales Abebben und Heranfl uten in Richtung Gesundheit zu erreichen.

Wir können in unserem logischen Denken noch einen Schritt weiter gehen. Wir erkennen nicht nur den therapeutischen Wert einer Behandlung der osteopathi-schen Dysfunktion bei solch komplexen Fällen, sondern können die osteopathi-sche Dysfunktion auch als eine kraft volle diagnostische Hilfe bei der Analyse einer Neurose oder psychosomatischen Erkrankung sehen. Bei der Diff erenzialdiagnose einer somatischen Erkrankung gegenüber einer Neurose oder psychosomatischen

46 Hart, A,: Psychosomatic Diagnosis, JAMA, 136:147–149, 17. Jan 1948.

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I–265Kapitel 6 – Behandlungsprinzipien und Behandlungsmethoden

Kapitel 6-8Ausgeglichene Membranspannung

Überarbeitete Fassung eines auf Tonband aufgezeichneten Vortrags, gehalten 1976 in einem Grundkurs der Sutherland Cranial Teaching Foundation in Milwaukee, Wisconsin.

Wenn eine Belastung zu einem Dysfunktionsmuster führt, halten die Membranen dieses Belastungsmuster aufrecht. Die Folge ist, dass das »normale« Fulkrum hin-übergeschoben wird zum Dysfunktions-Punkt, also zu dem Punkt, an dem der Be-reich in eine Dysfunktion gegangen ging. Innerhalb dieses Dysfunktionsmusters gibt es einen Punkt der ausgeglichenen Membranspannung. Es gibt einen Fulkrum-punkt, einen relativen Punkt der Stille, um den herum sich alle Kräft e organisieren. Wenn man all diese Kräft e in Balance bringt, dann geht der Mechanismus durch einen Stillpunkt, einen Fulkrumpunkt, einen Moment der Stille. Während dieses Stillpunktes verschiebt sich das Fulkrum zurück in Richtung des sogenannten nor-malen Musters dieses Menschen – in Richtung des Sutherland-Fulkrums – und es ergibt sich die Korrektur, die an diesem Tag möglich ist. Durch diesen Prozess ver-ändert man die Fulkren im Liquor cerebrospinalis und in der reziproken Spannungs-membran. Häufi g ist der Stillpunkt off ensichtlich, und doch geht man oft durch ihn hindurch, ohne ihn zu bemerken. In solchen Fällen wird man feststellen, dass es sich nicht so anfühlt, als ob viele Auseinandersetzungen im Kopf stattfi nden; es fühlt sich an, als ob es glattgeht, es fühlt sich mühelos an und vielleicht wird der Kopf auch heiß – dann weiß man, dass man durch den Stillpunkt durchgegangen ist.

Wie nutzt man das Prinzip der ausgeglichenen Membranspannung? Nehmen wir an, man beschließt an diesem Tag, sich beim Behandeln auf eine als Torsion rechts in Erscheinung tretende Dysfunktion zu konzentrieren. Man initiiert dieses Torsi-onsmuster, lässt zu, dass es in das volle Bewegungsausmaß geht, hält es dann sanft in diesem Bereich und lässt nicht zu, dass es zurück in den neutralen Zustand geht. Während man es dort hält, geht es durch seinen Zyklus der Auseinandersetzung, geht durch einen Stillpunkt, und dann lässt man zu, dass es zu dem neuen neutralen Zustand zurückdrift et, den es entdeckt hat.

Wenn man dies macht, hat man nicht nur an einer membranösen Gelenkdys-funktion – in diesem Falle einem Torsionsmuster – gearbeitet, sondern auch eine

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I–267Kapitel 6 – Behandlungsprinzipien und Behandlungsmethoden

Orchestermusikern, dieses lebendige Tonbild als Antwort auf die Forderung her-vorzubringen. Ich frage mich: Wo ist da ein Unterschied zwischen dieser Vorgehens-weise und dem Aufl egen unserer Hände auf den Patienten, unserem Kontaktaufneh-men mit einem fl ießenden, lebendigen Mechanismus und unserer an das Gewebe gerichteten Auff orderung, zu reagieren? Die Musiker sind in unserem Fall die viel-fältigen Gewebe, um die es geht – und sie werden auf eure Auff orderung antworten und mit euch kooperieren, um die Perfektion zu manifestieren, die ihr versucht, zum Wohle der Gesundheit des Körpers hervorzubringen. Wunderschön!

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I–269Kapitel 6 – Behandlungsprinzipien und Behandlungsmethoden

Zu Beginn des Lebens ist das Kranium noch dabei, sich als Struktur zu entwi-ckeln. Die Platten der Ossa frontalia und Ossa parietalia entstehen aus Bindegewebe und sind miteinander membranös verbunden. Die Knochen der Schädelbasis wer-den aus Knorpel vorgeformt. Zum Zeitpunkt der Geburt gibt es 11 kleine Teile von diesen aus Knorpel entstehenden Knochen: vier Teile im Os occipitale, drei im Os sphenoidalis und jeweils zwei in den Ossa temporalia. Diese Knochenanteile sind durch Knorpelzonen miteinander verbunden und durch die reziproke Spannungs-membran mit ihren drei Sicheln und ihrem unteren Anheft ungspol am Sakrum. Mit der Zeit, wenn die Ossifi kationszentren reifen und zusammenwachsen, werden diese elf verschiedenen Anteile zu vieren: Os sphenoidalis, Os occipitale und die bei-den Ossa temporalia. Denkt einmal an all die Faszien, all die Bindegewebselemente, die an der Schädelbasis befestigt sind und das Gerüst des Körpers bilden. Denkt ebenso an die rhythmische Fluktuation des Liquor cerebrospinalis und die 8 bis 12 Mal pro Minute stattfi ndende Bewegung (der Strukturen) der Mittellinie und der bilateralen (Strukturen) in all diesen sich entwickelnden Geweben. Wenn sich die Schädelbasis völlig frei entwickeln könnte, wie wäre dann die Struktur-Funktion des Körpers? Dann denkt einmal über die Realität nach: Hier gibt es zumindest mi-nimale, häufi ger aber ernsthaft e Veränderungen der Schädelbasis, die durch Kräft e von außen verursacht werden – das kann pränatal, perinatal, postnatal oder noch später geschehen. Wie sind dann die Muster der Struktur und Funktion im Baby, Kind oder Erwachsenen?

Die einzige Gelenkschaltung im Kranium, die schon bei der Geburt arbeitet, ist die Verbindung zwischen den Kondylen des Os occipitale mit den Gelenkfl ächen des Atlas. Beim Erwachsenen besteht das Os occipitale aus einem Knochen, während es beim Kind bis zum Alter von sieben oder neun Jahren aus vier Teilen besteht: einem Pars basilaris, der anterior zum Foramen magnum liegt, die zwei Partes laterales, die das Foramen magnum seitlich begrenzen, und posterior die Squama occipitalis, die knorpelig mit den Partes laterales verbunden ist. Die Kondylen konvergieren anterior und divergieren posterior. Wenn bei der Geburt der Kopf des Fetus durch das Becken tritt, können die Wehen mit einer komprimierenden Kraft , die über die Amnionfl üssigkeit übertragen wird, die Kondylen in die Gelenkfacetten des Atlas treiben, der in diesem Alter der einzige knöcherne Kontakt und ein Fulkrumpunkt ist. Abhängig von der Richtung der Kraft können die Partes laterales sich in ihrem knorpeligen Kontakt mit der Squama occipitalis oder dem Pars basilaris verändern und ein strukturelles Muster produzieren, das ein klein wenig von dem normalen Muster einer frei funktionierenden Schädelbasis abweicht. Dies refl ektiert dann mit

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I–271Kapitel 6 – Behandlungsprinzipien und Behandlungsmethoden

Vitalität. Das Baby wurde mehrere Monate lang für weitere Behandlungen gebracht, und es zeigten sich wieder einige Bereiche mit Hautirritationen – aber nie so wie das ursprüngliche Muster. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, fällt mir ein, dass sich beides, das Zentrale Nervensystem und die Haut, aus Ektoderm entwickeln, und beide waren in diesem speziellen Fall betroff en.

Mit einer trainierten Palpationsfähigkeit und Kenntnissen der anatomischen Mechanismen kann man sowohl Muster des gesamten Körpers als auch spezifi schere Probleme in lokalen Bereichen befunden. Bei manchen von diesen handelt es sich um fasziale oder ligamentäre Gelenkdysfunktionen, die überall im Körper des Kin-des als Resultat seiner bzw. ihrer Aktivitäten des täglichen Lebens feststellbar sind. Wenn man die propriozeptive Berührung diagnostizieren und bei der Behandlung arbeiten lässt, um die Gesundheit in den dysfunktionalen Geweben wiederherzu-stellen, ist dies eine Eins-zu-eins-Beziehung zwischen dem Behandler und der inhä-renten Vitalität des Babys oder Kindes.

Eine weitere Fallgeschichte illustriert diesen Punkt: Ein neunjähriger Junge war vor einem Jahr gefallen und hinkte seitdem. Bei der Untersuchung fand ich eine li-gamentäre Gelenkdysfunktion im linken Hüft bereich. Bei der palpatorischen Un-tersuchung der rhythmischen externen und internen Rotation zeigte sich die rechte Hüft e gesund, aber auf der Dysfunktionsseite waren diese Außen- und die Innen-rotation eingeschränkt oder inaktiv. Die ligamentäre Gelenkdysfunktion wurde korrigiert, und bei einer erneuten Untersuchung der abwechselnden Außen- und Innenrotation beider Hüft gelenke war diese auf beiden Seiten gleich. Das zeigte, dass eine Wiederherstellung in Richtung Gesundheit im linken Hüft gelenk erreicht worden war.

Der Kraniosakrale Mechanismus eines Babys oder Kindes hat eine Reihe von spezifi schen Bereichen, wo relativ oft Dysfunktionen auft reten. Die membranösen Gelenkdysfunktionen, die man häufi g bei älteren Kindern fi ndet, bestehen zwischen dem Os occipitale und der Pars mastoidea (des Os temporale), zwischen Os frontale und Os sphenoidale oder am Os temporale. In den ersten Jahren sollte der Schwer-punkt auf den Membranen liegen. Zwischen der Entstehung einer Dysfunktion und dem Auft auchen von Symptomen können Wochen, Monate oder Jahre liegen. So spürte ein Patienten, der als Vierjähriger einen Schlag auf das Okziput erlitten hatte, der dieses am Pars petrosa des Temporale und am rechten Teil des Tentorium ce-rebelli nach innen komprimierte, erst als 24-Jähriger Symptome. Bei einer anderen Patientin, deren Sakrum durch einen im Alter von zehn Jahren erlebten Sturz in seiner unwillkürlichen Bewegung blockiert war, manifestierte sich dies im Alter von

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Kapitel 7

Das Wesen von Traumen

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Kapitel 7-1Körperphysiologie plus Kraft faktoren

Dieser Artikel, dessen Original 1959 im Yearbook der Academy of Applied Os-teopathy (heute: American Academy of Osteopathy) erschienen ist, wurde für die Veröff entlichung im vorliegenden Buch weitgehend überarbeitet.

In der heutigen Fachliteratur fi ndet man viele Diskussionen über die Auswirkungen von Kraft auf die Körperphysiologie. Alle traumatischen Ereignisse erfordern, dass man analysiert, was dabei mit der Körperphysiologie geschehen ist und welche Vor-gehensweise man nun anwenden muss, um die daraufh in entstandenen Probleme zu behandeln. Es ist jedoch auch wichtig, diese traumatische Erfahrung in einem ande-ren Licht zu sehen – nämlich zu erkennen, welche Rolle die traumatische Kraft in ihrer Beziehung mit der Körperphysiologie spielt. Um dies zu verdeutlichen braucht man jedoch zunächst ein klares Bild von der Körperphysiologie an sich – und das lässt sich zumindest teilweise aus einer Erläuterung des Begriff s Homöostase ge-winnen. Im ersten Teil dieses Artikels wird daher kurz auf diesen Begriff eingegan-gen, während es im zweiten Teil um einige der Prinzipien geht, die miteinbezogen werden müssen, um zu verstehen, welche Rolle Kraft im Zusammenwirken mit der Körperphysiologie spielt.

Homöostase

In seinem Buch Th e Wisdom of the Body perfektionierte Walter B. Cannon die Th eo-rie und das Werk von Claude Bernard in Bezug auf die Prozesse der Selbstregu-lation im Körper und gab dem Ganzen den Namen Homöostase, was er als »eine Tendenz zur Gleichmäßigkeit oder Stabilität in den normalen Körperzuständen des Organismus« defi nierte. Die Th eorie der Homöostase kann mit den Prinzipien von A. T. Stills osteopathischem Konzept verglichen werden; die Ähnlichkeit ist off en-sichtlich.

Cannon beginnt mit der Wahrnehmung der Instabilität. Sein Ziel ist es, zu ver-stehen, wie der Körper überhaupt stabil bleiben kann. Homöostase ist das Körper-prinzip, das auf die automatische Stabilität hinweist, die der Körper andauernd

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I–277Kapitel 7 – Das Wesen von Traumen

lediglich Hinweise auf den Zustand des Körpers zum Zeitpunkt der Probenent-nahme. Führt man den Test ein paar Stunden später durch, hat der Körper einen ganzen neuen Satz von quantitativen und qualitativen Werten entwickelt. Der Feh-ler liegt in den Instrumenten selbst. Um präzise und verlässlich zu sein, darf ein Inst-rument notwendigerweise nur eine begrenzte Anpassungsfähigkeit haben und kann in dieser Begrenzung nur einen kleinen Reaktionsbereich abdecken, während eine Vielzahl an Faktoren, die zu dieser Reaktion beitragen, unberührt bleiben.

Das Problem ist jedoch nicht unüberwindbar. Der Behandler, der bereit ist, die vielen Körperteile in Bezug auf ihre Position ebenso kennenzulernen wie auf ihren funktionellen Aspekt, also auf ihre Arbeitweise im integrierten Körper, hat einen großen Schritt in Richtung auf ein Verstehen dieses Systems getan. Er muss wissen, wo im Schema dieses Gerüsts jedes Teil sitzt, und dessen maximale Arbeitseffi zienz in seinem Funktionsstatus innerhalb des Gerüsts herausfi nden, indem er das ge-samte physiologische Funktionieren des Körpers als Referenz nimmt. Und das erfor-dert mehr als nur ein Prüfen der Endprodukte seiner Fähigkeiten. So ein Behandler überprüft zum Beispiel das passive Bewegungsausmaß der Hüft e nicht nur anhand einer Außen- und Innenrotation des Femur in Bezug auf den Pelvis. Er möchte auch die Fähigkeit des Körpers, das Hüft gelenk selbst nach außen und nach innen zu rotieren, so kennen, wie sie der Körper mit seinen eigenen selbstregulierenden, reziprok ausgeglichenen Mechanismen demonstriert. Genau das ist es, was Dr. Still meinte, als er von verstandener Anatomie (und Physiologie) sprach.47

Durch das Entwickeln wahrnehmender Fähigkeiten beim Berühren sollte der Behandler diese selbstregulierenden Mechanismen im biodynamischen Gerüst des Körpers spüren können. Er sollte fähig sein, die Prozesse, die im Körper bereits am Arbeiten sind, um die maximale Basislinie des Gleichgewichts zu erreichen, zu ver-stärken, in ihrer Wiederherstellung zu unterstützen, zu dirigieren und zu steuern. Um dies zu tun, muss er wissen, wie der Körper in gesundem Zustand funktioniert. Wenn er ihn in gesundem Zustand versteht, wird er Dysfunktion erkennen, wenn

47 Anm. d. Hrsg.: Still erwähnt den kombinierten Ausdruck Anatomie und Physiologie an 22 Stellen seiner vier Bücher. Hier bezieht sich Becker wohl auf folgendes Zitat: »Dieses Fest ist von wenig Interesse und Wohlgeschmack für einen Menschen, der die kombinierte Schönheit von Anatomie und Physiologie nicht versteht. Die Süße kommt mit der Vertrautheit aufgrund eines langen und tiefen Studiums jener Komposition und jenes Gebrauch eines jeden Teils des or-ganischen Lebens, das dem geladenen Gast vorgesetzt wird.« [Aus: Still A. T.: Das große Still-Kompendium. 2. A., Band III: Die Philosophie und mechanischen Prinzipien der Osteopathie, JOLANDOS, 2005, S. III-91].

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I–279Kapitel 7 – Das Wesen von Traumen

Körperphysiologie plus Kraft

Ziel dieses Artikelteils ist es, die Faktoren Kraft und Körperphysiologie miteinander zu vereinigen. Der Physiker und Philosoph Victor F. Lenzen bietet in seinem Buch Causality in Natural Science eine maßgebliche Interpretation der Einwirkung von Kraft auf einen bestimmten Körper – nicht als Aktivität oder reines Symbol, son-dern als ein Charakteristikum externer Körper in der Umgebung eines bestimmten Körpers. Er sagt, dass eine Kraft von außen nicht nur etwas ist, was dem Körper ge-schieht, sondern zu den Umweltfaktoren gehört, die mit dem Körper arbeiten.

Die Körperphysiologie ruht niemals. Der »stille« Körper ist nie still. Sein in-neres Milieu ist im Grunde fl üssig und ständig in Bewegung. Jede Kraft von außen wird also zu einem sich innen bewegenden Mechanismus hinzugefügt. Die Körper-physiologie ist eine Ansammlung lebendiger Zellen, gebadet in sich bewegende Flüs-sigkeiten, deren biodynamische Struktur verändert wird, wenn eine Kraft (von au-ßen) mit der Körperphysiologie zusammenkommt. Zelluläre Systeme nehmen neue Funktionsmuster an, wenn Kraft faktoren hinzukommen. Es kommt zu subjektiven und objektiven Symptomen wie Bewegungseinschränkungen, Schmerzen, Neural-gien, Muskelentzündungen, Fibrositis, ligamentäre und membranöse Gelenkdys-funktionen und zu weiteren Störungen. Solange die Kraft faktoren da sind, muss die Körperphysiologie diesen Zuwachs zu ihrer normalen physiologischen Funktion kompensieren. Der Patient muss bei jeder Bewegung, die er macht, bei jeder willkür-lichen Aktivität und bei jeder unwillkürlichen Aktivität in seinem inneren Milieu diese Kraft faktoren einbeziehen. Das ist in die Struktur und Funktion seiner Zellen, in seinen homöostatischen Mechanismus hineingeschrieben worden.

Meine derzeitige Meinung ist, dass diese Kraft faktoren, die sozusagen in die Kör-perphysiologie hineingetrieben werden, eine wellenartige Bewegung in die Flüssig-keitsmatrix und jede Zelle tragen. Das wird wiederum vom peripheren Nervensys-tem aufgezeichnet und dieser Eindruck im Nervensystem wird Teil des Musters des ZNS. Ist er genügend stark, nimmt das ZNS diese Daten auf, und sie erscheinen dann wieder in den Befehlen, die eff erent in das motorische System, das trophische System und das vegetative Nervensystem gelangen. Der gesamte Mechanismus hat ein neues Funktionsmuster geschaff en, das der Körperphysiologie plus Kraft fakto-ren entspricht. Dies alles geschieht zusätzlich zu den lokalen Verletzungen, die der Körper aushalten musste und die normalerweise das Einzige sind, was vom Arzt behandelt wird.

Zelluläre Intelligenz ist eine anerkannte Qualität aller biologischen Gewebe; und

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I–281Kapitel 7 – Das Wesen von Traumen

Statt beim diagnostischen Prozess den gestressten Bereich in Bezug auf Ein-schränkungen in der Funktionsfähigkeit zu testen und den Patienten zu stören, sollte der Behandler diesen Prozess umkehren. Der Bereich wird anatomisch und physiologisch möglichst in die Position gebracht, in der er sich am wohlsten fühlt. Da im Zuge der meisten Unfälle auch eine Kraft auf den Patienten eingewirkt hat, die danach in ihm zu fi nden ist, induziert der Behandler, während er den Fokus der maximalen Effi zienz sucht, ein gewisses Maß an Kompression – jedoch nicht so viel, dass es die physiologische Aktion diese Gewebes stört, aber genug, um mit den Geweben zusammenzuarbeiten, wenn sie ihre neue Gleichgewichts-Basislinie suchen. Dies ist ein Teil jener Tonusqualität, von der ich im letzten Abschnitt sprach. Der springende Punkt ist, zum Fokus der bequemsten Position zu gehen, aber nicht nachzusehen, inwieweit der Bereich eingeschränkt ist, sondern die Tonusqualität der maximalen Effi zienz zu lesen. Die Gewebe werden die Geschichte erzählen.

Ein Beispiel: Eine Frau, die bei einem Autounfall mit Totalschaden ihr Bein unter ihrem Körper angezogen hatte, wurde entsprechend ihrer Unfallgeschichte positi-oniert – nun war die Tonusqualität und die physiologische Funktion ihres verletz-ten Beines fast so gut wie im anderen Bein, besonders wenn eine mäßige Kompres-sion dazugegeben wurde, die der Kraft des plötzlichen Gestopptwerdens entsprach. Das Gleiche gilt für andere, ähnliche Fälle. Jedes Muster muss bei jedem Patienten und für jeden hinzugefügten Kraft vektor individuell betrachtet werden. Es ist tat-sächlich wahrnehmbar, wie sich diese hinzugefügten Kraft faktoren auflösen, wenn die verletzten Bereiche präzise in ihrer anatomischen und physiologischen Position eingestellt wurden. Sie so zu positionieren, dass die physiologischen Funktionsmus-ter zu jenem Punkt gebracht werden, wo dieses Sichauflösen und Sichverteilen der Kraft faktoren stattfi nden kann, gehört zum Behandlungsprogramm. Das Hauptziel beim Behandeln ist, dass nur die grundlegende Körperphysiologie zurückbleibt, die den verletzten Bereichen innewohnt. Dann kann eine vollständigere Heilung statt-fi nden, und es bleiben kaum Komplikationen zurück.48

Häufi g ist die Tonusqualität der Gewebe so, dass es unmöglich ist, gute Korrek-turresultate zu erreichen. Dies gelingt erst, wenn sich die Vitalität der Gebiete ver-bessert hat. Eine Korrektur der strukturellen Abnormalitäten mag einfach erschei-

48 Anm. d. amerik. Hrsg.: Nicht immer positionierte Dr. Becker seine Patienten tatsächlich, das heißt mittels normaler, deutlich sichtbarer Bewegungen. Stattdessen brachte er viele jener Kraft faktoren allein mit seinen Händen, seiner Aufmerksamkeit und kleinsten Bewegungen seines Körpers auf den Punkt.

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I–283Kapitel 7 – Das Wesen von Traumen

Fall 1: Ein Mann in seinen Mittdreißigern. Er litt seit 18 Monaten an Schul-terschmerzen, einer Brachialisneuralgie und wiederholten akuten Bewegungsein-schränkungen des Nackens und hatte die für diese Beschwerden üblichen lokalen Dysfunktionen, die drei oder vier Mal behandelt wurden. Die Behandlung brachte zwar jedes Mal etwas Erleichterung, aber ein paar Stunden danach waren die Pro-bleme wieder da. Schließlich kam heraus, dass er, kurz bevor all diese Probleme begannen, den 125 kg schweren Motor seines Autos nach einer Reparatur alleine wieder in die Karosserie hineingehoben hatte. Dank dieser Information fanden wir sein Hauptproblem, das alles aufrechterhielt, es wurde in zwei Behandlungen ge-löst und er war auch Jahre später noch symptomfrei. In seinem Fall hatte die Kraft seiner Anstrengung beim Heben das Os sacrum zwischen die beiden Ossa ilia blo-ckiert, und zwar auf der Höhe von S2. Es gab jedoch keine Einschränkung der Be-wegung der Ilia in Bezug auf das Sakrum an den iliosakralen Gelenken. Mit dem Verlust der freien Bewegung und der integrierten Funktion des Sakrum zwischen den Ilia waren die paravertebralen Muskeln und Ligamente, inklusive derer, die zum Schultergürtel verlaufen, in ihrer integrierten Funktion eingeschränkt, und wenn er diese Strukturen willkürlich einsetzte, kam es zu immer wieder auft auchendem Stress. Indem der Kraft vektor der durch das Anheben verursachten Dysfunktion gelöst wurde und die normale Sakrumfunktion sich integrierte, kam es zu einer Aufl ösung des Problems.

Fall 2: Eine zwanzigjährige Frau hatte sich bei einem ein Jahr zurückliegenden Autounfall eine komplizierte Fraktur des linken Knöchels zugezogen. Auch nach dessen scheinbarem Abheilen litt sie tagsüber immer noch an einer generalisierten Schwellung des linken Beines, vom Fuß bis zum Becken, nachts dagegen ließen die Beschwerden nach. Beim Untersuchen zeigten sich ligamentäre Gelenkdysfunktio-nen im rechten iliosakralen Bereich sowie in Hüft gelenk, Knie, Knöchel und Fuß, und zwar durchweg Innenrotationsdysfunktionen. Acht osteopathische Behandlun-gen mit dem Ziel, diese diversen Dysfunktionen zu korrigieren, brachten eine ge-wisse Reduktion der Muster sowie eine Verbesserung der Symptome und der Schwel-lung, aber der notwendige zufriedenstellende Fortschritt zeigte sich nicht. Bei der neunten Behandlung erzählte die Patientin, dass sie zum Zeitpunkt des Aufpralls auf der Rückbank geschlafen habe. Ich bat sie, die damalige Position auf der Behand-lungsliege einzunehmen, und sie rollte sich in rechter Seitenlage zusammen und produzierte das gesamte Muster der Innenrotation für all die im Symptomkomplex betroff enen Strukturen. Das Auto war mit etwa 50 km/h gegen einen Brückenpfeiler gefahren und der heft ige Aufprall hatte in ihrem Bein ein total pathologisches phy-

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wieder als Ganzes und seine verschiedenen Beschwerden verschwanden in den dar-auf folgenden zwei Tagen ebenfalls.

Fall 5: Bei einem ähnlichen Fall hatte sich ein fünfzehnjähriger Junge bei einen Motorradunfall eine komplizierte Fraktur des rechten Femur und des zwölft en Brustwirbels sowie eine schwere Gehirnerschütterung zugezogen. Während er noch im Krankenhaus lag, wurde er zwei Mal pro Woche behandelt, um den Schock in seinen Geweben und seiner Körperphysiologie aufzulösen. Es dauerte fast einen Monat, bis diese geschockte Körperphysiologie der empfangsbereiten Berührung des Behandlers einen Hinweis darauf gab, dass ihre normalen Reparaturmechanis-men – nun befreit von der Belastung durch die zusätzlichen Kraft faktoren – wieder fähig waren, ihren Job vollständig zu erfüllen.

Fall 6: Ein 39-jähriger Mann hatte zwei Jahre, bevor er in die Praxis kam, mehrere jeweils 50 Kilo schwere Säcke angehoben und dabei seinen unteren Rücken so be-schädigt, dass dieser immer noch nicht in Ordnung war. Zermürbt durch sein stän-diges Eingeschränktsein stand der Mann kurz davor, sich den betroff enen Bereich in einer Operation versteifen zu lassen. Seine Röntgenaufnahmen zeigten folgenden Befund: eine Spondylolisthese ersten Grades, eine ausgeprägte Spondylarthrose der lumbosakralen Segmente bei einer fast vollständigen Fusion der Vorderränder des fünft en Lumbarwirbelkörpers und des ersten Sakralsegmentes sowie eine ausge-prägte Degeneration der Bandscheibe im fünft en Zwischenraum, was sich durch eine starke Verengung in diesem Bereich zeigte.

In den folgenden fünf Monaten unterzog er sich insgesamt 28 Behandlungen und im Anschluss noch fünf Monate lang einer Behandlung monatlich. In diesem Zeit-raum kam es zu einer vollständigen Auflösung seiner Einschränkung. Er konnte rei-ten, einen 100-Meter-Wettlauf gegen seinen Sohn gewinnen und Eimer voller Sand aus einem Brunnen auf seiner Ranch ziehen. Nachdem all dies erreicht war, wurde er zu einem anderen Radiologen zu einer Nachuntersuchung geschickt. Der Bericht des Radiologen war ein Duplikat des ersten Befundes; trotzdem sind seine Symp-tome in den letzten sechs Jahren nicht wieder aufgetreten. Freilich trägt der Mann nach wie vor das ganze Beschwerden-Potenzial eines angeboren instabilen Rückens mit degenerativen Veränderungen in sich. Aber sein durch das Säcke-Hochheben entstandenes Hauptproblem zusätzlicher Kraft faktoren in seiner Körperphysiologie hatte nach dem Aufl ösen dieser Faktoren dank der wiedererrungenen Domimanz seiner normalen kompensatorischen Mechanismen einem normalen Funktionieren Platz gemacht.

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I–287Kapitel 7 – Das Wesen von Traumen

Fall B: Bei dieser Fallbeschreibung geht es eigentlich um eine Gruppe von fünf Fällen, nämlich vier etwa 20-jährige Männer und eine 55-jährige Frau. Jeder von ihnen hatte einen Autounfall. Die jungen Leute, die erst Jahre später zu mir ka-men, waren nach ihren Unfällen monatelang bewusstlos gewesen. Der Kopf der Frau war während des Unfalls gegen die Windschutzscheibe und seitlich gegen die Wageninnenseite geschlagen. Alle hatten sie schwere Verletzungen in einer Gehirn-hälft e erlitten, alle zeigten sie ernsthaft e Stress-Symptome, und alle hatten immer noch viel »Schock« überall in ihren Körpern, und natürlich auch in ihren vielen Dysfunktionsbereichen.

Im anfänglichen Behandlungsprogramm ging es darum, auf physiologische Weise das Stresssyndrom und den Schock zu korrigieren, weil dann die in den nor-maleren Bereichen des Körpers verfügbare physiologische Funktionieren sich wieder durchsetzen und es zur maximal möglichen Heilung kommen konnte. Irreversible Pathologie wird sich nicht korrigieren, aber bei dieser Art von Problem kann man viel tun, um Bereiche, wo eine Umkehr möglich ist, wieder zum Funktionieren zu bringen.

Im Folgenden ein Brief, den Dr. Becker am 4. Sept. 1981 an einen Kollegen schrieb:

Bezüglich: Körperphysiologie plus Kraft faktorenLieber Doktor,Um auf Ihre Frage zu antworten, habe ich den Artikel nach zwanzig Jahren er-

neut gelesen. Er ist zwar zu wortreich und in vielem redundant, aber seine Grundaus-sage zum Th ema Körperphysiologie plus Kraft faktoren, gilt heute noch genauso wie damals, als er geschrieben wurde. Es ist jedoch notwendig, kurz darauf einzugehen, warum er geschrieben wurde.

Den ersten Teil des Artikels über »Homöostase« kann man als die Tatsache zusammenfassen, dass in der Körperphysiologie Struktur-Funktion und Funktion-Struktur voneinander und von ihren eigenen inneren Prozessen abhängig sind. Außer dem gibt es die willkürlichen Mechanismen des Körpers und die rhythmi-schen unwillkürlichen Mechanismen, die arbeiten, um Flexion mit Außenrotation zu schaff en und Extension mit Innenrotation, und zwar in jeder Zelle des Körpers, von Kopf bis Fuß.

Vor diesem Hintergrund möchte ich etwas in Bezug auf Palpation betonen: Ich wendete zehn Jahre lang die palpatorischen Kenntnisse an, die man bei gelenkmo-bilisierenden Techniken braucht, und mein palpatorisches Können reichte für diese

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Kapitel 7-2X � Beeinträchtigung durch Schleudertrauma

Dieser Artikel wurde von der Herausgeberin in größerem Umfang überarbeitet. Das Original erschien 1961 im Jahrbuch der Academy of Applied Osteopathy (der heutigen American Academy of Osteopathy).

Der Titel dieses Artikels umschreibt den Beginn der Beeinträchtigung bei einem Schleudertrauma: den Punkt der Kraft einwirkung »X«, durch die das Schleuder-trauma verursacht wird. Genau dieser Anfangspunkt sowie einige der daraus resul-tierenden Folgen für den Patienten sollen hier erläutert werden. Drei dieser Folgen werden besonders betont: die durch das Schleudertrauma induzierten mentalen und emotionalen Veränderungen, die trophischen Einfl üsse innerhalb der betroff enen Gewebe sowie der Faktor Zeit bzw. Chronizität bei den betroff enen Patienten.

Die hinzukommenden Kräft e

Die Analyse eines durch Schleudertrauma bedingten Problems beginnt am Punkt des Aufpralls. Dieser Aufprallpunkt befi ndet sich typischerweise nicht innerhalb der Physiologie des Patienten, sondern am Fahrzeug, das der Patient zum Zeitpunkt des Unfalls fährt. Diese Kraft , die vom Punkt des Aufpralls, der das Fahrzeug traf, ausgeht, wird den gesamten Patienten in Mitleidenschaft ziehen. Sein gesamter Kör-per wird entweder in seiner Bewegung abrupt gestoppt oder die Richtung seiner relativ trägen Bewegung wird radikal verändert oder er wird – in einem stehenden Fahrzeug sitzend, auf das ein anderes auffährt – mit einem Schlag vom Ruhezu-stand in Bewegung versetzt. In jedem Fall – ob die Körpermasse nun von Inaktivi-tät plötzlich in Bewegung oder von Bewegung plötzlich in eine relative Inaktivität gebracht wird – kommt es zu einem ausgeprägten physiologischen Schock und zu einer Richtungsveränderung im gesamten Körpersystem.

Diesem Bild muss man dann noch die individuellen physiologischen Körperteile hinzufügen, die dabei in aktiven Kontakt mit dem Fahrzeug kommen. Wird das Heck des Fahrzeugs getroff en, ist der Kontaktpunkt die Rückenlehne des Sitzes, in dem sich der Patient befi ndet. Der relativ freie Hals- und obere Schulterbereich wird

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gewölbten Wirbelsäulenmechanismus im Brustwirbelbereich. In jedem Menschen gibt es skoliotische Muster verschiedensten Ausmaßes. Und es ist off ensichtlich, dass jede dieser Variationen wieder in ganz individueller Weise auf ein Schleudertrauma reagiert. Auch die so einfachen mechanischen Unterschiede zwischen Frauen- und Männerkörpern lassen eine unterschiedliche Reaktion erwarten. Bei manchen Grundmustern wird die Kraft das Muster in die gleiche Richtung mitnehmen, die das betroff ene Muster schon vorgibt, wohingegen es bei anderen genau umgekehrt sein mag. Bei einem kyphotischen Muster mag die Richtung, in der die Kraft in den kyphotischen Bereich trifft , der Richtung, in der die Kyphose verläuft , genau entgegengesetzt sein, während ein nach vorne gewölbter thorakaler Bereich in sei-ner ante rioren Richtung verstärkt wird. Dieses einfache Beispiel lässt sich mit Hilfe einer detaillierten Analyse eines jeden betroff enen Typs vertiefen.

Es sind aber noch weitere, in diesen Fällen immer vorhandene Faktoren hinzu-zufügen, und zwar die Anpassungsmechanismen, die als Antwort auf früher erlebte Traumen jedes unserer grundlegenden physiologischen Muster begleiten. Diese kom-pensatorischen Muster wurden ebenfalls dem während des Schleudervorgangs er-zeugten Kraft bogen ausgesetzt und müssen mit in Betracht gezogen werden. Es ist meine Beobachtung, dass diese Anpassungsmuster als Folge eines Schleudertrau-mas de-kompensiert sind, dann wie schlafende Tiger zum Leben erwachen und ihre Symptome zu den durch das Schleudertrauma verursachten Symptomen hinzufügen. Manchmal braucht es einigen Einsatz, um die verschiedenen Faktoren zu enträtseln, die im Patienten wochen-, monate- oder jahrelang wirken: Sind es direkte Überbleib-sel des Schleudertraumas oder sind es kompensatorische Dysfunktionen, die aufge-weckt wurden und nun zunächst beruhigt werden müssen, um den Patienten in ei-nen erträglichen Zustand zurückzubringen? Solch ein widerspenstiger Fall verlangt eine präzise Diagnose. Solange im Körper noch eine gewisse, vom Schleudertrauma herrührende Kraft agiert, wird diese Kraft ein Faktor sein, der den aufgeweckten »Tiger« wach halten möchte, und es ist eine diagnostische Möglichkeit, die Heilre-aktion des Patienten zu beurteilen, indem man beobachtet, wie schnell seine Anpas-sungsmechanismen wieder in einem Zustand der Ruhe zurückkehren. Die Kompen-sationen, die nicht zu diesem Zustand zurückkehren, zeigen, dass es noch etwas gibt, das die Umkehrung der Pathologie verhindert, und dieses »Etwas« ist meistens ein Rest des Kraft faktors, der zum Zeitpunkt der Verletzung durch das Schleudertrauma auf den Körper einwirkte. Aus meiner persönlichen Erfahrung heraus kann ich sagen, dass diese Kompensationsmechanismen meist wieder zu einem normaleren physiolo-gischen Funktionieren zurückzufi nden, wenn dieser Faktor aufgelöst ist.

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einem seitlichen Aufprall unilateral. Solche Folgen eines Schleudertraumas sitzen tief und sind nachhaltig.

In dieser Situation werden die langen paravertebralen Muskeln und Ligamente, die von den Cristae iliacae zum Schultergürtel reichen, in ihrer Funktionsfähigkeit eingeschränkt – und zwar nicht nur während des Atemzyklus, sondern auch bei willkürlichen Bewegungen der Schultern und des Nackens. Wenn man den obe-ren Bereich palpiert, spürt man, dass die Basis im Becken fi xiert ist und nicht frei schwebt. Jede Bewegung, die der Patient mit seinen Schultern, Armen oder dem Nacken durchführt, ist daher eine Arbeit gegen den Widerstand des blockierten Beckenmechanismus. Dies kann ein Grund sein, warum Schultern und Nacken verspannt bleiben, schnell ermüden und ihre Einschränkungen in solchen Fällen beibehalten.

Mit dem Os sacrum ist das Ligamentum longitudinale anterius verbunden, wel-ches weiter oben verletzt wurde und nun eine Funktionseinschränkung eindeutig bis zum Sakrum hinunterträgt. Die Dura mater, die das Rückenmark umgibt, hängt frei herab von den oberen Halswirbelkörpern und vom Foramen magnum, um sich dann auf Höhe des zweiten Sakralsegments wieder fest anzuheft en. Bei einem Verlust der Atembewegung des Sakrum ist die spinale und die kraniale Dura in ihrer normalen Atembewegung während der Inhalation und Exhalation eingeschränkt. Ebenso ein-geschränkt ist das Filum terminale der Pia mater, das in der coccygealen Region seine Anheft ung fi ndet. Es kommt zu Einschränkungen der normalen Aufwärtsbewegung des Rückenmarks und der zugehörigen peripheren Nervenstrukturen während der Inhalation und ebenso zu einer Einschränkung der Abwärtsbewegung während der Exhalation. Aus der physiologischen Störung des Rückenmarks sowie des Zentralen Nervensystems ergibt sich ein kontinuierlicher Dysfunktionslevel, der in der Folge von Schleudertraumen zu Chronizität und trophischen Veränderungen beiträgt.

Die anderen posturalen Bewegungen der Ossa ilia im Verhältnis zum Os sacrum sind im Allgemeinen nicht gestört, weshalb sogenannte sakro-iliakale Dysfunktio-nen im Zusammenhang mit einer Verletzung aufgrund von Schleudertrauma nicht oft auft reten – lediglich in Fällen, wo kompensatorische Mechanismen gestört wur-den. Nicht in allen durch Schleudertrauma verursachten Problemen ist das Sakrum der Schlüssel, aber in vielen Fällen spielt es eine sehr wichtige Rolle, da es das Dys-funktionssyndrom des Schleudertraumas und der kompensatorischen Mechanis-men aufrechterhält.

Es gibt ein weiteres anatomisches Detail, von dem ich denke, dass es bei Schleu-dertraumen von Bedeutung ist. Es handelt sich um ein auf Höhe des vierten und

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Psychologische Komplikationen

Zunächst ein Zitat aus World-Wide Abstracts of General Medicine, das diesen Aspekt des Problems verdeutlicht:

»Die schmerzhaft en Folgen des Schleudertraumas … gehen mit psychischen Kompli-kationen einher, die durch Angstzustände, Depressionen, Übererregbarkeit sowie ins-besondere Verwirrtheit charakterisiert werden. Die Patienten erwarten ungewöhnlich viele Erklärungen, Rückversicherung, persönliche Aufmerksamkeit und fr eundlichen Umgang. Sofortige Behandlung ist von essenzieller Bedeutung.

Bei 47 untersuchten Fällen (23 Männer und 24 Frauen) korrelierte die Schwere der psychologischen Symptome nicht mit dem Ausmaß der Verletzung. Bei fast allen war der Unfall verursacht worden durch Auff ahren eines Fremdfahrzeugs auf das stehende oder sehr langsam fahrende Fahrzeug des Patienten, in dem sich dieser zu jenem Zeit-punkt sehr sicher fühlte. Dann kam ohne jede Vorwarnung der gewaltsame ›Angriff « von hinten und machte aus einer gemütlichen eine gefährliche und schmerzhaft e Si-tuation.

Die meisten Patienten behaupten, sie wüssten nichts über den Hergang der Kollision. Man nimmt an, dass dieser Verdrängungsmechanismus in Gang gesetzt wird, weil der Unfall zu schnell passiert ist. Bei manchen Menschen kann das Ego die normalen Ab-wehrmechanismen nicht mobilisieren und wählt daher den drastischeren Mechanis-mus der Verleugnung. Das macht es unmöglich, die Bedeutung und Last des Unfalls emotional zu bearbeiten.

Es scheint, als ob das Ego unbewusst wahrnimmt, dass es, um den Unfall akzeptie-ren zu können, die Möglichkeit annehmen muss, dass die Kontrolle – Kopf und Nacken, die verletzt worden sind – vom Körper getrennt werden kann. In dieser Hinsicht ist die Verletzung des Nackens bei einem Schleudertrauma psychologisch einzigartig. Sowohl dieses unerwartete, plötzliche Auft reten als auch seine unbewusste Bedeutung erzeugen in normalerweise gut integrierten und stabilen Menschen meist größere Angstzustände als Verletzungen von Körperteilen.

»Unter diesem Gesichtspunkt sind die emotionalen Aspekte ein wichtiger Faktor des Schleudertraumas. Sie hängen nicht von den Begleitumständen ab und stehen in keiner signifi kanten Beziehung zu vorhergehenden psychiatrischen Erkrankungen.« 53

Dieser kurze und bündige Bericht beschreibt die Situation sehr klar und dient dazu, einige der in diesem Artikel bereits erwähnten Aspekte zu betonen: die Ganz-

53 World-Wide Abstracts of General Medicine, September 1960.

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geschulte taktile Berührung und durch ein Verstehen der Mechanismen, um die es geht. Was geschieht mit der venösen Drainage all dieser wichtigen Nervenzentren? Was geschieht mit der venösen Drainage der Augenhöhlen? Die Motilität des Ner-vensystems hat normalerweise ihren eigenen Rhythmus. Mit einem Filum terminale und der Pia mater, die in der sacro-coccygealen Region eingeschränkt sind, kommt es aber zu weiteren Funktionseinschränkungen innerhalb des Zentralen Nerven-systems.

Ist es ein Wunder, dass diese Patienten ängstlich sind, Depressionen haben, über-erregbar und verstört erscheinen? Einige mögen euch erzählen, dass sie das Gefühl haben, ihre Augen würden aus den Augenhöhlen herausgezogen oder in sie hinein-gepresst. Ist angesichts einer blockierten Duralmembran und einer unzureichenden venösen Drainage nicht leicht zu verstehen, weshalb?

Eine andere derartige Einschränkung ist die Störung des normalen Fluktuations-musters des Liquor cerebrospinalis – ein ernstzunehmender pathologischer Prozess, der zu Dysfunktion führt und ebenso schwerwiegend ist wie die venöse Stauung. Jene fl uktuierende Flüssigkeit steuert nämlich im Austauschvorgang zwischen dem Zentralen Nervensystem, dem arteriellen und dem venösen System einen wichtigen Ernährungsfaktor bei und hilft deshalb, wenn man ihr erlaubt, ihren Fluktuations-job innerhalb des Kraniosakralen Mechanismus zu erfüllen, bei der Normalisierung des Patienten. Eine geschulte Berührung kann lernen, wie man Abweichungen vom normalen Fluktuationsmuster und von der Tonusqualität der Duralmembran er-kennt und die bei Schleudertraumen stets auft retenden membranösen Gelenkdys-funktionen korrigiert.

Ja, psychologische Faktoren spielen eine große Rolle bei Schleudertraumen. Sie sind Auswirkungen der körperlichen Faktoren – von Faktoren also, die umgekehrt zum Aufrechterhalten der psychologischen Folgen beitragen. Das Diagnostizieren und Behandeln der körperlichen Faktoren bringt häufi g einen wichtigen Durch-bruch bei der Lösung nicht nur der psychologischen Auswirkungen, sondern auch der pathologischen Physiologie. Meiner persönlichen Erfahrung nach verschwinden diese Symptome schnell, wenn die normale physiologische Motilität des Zentralen Nervensystems, die normale Mobilität der umgebenden Membranen sowie die Fluk-tuation der Liquor cerebrospinalis wiederhergestellt sind.

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diesen Saft in den Kreislauf zurückzupumpen. Wir hängen demnach primär von der Tonusqualität der faszialen Pumpen und der Muskeltätigkeit des Körpers ab, um die Flüssigkeiten durch die Venen und Lymphgefäße zurückzubringen. Sind diese Pumpen geschwächt, haben wir eine chronische Stauung – minimal im Ausmaß zwar, aber nachhaltig als Dysfunktion wirkend.

Trophische Störungen manifestieren sich auf vielerlei Arten, teilweise abhängig von den verschiedenen Ausprägungen der betroff enen Körpertypen, von der Länge des Zeitraums, in dem diese »Septum-Reiniger« beeinträchtigt waren, von der Empfi ndlichkeit der speziellen, durch die Faszien geschützten und ernährten Ge-webe und von der An- oder Abwesenheit anderer Krankheiten oder traumatischer Bedingungen. Das Ausmaß der Einschränkung mag variieren, aber man spürt, dass es sowohl ein generelles als auch ein spezifi sches Problem gibt. Richtig, zu jeder Krankheit und zu allen traumatisch bedingten Zuständen gehören trophische Ver-änderungen, aber häufi g gibt es bei Schleudertraumen zuerst minimale Verände-rungen, deren Auswirkungen sich während der folgenden Tage, Wochen, Monate und Jahre anhäufen, bis die Resultate mit den Worten von Dr. Still ausgedrückt werden können:

»Ursache und Wirkung bestehen fortwährend. Die Ursache mag in einigen Fällen am Anfang gar nicht so groß sein wie in anderen, aber die Zeit verstärkt die Wirkung bis die Wirkung die Ursache überragt und es im Tod endet. Der Tod ist das Ende oder die Summe aller Wirkungen.

Ich erwarte vom Leser nur, dass er sorg fältig den Unterschied und die fortschrei-tende Änderung in der Wirkung als zusätzliches Element, das in die Auseinanderset-zung eingreift und der Wirkung steigende Bedeutung zukommen lässt, zur Kenntnis nimmt.«55

Auf diese Weise können sich trophische Veränderungen und ihre Auswirkun-gen in jedem zellulären System, Organsystem oder im Bewegungsapparat des Kör-pers bei unserem Schleudertrauma-Patienten manifestieren, weil der Patient einem Gesamtmuster potenzieller Einschränkung ausgesetzt war. Das Muster lokalisiert sich im Verlauf der Zeit in speziellen Regionen und hält spezifi sche Symptome auf-recht; aber beide, sowohl die spezifi schen und als auch die »stillen« Regionen, sind betroff en.

Die positive Seite dieses Bildes ist, dass diese trophischen Veränderungen einen

55 Still A. T.: Das große Still-Kompendium. 2. A., Band I: Autobiographie, JOLANDOS, 2005, S. I-95.

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I–301Kapitel 7 – Das Wesen von Traumen

Ich habe gelernt, die Funktion oder Dysfunktion der anatomisch-physiologi-schen Mechanismen dieser Patienten zu spüren, nicht nur den Grad der Mobilität oder Immobilität der dysfunktionalen Regionen. Jede Struktur im Körper unter-liegt während des Atemzyklus einer rhythmischen Veränderung. Alle Mittellinien-strukturen gehen während der Inhalation in Flexion und in Extension während der Exhalation. Ebenso machen alle bilateralen Strukturen eine Außenrotation wäh-rend der Inhalation, und eine Innenrotation während der Exhalation. Die Bewe-gung ist minimal, mit der Berührung aber wahrnehmbar, wenn man sich darauf trainiert, die Funktion des Gewebes zu spüren. Einschränkungen dieser Faktoren helfen bei der Diagnose. Eine generalisierte Einschränkung bedeutet, dass die ganze Person von einer totalen Dysfunktion in variierendem Ausmaß betroff en ist. Loka-lisierte Dysfunktion bedeutet, dass spezifi sche Details untersucht werden müssen, um die Einschränkung zu erklären.

Der Begriff Chronizität hat häufi g eine negative Bedeutung, wenn er benutzt wird, um einen Patienten zu beschreiben. Wenn ich diesen Begriff gebrauche, be-ziehe ich mich nur auf die Zeitspanne, in der der Patient schon mit dem Schleuder-trauma belastet ist. Diese Patienten sind nicht einfach »chronische Schmerzpati-enten«; das sind sie nie gewesen und werden es niemals sein. Ihre Einschränkungen sind Auswirkungen, die diagnostiziert und behandelt werden können; und dank der möglichen Reversibilität der Pathologie kommt es bei einem großen Prozent-satz der Patienten in einem beträchtlichen Umfang zu einer Wiederherstellung in Richtung normalerer Funktion. Das bringt sie automatisch heraus aus der negati-ven Klassifi zierung als »chronische Psychosomatiker.« Ich sage das, weil auch ich oft sehr überrascht war, wenn es den Patienten wieder gut ging; und natürlich war auch der Patienten erleichtert, wenn er entdeckte, dass er sich von lang anhaltenden Beschwerden erholte.

Ich hatte auch meine Misserfolge, primär aufgrund unzureichender diagnosti-scher Fertigkeiten, aber auch, wenn ich zu wenig Zeit hatte für die notwendigen korrigierenden Veränderungen. Es braucht Zeit, den Motor in einigen dieser lang anhaltenden statischen Faszienpumpen anzukurbeln; wenn sie aber schlussendlich zum Leben erwachen, ist die Genesung bis hin zu einer neuen Ebene der Gesund-heit unumstößlich.

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ter für dieses eine Individuum, das vom Behandler evaluiert werden sollte, um die Basislinie der Gesundheit zum Zwecke einer Diagnose und Behandlung zu bestim-men. Die Gesundheit, die ein Mann oder eine Frau in ihren Sechzigern besitzen, ist off ensichtlich eine andere als die eines Mannes oder einer Frau in den Zwanzigern. Die physischen Charakteristiken eines Körpers, der lang und schlank ist, sind an-ders als die eines kurzen und gedrungenen Körpers. Die Auswirkungen vergangener Erkrankungen und Verletzungen, die während eines Lebens geschehen sind, von denen sich der Patient gut erholt und die er gut kompensiert hat, sind alle ein Teil des gesamten Musters der Gesundheit für dieses Individuum. Alle diese Faktoren gehören zum Befunden der Basislinie.

Betrachten wir nun die verschiedenen Körpersysteme detaillierter: Das Bindege-webssystem ist ein Gerüst aus vielfältigen Schichten, Bändern und feinstgestalteten Mechanismen, mit Millionen und Trillionen Räumen, in denen die arbeitenden Zel-len des Körpers sitzen. Es ist ein lebendiges System, das eine Tonusqualität hat, die Gesundheit oder Gesundheitsstörungen ausdrückt, so dass die palpierenden Hände des untersuchenden Behandlers sie erfassen können. Im Bindegewebe sitzt das Sys-tem der Muskeln und Knochen.

Das Skelettsystem lässt sich mit einem lebendigen, fein gestalteten Mobile ver-gleichen. Dazu gehören die Formen und Konturen der einzelnen Fußknochen ebenso wie die 22 Knochen, aus denen der Kraniale Mechanismus besteht. Jeder Knochen ist mit seinem Nachbarknochen bzw. mehreren Knochen gelenkig ver-bunden, so dass das gesamte Skelettsystem seine Aufgabe während der Zeit, die der Mensch auf der Erde verbringt, äußerst eff ektiv erfüllt. Das ganze Leben hindurch sind alle in Bewegung, von Kopf bis Fuß. Die muskulären Systeme des Körpers bilden zusammen mit den bindegewebigen Faszien, die sie mit dem Skelettsystem verbinden, ein Gerüst, das der koordinierten Fortbewegung des Individuums dient. Es gibt andere muskuläre Systeme im Körper, die dazu dienen, das interne Funk-tionieren des Lebens aufrechtzuerhalten: das kardiovaskuläre, das kostorespirato-rische, gastro intestinale und urogenitale System. Auch diese Systeme der Muskeln und Knochen haben eine lebendige Tonusqualität, die für die diagnostischen und therapeutischen Hände des Behandlers spürbar ist, und als Teil der Basislinie der Gesundheit des Individuums evaluiert werden kann. Es gibt viele andere Weichteil-systeme im Körper; dazu gehören alle Viszera. Das zentrale, das periphere und das vegetative Nervensystem werden ebenfalls zu den Weichteilen gezählt. Sie bilden ein riesiges Kommunikationsnetzwerk, das den Funktionsabläufen im gesamten Körper dient.

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Flexionskurve oberhalb und unterhalb des Bereiches dieser abgefl achten Stelle. Die Kreuzungsbereiche der verschiedenen skoliotischen Spannungmuster sind beson-ders empfi ndlich in Bezug auf Schleudertrauma-bedingte Dysfunktionen.

Hinsichtlich der physiologischen Dynamik sind Struktur und Funktion in ihren Funktionsbeziehungen gegenseitig austauschbar. Wir haben schon kurz die struk-turellen Aspekte diskutiert. Die physiologische Funktionsfähigkeit des menschli-chen Körpers kann grob in zwei Hauptkategorien unterteilt werden. Die eine ist der willkürliche Gebrauch des Körpers bei seinen alltäglichen Aktivitäten. Wenn man gesund ist, nutzt man alle Körperressourcen zum größten Teil unbewusst für die vielfältigen Aktivitäten des täglichen Lebens, angefangen damit, dass man morgens aufsteht, dann zur Arbeit geht, spielt und dann wieder ins Bett geht, um die Nacht durchzuschlafen, damit man für den nächsten Tag bereit ist. Der Bewegungsappa-rat, das Verdauungssystem, das Atemsystem, das kardiovaskuläre System und alle weiteren Systeme erledigen ihre Arbeit leicht und kompetent.

Es gibt einen anderen Funktionskomplex, der im Körper stattfi ndet. Auch dieser ist für die gesamte Gesundheit des Menschen von grundlegender Wichtigkeit. Es handelt sich um den Primären Atemmechanismus, den man in fünf Teile unterteilen kann: die inhärente Motilität des Gehirns und Rückenmarks, die Fluktuation des Liquors cerebrospinalis, die Mobilität der intrakranialen und intraspinalen Memb-ranen, die gelenkige Mobilität der kranialen Knochen und die unwillkürliche Mobi-lität des Os sacrums zwischen den Ossa ilia. All diese fünf Einheiten arbeiten in ei-nem harmonischen, rhythmischen Muster der Gesamtfunktion zusammen; sie sind untrennbar in ihrer inhärenten Funktionskapazität, die es ihnen erlaubt, innerhalb der gesamten Körperphysiologie, von Kopf bis Fuß, zu funktionieren. Diese einfache, rhythmische Bewegung (eine alternierende Flexion/Außenrotation und Extension/Innenrotation) fi ndet in den gesamten Körpermechanismen statt, ganz gleich wel-che sonstigen Muster sich bei einer strukturellen Analyse zeigen: die skoliotischen Kurven, die verschiedenen Typen des Körperbaus und alle anderen Daten.

Es ist eine kleine Bewegung, die nicht leicht zu bemerken ist, wenn der Behandler seine Palpationsfähigkeit noch nicht trainiert hat. Sie ist aber da und man kann sie fi nden, wenn der Behandler sein Gefühl für Berührung zu ihrem Funktionsniveau hinunterschaltet. Ihre Bedeutung liegt einerseits in der Tatsache begründet, dass sie ein Teil der normalen Physiologie ist, und andererseits darin, dass diese rhythmi-sche Bewegung dazu beiträgt, die normale Gesundheit des Individuums aufrecht-zuerhalten. Dies ist also das Individuum, das nun einer durch ein Schleudertrauma verursachten Zerrung ausgesetzt sein wird.

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gen Inhalt aller Körperzellen, dieser Kraft ausgesetzt. Dies verringert chronisch die Eff ektivität aller Strukturen, die von den Faszien umhüllt werden. Da die Faszien praktisch alle somatischen Strukturen im Körper umhüllen, kann dies ein Faktor sein, der dazu beiträgt, dass eine vollkommene Genesung nicht stattfi nden kann.

In vielen Fällen löst sich aber die Schleudertrauma-Energie während oder kurz nach dem Unfall völlig auf, und lediglich akute, traumatische Verletzungen und de-kompensierte physiologische Körpermechanismen werden eine Behandlung brau-chen, um die Gesundheit wiederherzustellen. Es gibt jedoch auch einen bestimmten Prozentanteil an Fällen, wo sie sich nicht auflöst, und zu einem zusätzlichen Faktor in der physiologischen Körperfunktion des Musters der Gesundheit beim Patienten wird. Sie wird dann zu einem Teil der Körperphysiologie, mit der der Patient umge-hen muss, wenn sein Körper sich um Heilung bemüht.

Im Patienten das Vorhandensein dieses undirektional agierende Kraft feld zu fi n-den, ist umso schwieriger, je länger der Unfall zurückliegt. In einigen Fällen konnte ich es jedoch sogar noch 35 Jahre nach dem Autounfall feststellen. Man muss es nicht unbedingt fi nden, aber man muss unbedingt verstehen, dass es möglicherweise in den faszialen Funktionsabläufen der Körperphysiologie anwesend ist. Sein Vorhan-densein ist eine medizinische Gegebenheit, die man mit Hilfe von Palpation beob-achten kann, und sie trägt zu persistierenden faszialen Dysfunktionen bei.

Technik zur Feststellung eines nicht aufgelösten Schleudertrauma-Energiefeldes:Einen Patienten, der beim Unfall einem Frontalaufprall ausgesetzt war, lässt

man auf dem Behandlungstisch die Rückenlage einnehmen. Der Behandler sitzt am Kopfende und lässt seine Hände unter den Oberkörper des Patienten gleiten, um dort Kontakt aufzunehmen. Das Gewicht des Patienten genügt, um einen gu-ten Kontakt mit den Händen des Behandlers zu sichern. Die Hände liegen jedoch nicht träge unter dem Patienten. Der Behandler projiziert seinen Tastsinn durch seine Hände, um so einen Gesamteindruck vom ganzen Körper zu erhalten. Dann versucht er, spezifi sch zur vorderen Th oraxwand hinzuspüren. Während er weiter-hin seinen Tastsinn projiziert, sollte der Behandler seine Augen schließen und die An- oder Abwesenheit eines unidirektional gerichteten Kraft vektors spüren, der durch den ganzen Körper nach anterior verläuft . Die Augen zu schließen, ist nicht unbedingt notwendig, kann aber das Gespür für ein derartiges Phänomen erhö-hen. Falls es so einen Kraft vektor gibt, wird er sich etwa innerhalb einer Minute in der Körperphysiologie des Patienten bemerkbar machen, und zwar Richtung Zimmerdecke.

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Rotation des Kopfes zum Zeitpunkt des Unfalls kommt es zu Torsionsauswirkun-gen, wobei auf einer Seite größere Verletzungen entstehen können als auf der ande-ren. Die Aa. vertebrales können betroff en sein. Frontale Auff ahrunfälle produzie-ren eine kräft ige Hyperfl exion des Nackens und der Wirbelsäule; auch hier werden möglicherweise viele anteriore und posteriore Strukturen verletzt. Ein Aufprall von der Seite schafft oft ein komplexes Bewegungs- und Verletzungsmuster.

Während des Autounfalls gibt es den zusätzlichen Faktor eines unidirektional gerichteten Kraft feldes, in dem das Trägheitsmoment Hunderter Kilo Masse sich durch die Körperphysiologie Richtung Aufprallpunkt bewegen. Diese Vektoren im Kraft feld folgen nicht den normalen Bewegungsebenen der ligamentären Gelenk-mechanismen der Mittellinienstrukturen in der Körperphysiologie (Flexion, Ex-tension, und Sidebending mit Rotation). Durch ihr Momentum unterbrechen sie die Bewegungsebenen der Mittellinienstrukturen in Winkeln, die der normalen Bewegung entgegengesetzt sind. Daher fi nden die Hyperfl exion, die Hyperexten-sion und Hypersidebending-Rotation in der Körperphysiologie gegen einen starken Widerstand statt. Die vom Unfall ausgelösten Kraft faktoren in Richtung Kollisi-onspunkt setzen die gesamten Mechanismen der Faszien und des Bindegewebes und die ligamentären Gelenkmechanismen der ganzen Körperphysiologie unphy-siologischen Kräft en aus.

Die Auswirkungen eines Autounfalls auf die Körperphysiologie beginnen mit einem Schock für die gesamte Zellphysiologie des Körpers, von den Fußsohlen bis hoch zum Kopf. Egal ob es ein größerer oder kleinerer Unfall ist: Im Allgemeinen steigt der Patient aus seinem Auto, wenn er das kann, und behauptet, er sei nicht verletzt. Die Schockwelle ist schnell durch seine Körperphysiologie hindurchpas-siert, um die Pathologie zu schaff en, die er später fühlen wird; anfänglich spürt er eine Taubheit der Sinneswahrnehmung im zentralnervösen Kommunikationssys-tem. Dieser Schock lässt nach ein paar Stunden allmählich nach, und seine Patho-logie kann sich in Form von Symptomen ausdrücken. Es kann tagelang dauern, bis sich dieser Gewebeschock endlich löst. Ich habe sogar schon Fälle gesehen, wo ein Gewebeschock noch drei Monate nach dem Unfall präsent war.

Hirnverletzungen durch direkte Stöße gegen den Kopf sind häufi g. Wird das Auto von hinten angefahren, kommt es auch zu einer kräft igen Hyperextension des Nackens, was aufgrund all der Muskeln und Bänder, die an der Basis des Krani-alen Mechanismus anheft en, einen plötzlichen Zug auf die Schädelbasis mit sich bringt. Eine Verletzung des Gehirns und des Hirnstamms kann auch das Resultat von Druckunterschieden sein, die durch einen Druckaufbau oder bei Scherkräft en

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ser physiologischen Fähigkeit eingeschränkt sein. Die betroff enen Segmente werden zu relativ fi xierten Fulkren, unfähig, ihre natürlichen Funktionen auszuüben, bis die gezerrten Bänder abgeheilt sind. Dieser Verlust der automatischen Anpassung als Fulkrummechanismus ist noch schwerwiegender, wenn es um die membranösen Gelenkmechanismen geht, mit den daraus folgenden Störungen der venösen Drai-nage und der Fluktuation des Liquor cerebrospinalis.

Diese heft igen Bewegungen des Körpers, und die Kräft e, denen er ausgesetzt wird, schaff en das Potenzial für Mikrotraumen in allen Körperfaszien, wobei die in den Faszien sitzenden somatischen zellulären Elemente in gleichem Maße betroff en sind wie jene, die von den Faszien mit ihren fl üssigen Inhalten umhüllt werden. Diese Mi-krotraumen verursachen winzige fasziale Fibrosemuster und lassen in den faszialen Ebenen röhrenförmige Bereiche einer erhöhten Spannung zurück, die die zukünf-tige Funktion der somatischen Strukturen innerhalb dieser Faszien beeinträchtigen: Muskeln, Nerven, die Blutversorgung zu Geweben und deren venöse und lympha-tische Drainage. Es kommt zu einer Störung der kompensierten homöostatischen Mechanismen und es entwickeln sich skoliotische Spannungsmuster, die von den Bereichen der Schädelbasis über die Wirbelsäule bis hin zum Os sacrum reichen und zu fokalen Punkten der Facilitation in der dekompensierten Körperphysiologie wer-den. Weiterhin kommt es zum Zusammenbruch von Einschränkungsmustern, die der Patient schon vorher hatte und die er bislang ausreichend kompensieren konnte. Ich nenne solch eine Störung »aufgeweckter Tiger.«

In diesem Zusammenhang beschreiben »Tiger« alte Verletzungen, alte Krank-heiten und alte Muster einer physiologischen Störung, die von den Leuten kom-pensiert wurden. Die Patienten haben sich viele Monate oder Jahre gut gefühlt und keine ernsthaft en Schwierigkeiten gehabt mit diesen Problemen, die allerdings wie-der zum Leben erwachen können, wenn die Person einen Autounfall gehabt hat. Häufi g wird sich dann der Patient, der zu euch kommt, beklagen – nicht über die Tatsache, dass er einen Autounfall hatte, sondern dass dieses vor vielen Jahren ent-standene und bislang unter Kontrolle gehaltene Problem jetzt wieder Ärger macht. Er hat es mit der gleichen Behandlung wie früher probiert, aber diesmal lässt das Problem nicht nach. Wenn ihr dann seine Anamnese erhebt, werdet ihr feststellen, dass er einen Autounfall hatte – ein paar Wochen, ein paar Monaten oder manch-mal sogar ein ganzes Jahr bevor dieser wieder aufgeweckte Tiger kam, um ihn zu ärgern. Nicht der aufgeweckte Tiger ist das Problem: das Schleudertrauma, mit all seinen Folgen auf den Primären Atemmechanismus, hat diesen Tiger gestört, und der ist nun wieder zum Leben erwacht, reißt an diesem Patienten herum und ist der

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in einer vollen physiologischen Bewegung auszudrücken, eingeschränkt. Wenn es zu membranösen Gelenkdysfunktionen im Kranialen Mechanismus kommt, kann auch die Fluktuation des Liquor cerebrospinalis gestört sein. Dies wiederum ver-hindert eine ausreichende Transmutation der Nervenvitalität im Zentralen Ner-vensystem, ein Hauptfaktor, der für die Heilung der im Schleudertrauma verletzten Nerven notwendig ist. Auch die Drainage aus den venösen Hirnleitern im Schädel wird schwieriger – ein weiterer Faktor, der zu einer Erkrankung des Zentralen Ner-vensystems beiträgt.

Zu den kranialen Dysfunktionen im Falle eines Schleudertraumas gehören mem-branöse Restriktionen des Sutherland-Fulkrums und der inneren membranösen Auskleidung der Schädelschale, einseitige oder beidseitige Dysfunktionen zwischen Os occipitale und Atlas, Dysfunktionen des Os temporale, modifi zierte Formen ei-ner okzipitomastoidalen Dysfunktion usw. Störungen der Fluktuation des Liquor cerebrospinalis begleiten Dysfunktionen des Primären Atemmechanismus immer; sie sind also in solchen Fällen stets präsent.

Diese modifi zierte Form einer okzipitomastoidalen Dysfunktion ist ein interes-santer Punkt. Hier wird sie aber nicht wie üblich durch einen Schlag auf das Ok-ziput produziert, der dieses nach innen treibt, sondern durch den plötzlichen Zug der Schleudertrauma-Kraft , die wie der Saugnapf eines Klempnerpümpels über die tiefen zervikalen Faszien auf den Pars basilaris des Okziputs wirkt. Ihre lähmende klinische Folge mag oder mag nicht so groß sein wie bei der üblichen okzipitomas-toidalen Dysfunktion – dies hängt jedoch von der spezifi schen Auswirkung auf die venösen Hirnleiter und das Tentorium cerebelli im Kranium ab.

Eine Einschränkung ihrer normalen Mobilität erfährt häufi g die reziproke Span-nungsmembran. Dazu gehört die Dura, die den Schädel innen auskleidet, die Falx cerebri, das Tentorium cerebelli und die spinale Dura, die das Rückenmark umhüllt und jeden Spinalnerven begleitet, wenn er den Spinalkanal durch das Foramen inter-vertebrale verlässt. Da das Sutherland-Fulkrum in seinem gesamten normalen Funk-tionsmuster eingeschränkt wird, und die zwei Hälft en des Tentorium cerebelli jeweils an der Margo sup. partis petrosae angeheft et sind, können diese Dysfunktionen jeden der neun Hirnnerven beeinträchtigen, die in der Nähe des Os temporale durch die Dura laufen. Das wiederum führt möglicherweise zu vielen verschiedenen bizarren Symptombildern. Auch der »Ärmel« aus Dura, der jeden spinalen Nerven umhüllt, kann einen restriktiven Einfl uss ausüben, genau wie die Restriktion der Dura, die eine Trigeminusneuralgie im Kranium auslöst. Die Dynamik dieses Mechanismus ist es, die das für einen normalen Stoff wechsel in der Funktion der Nerven so wichtige

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Extremitäten arbeiten nun gegen den Widerstand einer fi xierten Basis im Becken. Pathologischer Stress in diesen Bereichen wird daher in seinem kranken, wenig ef-fi zienten Zustand aufrechterhalten und das eingekeilte Sakrum, mit seinem Verlust der unwillkürlichen Flexions- und Extensionsbewegung, wird ein Hauptfaktor für den Zusammenbruch der kompensatorischen homöostatischen Mechanismen und Dekompensationen der skoliotischen Spannungsmuster.

Da das Sakrum gewaltsam aus seinem Platz im Becken hochgerissen und ebenso gewaltsam wieder zurückgesetzt wurde in ein kombiniertes ligamentäres und mem-branöses Dysfunktionsmuster, verliert es sofort seine Fähigkeit, als ein automatisch sich veränderndes, frei schwebendes Fulkrum zu agieren. Das Sakrum ist nun auf der Höhe des zweiten Sakralsegmentes in seiner Position im Becken fi xiert; die größeren L-förmigen Bereiche des Iliosakralgelenkes sind meist nicht so sehr betroff en. Die oberen Brustwirbel und die Halswirbelbereiche haben ein frei schwebendes Fulk-rum verloren, das ungefähr 45 bis 60 cm entfernt am Sakrum existierte. Sie müssen diesen Verlust kompensieren, indem sie sich noch mehr wie eine Peitsche verhalten. Bänder und andere Gewebe, die schon gestresst sind, weil sie noch abheilen müssen, sind nun gezwungen, noch härter zu arbeiten, um die dynamische Funktion der Wirbelsäule aufrechtzuerhalten.

Um das Ganze zu veranschaulichen, kann man den Vergleich zwischen einem Baum und einem im Boden steckenden Stab heranziehen: Der Baum kann bei Wind nachgeben und zeigt keinen Stress, da seine Wurzeln ihm ausreichend Kompensa-tionsfähigkeiten bieten. Der in die Erde getriebene Stab kann sich zwar nach vorne oder hinten biegen, aber sein Widerstand ist aufgrund des in die Erde eingegrabenen Anteils viel höher; er hat nicht die gleiche Elastizität wie die Wurzelstruktur eines Baumes. Genauso leistet ein durch Schleudertrauma fi xiertes Sakrum jeder Bewe-gung der Brust- oder Halswirbelsäule Widerstand.

Normalerweise bewegt sich das Os sacrum zwischen den Ossa ilia unwillkür-lich in Flexion und Extension (in der Extensionsphase der Schädelbasis, sinkt die Basis des Sakrum nach unten und bewegt sich anterior, während das kaudale Ende sich nach posterior bewegt, in der Flexionsphase ist die Bewegung umgekehrt). Ein freier sakraler Mechanismus lässt eine freie Funktion des Rumpfes und der Hals-wirbelsäule zu. Wenn der sakrale Mechanismus jedoch in seiner freien Beweglich-keit eingeschränkt ist und mit den Ossa ilia als eine Einheit funktioniert, wird er zu einem fi xen Fulkrum, das einen Widerstand gegen die freie Bewegung in Rumpf und Halswirbelsäule schafft . Eine Wiederherstellung der Funktion und Mobilität des Os sacrum ist nach so gut wie allen Autounfällen nötig.

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lenbereichen spüren kann. Wenn der Behandler diese Bereiche mit sanft er Hand hält, um diagnostische Informationen zu empfangen, wird er ein Gefühl haben, als säße er am Ende eines Hebels, der sich mit dem ruhigen Muster der physiologischen Funktion und der Atmung des Patienten bewegt. Es fühlt sich so an, als würde diese Bewegung von einer fi xierten Basis im Becken aus arbeiten, was tatsächlich der Fall ist. Normalerweise, wenn also der Beckenmechanismus frei schwebt, vermittelt einem die Bewegung in den Hals- und Brustwirbelbereichen nicht jenes Hebel-Ende-Gefühl; man spürt lediglich die lokale Bewegung der Funktion im Hals und Th orax. Erfühlt man so eine hebelähnliche Bewegung in den Hals- und Brustberei-chen, sollte man das Becken auf einen eventuell eingekeilten Sakralmechanismus hin checken.

Behandlung im Falle eines chronischen Schleudertraumas

Das Schlüsselwort für ein therapeutisches Vorgehen ist: physiologische Funktion. Dies gilt sowohl für die Diagnose als auch für die Behandlung, denn alle Behand-lungsprogramme sind kontinuierlich überwachte diagnostische Analysen, von der ersten bis zur letzten Behandlung. Man braucht die Diagnose, um festzustellen, wie das Muster der Gesundheit in der normalen physiologischen Funktion des Patienten ist oder sein sollte; man braucht die Diagnose, um die pathologische anatomisch-physiologische Funktion zu bestimmen, so wie sie beim ersten Praxisbesuch oder späteren Besuchen ist; und man braucht die Diagnose, um die Effi zienz eines Be-handlungsprogramms im Fallverlauf zu bestimmen, um zu wissen, wann die phy-siologische Funktion im Patienten wieder zur Gesundheit zurückgekehrt ist. Die Behandlung von chronischen Schleudertrauma-Fällen ist sehr komplex, da die phy-siologische Funktion in so vielen verschiedenen Mustern gestört ist. Man muss in diesen Fällen bei der Diagnose viel bedenken und die Behandlung den individuellen Mustern, die sich bei jedem Fall zeigen, anpassen. Manchmal ist es bei einem chroni-schen Fall schwierig, zu erkennen, dass er auf einem Schleudertrauma beruht, weil die möglichen Einschränkungsmuster die ganze Person betreff en und über die Jahre hinweg zu einem subtilen Dysfunktionieren geworden sind, und weil der Fokus der individuellen Beschwerden jedes beliebige System bzw. eine Kombination von Sys-temen im Körper einbeziehen kann. Meistens bringt der Patient seine gegenwärti-gen Symptome nicht in Zusammenhang mit seiner alten, häufi g schon vergessenen Schleudertrauma-Erfahrung.

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Mechanismus. Das Sakrum war zwischen den beiden Ossa ilia komplett fi xiert; es konnte sich nicht unabhängig von den Ossa ilia bewegen, egal ob nach vorne, hin-ten, oben, unten oder sonst wie. Die normale Schaukelbewegung wurde nicht vom Becken aus durch die Muskeln und Bänder weitergegeben. Es gab da einfach keine Bewegung – es war blockiert. Alle betroff enen Muskeln waren dabei, auszutrock-nen – »vertrocknende Felder.«

Wir begannen einmal wöchentlich mit einer Behandlung, bei der lediglich meine Hände unter sein Sakrum legte und an diesem arbeitete, indem ich versuchte, alles zuzulassen, was sich im gesamten Mechanismus zeigte – was immer es auch sein mochte: Wenn es irgendeinen Einfl uss auf dieses Sakrum haben würde, wollten wir, dass es geschieht. Ich komprimierte das in sich schon komprimierte Sakrum stark genug, dass es meine Anwesenheit merkte, und forderte es somit auf, aufzuwachen. Eine Weile passierte gar nichts. Drei Monate später wurde mir plötzlich klar, dass das Sakrum anfi ng, sich wie ein sehr hartes Stück Holz statt wie ein Stein zu verhal-ten. Nach weiteren drei Monaten fühlte es ich an, als ob da etwas Bewegung sei in diesem Sakrum. Schließlich, nach neun Monaten, kam der Patient zur Behandlung und sein Sakrum war wirklich lebendig – es funktionierte wie ein unwillkürlicher Mechanismus. Irgendwann in dieser Woche seit der letzten Behandlung hatten sich off enbar die Auswirkungen aller Behandlungen der zurückliegenden neun Monate vereint, das Sakrum erwachte zum Leben und begann, voll und kräft ig zu funktio-nieren. Jetzt konnte ich den Patienten entlassen, denn der einzige Zweck der Be-handlung war erfüllt.

Fünf Jahre später kam der Mann wieder und die Tonusqualität und alles andere im oberen Th orakalbereich war völlig normal – fühlte sich nicht mehr wie Glas an, war in perfektem Zustand. Ich sehe ihn manchmal bei gesellschaft lichen Ereignis-sen, und er ist jetzt, 20 Jahre nach der Behandlung, so stark und gesund, wie man nur sein kann. Wäre er das, wenn er weiterhin dieses blockierte Sakrum hätte? Ich denke nicht.

Es gibt wirklich Hunderte von Patienten, die mit Schmerzen im Nacken und oberen Rücken kommen und vergessen haben, dass sie einen Autounfall hatten. Wenn der Behandler danach sucht, wird er den körperlichen Hinweis auf die Nachwirkungen eines Schleudertraumas fi nden. Fälle, die nur sehr langsam auf die übliche Behand-lung reagieren, sollte man unter dieser Prämisse erneut untersuchen.

Das erste Ziel des Behandlers ist, festzustellen, wie Gesundheit für den betref-fenden Patienten aussieht. Sein zweites Ziel ist, eine korrigierende Veränderung in

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agieren tun sie vorerst noch nicht –, indem sie sich beschweren, dass sie nun arbeiten müssen. Beim nächsten Besuch des Patienten werdet ihr dann feststellen, dass sie eine Korrektur und Veränderung vollzogen haben.

In sehr wenigen Fällen bleiben die Patienten bei euch, bis ihr das normale Funk-tionsmuster, das sie vor dem Auft reten des Schleudertraumas hatten, vollständig wiederherstellen könnt; aber praktisch alle lassen sich zu einem gut ausbalancierten, kompensierten, symptomfreien Zustand zurückbringen, der ihnen gutes Funktio-nieren im täglichen Leben ermöglicht. Irreversible pathologische Bereiche können nicht wiederhergestellt werden, aber seid nicht voreilig in eurer Entscheidung darü-ber, ob ein Problem irreversibel ist oder nicht. Wenn ihr richtig dranbleibt, werdet ihr euch über die Resultate wundern.

Euer Ziel ist es, in dem betreff enden Patienten die für ihn gültige Gesundheit zu suchen und sie wieder in eine aktive, physiologische Funktion zu bringen. Die abnor-male Funktion fi nden kann jeder, auch der Patient. Es tut ihm weh! Ich nutze spe-zifi sch die physiologischen Kräft e im Patienten, indem ich latente, schlafende oder ruhende physiologische Energien in ihm in aktive oder kinetische physiologische Energien umwandle, die den Körper im wahrsten Sinne des Wortes dazu bringen, sich bei jedem Praxisbesuch selbst zu behandeln. Ich plane physiologisch, was bei der jeweiligen Behandlung angebracht ist, und lasse den Körper des Patienten physio-logisch mitarbeiten, um sein eigenes Behandlungsprogramm zu schaff en. Wenn ihr Patienten behandelt, denkt, um mit den ständig sich verändernden Mustern, die sich euch zeigen, umgehen zu können, an die physiologische Funktion. Dann werdet ihr jedem Patienten einen osteopathischen Dienst erwiesen haben, der heilend wirkt.

Die Behandlung chronischer Schleudertraumen möchte ich nun anhand folgender vier Schritte erläutern:1. Ableiten der durch das Schleudertrauma hinzugekommenen, unidirektional ge-

richteten, unphysiologischen Energiefelder in der gesamten Körperphysiologie des Patienten.

2. Wiederherstellen der unwillkürlichen Flexions- und Extensionsmobilität des Os sacrum zwischen den Ossa ilia und Lösen eines faszialen Zugs nach unten im Becken.

3. Korrigieren spezifi scher ligamentärer Gelenkdysfunktionen, die mit dem Auto-unfall zusammenhängen.

4. Rekonstruieren und Zurückführen einer kompensatorischen myofaszialen sko-liotischen Spannungsfunktion in eine »Easy«-Normalität für das Individuum.

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kraft für die Lösung dient. Von seiner unter dem Sakrum liegenden Hand projiziert der Behandler seinen Berührungssinn hin zu einem Balancepunkt, vergleichbar mit dem bei der Technik zum Ableiten der Schleudertrauma-Energiefelder verwendeten. Anders ausgedrückt: Der Behandler bemüht sich, das in seiner Hand liegende, unbe-wegliche Sakrum in ein Sakrum zu transformieren, das mit dem Flexion-Extension-Zyklus der sich bewegenden Füße mitgehen kann. Seinen brückenartig über die SIAS der beiden Ossa ilia gelegten freien Arm lässt er kooperieren, indem er durch ihn sanft den Druck auf beiden Spinae verstärkt, damit beide Ilia vorne zusammenkommen und sich hinten öff nen und so dem Sakrum Raum geben, seine Blockierung zu lösen. Der Behandler kann außerdem die Hilfe des Patienten einbeziehen, indem er diesen tief einatmen lässt, während er seine Füße wie gebeten bewegt und der Behandler sei-nen Punkt der Balance sicherstellt. Lasst ihn seinen Atem anhalten, solange er kann, und dann ausatmen. Das lässt man ihn zwei bis drei Male wiederholen.

Diese rhythmische Dorsifl exion und Extension der Füße und das Öff nen der Beckenschale durch den Behandler wird so lange fortgeführt, bis der Behandler spürt, dass der Beckengürtel sich so weit zu lösen beginnt, wie es in an diesem Behandlungs tag möglich ist. Es muss keine komplette Lösung erreicht werden. Der für diese Technik benötigte Zeitaufwand soll fünf Minuten pro Behandlung nicht überschreiten. Die Körperphysiologie wird bis zum nächsten Praxis besuch und wäh-rend der Folgebehandlungen an dem Problem arbeiten, bis dann dessen völlige Auf-lösung stattfi nden kann und auch stattfi ndet.

Auch hier ist der Schlüssel zu größerer Empfänglichkeit in der Berührung des Behandlers bei Diagnose und Behandlung, dass er seinen Tastsinn von seiner unter dem Sakrum liegenden Hand zu den Unterarm-Hand-Kontakten auf die SIAS pro-jiziert und umgekehrt von dort auf die unter dem Sakrum befi ndliche Hand. Auf diese Weise bekommt er das größtmögliche Verständnis für das, was im Beckenring geschieht, während der Patient kooperiert, indem er seine Füße bewegt und/oder seinen Atem anhält.

Zur Korrektur der diagnostizierten Dysfunktion gehört das aufmerksame Mitbe-denken aller in den Verletzungsprozessen der ligamentären und membranösen Ge-lenke mitwirkenden Faktoren. Die Korrektur sollte äußerst sanft sein: Man ver-sucht, zuzulassen, dass die inneren physiologischen Prozesse ihre eigenen unfehl-baren Kräft e zeigen, um die Dysfunktion zu lösen, während die Hand unter dem Sakrum den Prozess lediglich leitet und analysiert. Th rusting und andere Techni-ken, die mit Kraft arbeiten, sind zu heft ig für diese Art von Problem. Viele dieser

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I–325Kapitel 7 – Das Wesen von Traumen

den Wirbelsäulenbereichen, die direkten Kontakt mit spezifi schen Fahrzeugteilen hatten, manifestieren sich ligamentäre Gelenkdysfunktionen infolge der schnellen, schleuderähnlichen Bewegungen des Kopfes und der Halswirbelsäule in deren Be-wegungsmuster während der ersten Unfallmomente.

Der Behandler kann jede osteopathische Technik anwenden, die er gut beherrscht, um diese spezifi schen ligamentären Gelenkdysfunktionen zu diagnostizieren und zu behandeln. Dabei sollte er folgende Punkte bedenken: Diese Dysfunktionen kön-nen im Kranium, in der gesamten Wirbelsäule bis zum Sakrum auft reten, an den Rippen und in den Extremitäten. Sie sind durch Trauma verursacht und bei ihrer Erzeugung wurde viel Energie verbraucht. Daher sind sie von organischer Bedeu-tung und haben nicht nur funktionellen Charakter. Die auf der Höhe des dysfunk-tionalen Bereichs quer durch den gesamten Körper verlaufenden faszialen Oberfl ä-chenschichten sind ebenso betroff en wie die tieferen faszialen Ebenen oberhalb und unterhalb der Dysfunktion.

Meiner klinische Erfahrung nach erreicht man durch Anwenden ableitender Techniken zur Erleichterung genereller myofaszialer Dysfunktionen oder zur Be-freiung eines eingekeilten Sakrum (in Fällen, wo man es mit einem dieser beiden Probleme oder mit beiden zu tun hat) ein Menge und fördert darüber hinaus das Aufl ösen von Weichgewebedysfunktionen, die zu der spezifi schen Dysfunktions-pathologie dazugehören. Ich benutze solche Techniken stets vor einer spezifi schen Korrektur der jeweiligen Dysfunktion. Bei osteopathischen Techniken, die man dann für die Korrektur solcher spezifi schen Dysfunktionen anwendet, sollte man sich bewusst sein, wie umfassend die beteiligten Gewebe sind, und sich nicht nur darauf konzentrieren, ein spezifi sche Gelenkfl äche zu mobilisieren. Versucht beim Anwenden der Technik zu spüren, wie sich die Korrektur sowohl quer durch die gesamten Weichgewebe als auch in deren Facetten vollzieht.

4. Wiederherstellung der kompensatorischen myofaszialen skoliotischen Span-nungsfunktion in eine »Easy«-Normalität für das Individuum. Das Mikrotrauma in den faszialen Ebenen des ganzen Körpers und die Produktion einer spezifi schen Dysfunktionspathologie haben dazu beigetragen, dass die gut kompensierte skolio-tische Funktion zwischen der sphenobasilären Synchondrose oben und dem Sakrum unten zusammengebrochen ist. In chronischen Fällen von Schleudertrauma wird diese Dekompensation im Beschwerdenkatalog des Patienten zwar nicht erwähnt, der Behandler wird sie jedoch bei seiner Untersuchung fi nden, wenn er sorgfältig palpatorisch diagnostiziert. Eine gut kompensierte Skoliose ist Teil der normalen

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Kapitel 8

Klinische Überlegungen

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Kapitel 8-1Herangehensweise bei klinischen Problemen

Zusammenfassung eines Textes vom Januar 1958.

Ehe man beginnt, ein klinisches Th ema zu erörtern, ist es meiner Meinung nach ratsam, davon zunächst ein Gesamtbild aufzuzeichnen, bevor es hinter zu vielen Einzelheiten verschwindet. Das Kraniale Konzept ist Teil eines umfassenderen Kon-zeptes – nämlich des osteopathischen Konzeptes, wie Dr. Andrew Taylor Still es sich vorgestellt hat. Dr. William G. Sutherland bestand darauf, dass sein Werk zu dem dazugehöre, das von Dr. Still begonnen worden sei. Es sollte nie etwas von der generellen Wissenschaft der Osteopathie Getrenntes sein.

Aus Dr. Sutherlands sämtlichen Schrift en lässt sich sein umfassendes Verständ-nis vom Kranialen Konzept und von dessen Beziehung zur Osteopathie im Allge-meinen ersehen. Und man kann aus ihnen auch noch weitere Schlussfolgerungen ziehen: Sein Konzept war in seinem Aufbau ganzheitlich, und seine Werkzeuge waren zum einen die kraniosakralen, anatomisch-physiologischen Mechanismen mit ihrer Fähigkeit, aus sich selbst heraus zu funktionieren, und ihrer innewoh-nenden lebendigen Qualität und zum anderen die Begabung des Behandlers, diesen Mechanismen Wissen zu entlocken, um diagnostizieren und behandeln zu können. Diese Art von Gedankengebäude erfordert zumindest ein gewisses Maß an Ein-blick in seine Gesamtheit, bevor man irgendwelche Teile davon aus dem Kontext herausnehmen und defi nieren oder erörtern kann. Das Gleiche gilt für die Schrif-ten von Dr. Still.

Wenn man im Sinne von Dr. Still und Dr. Sutherland denkt, ist es wichtig, den Menschen stets ganzheitlich zu betrachten. Die physiologischen Prozesse, die Nor-malität bedeuten, und die Dysfunktionen in den Prozessen, die Krankheit bedeuten, sind lediglich ein Teil des Gesamtbildes. Man sollte diese Einzelteile immer als etwas zu einem Gesamtmuster Gehörendes sehen und ihren Platz auf dieser Basis einord-nen. Dr. Still und Dr. Sutherland verfassten ihre Werke mit dieser Ganzheitlichkeit vor Augen. Sie trennten die Person nicht von ihren physiologischen oder krank-heitsbedingten Prozessen. Beim Arbeiten mit einem physiologischen oder krank-heitsbedingten Prozess, den sie studierten, behielten sie stets die ganze Person im Vordergrund ihres Geistes. Bezugspunkt für ihr Denken war der Mensch in seiner

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Kapitel 8-2Klinische Beobachtungen

Überarbeitete Abschrift eines Vortrages, gehalten 1976 während eines Grundkur-ses der Sutherland Cranial Teaching Foundation in Milwaukee, Wisconsin.

Ich möchte gerne über ein paar Dinge sprechen, die ich in meiner Praxis beobach-tet habe.

Bluthochdruck: Interessanterweise lässt sich in den meisten Fällen von essenziel-lem Bluthochdruck feststellen, dass das Tentorium cerebellum nach unten und aus-einandergedrückt zu sein scheint. Es ist relativ fl ach und möchte sich nicht hoch-wölben. Ich habe eine Reihe derartiger Fälle behandelt. Solch eine reziproke Span-nungsmembran muss wieder trainiert werden, um normal zu funktionieren. Dies wird langsam, über einen gewissen Zeitraum gemacht – denn: Wie viele Jahre hat es gebraucht, um diesen essenziellen Bluthochdruck zu entwickeln? Man kann die-ser reziproken Spannungsmembran aber langsam beibringen, ihren Job, sich rhyth-misch hochzuwölben, wieder richtig zu machen, und der essenzielle Bluthochdruck lässt sich dann mit weniger Medikamenten als üblich kontrollieren.

Legasthenie: Ab und zu werdet ihr auf Kinder mit Legasthenie treff en. Oft brin-gen die Eltern das Kind wegen anderer Beschwerden zu euch und nicht, weil es Le-gastheniker ist. Ganz nebenbei erzählen sie dann, dass es unter Legasthenie leidet. Man kann dann die Behandlung ergänzen, um ihnen zu helfen. Bei praktisch al-len Kindern mit Legasthenie ist der klinische Befund eine intraossale Dysfunktion des Os temporale, wobei die Pars petrosa in eine Art interne Rotationsdysfunktion gedreht ist, während das Squama mehr oder weniger so ist, wie es sein soll. Wenn man diese Kinder untersucht, fühlt sich das Os temporale fast so an, als hätte es eine Art okzipitomastoidale Dysfunktion, mit einer traumatischen Spannung auf diesem Tentorium, die sagt, dass hier etwas nicht stimmt. Es ist aber eine intraossale Dys-funktion, normalerweise des rechten Os temporale, manchmal des linken, je nach Kind. Mit Hilfe von formenden Techniken56 und indem man die Tide des Liquor cerebrospinalis hinunterlenkt zu den Gelenkverbindungen der Pars petrosa, zu der Sutura occipitomastoidea und an die Verbindung mit dem Squama, können sich die Dinge verändern. Allmählich – erst einmal pro Woche, dann alle 14 Tage, dann

56 Originaltext: molding techniques

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I–333Kapitel 8 – Klinische Überlegungen

lebendig zu sein und sich wohl zu fühlen, aber es bedarf wie gesagt sechs Monate bis ein Jahr lang einer Behandlung pro Woche, um die Resultate zu bekommen, die man sich wünscht. Diese Behandlung ist eine Ergänzung ihrer medikamentösen Einstellung oder anderer Dingen, die ihr machen wollt.

Brachialisneuropathie mit blockiertem Sakrum: Wie ich schon bei anderer Gele-genheit erwähnt habe, sollte man nach Schleudertraumen sicherstellen, dass das Sakrum zusammen mit dem Rest des Mechanismus frei schwebt. Ich möchte das hier deshalb noch einmal betonen, weil das Sakrum normalerweise nicht durch Be-schwerden auf sich aufmerksam macht. Fast immer muss man danach suchen. Die Patienten sagen nicht, dass es ihnen da unten weh tut, sondern sie haben Schmer-zen weiter oben.

Folgender Fall, bei dem die Ursache allerdings kein Schleudertrauma war, ver-deutlicht das: Ein junger Mann hatte seit 15 Monaten auf beiden Seiten eine Bra-chialisneuropathie. Als ich seinen Nacken und seine Schultern anfasste, um her-auszufi nden, warum er eine Brachialisneuropathie hatte, fühlte ich mich, als sei ich am anderen Ende eines Hebels; denn egal was ich, während ich ruhig dasaß, an diesem Ende tat: Ich wurde herumbewegt. Nun, wenn ich am Ende eines Hebels bin, der sich bewegt, dann muss es off ensichtlich irgendwo einen Fulkrumpunkt geben, der relativ still ist. Ich ging also zum Sakrum, um es zu untersuchen, und ja, es war in seiner Atemfunktion komplett blockiert. Als ich ihn weiter befragte, fand ich den Grund heraus. Der Typ liebte seinen Sportwagen. Er selbst wog allerdings nur 75 Kilo – und als er eines Tages seinen Motor anhob, um ihn ins Auto zurück-zusetzen, blockierte er sein Sakrum.

Die ersten beiden Male, als er in die Praxis kam, versuchte ich herauszufi nden, was los war. Beim dritten Mal fand ich das Sakrum und löste es. Beim vierten Mal war das Sakrum frei, und beim fünft en Mal gab es keine Brachialisneuropathie mehr. Punkt. Das war also das Ende dieses Falles. Da sein Sakrum fi xiert und blockiert war, musste er oben im Schultergürtel alles gegen einen Widerstand machen. Euer Becken sollte eigentlich nachgeben, wenn ihr eure Arme bewegt. Durch den Verlust dieser Mikrobewegung musste er jedes Mal, wenn er sich bewegte, beides bewegen: die Ossa ilia und das Os sacrum, und seine Nn. Brachiales waren in Dauerspan-nung. Als sich das Sakrum löste und sich jetzt frei bewegen konnte, verschwand die Spannung in den Faszien um den Plexus brachialis. – Die gleiche Situation erhält übrigens auch ein chronisches Schleudertrauma aufrecht.

Kompression des Schädeldachs: Es ist möglich, sich eine massive, traumatische Kompression des gesamten Schädeldachs zuzuziehen, wenn dieses in die Schädel-

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I–335Kapitel 8 – Klinische Überlegungen

so ist. Wenn ihr dann mit ihm arbeitet, revitalisiert ihr jenes Energiefeld, dass seine Lebenskraft ist, so dass es sich wieder in Richtung der normalen 110 Volt bewegt.

Ihr könnt die überfl üssige Energie auch abfl ießen lassen, wenn sie für den Pati-enten eine Last ist. Hier ein praktisches Beispiel: Ein Mann kam zur Behandlung in meine Praxis und ich konnte spüren, dass sein Mechanismus grundsätzlich 110 Volt hatte. Es war in vielerlei Hinsicht ein relativ normaler Mechanismus, aber man hatte das Gefühl, dass er irgendwie bei 110 Volt schwebte, also ein unentschiedener Mechanismus war, der sagte: »Ich würde gerne arbeiten, aber ich bin nicht so sicher, dass es in diesem Moment eine gute Idee ist.« Als ich ihn behandelte – ich weiß nicht mehr genau wie, wahrscheinlich mit einer CV4-Technik –, war ich in Kontakt mit dem Fluid Drive und der reziproken Spannungsmembran. Und plötzlich vollzog sich darin ein Wechsel oder eine Veränderung, und der Mann begann zu weinen. Dann erzählte er mir, dass in seinem gerade neu eingeweihten Swimmingpool das Kind des Nachbarn ertrunken sei. Er hatte also einen totalen Schock und einen voll-kommen blockierten Mechanismus. Durch die Behandlung konnte er seine emo-tionale Last ablassen und wieder anfangen, zu funktionieren. Die Energie, die ihn blockiert hatte, ging dorthin zurück, von wo sie hergekommen war. Es ist uns egal, wo Energie herkommt, aber wir wissen: Der Mechanismus kann sich auf sie einstel-len und sie entweder aufbauen oder zerstreuen, so wie es gebraucht wird. Man benö-tigt ein gewisses Maß an Vorsicht und Sorgfalt, wenn man mit solchen emotionalen Dysfunktionen bei Patienten arbeitet.

Ihr könnt also das Muster in den Leuten lesen. Bei Patienten, die ihr schon eine Weile behandelt habt, stoßt ihr bei dem Versuch, das Muster zu sehen, das ihr nor-malerweise bei ihnen fi ndet, vielleicht auf kleine Bereiche, die überladen sind oder zu wenig haben – die entweder eine Drainage brauchen oder ein Wiederaufladen. Ihr habt also viele Anwendungsmöglichkeiten für das, was ihr in dieser Woche gelernt habt – viel mehr, als ihr jetzt denkt.

Den Zeitpunkt einer Dysfunktion bestimmen: Ihr könnt lernen, zu spüren, wie lange ein Problem schon existiert. Leute fragen mich: »Woher wissen Sie, dass die-ser Mensch das Problem schon zehn Jahre hat?« Es ist nichts Besonderes. Wenn ich eine alte, chronische ligamentäre oder membranöse Gelenkdysfunktion fi nde, frage ich den Patienten: »Wann hatten Sie einen Unfall in diesem Bereich?« Er antwortet vielleicht: »Vor zehn Jahren.« Dann weiß ich: So fühlt sich eine Dysfunktion an, die zehn Jahre alt ist. Es ist einfach. Und wenn man das dann immer wieder macht, fängt man an, wiederzuerkennen, wie sich eine zehn Jahre alte Dysfunktion anfühlt. Kompliziert es nicht unnötig.

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I–337Kapitel 8 – Klinische Überlegungen

nur eine knöcherne Verbindung zu mobilisieren bzw. in Bewegung zu bringen. Der gesamte Bereich ist durch die Dysfunktion betroff en. Wenn man ein Dysfunkti-onsmuster hat, ist es das Ziel der Diagnose und Behandlung, die Funktion dieses Bereiches zu normalisieren, damit alles so läuft , wie es den physiologischen Erfor-dernissen dieses Patienten entspricht.

Ich habe dir diese kurze Erklärung gegeben, weil die Erörterung deiner beiden nächsten zwei Fragen über bestimmte kardiologische und urologische Pathologien einen Blickwinkel erfordert, der mehr umfasst als nur die knöchernen Verbindun-gen, die bei einer typischen osteopathischen Dysfunktion beschrieben werden. Wir haben es hier mit der Funktionsfähigkeit der Organe zu tun, und wir müssen des-halb vom Standpunkt einer funktionierenden Anatomie und Physiologie aus den-ken – so wie sie für dieses Organ gilt – und seine Fähigkeit, krank zu sein, ebenso in Betracht ziehen wie seine Fähigkeit, wieder gesund zu werden.

Das Herz

Wenn wir es mit einer Pathologie des Herzens zu tun haben – einem Herzinfarkt, einer koronaren Herzerkrankung oder einer Herzinsuffi zienz –, müssen wir an die Innervation, die Blutversorgung und die Funktion des gesamten Herzmechanismus denken, so wie er in einem funktionierenden Brustkorb lebt und atmet. Der Herz-bereich reitet auf der Wölbung des Zwerchfells und wird mit dessen Bewegung auf und ab geschaukelt. Seine grundlegende Innervation kommt von den vegetativen Plexi im oberen Dorsalbereich.

Diese liegen vor den Rippenköpfchen und sind ein Teil des Truncus sympathicus. Sie verzweigen sich in Äste zur Halsregion und zum kardialen Ganglion und steigen von dort zum Herzen ab – das ist die sympathische Innervierung. Die parasympa-thische Nervenversorgung kommt mit dem N. Vagus aus dem Hirnstamm, durch das Foramen magnum. Wenn wir etwas für diese Patienten tun wollen, müssen wir an die normale Anatomie und Physiologie denken, die dazu beiträgt, die Funkti-onsweise dieses Herzmechanismus zu steuern. Das ist, ganz kurz beschrieben, die Anatomie und Physiologie der zentralen Steuerung des Herzmechanismus.

Ich behandle einen jungen Kinderarzt wegen seiner Lumbago, und ich ließ ihn das Tonband hören, das du mir geschickt hast. Er war sehr daran interessiert, zu hören, wie ich das Problem beantworte, das ich gerade mit dir bespreche – diese Herzsituation. Ich habe ihm also die gleiche Geschichte erzählt, die ich gerade dir er-

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ebenso für die Funktion der Nieren, die wir gleich anschließend besprechen werden. Man kann über den Herzbereich und das Zwerchfell folgendermaßen denken: Das linke Crus des Zwerchfells ist kontinuierlich mit der Muskulatur auf der rechten Seite des Zwerchfells; das rechte Crus des Zwerchfells führt hoch zu und ist Teil der Muskulatur auf der linken Seite des Zwerchfells. Wenn wir also etwas tun können, um den Tonus und die Spannung der Crura im oberen Lumbarbereich auf beiden Seiten zu lösen, werden wir in der Tendenz die Bewegungsfreiheit des Zwerchfells normalisieren.

Bild 5 in der Reihe Diagnostisches Berühren (siehe Seite I–196) zeigt, die Methode, die ich im Allgemeinen anwende, um an die Crura des Zwerchfells zu gelangen. Die Bildunterschift lautet zwar Oberer Lumbarbereich und M. psoas, ich lasse aber meine Fingerspitzen genau unter die zwölft e Rippe gleiten, in Richtung auf den Lumbar-wirbel. Das Crus des Zwerchfells liegt, genau wie der M. psoas, anterior zu und an den Seiten des Wirbelkörpers. Man muss also tief in diese Sache hineindenken. Deine Fingerspitzen liegen unterhalb der zwölft en Rippe und dicht an deren Köpf-chen und die Hand liegt genau unter der zwölft e Rippe in diesem Bereich. Dann denkst du tief hindurch bis zum Crus des Zwerchfells, und bringst deine Finger, dem Verlauf der zwölft en Rippe folgend, etwas nach außen. Du denkst tief, bis du spüren oder fühlen kannst, wie eine Veränderung anterior im Crus auf dieser Seite stattfi ndet. Wenn du auf der rechten Seite arbeitest, wirst du das rechte Crus lösen und damit die linke Seite des Zwerchfells beeinfl ussen. Wenn du dann auf der linken Seite am linken Crus arbeitest, beeinfl usst du das Zwerchfell rechts. So kann man die Crura auf beiden Seiten der LWS lösen.

Dann kannst du deine Hände unter den oberen Dorsalbereich legen, so wie es in den Bildern 7 und 8 in Diagnostisches Berühren gezeigt wird (siehe Seite I–197 f.). Hier versuchst du, die Funktion des oberen Dorsalbereichs zu spüren, die Nor-malisierung – das Lösen der Spannung sowohl im oberen Dorsalbereich als auch beidseitig im oberen Brustkorb. Indem man den oberen Dorsalbereich behandelt und die Funktion der Wirbel, aber auch der Rippen, der umliegenden Muskulatur und allem, was sonst noch dazu gehört, sicherstellt, löst man den in diesem Be-reich üblicherweise verhältnismäßig mobilen Ursprung des in die Halsregion und von dort hinunter zum Herz verlaufenden Plexus cardiacus. Die parasympathische Innervierung verläuft durch die Schädelbasis. Ein behutsames Augenmerk auf den Bereich des Os temporale und Os occipitale ist angebracht: Das Zusammenspiel zwischen diesen beiden Knochen sollte so sein, dass der N. vagus seinen Job tun kann.

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Das urogenitale System

Lass uns jetzt zu dem anderen Problem weitergehen, dass du in unsere Diskussion eingebracht hast: eine junge Frau mit wiederkehrenden Entzündungen der Blase. Die Sorge, dass sich daraus Nierenprobleme entwickeln könnten, machen sie zur Kandidatin für den Einsatz von unterdrückenden Antibiotika. Wir müssen über die grundlegende Anatomie dieser Gebiete nachdenken. Es gibt hier die Nn. Splanch-nici, die den parasympathischen Anteil versorgen und einen Teil der sympathischen Innervation mit sich führen. Die unteren thorakalen und oberen zwei lumbalen Nn. Spanchnici führen die sympathische Innervierung zu den Nieren und den suprare-nalen Strukturen und ebenso die sympathische Innervation zur Blase und anderen Organen des Beckens.

Wir müssen auch noch etwas anderes bedenken: Die Nieren bewegen sich mit der Atmung auf und ab und machen auch jede Körperbewegung des Patienten mit. Sie reiten auf der Oberfl äche der Crura des Zwerchfells und des M. psoas auf beiden Sei-ten der Lendenwirbelsäule. Uterus und Blase sitzen auf dem Diaphragma pelvis.

Genau betrachtet gibt es im Körper mehrere Diaphragmen: das Diaphragma pel-vis, das das Becken unten abschließt, dann das Zwerchfell, das den Th orax und das Abdomen trennt, und schließlich ein kraniales Diaphragma, das aus dem bilateralen Tentorium cerebelli besteht, das die Großhirnhälft en von dem darunterliegenden Cerebellum trennt. Alle drei Diaphragmen senken sich beim Einatmen und heben sich beim Ausatmen. Du weißt, dass es beim Zwerchfell so ist, und dasselbe gilt für das Diaphragma pelvis und das kraniale Diaphragma.

Das Diaphragma pelvis ist in vielen dieser Fälle, die wir hier besprechen, fest-gezurrt, besonders bei jungen Frauen. Es wird nach unten gedrückt, so dass es sich nicht rhythmisch auf und ab bewegt. Das Diaphragma pelvis kann auf einer Seite oder bilateral unten festgehalten sein. Das ist die Folge von Geburten oder von gy-näkologischen chirurgischen Eingriff en und macht eine freie Funktion des Dia-phragma pelvis unmöglich. In so einem Fall werden Blase, Vagina und die anderen Organe in ihren faszialen Umhüllungen bis zu einem gewissem Grad gestört – sie können sich nicht so mit dem Atemzyklus mitbewegen, wie vorgesehen.

Weil gesunde Gewebe bakterielle Infektionen aller Art abwehren können, zielt unsere Behandlung darauf ab, die Nervenversorgung, die die Blutversorgung zu die-sen Organen steuert, wiederherzustellen und die Bewegung zu ermöglichen, die in diesen Bereichen stattfi nden sollte. Die Behandlung zur Lösung des Diaphragma pelvis ist relativ einfach. Dr. Howard Lippincott schrieb 1949 einen Artikel über

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I–343Kapitel 8 – Klinische Überlegungen

der Seite unter dem fünft en Lendenwirbel. Bei Blasenproblemen gibt es immer eine Dysfunktion oder eine Spannung im Bereich zwischen dem fünft en Lendenwirbel und dem Os sacrum. Es besteht eine Gewebespannung überall im gesamten Bereich des fünft en Lendenwirbels und des Sakrum. Interessanterweise erreicht man eine beachtliche Kontrolle über die Irritierbarkeit der Blase, wenn man die Spannung löst (indem man eine Hand unter dem Sakrum und die andere unter dem Proc. spinosus des fünft en Lendenwirbels hat, um zu sehen, was los ist), wenn man also in diesem Bereich eine Weile arbeitet, bis man spürt, wie sich die Funktion in dem Sinne wie-derherstellt, dass sie tun kann, was sie möchte.

Als deine Großmutter uns vor einigen Jahren besuchte, hatte sie eine so ausge-prägte Blaseninkontinenz, dass sie Einlagen tragen musste. Sie war sechs Wochen bei uns, ich behandelte sie täglich und machte dabei nichts anderes als das, was ich dir gerade beschrieben habe. Am Ende dieser Zeit benötigte sie keine Einlagen mehr und war für jeweils zwei bis drei Stunden frei von Harndrang. Nach ihrer Abreise schlich sich allmählich wieder ihre alte Inkontinenz ein, aber es war natürlich ein schon lange bestehendes, chronisches Problem, und sie hätte eine Dauerbehandlung gebraucht. Die Idee ist jedenfalls, bei einer Blaseninkontinenz an dieses Gebiet he-ranzukommen und eine Korrektur für den Mechanismus zwischen dem fünft en Lendenwirbel und dem Sakrum zu erreichen.

Bei diesen urogenitalen Problemen gehen wir auch hoch und lösen die Crura des Zwerchfells auf beiden Seiten, so wie es bei dem kardiologischen Fall beschrie-ben wird. Damit erreicht man zwei Dinge: Man löst die Spannung nicht nur in den Crura, sondern auch im M. psoas, und es entsteht ein anregender Einfl uss auf die ve-getative Innervation der Nieren und des Beckens. Während man unter dem Sakrum und dem fünft en Lendenwirbel ist, tonisiert man automatisch die dort verlaufenden Nerven, die parasympathische Innervation des Beckens.

Ich glaube, dass diese simplen Verfahren, der sogenannte Beckenbodenlift , das Lösen des Mechanismus des fünft en Lendenwirbels und des Sakrum, und das Lösen der Crura und des M.psoas, um die Bewegungsfreiheit der Nieren und die vegeta-tive Innervation zu unterstützen – zu einer Normalisierung chronischer Blasenbe-schwerden beiträgt oder zumindest einiges an Hilfe bringt. Untersuche das Dia-phragma pelvis und den lumbosakralen Übergang bei diesen Leuten sehr sorgfältig und arbeite daran, in beiden Bereichen defi nitiv etwas zu lösen. Schau, ob das nicht einen Unterschied macht bei den Symptomen der Patienten und bei der Notwen-digkeit, Medikamente einzusetzen. Über einen kleinen Bericht später würde ich mich freuen.

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I–345Kapitel 8 – Klinische Überlegungen

einfach das Hüft gelenk in jedem Bein, um herauszufi nden, in welche Richtung es rotieren möchte (siehe Bild 24 auf S. I–208). Ich überprüfe das gute Bein und fi nde heraus, ob es Innen- oder Außenrotation bevorzugt. Dann überprüfe ich das Bein, bei dem die Zerrung am Knie passiert ist, und fi nde heraus, ob es lieber in ein ent-gegengesetztes Muster geht, denn normalerweise bevorzugt bei jedem Patienten die eine Seite Außenrotation, die andere Seite Innenrotation.

Wenn ich nun z. B. ein Dysfunktionsmuster mit Innenrotation fi nde, bringe ich es bewusst in die Richtung dieses Dysfunktionsmusters, mit der gleichen Hand-haltung wie in Bild 24, bis ich spüre, wie es sich im Bereich des Beckens löst. Dann fühle ich, dass das Muster zurückgegangen ist und nun wieder der Normalität des betreff enden Patienten entspricht. Diese Korrektur der Hüft gelenkdysfunktion un-terstützt bei einer relativ leichten Knieverletzung, bei der es keine weitreichenden Bänderrisse gab, das Abheilen des Knies. Man macht dies, indem man die langen Hebel der Ischiokruralmuskulatur und des M. quadriceps wieder justiert. Dann kann das Knieproblem loslegen und selbst eine noch bessere Korrektur durchfüh-ren, wenn es nicht mit einer partiellen Dysfunktion im Hüft bereich funktionieren muss. Es ist also ratsam, bei allen Knieverletzungen den Hüft bereich zu überprüfen, um das normale Muster, das für das Becken dieses Menschen stimmt, herauszufi n-den und eventuell vorhandene Dysfunktionen der Innen- oder Außenrotation zu korrigieren.

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I–347Kapitel 8 – Klinische Überlegungen

Anheft ung an der Verbindung mit der Falx cerebri und ist ebenfalls rechts und links an den petrösen Kanten der Ossa temporalia befestigt. Dr. Sutherland nannte sie die drei Sicheln: das linke Tentorium, das rechte Tentorium und die Falx cerebri. Bei Sinusproblemen haben wir es eigentlich mit membranösen Gelenkstrains zu tun, zu denen die Falx cerebri oder das Tentorium cerebelli gehören.

Das Tentorium cerebelli ist an beiden Partes petrosae der Ossa temporalia befes-tigt, und die Ossa temporalia sind wiederum mit den Ossa zygomatica verbunden. Restriktionen der vollen Atembewegung des rechten Os temporale schränken die Bewegungen des Os zygomatica auf der rechten Seite ein, und damit die pumpende Bewegung des »Klempners Freund«, der zu dem rechten Sinus maxillaris gehört.

Einschränkungen des physiologischen Ausdrucks der Falx cerebri stören die nor-male Motilität und Mobilität seiner anterioren Anheft ungen an der Crista galli des Os ethmoidalis und am Os sphenoidalis. Das Sphenoid ist für die normale Be-weglichkeit praktisch aller vierzehn Knochen des Gesichts verantwortlich. Fast alle Knochen, aus denen das Gesicht besteht, haben eine direkte Verbindung mit dem Os sphenoidalis oder eine klare, indirekte Verbindung mit dessen Motilität. Was immer mit dem Sphenoid geschieht, wird also einen unmittelbaren Einfl uss auf alle Gesichtsknochen haben.

Während des normalen Atemzyklus, wenn sich die Synchondrosis sphenobasi-laris in Flexion bewegt, hebt sich das Os sphenoidalis an seiner rückwärtigen Ver-bindung mit dem Os occipitale; das vordere Ende des Os sphenoidalis senkt sich leicht, und das hintere Ende des Os ethmoidalis senkt sich mit, während sich sein vorderer Bereich hebt. Direkt unter der Lamina perpendicularis des Ethmoids sitzt das Vomer. Die Schaukelbewegung des Sphenoids und des Ethmoids erzeugt eine Bewegung im Vomer; und wenn das Sphenoid nach vorne abtaucht, beeinfl usst die Bewegung des Vomer den Sinus sphenoidalis durch das Rostrum. Zusätzlich werden die lateralen Seiten jedes Os frontale durch die großen, eckigen, frontosphenoidalen Gelenke nach außen mitgenommen. Bei der Inhalation werden sie nach lateral mit-genommen, bei der Exhalation nach medial. Aufgrund der Expansionsfähigkeit des Knochens selbst weiten sich die verschiedenen Sinus ethmoidales ebenfalls lateral während der Inhalationsphase und medial in der Exhalationsphase. Dieses Sich-hin-und-her-Bewegen der Sinus ethmoidales und frontales während der Inhalation und Exhalation wirkt wie eine Pumpe für ihre normale Drainage.

In Anbetracht all dieser Vorgänge, machen wir uns bei der Diagnose und Be-handlung von Sinusproblemen nicht allzu viele Sorgen über den Sinus selbst. Er ist das Endorgan, das sich beklagt; zur Inaktivität verdammt zeigt er die Störung tief

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len Funktion zurückgebracht wird, kann es eine Verzögerung bei der Auflösung aller damit zusammenhängenden Symptome geben. Chronisch gestaute Zellen wissen nur, wie man zu viel Schleim produziert. Gesündere Zellen, die nur so viel Schleim produzieren wie physiologisch nötig, sind aber erst dabei, sich zu entwickeln, und arbeiten sich erst allmählich an die Oberfl äche der Schleimhäute. In ernsthaft en Fällen dauert dies drei Monate.

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I–351Kapitel 8 – Klinische Überlegungen

nigstens da. Um die Auswirkungen der Prothese zu testen, bat ich ihn, diese wieder einzusetzen, während sein unwillkürlicher beweglicher Mechanismus mit Hilfe von Palpation überwacht wurde. Es gab eine sofortige Reaktion. Sein unwillkürlicher Kraniosakraler Mechanismus und seine faszialen Gewebe gingen in ein Muster der Extension und Innenrotation und die Funktionsphase der rhythmischen unwill-kürlichen Flexion und Außenrotation war nicht möglich. All das geschah inner-halb von 30 bis 60 Sekunden. Er nahm die Prothese wieder heraus und man konnte spüren, wie sich die alternierende unwillkürliche Bewegung wieder einstellte, in einem rhythmischen Gesundheitszyklus von 8 bis 10 Mal pro Minute. Ich riet ihm daraufh in, die Prothese nicht mehr zu verwenden.

Mit unterstützenden Behandlungen, die in einem Zeitraum von mehreren Mo-naten nur unregelmäßig durchgeführt wurden, da der Patient weit entfernt wohnte, wurde er allmählich seine Grand-Mal-Epilepsieanfälle und andere Einschränkun-gen los. Man fragt sich: Was wäre das Ergebnis seines Gesundheitsmusters gewesen, wenn er weiterhin diese Prothese benutzt hätte? Er selbst beantwortete diese Frage mit: »der Tod«, und damit physiologisch korrekt. Wenn man stirbt, gehen die Kör-permechanismen in Extension und Innenrotation.

Dieser extreme und ungewöhnliche Fall demonstriert ebenso wie die weniger trau-matischen Fälle, die ich noch beschreiben werde, die Notwendigkeit, zu wissen und zu verstehen, was Gesundheit in der unwillkürlichen anatomisch-physiologischen Mobilität und Funktion des Gesichts bedeutet. Das Gesicht ist der vordere Anteil des Kraniosakralen Mechanismus und liegt vor dem Neurokranium. Zum Kraniosakra-len Mechanismus gehören die Gelenkmechanismen des Os sphenoidalis, des Os oc-cipitalis, der Ossa temporalia, des Os frontalis bzw. der Ossa frontalia, und der Ossa parietalia, die in einer wiegenden Hin-und-Her-Bewegung bestehende Mobilität der reziproken Spannungsmembran sowie die in einem Ein-und-aus-Rollen bestehende Motilität des Zentralen Nervensystems, die Fluktuation des Liquor cerebrospinalis und die unwillkürliche Bewegung des Os sacrum zwischen den Ossa ilia.

Das Gesicht bilden 15 Knochen: der Os ethmoidalis, zwei Ossa zygomatica, zwei Ossa maxillaria, zwei Ossa palatina, das Vomer, zwei Ossa nasalia, zwei Ossa lacri-malia, die zwei unteren Conchae und die Mandibula. Im technischen Sinne gehört das Os ethmoidalis zur Schädelbasis, es wird aber hier mitbesprochen. Außerdem gibt es im Gesicht 79 gelenkige Verbindungen, im Neurokranium 43. Die Mecha-nismen der unwillkürlichen Mobilität des Gesichts werden – außer der vom Okzi-put und den Temporalknochen kontrollierten Mandibula – vom Sphenoid gesteu-ert. Das Sphenoid ist ein Teil der Hauptantriebswelle in der Schädelbasis, steht in

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I–353Kapitel 8 – Klinische Überlegungen

Wenn man die Komplexität der Gesichtsmechanismen bedenkt, wird einem klar, dass es viele Möglichkeiten gibt, wie membranöse Gelenkdysfunktionen im Zahn-bereich die inhärente, grundlegende unwillkürliche Mobilität des Gesichts stören können. Ich habe mit einem Zahnarzt über dieses Problem gesprochen, und er er-wähnte folgende Liste von Prozeduren, die zu traumatischen Resultaten führen kön-nen: ein nicht korrekt ausgeführter Ausgleich der Okklusion, Massenverkronung von Zähnen, eine nicht richtig genutzte Schiene für Probleme des Temporomandi-bulärgelenkes, und traumatische Extraktionen von Zähnen, die ein ungewöhnliches Wurzelsystem haben, um nur einige zu nennen.

Um einem Trauma bei der Extraktion von Zähnen so gut es geht vorzubeugen, schneidet er den Zahn auseinander, um jede Wurzel in der ihr eigenen Bewegungs-richtung ziehen zu können. Damit vermeidet er eine bei Extraktion des ganzen Zahns mögliche Verletzung der Mandibula. Mit dieser Diskussion möchte ich al-lerdings nicht andeuten, dass alle Prothesen, Schienen und Ähnliches von Nachteil sind – die meisten sind vorteilhaft auf spezifi sche Bedürfnisse eingerichtet.

Bei einem anderen Typus einer membranösen Gelenkdysfunktion im Zahnbe-reich nach einer Zahnextraktion sind Os temporale, Os sphenoidale, Os maxillaris und Mandibula betroff en. Auf der Seite der Dysfunktion fi ndet man Folgendes: das Os temporale ist mit seiner Pars petrosa in Innenrotation; der Proc. pterygoideus des Os sphenoidale ist nach oben und lateral gerichtet. Das Os maxillaris ist nach unten gezogen und die Mandibula steht in ihren Gelenken in einer Fehlposition. Die Mechanik einer solchen Dysfunktion kann in einem zahnärztlichen Behand-lungsstuhl mit V-förmiger Kopfstütze ihren Anfang nehmen. Das Okziput des Pa-tienten ruht auf dieser Kopfstütze, und es kommt zu einer Kompression auf die Partes mastoidea der Temporalknochen, direkt anterior vor der Sutura lambdoidea. Das Okziput und die Temporalknochen werden dadurch relativ unbeweglich – und nun wendet der Zahnarzt auf der anderen Seite eine seitliche Hebelkraft nach innen und unten an, was das sphenomandibuläre Ligament unter Spannung setzt und den Proc. pterygoideus auf der Dysfunktionsseite nach oben und außen schwingt.59

Die Resultate dieser Art von Traumen, bei dem die Funktionseinheit von Okzi-put, Temporale, Mandibula, Maxilla und Sphenoid betroff en ist, kann die Ganglia trigeminale und pterygopalatina beeinträchtigen und zu Symptomen wie einer Tri-

59 Anm. d. amerik. Hrsg.: Obgleich es solche mit V-förmiger Kopfstütze ausgestatteten Behand-lungsstühle heutzutage kaum mehr gibt, kommt es immer noch zu traumatischen Dysfunkti-onen.

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I–355Kapitel 8 – Klinische Überlegungen

Kapitel 8-7Das Auge

Praktische Anwendung des Kranialen Konzepts bei gewöhnlichen refraktiven und muskulären Störungen des Auges

Dieser Text datiert vom Januar 1958.Auf dem Gebiet der üblichen refraktiven und muskulären Störungen des Auges eröff net das Kraniale Konzept enorme Möglichkeiten. Wie weit Hilfe in solchen Fällen gehen kann, hängt allerdings zum einen vom Ausmaß der organischen Ein-schränkung in den jeweiligen Krankheitsprozessen ab und zum anderen von den Kenntnissen und Fähigkeiten des Behandlers als Techniker im Kranialen Konzept. Je vollständiger sein Wissen um den Kranialen Mechanismus ist, desto mehr Mög-lichkeiten zu einer Umkehrung der pathologischen Prozesse wird er sehen.

Störungen der Augenmuskulatur

Sie beruhen meist auf neurologischen Störungen in den Strukturen, die die betrof-fenen Muskeln innervieren. Zu solchen Störungen gehören zum Beispiel: Parese/Paralyse der äußeren Augenmuskulatur, Parese/Paralyse der assoziierten Augenbe-wegungen oder Blicklähmung, Störungen der Konvergenz und Divergenz sowie Pa-rese/Paralyse der intrinsischen Augenmuskulatur. Dazufügen sollte man Störungen des siebten Hirnnervs mit Einschränkungen der Lidspalte, und Mängel des fünft en Hirnnervs (also der Anteile, die die Augenhöhle betreff en).

Vollständige und teilweise motorische Lähmungen der äußeren Augenmusku-latur beeinträchtigen die verschiedenen Bewegungsmöglichkeiten des Auges. Stra-bismus, also eine Störung der Konvergenz und Divergenz, ist eine Abweichung des Auges, die der Patient nicht willentlich steuern kann. Die visuellen Achsen stehen in diesem Fall in einer Beziehung zueinander, die von der Normalität abweicht. Die verschiedenen Formen von Strabismus werden als Tropien bezeichnet, wobei die Vorsilbe jeweils die Richtung bezeichnet, wie in Esotropie und Exotropie.

Motorische Lähmungen vollständiger Art (Paralyse) oder partieller Art (Parese) können den dritten, vierten oder sechsten Hirnnerv oder eine Kombination aus diesen dreien betreff en. Dabei sind die klinischen Befunde unterschiedlich, je nach-dem, welcher Teil eines Nervs vor allem betroff en ist. Die pathologischen oder ein-

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I–357Kapitel 8 – Klinische Überlegungen

uns das Kraniale Konzept auf eine Reihe von potenziellen pathologischen Einfl üs-sen: Kompression der Synchondrosis sphenobasilaris, traumatisch bedingte Torsi-ons- oder Sidebending-Rotations-Muster, vertikale oder laterale Scherkraft muster, Kompression der Partes laterales des Okziput mit den Kondylen, die Partes petro-sae der Temporalknochen in einem ihrer diversen Muster und durch dentale Pro-bleme bedingte traumatische Muster. Auch hier sind das Tentorium cerebelli und das Sutherland-Fulkrum mit im Bild. Man erinnere sich daran, dass diese kranialen Nerven durch den Sinus cavernosus schlüpfen, durch Einfaltungen der Dura mater, nahe an den Proc.clinoidei posteriores. Daher können Störungen im Zug der Dura in diesem Bereich zu partiellen oder kompletten Nervenlähmungen beitragen.

Der nächste Bereich, den wir bedenken müssen, ist der Sinus cavernosus und das Gebiet des Chiasma opticum. Hier kann man potenzielle Primärdysfunktionen im Os sphenoidalis und seinen Beziehungen fi nden. Das Sphenoid ist eine der wichtigs-ten Knochenstrukturen in Bezug auf Augenpathologien. Es hat gelenkige Verbin-dungen mit allen Knochen des Neurokraniums und mit fünf der Gesichtsknochen

– den beiden Ossa zygomatica, den beiden Ossa palatina und dem Vomer. Seine Dys-funktionspotenziale sind so vielfältig wie sein Gelenklabyrinth. Das Os sphenoidale ist auch bei allen Dysfunktionen der Synchondrosis sphenobasilaris betroff en.

In Bezug auf den Sinus cavernosus muss man sich daran erinnern, dass er ein Teil des Membransystems ist, das die venöse Drainage des Auges unterstützt. Erkran-kungen, die die Membranen beeinträchtigen, so wie Enzephalitis, Meningitis und toxische Zustände, können ernsthaft e Auswirkungen haben, die in Störungen des Auges resultieren. Die Tonusqualität der meningealen Membranen muss perfekt sein, um eine gute venöse Drainage des Schädels und der Augenhöhlen sicherzu-stellen. Die Tonusqualität der Membranen nach einer Enzephalitis oder Menin-gitis oder in toxischen Zuständen kann mit nassem Karton oder mehreren Lagen feuchter Papiertaschentücher verglichen werden. Sie ist dumpf, fl ach und hat ihre Fähigkeit zur reziproken Spannung verloren. Mit diesem ernsthaft en Tonusverlust in der reziproken Spanungsmembran ist es fast unmöglich, eine Lösung von Dys-funktionen an den kranialen Strukturen zu erreichen. Kommt es zu einer Korrektur, während der Patient noch liegt, muss er nur aufstehen, um den Raum zu verlassen

– und sein gesamtes Dysfunktionsmuster kehrt zurück. Hier gibt es also viel zu ar-beiten, um die normale Tonusqualität wiederherzustellen, bevor man versucht, die knöchernen kranialen Muster zu korrigieren. Die Membranen, die durch Krankhei-ten in einen solchen Zustand geraten sind, scheinen sich am schnellsten zu erholen, wenn man einige Behandlungstermine lang die Mechanik des Liquor cerebrospi-

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keiten eines frei schwebenden, automatisch sich verändernden Fulkrums versteht, ist er in der Lage, die Funktionsabläufe des Kraniums und der Orbita zu befunden und zu beeinfl ussen.

Die kranialen Nerven passieren auf ihrem Weg zum Auge die Fissura orbitalis superior des Sphenoids, die Apex und die Orbita selbst. Die Augenmuskeln haben ihren Ursprung am Anulus tendineus communis. Dieser ist oval im Querschnitt, verschließt das Foramen opticum und einen Teil der medialen Seite der Fissura orbi-talis superior und besteht aus zwei Teilen: aus dem unteren Band von Lockwood, das an der unteren Wurzel der Ala minor des Os sphenoidalis befestigt ist und den Ursprung eines Teils der Mm. Rectus medialis und lateralis sowie des gesamten M. rectus inferior bildet, und aus dem oberen Band von Lockwood, das am Körper des Os sphenoidalis befestigt ist und den Ursprung des anderen Anteils der Mm. rec-tus medialis und lateralis und des gesamten M. rectus superior bildet.

Entstehen des Os sphenoidale:

Da die einzelnen Knochenanteile des Sphenoids sowohl bei partiellen wie totalen Lähmungen der Augenmuskulatur als auch bei Brechungsfehlern eine wichtige Rolle spielen, ist es angebracht, die Entwicklung des Os sphenoidale nochmals zu betrachten und uns vor allem anzusehen, wann die verschiedenen Wachstumszen-tren jeweils zu einem Teil des ausgereift en Sphenoids werden:

Bis zum achten Monat in utero besteht das Os sphenoidalis aus zwei verschie-denen Anteilen: einem hinteren Anteil bzw. Postsphenoid, zu dem die Fossa hypo-physialis, die Alae majores und die Proc. pterygoidei gehören, und einem vorderen Anteil bzw. Praesphenoid, zu dem der vordere Teil des Corpus und die Alae minores gehören. Es entwickelt sich aus 14 Zentren: 8 für das Postsphenoid und 6 für das Praesphenoid.

Im hinteren Teil des Os sphenoidalis erscheinen als Erstes die Ossifi kationszen-tren für die Alae majores. Ungefähr in der achten Woche in utero erscheinen sie zwischen dem Foramen rotundum und dem Foramen ovale, und aus ihnen entste-hen auch die Laminae laterales der Proc. pterygoidei. Kurz danach erscheinen die Ossifi kationszentren für den hinteren Teil des Corpus, jeweils auf einer Seite der Sella turcica. Diese beiden verbinden sich ungefähr in der Mitte des fetalen Lebens. Die übrigen vier Zentren erscheinen etwa im vierten Monat. Dabei verknöchern die Ossifi kationszentren für die Laminae mediales der Proc. pterygoidei aus Bindege-

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mit dem gesamten Muster der reziproken Spannungsmembran zusammen, weil es zum Zeitpunkt der Geburt noch keine Suturen im Schädel gibt. Daher hat man bis beinahe zum Ende des ersten Lebensjahres Zeit, um die gestörten Alae majores des Os sphenoidale zu behandeln, bevor sie ein Teil der permanenten Knochenstruktur des Sphenoids werden und sich weniger leicht verändern.

Die Orbita wird von sieben Knochen gebildet: dem Os sphenoidale mit seinen Alae majores und minores, dem Os ethmoidale, dem Os lacrimale, der Maxilla, dem Os zygomaticum, dem Os frontale und dem kleinen Proc. orbitalis des Os palatinum. Es ist die freie und leichte, normale gelenkige Beziehung zwischen diesen Einhei-ten, die zu einer normalen Funktion der Augenhöhle führt und zu einer normalen Funktion des Augapfels beiträgt. Ist eine dieser Einheiten gestört ist, kann dies zu einer Pathologie der Augenhöhle oder des Augapfels beitragen.

Innerhalb der Orbita gibt es 12 Muskeln: die sechs extraokulären Muskeln und den M. ciliaris, den M. dilatator pupillae, den M. sphincter pupillae, den M. orbi-cularis, den M. orbitalis und den M. levator palpebrae superioris. Um die sechs ex-traokulären Muskeln geht es bei der partiellen oder kompletten Lähmung der Au-genmuskulatur. Abgesehen vom M. obliquus inferior, der von der medialen Seite der Facies orbitalis der Maxilla entspringt, haben sie alle ihren Ursprung in der Umge-bung des Foramen opticum. Der M. obliquus superior verläuft von seinen Ursprung am Foramen opticum durch eine Trochlea, ein Arrangement wie ein Flaschenzug, auf der medialen Seite der Facies orbitalis des Os frontale. Alle sechs Muskeln ha-ben ihren Ansatz an der Sklera des Augapfels, in der Nähe des vorderen Pols. Der N. oculomotorius versorgt folgende Muskeln: den M. obliquus inferior, M. rectus inferior, M. rectus medialis, M. rectus superior, M. levator palpebrae und den M. sphincter pupillae. Der N. trochlearis versorgt den M. Obliquus superior, und der N. abducens versorgt den M. rectus lateralis.

Aufgrund dieser anatomischen Gegebenheiten können »Krumme-Zweig«-Mus-ter bzw. traumatisch bedingte Auswirkungen auf die Alae minores des Os sphenoi-dale die Mehrheit der Muskeln des Augapfels beeinträchtigen, die Folge eines Trau-mas des Os frontale kann die Aktionsfähigkeit des M. obliquus superior behindern, und ein Trauma, das die Maxilla trifft , kann den M. obliquus inferior stören. Selten jedoch beschränkt sich ein Trauma auf eine Knocheneinheit und meist werden seine Folgen auf alle knöchernen Anteile der Orbita übertragen. Praktisch jedes Kind, das mit einer ernsthaft en Plagiozephalie zu uns zur Diagnose kommt, wird eine Art Augen muskellähmung haben oder ein Brechungsproblem.

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I–363Kapitel 8 – Klinische Überlegungen

aufeinandertreff en. Bei der Presbyopie kommt es durch einen Elastizitätsschwund der Linse infolge des Alterns zu einer Einschränkung der Fähigkeit zur Nahakkom-modation; daher ist der Punkt, an dem man scharf sehen kann weiter vom Auge entfernt. Beim Astigmatismus wird der einfallende Lichtstrahl nicht scharf auf die Retina fokussiert, da die Brechungsoberfl ächen des Auges eine unregelmäßige Wölbung haben. All diese Probleme können einzeln oder zusammen beim Patien-ten auft reten. Solche Phänomene sind nicht feststehend – sie bleiben nicht jahraus, jahrein gleich.

Diese Tatsache, dass solche Refraktionsfehler einen veränderlichen Charakter haben, ist ein Hinweis darauf, dass man diese Muster ändern kann. Bei feststehen-den Mustern, wäre das Veränderungspotenzial sehr gering. Der Augapfel mit sei-nen inhärenten Brechungsoberfl ächen ist eine fl üssige Masse in einer Umhüllung aus Sklera und den Kräft en ausgesetzt, die seinen Wohnort, die Augenhöhle, um-geben.

Jedes Muster einer Refraktionsanomalie – ob Myopie, Hyperopie oder Astig-matismus – kann in verschiedene Klassifi zierungen und Beschreibungen unterteilt werden. An dieser Stelle sind wahrscheinlich die axialen Myopien und Hyperopien am interessantesten. Bei der axialen Myopie besteht eine Verlängerung des Augap-fels. Könnte das nicht mit einem Extensionsmuster des Schädels zusammenhängen, bei dem es zu einer verlängerten Augenhöhle kommt, die dann wiederum die Form des Augapfels beeinfl usst, so dass sich die einfallenden Lichtstrahlen bereits vor der Retina treff en? Und könnte die Ursache für eine axiale Hyperopie nicht ein Flexions-muster des Schädels sein, das die Augenhöhle und somit den Augapfel so verkürzt, dass die Lichtstrahlen hinter der Retina aufeinandertreff en? Bei einem ausgeprägten Torsionsmuster könnte ein Auge weitsichtig, das andere kurzsichtig sein. Das Glei-che könnte bei einem ausgeprägten Sidebending-Rotationsmuster auft reten, wenn auch nicht so stark.

Noch unterschiedlicher als die anderen Muster sind die des Astigmatismus. Es gibt mehrere Brechungsoberfl ächen im Auge, und der Astigmatismus wird nach dem Typus der Brechungsoberfl äche, um die es geht, benannt. Die Cornea, die Linse und die Glaskörperfl üssigkeit spielen alle eine Rolle bei diesen Störungen. Auch hier reagiert die Flüssigkeitsmasse des Auges in ihrer Umhüllung aus Sklera auf Ände-rungen in ihrer Umgebung. Spezifi sche Störungen, die mit Erkrankungen dieser Medien zu tun haben, tragen als wichtige Faktoren zu Astigmatismus bei. Jedes von der normalen Augenhöhlenfunktion abweichende Muster kann irgendeinen Typ von Astigmatismus zeigen. Wenn man Astigmatismus behandelt, ist es ratsam,

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I–365Kapitel 8 – Klinische Überlegungen

dem traumatischen Muster, das man beobachtet. Es ist eine physiologische Tatsache, dass man die kranialen Asymmetrien, die Schiefstellung der Augenhöhlen und die individuellem anatomischen Störungen dem Augenschein nach korrigiert hat, und die Symptome beim Patienten trotzdem wieder auft reten. Was hat man vergessen? Als der Patient in der Praxis war, hat eine Korrektur dieser gestörten anatomischen Einheiten zur Zufriedenheit des Behandlers stattgefunden, aber wenn man das Ge-samtbild verstehen will, muss man die Kraft erkennen, die dieses Bild hervorgebracht hat und immer noch als ein Fokus für das Muster agiert. Wenn der betreff ende Pati-ent in sein aktives tägliches Leben zurückkehrt, wird dieser zusätzliche Kraft fokus das frisch korrigierte anatomische Bild in eine Variation des ursprünglichen patho-logischen Phänomens zurückmodellieren. Die Kraft und ihr Fokus sind zu einer physiologischen Einheit geworden, die neben den anatomischen Einheiten besteht, und diese Einheit möchte die einzige reziproke Spannungsbalance etablieren, die sie kennt: die Balance des anatomisch-physiologischen Musters inklusive der Kraft .

Es ist daher unbedingt notwendig, den Fokus dieser Kraft zu verstehen und auf-zulösen, so dass die normalen anatomisch-physiologischen Muster des Patienten-körpers wieder ihre volle funktionelle Kapazität haben. Der Behandler kann lernen, diese Kraft felder im Problem des Patienten ziemlich gekonnt zu lesen, und dann ihre Aufl ösung zu leiten, indem er zum Zeitpunkt der Diagnose ein anatomisch-physiolo-gisches Bild des gesamten Musters erstellt, das so vollständig wie nur irgend möglich ist. Dadurch werden die normalen Faktoren des inhärenten lebendigen Körpers die Chance haben, die dem Bild hinzugefügten Kraft faktoren aufzulösen, so dass die normalen Faktoren wieder die Vorherrschaft im Körper des Patienten haben und die anwesenden Störungen korrigieren. Bei so einem Vorgehen ist eine lang anhaltende Besserung wesentlich wahrscheinlicher.

Das osteopathische und das Kraniale Konzept bieten mehr als nur palliative Er-leichterung. Sie fordern uns heraus, jeden Patienten, der zur Diagnose und Behand-lung zu uns kommt, mitsamt seinem Problem vollständig zu verstehen.

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Rollin Becker

Stille des Lebens

Die osteopathische Philosophie von Rollin E. Becker, D. O.Herausgegeben von Rachel E. Brooks, M. D.

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II–7

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II–10

1. Ann-Arbor-Seminar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II–14Weitreichende Diskussion über Osteopathie, das Wesen der Krankheit, die Rolle und Verantwortung des Behandlers und Dr. Beckers Behandlungsansatz. Mit eingefügt sind Diskussionen über: Prägungen durch Krankheit und Traumen, das Bezugnehmen auf Gesundheit statt auf Probleme, den Stillen Partner, den Prozess der Hingabe, persönli-che Leistungen, Lehren, die große Tide, Fulkren, das blockierte Sakrum und Schulter-steife.

2. Die Stille nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II–74Abschrift einer auf Tonband aufgezeichneten Unterhaltung mit Anne L. Wales, D. O. (1970er)Diskussion über: den Nutzen von Stille in einem Behandlungsprogramm, Stille als mo-tivierende Kraft , um Veränderungen sicherzustellen, und das Wahrnehmen von Stille mit dem Geist und den Händen.

3. Ein Konzept für Gesundheit, Trauma und Krankheit und die Technik für den rhythmisch balancierten Austausch . . . . . . . . II–81

Diskussion über die Stille des Lebens, Zeit, Raum und Bewegung als Manifestationen des Lebens in Gesundheit wie bei Traumen und Krankheit. Die Konzepte des rhythmisch balancierten Austausches, Potency, Fulkren und die Arbeit mit der Körperphysiologie. Eine schrittweise Beschreibung der Anwendung rhythmisch, balancierter Austauschtech-nik (RBAT) in einem Behandlungsprogramm. RBAT als Mittel, um den Zustand des Patienten und dessen Reaktion auf die Behandlung einzuschätzen. Praktische Anwen-dungen.

4. Was machst Du? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II–99Beschreibt, wie wir uns durch den Mechanismus führen lassen und einen Befund des Gesundheitsmechanismus nutzen können. Wasserläufer-Analogie. Den Mechanismus arbeiten lassen. Sich selbst schützen.

5. Vom Wissen zum Behandeln (1967) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II–107Vom Wissen zum Behandeln als die ideale Richtung des Flusses in der Osteopathie. Er-mutigung, weiter zu schauen als bis zu ossären Dysfunktionen und zum schlichten Mobi-lisieren von Dysfunktionen. Die osteopathische Dysfunktion als Eff ekt und der Zeitfaktor in der Diagnose. Physische, emotionale und mentale Ätiologien osteopathischer Dysfunk-tionen. Antwort des Nervensystems auf ein Trauma. Rolle des Behandlers.

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II–5Inhalt

12. Ebenen der Palpation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II–173Abschrift einer auf Tonband aufgezeichneten Unterhaltung mit Donald Becker, M. D. (1967)Vergleich der Konzepte von Struktur-Funktion und Funktion-Struktur. Vorschläge für die Entwicklung palpatorischer Fähigkeiten durch Einbeziehen der gesamten oberen Ex-tremität, der Propriozeption und eines Fulkrums.

13. Korrespondenz: William G. Sutherland, D. O. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II–178Beinhaltet auch einen Brief von Dr. Beckers Mutter an ihren Sohn Rollin.

14. Korrespondenz: Anne L. Wales, D. O. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II–218

15. Korrespondenz: Kollegen und Freunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II–226

16. Geschichten von Dr. Becker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II–237Anekdoten, die Klarheit in Dr. Sutherlands Gebrauch von Aussagen wie »Wenn Sie den Mechanismus verstehen …« und »hinter dem Vorhang« bringen. Zusätzlich ein Beispiel von Dr. Beckers persönlicher Herangehensweise ans Leben.

17. Selbstbehandlungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II–239Selbstbehandlung bei chronischer Sinusitis und das Anwenden der Übung »Ich bin in der Stille« als therapeutisches Werkzeug.

18. Überlegungen und Einsichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II–242Eine Sammlung kurzer Texte, in denen Dr. Becker seine Gedanken und Ideen aus-drückt.

19. Leitgedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II–248Zitate von Persönlichkeiten, die Dr. Becker beeinfl usst haben. Die Bereiche Osteopathie, Medizin, Wissenschaft , Natur, Spiritualität und Lebens-Leitlinien werden abgedeckt.

Über die Sutherland Cranial Teaching Foundation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II–261

Über die Herausgeberin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II–262

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Vorwort

Die Stille des Lebens, der zweite Teil von Dr. Rollin Beckers Arbeit, dient als Begleit-werk für das zuvor erschienene Buch Leben in Bewegung. Dieses enthält hauptsäch-lich Texte, die Dr. Becker in der Öff entlichkeit vorgestellt hat, während Stille des Lebens überwiegend seine eher persönliche Kommunikation beinhaltet. Hier fi nden Sie eine weitreichende Auswahl von Diskussionen über osteopathische Th emen. Am einen Ende dieses Spektrums stehen durchdachte Ausführungen zu grundlegenden Konzepten, mit denen Dr. Becker seinen Sohn während seiner frühen Phasen in der Praxis berät, am anderen Ende Dr. Beckers Versuche, unbeschreibliche energetische und spirituelle Aspekte, wie er sie verstand, in Worte zu fassen. Er artikulierte man-che dieser Gedanken in öff entlichen Foren, einige aber wurden nur in persönlichen Gesprächen, in privater Korrespondenz oder persönlichen Überlegungen geäußert oder zu Papier gebracht.

Während einer meiner Besuche bei Dr. Becker, nachdem er in den Ruhestand gegangen war, sprachen wir über die Dinge, die er vorgezogen hatte, nicht öff ent-lich zu erwähnen. Ich fragte ihn ausdrücklich, ob er meinte, die Zeit sei reif, diese Ideen herauszubringen. Er antwortete, dass er tatsächlich dieser Meinung sei, und gab mir die Erlaubnis, es zu tun.

Die Beiträge in diesem Buch stammen aus dem Zeitraum von 1949–1987. Das Material ist bis auf einige Ausnahmen in umgekehrter chronologischer Reihenfolge zusammengestellt – und zwar in dem Glauben, dass es für diejenigen, die ihm folgen möchten, am besten ist, dort zu beginnen, wo er seine Ideen zu Ende gedacht hat. Seine früheren Aufzeichnungen enthalten jedoch wichtige Ansätze. Sie zeigen die Entwicklung seiner Ideen und helfen uns, die späteren Fassungen zu verstehen. Sie zeigen zudem seine starke Überzeugung von der Bedeutung ständigen Beobachtens und Refl ektierens. Dargestellt werden auch Konzepte, die er später verwarf – man-che, weil er zu der Überzeugung gelangt war, sie seien falsch, andere, weil er das Ge-fühl hatte, sie nicht adäquat wiedergeben zu können.

Dementsprechend gibt es in diesem Werk Ausdrücke, die selten in öff entlich zugänglichen Arbeiten erscheinen. Manche, wie Kraft quelle, scheinen fallengelas-sen worden zu sein; andere, wie der Stille Partner, wurden dem privaten Gebrauch vorbehalten.

Kein Gedanke in diesem Buch beansprucht für sich, die Wahrheit darzustellen. Jeder Gedanke sollte in seinem Zusammenhang betrachtet werden. Manche Begriff e wie Stille und Ursache werden zu unterschiedlichen Zeiten mit anderer Bedeutung

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II–9Vorwort

schufen einen außergewöhnlichen Weg, den ich beschreiten konnte, und sie inspi-rierten meine ganze Arbeit. Eine Widmung von Chetananda drückt diese Gefühle aus:

» … an Dr. Rollin E. Becker, dessen Lebenswerk wir in höchsten Ehren halten. In-dem er das Heilungspotenzial in der Dynamischen Stille demonstrierte, diente er der Menschheit zutiefst.«

Rachel E. Brooks, M. D.

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II–11Einführung

Begrenztheit zu. Selbst dann, wenn es so schien, als verstünden andere Behandler, was er sagte, fand er doch wenige, die daran interessiert waren, diese Arbeit intensiv für sich selbst weiterzuverfolgen.

Dr. Beckers Widerstreben, seine Ideen auszudrücken, war vermutlich auch durch Dr. Sutherlands Unterrichts-Philosophie beeinfl usst. Anne Wales D. O., eine an-dere Studentin von Dr. Sutherland, erzählte, Sutherland habe nur das unterrichtet, von dem er glaubte, jeder im Publikum sei so weit, es zu hören. Sein Ziel war es, jeder Zuhörerschaft genau das nächste Stück an Information zu geben, das sie für ihr Voran kommen in dieser Arbeit brauchte. Er deutete künft ige Möglichkeiten an, aber oft in Form von Anspielungen, so dass der interessierte Student zwischen den Zeilen lesen musste. Gemäß dieser Strategie kam es oft vor, dass Dr. Sutherland eine Sache in öff entlichen Foren sagte und etwas anderes im Austausch mit seinen engen Studenten.

Ähnlich vorsichtig war auch Dr. Becker mit dem Präsentieren von Konzepten, von denen er glaubte, seine Studenten seien noch nicht bereit, sie zu verstehen.

Wie ich bereits in der Einführung von Life in Motion sagte:»In Dr. Beckers Händen fokussierte sich die Osteopathie auf ›Leben in Bewegung‹

und Stille … Er verstand also, dass sich Leben als Bewegung zeigt, und ebenso war ihm klar, dass die Kraft des Lebens in der Stille wohnt … Alles Leben entspringt dieser Kraft , deren Wesen Stille ist – eine dynamische Stille voller Potenzial; eine Stille, die zu palpieren man genauso gut lernen kann, wie man Bewegung palpiert. Diese Eigen-schaft en des Lebens, Bewegung, Potency und Stille sind alles Ressourcen, die uns beim Wiederherstellen der Gesundheit zur Verfügung stehen.«

In den meisten Lehrveranstaltungen legte Dr. Becker mehr Wert auf Bewegung als auf Stille, weil das Konzept der Bewegung und die für seine Nutzung erforderli-chen Fertigkeiten leichter zu erfassen sind. In seinem eigenen Denken und in seinen privaten Gesprächen betonte er jedoch die Stille. Ein weiterer Grund für Dr. Beckers Betonung der Bewegung in seinen Lehren, war seine Überzeugung, dass jede neue Ebene des Verstehens auf das Wissen, das man bereits erworben hat, aufbaut und darin integriert wird. Indem er das Konzept der Stille, mit allem was es bedeutet, mit einbezog, wertete er das, was er bisher gelernt hatte, keineswegs ab. Nie sprach er davon, eine erlernte Fertigkeit hinter sich zu lassen; stattdessen arbeitete er ständig daran ihre Anwendung zu verfeinern. Seine Lehren begannen mit den Grundlagen, denn damit muss selbst der begabteste Student anfangen und sich dann vervoll-kommnen. Wie Dr. Sutherland versuchte er aber, auf noch kommendes Wissen und künft ige Fähigkeiten hinzudeuten.

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II–13Einführung

zu-eins-Beziehung zum Göttlichen hat und dafür verantwortlich ist. Er glaubte, dass nichts tiefer geht und nichts einfacher ist als diese Beziehung. In seinem Leben und seinem Praktizieren der Osteopathie strebte Dr. Becker danach, sich vollkommen auf seinen »Stillen Partner« oder den »Boss«, wie er ihn nannte, zu verlassen. In einem Seminar im Mai 1979 sagte er: »Ich liebe meine Arbeit und bin dankbar, dass ich sie tun darf. Letztlich hat sie nichts mit irgendeinem anderen zu, aber es ist wun-derbar, die Gelegenheit zu haben, an den Kontakt mit dem ›Stillen Partner‹ erinnert zu werden und sich ihm immer und immer wieder hinzugeben. Diese Gelegenheit ist bei all den Fällen, die ich sehe, vorhanden und das ist eine gute Sache.«

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II–15Kapitel 1 – Ann-Arbor-Seminar

Ideen aus, geriet in Sackgassen, ging zurück, wenn sich nichts tat, und probierte eine andere Richtung aus. Allmählich, nach fünf Jahren, hatte ich ziemlich gut heraus-gefunden, wie ich mit der Arbeit beginnen konnte. Ich war in der Lage, einige der Dinge, die mir der Körper des Patienten erzählte, zu verstehen und damit zu koope-rieren, bis zu jenem Punkt, an dem mir das Problem des Patienten etwas beibrachte. Mit diesem Ansatz fi ng ich an, den Grund für die Resultate bei den einzelnen Pati-enten zu begreifen. Als ich Michigan verließ, behandelte ich auf jene Art und Weise und so mache ich es auch heute noch.

Ich hatte schon einige Zeit überlegt, von Michigan nach Texas umzusiedeln, aber als es sich dann endlich ergab, dauerte es von meiner endgültigen Entscheidung bis zum Umzug gerade mal drei Wochen. Das war gelinde gesagt ein sehr rascher Wech-sel; mehr als 200 Patienten kamen zu mir und sagten: »Uns gefällt, was Sie tun. Wir mögen die Art von Behandlungen, die Sie jetzt machen. Es wirkt besser als Ihre fr ühe-ren Behandlungen. Wir müssen weniger oft zu Ihnen kommen und bleiben gesünder zwischen den Behandlungen. Wir wollen mit dieser Art von Behandlung weiterma-chen. Wen können Sie uns empfehlen?« Nun, es gab niemanden. Und glauben Sie es oder nicht, es war das erste Mal, dass mir jemand sagte, dass ihm gefi el, was ich tat.

Als ich nach Texas kam, machte ich mir gar nicht erst die Mühe, eine allgemein-medizinische Praxis aufzubauen. Ich praktiziere keine »Allgemeinmedizin«. Ich habe keine Kooperationen mit Krankenhäusern. Ich verordne nichts. Ich habe nichts anzubieten. Ich habe nur einen Praxisraum mit einer Behandlungsbank und ich behandle. Tatsächlich war ich niemals der primäre Arzt und ich sage immer noch: Der Patient ist der primäre Arzt. Alles, was ich tue, wirkt unterstützend zu den anderen Anwendungen, die die Patienten erhalten. Wenn sie wegen eines Kar-zinoms, eingewachsener Zehennägel oder was auch immer zu anderen Ärzten gehen, ist meine Behandlung als unterstützend zu diesen anderen Behandlungen anzuse-hen. Ich assistiere ihrem Körper beim Nutzen der Ressourcen, die für sein spezielles Muster der Gesundheit verfügbar sind. Das ist das einzige Ziel bei der Behandlung: Die einzige Absicht ist es, die gesamten Ressourcen der patienten-eigenen physiolo-gischen Strukturen zu erwecken.

Osteopathische Prinzipien

Das grundlegende Prinzip, das A. T. Still erklärte, war, dass der Körper ein lebendi-ger, atmender, dynamischer Organismus ist, der alle Ressourcen und Möglichkeiten hat, das Notwendige zu tun, wenn du ihn in ein physiologisches Gleichgewicht brin-

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II–17Kapitel 1 – Ann-Arbor-Seminar

Einfach? Lasst uns genauer hinschauen: Die Worte »… werden meine volle Über-zeugung wahrnehmen, dass der Verstand Gottes in der Natur …« sagen uns, dass die Natur den Körper bereits erschaff en hat. Du brauchst dir keine Sorgen darum zu machen. Er ist hier – und er hat »… seine Planungsfähigkeit – sofern Pläne nötig sind –« Denkt darüber nach. Wenn du im Zustand vollkommener Gesundheit bist, brauchst du keine Pläne; alles existiert und Pläne tauchen automatisch auf. Sie sind vielleicht notwendig, aber du musst sie nicht erschaff en. Sie sind da; der Geist der Natur hat diesen Organismus bereits erschaff en.

Dann spricht Dr. Still vom Erschaff en »selbst organisierender Gesetze ohne Mus-ter«. Ein gesunder Zustand ist ein Zustand ohne Muster. Wenn du ein Muster hast, hast du eine Dysfunktion, eine Krankheit oder ein Problem. Wenn du kein Problem hast, hast du kein Muster. Einfach? Das trifft für alle Formen belebten Seins zu, im Kleinen wie im Großen. Alles ist für seine Aufgabe mit seiner eigenen Batterie, sei-nen eigenen Kräft en, Säft en und allem anderen ausgerüstet. Alles ist darin enthalten. Es ist nur die Frage, ob du als Behandler die Kunstfertigkeit erlernen kannst. Nicht jene der Manipulation, sondern die Kunstfertigkeit der lebendigen Palpation, die buchstäblich eintaucht und mit bereits Vorhandenem arbeitet. Das ist alles, was er zu sagen versucht. Einfach?

Hier ist ein weiteres Zitat von A. T. Still. Dabei sagt er das Gleiche noch ein-mal:

»Jemand hat einmal gesagt: ›Das Leben ist die ruhige Kraft , die von der Gottheit vorgeschickt wird, um die gesamte Natur lebendig zu machen.‹ Lassen Sie uns dies akzeptieren und so handeln, als ob es die Wahrheit wäre. Das Leben ist jene vom Ver-stand des Universums gesandte Kraft , welche die gesamte Natur bewegt. Lassen Sie uns alle Energien darauf verwenden, diese Lebenskraft im Ausgleich zu halten, indem wir das Haus des Lebens vom Fundament bis zur Kuppel in guter Form halten.« 3

Dr. Still wusste um den kraniosakralen Mechanismus – seine Schrift en zeigen es – , aber er erklärte ihn nicht. Dr. William Garner Sutherland machte sich daran, ihn auszuarbeiten. Anders gesagt: Dr. Sutherland vollendete die Anatomie und Physio-logie des Kopfes und des Sakrum in ihrem Zusammenwirken mit dem Rest des Kör-pers. Er hat seine Arbeit nie von Dr. Stills Arbeit unterschieden. Für ihn war seine

3 Still A. T.: Das große Still-Kompendium. 2. A., Band III: Die Philosophie und mechanischen Prinzipien der Osteopathie, JOLANDOS, 2005, S. III-60.

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II–19Kapitel 1 – Ann-Arbor-Seminar

für diesen Teil des Nervensystems von essenzieller Bedeutung, sich frei mit seiner Umgebung auszutauschen. Es gibt jedoch keinen einzigen Anteil, der wichtiger wäre als ein anderer.

Dr. Sutherland glaubte fest daran, dass der Liquor cerebrospinalis in Bezug auf Qualität, das wahrscheinlich höchste bekannte Element im menschlichen Körper sei.4 Er beschrieb eine Beziehung zwischen dem »Atem des Lebens« und der Fluk-tuation des Liquor cerebrospinalis.5 Wir sagten bereits, dass die Fluktuation des Liquor cerebrospinalis wie die Tiden des Ozeans ist – nicht die Wellen sondern die Tiden. Damit Tiden entstehen können, muss es eine Flut, einen Pause-Ruhe-Punkt, eine Ebbe, einen Pause-Ruhe-Punkt, eine Flut usw. geben. Am Fulkrum-Punkt, also am Punkt, an dem die Tiden die Richtung wechseln, befi ndet sich auch der Punkt, an dem der Atem des Lebens sich mit dem Liquor cerebrospinalis austauscht. Er wird dann dabei in niedrigere, vom Körper benötigte Energien umgewandelt.

Er ist vergleichbar mit dem elektrischen Strom, der in 44.000-Volt-Leitungen in eine Stadt eingespeist und dann auf 110 Volt hinuntergeschaltet wird, damit wir ihn nutzen können. Ähnlich ist es mit dem Atem des Lebens, der mit voller Potency in den Liqour cerebrospinalis gelangt. So lautet Dr. Sutherlands Konzept und ich werde ihm nicht widersprechen. Ich bin seiner Meinung. Ich bin seiner Meinung, nicht weil ich die Worte akzeptiere, sondern weil ich die damit verbundene Erfah-rung akzeptiere.

Wenn wir mit dem Liqour cerebrospinalis arbeiten, können wir seine Balance verändern. Wir können sein Fluktuationsmuster verändern. Es gibt Wege, mit de-nen wir den Liqour cerebrospinalis buchstäblich zum Stillstand bringen können.

4 Anm. d. Hrsg.: Auf den Ausdruck »Liquor as the highest known element« stößt man auch in den Schrift en A. T. Stills. Bereits in der englischen Version seiner Abhandlung über das Zen-trale Nervensystem fi ndet sich beim schwedischen Universalgelehrten Emanuel Swedenborg (1688-1772) dieser Satz. Swedenborg selbst wiederum verweist hier v. a. auf den berühmten ita-lienischen Anatomen Giovanni Morgani (1682-1771). Inwieweit Still bzw. Sutherland Zugang zu Swedenborg’s englischer Version seiner Abhandlungen über das Zentrale Nervensystem, Th e Brain bzw. Th e Cerebrum hatte, ist derzeit Gegenstand historischer Forschungsarbeiten. Off ensichtlich ist aber Swedenborg einer der geistigen Väter dieses für die Osteopathie so zen-tralen Diktums.

5 In Einige Gedanken sagte Dr. Sutherland: »Das menschliche Gehirn ist ein Motor. Der ATEM DES LEBENS ist ein Zündfunke für den Motor – etwas, was nicht stoff lich ist, und das wir nicht sehen können.« [Sutherland, W. G. & A. S.: Das große Sutherland-Kompendium. Band II: Einige Gedanken, JOLANDOS, 2004, S. II-140]. Und weiter: »Da machte Gott der HERR den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen (Genesis 2;7).« [dito: S. II-137].

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II–21Kapitel 1 – Ann-Arbor-Seminar

ich mich nicht darüber beschweren, dass es Monate gedauert hat – es hat mich fünf Jahre gekostet, Dr. Stills Defi nition von Osteopathie in eine bewusste, bei den Be-handlungen palpatorisch nutzbare Erfahrung zu übersetzen. Etwas zu lesen oder zu hören ist gut, aber es vergeht viel Zeit, bis unsere sensorischen Impulse herausfi nden, was gesagt wurde. Der Tastsinn ist sehr dumm.

Das Wesen der Krankheit

Frage: Wie kommt es, dass der Körper aus dem Gleichgewicht gerät und damit die Entstehung der Krankheit ermöglicht?

Es würde hier zu weit führen, darüber zu sprechen, aber ich kann Folgendes dazu sagen: Vor zehn Tagen habe ich mich bei einem Baby angesteckt, das mit einer Erkäl-tung zu mir kam. Das war ein Kind mit Zerebralparese, das zufällig eine Erkältung hatte, und ich war unglücklicherweise etwas müde und habe mich angesteckt. Wenn deine eigenen Ressourcen etwas geschwächt sind, ist die Tür für alles Mögliche ge-öff net. Gleichzeitig besitzt du aber auch alle nötigen Ressourcen, um damit fertig zu werden. Krankheit ist nur ein chemischer Prozess, der aufgrund von Schwin-gungen von Bakterien oder Viren oder anderen Sachen entsteht, sie ist schlichte Chemie. Diejenigen, die Homöopathie oder Akupunktur studieren, würden das Gleiche sagen.

Wenn du eine Krankheit hast, die das System an den Punkt bringt, wo es sich nicht mehr erinnern kann, wie es sich selbst reparieren soll, wird es ein Muster bil-den. Nimm beispielsweise einen chronischen Fall von Malaria, Tuberkulose oder Typhus. Heute treten diese Krankheiten nicht mehr oft auf, aber in den Tagen, bevor es Antibiotika gab, sah ich beim Praktizieren, dass der Körper sich allmählich rege-nerierte, so gut er das vermochte. Als Resultat funktionierte die Person jedoch mit einer Prägung durch diese Krankheit. Dieser durch die Krankheit in ihrem System entstandene, chronisch geschwächte Zustand wurde in alles, was sie tat, mit einbezo-gen. Auf eine bestimmte Art hatte sie immer ein bisschen Malaria, sie war immer da. Bei jedem folgenden Prozess, gleich was passierte, war da ein Programm, das an jede Zelle im Körper meldete: »Du musst mich mit einbeziehen, ich sitze dir im Nacken, und ich gehe nicht runter.« Das Nervensystem hatte das Muster aufgeschrieben.

Ein schönes Beispiel für diese Art der Prägung durch ein Trauma geschah bei einem Freund von mir. Er arbeitete an einem Oberlicht, die Leiter zerbrach und er fi el hinunter, schob buchstäblich seine Tibia nach oben und zerschmetterte da-

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II–23Kapitel 1 – Ann-Arbor-Seminar

Problemen dazu neigt, sich anzupassen und dann sagt: »Wenn ich damit leben muss, dann ist es halt so.« Findest du andererseits, durch Palpation oder durch andere Fä-higkeiten, Wege, das System dazu zu bringen, aufzuwachen und hinter diese Anpas-sung zu schauen, ist dort auch etwas, das sagt: »So bin ich in Wirklichkeit.« Wenn du das erwecken kannst, löscht es das andere.

Ich verstehe diese Sache mit den Krankheitsmustern – das heißt die Art und Weise, wie der Körper in Bezug auf irgendein Krankheitsmuster arbeitet – so, dass der Körper sich damit in gewisser Hinsicht arrangiert. Es handelt sich nicht lediglich um ein Muster, das auft aucht und sich über das bereits existierende legt, der Körper bringt sich vielmehr selbst in ein neues Gleichgewicht. Indem er mit der Krankheit umgeht, so gut er es vermag, muss der Körper sich auch weiter mit dem allgemeinen Prozess des Lebens auseinandersetzen. Einfach dadurch, dass der Körper sich auf die Krankheit beziehen und mir ihr umgehen muss, fügt er sie automatisch in das Muster seiner eigenen Fluktuation ein.

Frage: Dann ist also der ganze Körper auch an einem lokalen Krankheitsprozess beteiligt?

Das stimmt. Alles ist überall vollständig beteiligt.Wir geben Krankheiten Namen wie Pfeiff er’sches Drüsenfi eber, Windpocken,

Mumps oder Masern, weil wir über die Jahrhunderte gelernt haben, diese Sympto-menkomplexe so zu defi nieren. Jedes dieser Dinge trägt einen Faktor dazu bei. Ein bestimmter Virus erzeugt eine bestimmte Art von Musik. Mumps-Musik ist anders als Masern-Musik und Masern-Musik ist anders als Windpocken-Musik, aber in jedem Fall ist da eine klinische Einheit, die eine Melodie spielt. Wenn der Körper dieses Muster in sein Dasein einbringt – und er bringt es in sein gesamtes Dasein ein – und auf die effi zienteste Art mit diesem bestimmten Muster umgehen könnte, dann würde ganz einfach er die Melodie spielen. Er würde die Nadel auf die Platte legen und die ganze Melodie abspielen. Und wenn er die ganze Melodie abgespielt hätte, wäre die Platte wie unberührt. Du könntest von Neuem anfangen, kein Mus-ter wäre mehr vorhanden.

Mit anderen Worten: Der Körper würde im Idealfall die Erreger nehmen und sich mit ihnen auseinandersetzen. Er würde durch den ganzen Prozess der Entzün-dung, geschwollenen Lymphknoten usw. gehen und hätte am Ende alle Probleme korrigiert. Wenn du die Krankheit dann durchgestanden hättest, ginge es dir ge-nauso gut wie vor deinem Kontakt mit dem Erreger. So würde es ablaufen, wenn du effi zient damit umgehen und die Schlacht off en ausgetragen könntest. Allgemein

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II–25Kapitel 1 – Ann-Arbor-Seminar

sönlichen Meinung nach überstehen sie sie in solchen Fälle aber nicht wirklich. Ich glaube, sie passen sich eher an.

Frage: Schwächen sie den Körper nicht, weil er ja nicht durch einen Stärkungspro-zess gehen konnte?

Das kann ich nicht beantworten. Aber ich glaube nicht, dass sie danach dieselben Menschen sind, die sie hätten sein können, wenn sie die Gelegenheit gehabt hätten, mit dem Feind einen off enen Kampf auszutragen und alles auszuräumen. Hätten sie off en kämpfen können, wären sie gesünder, als wenn sie den Weg über Antibio-tika gewählt hätten.

Frage: Also siehst du die Arbeit der Antibiotika nicht als Ergänzung zu dem, was du tust?

Nun ja, ich bin sicher, sie sind ergänzend. Ich habe das sichere Gefühl, dass die Behandlung, die ich einsetze, den Antibiotika hilft , sich so zu benehmen, wie sie sollten. Ich bin sicher, die Behandlung ermuntert die ganzen Ressourcen des Körpers und die Antibiotika dazu, ihr Ding zu tun. Meine Patienten nutzen alle eine große Bandbreite von Ressourcen, um sich zu unterstützen. Ich praktiziere nicht mehr Allgemeinmedizin. Ich mach’ einfach bei jedem Problem, das der Patient mir zeigt, mein Ding und überweise ihn dann weiter in eine andere medizinische Versorgung, wenn es denn notwendig ist.

Ich möchte eine Sache klarstellen: Soweit es mich angeht, ist jede Form der Be-handlung, die ein klinisches Ergebnis erzielt, legitim. Es gibt keine Behandlung, die vorrangig ist. Mir ist es gleich, ob von Medizin, Chirurgie, Psychologie oder was auch immer geredet wird. Ein Patient ist ein Patient ist ein Patient. Und welche Techniken auch immer zu seiner Gesundung beitragen, die solltest du einsetzen. Wenn du Medizin benutzt, ist das eine unterstützende Maßnahme, damit es dem Patienten besser geht. Wenn du Psychologie benutzt, ist das eine unterstützende Be-handlung, damit es dem Patienten besser geht. Wenn du Chirurgie einsetzt, ist das ein unterstützendes Manöver, damit es dem Patienten besser geht.

Frage: Manche Leute sehen Krankheit als Lektion oder etwas Positives an.Daran glaube ich nicht. Ich bin nicht stolz darauf, eine Erkältung zu bekommen.

Darin ist keine Lektion enthalten. Ich habe an der richtigen Stelle, zur richtigen Zeit, mit dem richtigen inneren Milieu gesessen und plötzlich habe ich einen Fremden in meiner Mitte. Tolle Leistung.

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II–27Kapitel 1 – Ann-Arbor-Seminar

zu einer Freiluft veranstaltung. Erst in der folgenden Woche jedoch, also acht Tage später, kehrte ihre normale Vitalität zurück. Hieraus lernte ich, dass Pneumonie eine Krankheit von acht Tagen Dauer ist. Innerhalb dieser Zeit durchlief meine Tochter den gesamten Krankheitsprozess, einschließlich der roten und grauen Stadien der Hepatisation. Sie tat dies aber auf dem höchsten Effi zienz-Level und war innerhalb von acht Tagen damit durch.

Die Nachbarn glaubten natürlich nicht, dass sie sich von einer Lungenentzün-dung so schnell erholen hatte können. Sie hielten mich für einen Quacksalber, der das Problem nicht richtig erkannt hatte. Aber es zeigt, wie der von der Natur erschaf-fene Energiefl uss die Sachen tun kann, die er tun soll. Es ist ein schönes Beispiel für die Arbeit, die die Natur verrichten könnte, wenn man sie nur ließe.

Die Rolle des Behandlers

WENN DU EIN OSTEOPATH WER DEN MÖCHTEST, musst du dein Ego aufgeben. Wenn du das schaff st, bist du kein Arzt mehr. Kein Patient kommt zu mir in meine Praxis, um den Arzt zu sehen. Ich bin kein Arzt und ich bin kein Lehrer. Der Patient ist der Arzt und der Lehrer. In der Tat ist nicht einmal der Patient der Patient. Der Mechanismus, den er bei mir in der Praxis lässt, damit ich daran arbeite, ist der Lehrer und der Arzt. Wenn ich darauf bestehe, der Arzt und Lehrer zu sein, kann ich lediglich raten, was benötigt wird. Wenn ich dem Patienten zuhöre, den Worten, Emotionen, Gedanken und dem Ego, erhalte ich nicht das wahre Bild. Ich muss dahinter schauen und sehen, was sie antreibt. Dann verschwinden selbst sie.

Trotzdem möchte das Ding, das sie als Problem bezeichnen, Aufmerksamkeit ha-ben. Also kümmere dich darum. Aber tue es, indem du ihm zuhörst. Ich habe kein Ego mehr; es ist nicht meine Behandlung. Ich gebe keine Behandlungen. Je schneller wir lernen können, aus dem Weg zu gehen, desto besser. Das trifft nicht nur auf Me-dizin zu, sondern auch auf alle anderen Bereiche. Wenn du ein Ingenieur bist und eine Brücke bauen willst, musst du eine Idee haben, wie du es machen willst, aber es ist die Brücke selbst, die zählt. Wenn du in einer Behandlung beiseitetreten kannst, dann kann das, woran du arbeitest, sich eher zu dem entwickeln, was es werden soll, als wenn du versuchst, Anweisungen zu geben.

Bei alle dem gehen wir davon aus, dass du als lebendes Wesen buchstäblich die Erfahrung eines anderen lebenden Wesen teilst. Ich kann ein Lehrer sein für diese Pfeife, die ich rauche, und sie auseinandernehmen, denn sie ist relativ unbelebt.

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lungsbank. Ich schiebe meine Hände unter seinen Rücken, sitze da und versuche zu fühlen, was geschieht. Ich schließe meine Augen und fühle mich sofort, als würde ich durch ihn hindurchspüren können, und mein Empfi nden ist, dass ich bis an die Zimmerdecke hinaufgelange. Es fühlt sich so real an, dass ich meine Augen zum Überprüfen öff ne und mich frage: »Was passiert hier eigentlich?« Alles sieht nor-mal aus, ich schließe wieder meine Augen und sofort gehen wir wieder hinauf zur Zimmerdecke. Dieses Mal sage ich: »Okay, ich schätze, ich lasse mich darauf ein. Ich bleibe einfach dabei.« Wir bleiben ungefähr zehn Minuten da oben, dann passiert etwas und es fühlt sich an, als schwebten die Dinge wieder zurück in meine Hände, bis nur derjenige übrig bleibt, der auf der Behandlungsbank liegt. Er fühlt sich nun wie er selbst und hat einfach nur ein gebrochenes Handgelenk.

Kannst du analysieren, was passiert ist? Es ist ganz schlichte Physik, nichts Kom-pliziertes. Wenn auf dem Beifahrersitz neben dem Mann, der mit seinem Auto auf das andere Auto aufprallte, ein Eimer voll Wasser gestanden hätte, wohin wäre die-ses Wasser gegangen? Direkt in Richtung Aufprallpunkt. Was tat also das Wasser im Körper des Mannes zu dieser Zeit? Sein gesamter Flüssigkeitsmechanismus strebte zur Fahrzeugfront hin, zum Aufprallpunkt. Als ich vierundzwanzig Stunden da-nach meine Hände unter den Patienten legte, ging jedes Gramm Flüssigkeit und die Energie in ihm direkt auf die Zimmerdecke zu, dem Aufprallpunkt entgegen. Sie ging zu einem Fulkrumpunkt, am Ende einer Tide. Es war ein Flüssigkeitsmecha-nismus, der durch einen Autounfall dort hinausgetrieben wurde.

Der Flüssigkeitsmechanismus ging da hinaus und blieb dort, weil er noch durch einen Vorwärtsschub angetrieben wurde. Ich schätze, man könnte es als eine Art »schwebende« Verletzung bezeichnen. Ein schwebendes Energiefeld wurde erzeugt. Warum? Ich weiß es nicht – es war einfach so. Der Flüssigkeitsmechanismus und das Energiefeld wurden hinausgeschoben und dann fand ich einen Fulkrumpunkt unter dem Patienten. Ich bin ein lebender Körper und ich legte ein Paar Hände un-ter ihn und bot damit ein Fulkrum an. Er drückte diesen Zustand erst aus, als ich meine Hände unter ihn legte. Sobald ich, als lebender Körper, jedoch meine Hände dorthin legte, entstand ein Fokus, von dem aus diese schwebende Energie entsprin-gen konnte.

Während der Behandlung löste sich also diese schwebende Energie und blieb dort oben, bis das, was zu ihrer Neutralisierung nötig war, sie ausgelöscht hatte, und dann kam sie zurück. Jetzt war das Energiefeld neutral. Mein Fulkrumpunkt war neutral, bevor ich anfi ng, und mein Fulkrumpunkt war auch danach neutral. Mein Fulkrum ist aber immer lebendig – es ist ein lebendiges Fulkrum – und es war des-

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tiert der Patient immer noch mit seinem eigenen Boss. Sie diskutieren, während sie aus der Tür gehen und auch noch den ganzen Weg nach Hause.

Frage: Würdest du den ganzen Körper behandeln und analysieren, egal was das Problem ist?

Ich decke nur den Bedarf, der an diesem speziellen Tag vorliegt. Ich würde nicht in jeder Behandlung in allen Bereichen, von einem Ende zum anderen herumma-chen. Nein. Ich arbeite nur an dem, was behandelt werden muss. Dieser Ansatz wirkt, weil du selbst dann, wenn du nur am kleinen Ringfi nger herummachst, doch am ganzen Körper arbeitest. Während ich arbeite, stimme ich mich auf alles ein, was zu ihnen gehört, egal wo ich arbeite.

Du musst dich von der Idee lösen, dass der Körper das Problem ist. Vergiss den Körper – er ist nur das Gepäck, mit dem jemand hereinkam und das er auf dem Tisch liegengelassen hat. Das da ist nur das Ego. Deshalb will jeder gesund werden. Deshalb machen die Leute Gymnastik. Das ist großartig. Aber er ist trotzdem nur ein Sack voller Auswirkungen, der auf alles, was passiert, reagiert. Dieses Th ema machte mir eine Zeit lang Sorgen. Warum kümmere ich mich als Behandler um einen Haufen von Egotrips? Unglücklicherweise ist die Welt so – ein Haufen von Egotrips. Daher muss sich jemand um sie kümmern und warum dann nicht auf ef-fi ziente Art?

Wenn ich mit dem Egotrip-Körper arbeite, lediglich um ihn zu amüsieren und ihn in einen Zustand der sogenannten physiologischen Gesundheit zu bringen, ist das sehr interessant. Deshalb kommen die Leute zu mir. Ich kann aber auch zu-sätzlich durch dieses bestimmte Muster des Körpers hindurchgelangen, nicht nur, um die Gesundheit zu fi nden, sondern auch, um den innewohnenden Geist zu fi n-den, zu erwecken und ihm eine kleine Impfung in den Arm zu verpassen. Dann würde der Patient den Wink vielleicht verstehen und seine eigene innere Kapazität für menschliche spirituelle Entwicklung wecken. Ich erwähne nie das Wort »spi-rituell« ihnen gegenüber und habe es auch nicht vor anderen Gruppen erwähnt. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man das Wort nicht benutzen sollte, da es Nebenbedeutungen hat. Aber ich bin, wenn ich mit meinen Patienten arbeite, nur daran interessiert, die tiefste Ebene ihres gesamten Bewusstseins zu erwecken, wie auch immer man das nennen will. In diesem Prozess locke ich etwas heraus, das tief vergraben ist, wo auch immer sie es vergraben haben. Ich weiß nicht, wo sie es vergraben haben, ich frage nicht einmal danach und es kümmert mich auch nicht. Ich spiele trotzdem damit. Derweil suche ich eher oberfl ächlich nach der Schicht,

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ich ein anderes Ergebnis erzielen. Du kannst verschiedene Ebenen von Resultaten haben, abhängig von dem Ansatz, den du als Behandler wählst.

Wir sind darauf programmiert, problembezogen zu denken, und das ist das Ein-zige, woran wir denken – wir vergessen, durch sie hindurch zu der nächsten Schicht zu gehen. Du kannst dich darauf fokussieren, eine Dysfunktion einer Hüft e zu be-seitigen, aber du könntest dich auch auf den Rest des Beines einstimmen. Das ist eine sinnvollere Investition als der erste Ansatz. Wie wäre es dann damit, das Pro-blem zu vergessen? Wo ist die wahre Gesundheit, die hier sein möchte? Lasst uns fühlen, wie es erneut hier hindurchfl ießt, und lasst uns dann eine Verbindung mit einer noch größeren Quelle aufbauen. Was ich versuche zu sagen ist, dass wir von der niedrigsten Ebene bis zur höchsten stimulieren – wir stimulieren die ganze Kette. Wir behandeln nicht nur den Körper. Wenn du dir dessen bei der Arbeit bewusst bist, behandelst du vom Fundament bis zur Kuppel.

Der Boss macht die Arbeit. Der Behandler stimmt sich auf seinen eigenen Boss ein und der Behandler stimmt sich auf den Boss des Patienten ein. Dies ist keine me-chanische Behandlung.

Frage: Ich frage mich, ob es nötig oder hilfreich ist, dass der Patient versucht, diesen Veränderungsprozess bewusst wahrzunehmen?

Nein, es ist nicht notwendig. Dieser Mechanismus ist mehr als autark; er erschafft sich buchstäblich selbst. Dinge, die in konstanter Bewegung sind, benötigen keine Aufmerksamkeit. Nein, es ist während der Behandlung nicht notwendig.

Wenn du jedoch einen Patienten hast, der dazu eine Affi nität zeigt, kann er sich sehr einfach selbst behandeln. Jedes Mal, wenn er abends ins Bett geht, kann er sich auf seinen Boss einstimmen und ganz leise sagen: »Hör mal zu, warum beseitigst du nicht etwas von diesem Müll und erlaubst mir, einen Teil der guten Sachen aus der Tiefe hervorzuholen?« Bitte um Beseitigung des schlechten Krams, damit der gute Kram hervortreten kann.

Frage: Wird der Fortschritt, den ein Patient macht, aufrechterhalten?

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Ich habe viele Patienten, bei denen ich mir sehnlich wünsche, sie würden jemanden anderen fi nden, der sie versorgt, denn unsere Chemie stimmt nicht. Sie gehen mir gegen den Strich. Sie nerven mich. Ich hege keine Sympathie für sie. Aber ich bin der Einzige in Dallas, der diese Art von Behandlung anbietet, also habe ich keine große Wahl. Ich kann sie nirgendwo anders hinschicken. Die Patienten aber haben die vollkommene Freiheit, zu sein, wo sie sind. Mit allen Vor- und Nachteilen nei-gen wir als Ärzte dazu, die Patienten, für die wir verantwortlich sein werden, zu binden. Manchmal wünschte ich mir, derjenige, der für die Verteilung der schwie-rigen Patienten verantwortlich ist, würde einen anderen Behandler aussuchen, der sich um sie kümmert.

Patienten reagieren nicht immer so, wie ich es gerne hätte, aber das liegt nicht in mei-ner Verantwortung. Ich bin für das Ich-Sein verantwortlich, das sie zu Individuen macht. Ich bin nicht dem »Ich« Rechenschaft schuldig, das sie als Ego auszeichnet. Ich bin dem »ICH« Rechenschaft schuldig, das sie zu dem macht, was sie sind. Ich bin nicht verantwortlich für das »Ich«, das ihren Namen, ihre Berufsbezeichnung, ihr Geschlecht, ihren Glauben, ihre Hautfarbe oder irgendetwas anderes ausmacht. Ich kann mit dem »ICH« arbeiten, so gut ich es an einem bestimmten Tag vermag, während das »Ich« auf welcher Ebene auch immer funktioniert und sein Ding macht. Dort hört meine Verantwortung auf – dort ist die Grenze.

Bei allem, was initiiert wird, arbeitet das »ICH« des Patienten weiter. Es ist be-freit worden, frei, und ich kann diesen Fall gedanklich abgeben. Ich nehme keine Fälle gedanklich mit nach Hause. Manchmal kommt ein Patient morgens zu mir und ist sehr krank. Er ist der Meinung, er sollte am Nachmittag nochmals kommen. Wenn ich aber meinem inneren »ICH« und seinem inneren »ICH« zugehört und etwas erreicht habe, das sich so anfühlt, als würde es arbeiten, muss ich mir keine Sorgen um ihn machen. Ich sage ihm, dass ich ihn zum nächsten regulär verabrede-ten Termin sehen möchte. Etwas sagt mir, dass ich ihn aus meinen Gedanken ver-bannen kann. Ich gehe nicht nach Hause und sorge mich um ihn.

Jedes Gewebe hat sein eigenes eingebautes Zeitschema für die Heilung. Zerris-sene Muskulatur oder ein gebrochener Knochen benötigt 12 Wochen, um zu hei-len. Bei traumatischen Zuständen fi ndet die Heilung in Zusammenhang mit und entsprechend der anatomisch-physiologischen Natur des Gewebes statt. Es ist ein lebendiger Prozess. Wenn ich es akzeptiere, dass dies die Grundregeln sind, und da-

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ist, dass seine eigene Arbeit erledigt wird. Ich kann dich nicht dazu bringen, etwas zu tun, von dem ich glaube, dass du es tun solltest, oder dort hinzugehen, wo ich denke, dass du hingehen solltest. Ich kann dich nicht dazu zwingen, selbst wenn ich dich einsperren und für den Rest deines Lebens zwangsernähren würde – nichts würde passieren.

Ich mache mir keine Sorgen darüber, ob ein Patient mich mag oder nicht. Wenn sie mich nicht mögen, können sie jemanden fi nden, den sie mögen, und dort schnel-ler gesund werden, als wenn sie bei mir herumhängen würden. Ich habe mehrmals Patienten ihr Geld zurückgegeben. Sie kommen nach drei bis vier Sitzungen und sagen: »Ich glaube, Sie bewirken nichts, und ich komme nicht weiter.« Sie haben so viel aufgestaute Frustration. Ich antworte dann: »Wie viele Male waren sie hier Herr Schmidt?« Er sagt: »Das war die vierte Behandlung.« Und ich sage dann: »In Ord-nung, hier ist ein Scheck für die anderen drei Termine, heute kostet es sie nichts und ich möchte, dass sie sich einen anderen Behandlersuchen.« Meist verlassen sie fl uchend und fauchend die Praxis, aber sie können sich nicht beschweren. Und sie melden sich immer sechs Wochen oder sechs Monate später wieder zurück und kommen weiter. Ich habe einige solcher Patienten gehabt und am Ende waren sie die nettesten Pati-enten, die du dir vorstellen kannst.

In dem Fall, wo ein Patient sich ernsthaft durch meinen Behandlungsansatz ge-stört fühlt – das passiert einmal in drei Jahren – zögere ich nicht, ihn zu ermuntern, einen anderen Arzt aufzusuchen. Ich gebe ihm sein Geld zurück.

Das Potenzial, Ergebnisse zu erzielenIch behandelte einmal eine Frau 18 Monate lang und es stellte sich heraus, dass ich die Situation falsch diagnostiziert hatte und ihr sowieso nicht richtig hätte helfen können. Es hatte sich für sie inzwischen eine richtig große Rechnung angesammelt. Ich sagte zu ihrem Mann: »Es tut mir leid, ich war die ganze Zeit auf der falschen Fährte. Es gibt nichts, was ich hätte tun können, selbst wenn ich es gewusst hätte. Las-sen Sie mich also einen Scheck für die anderthalb Jahre Arbeit ausstellen.« Er antwor-tete: »Nein, es war für sie doch wenigstens etwas besser erträglich.« Sie hatte eine sehr schwerwiegende Form von Tic douloureux, das organischen Ursprungs war und auf keine Form von funktioneller Behandlung ansprechen konnte. Es gab keine Mög-

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Problem wieder auf. Der Zustand seines Rückenmarks begann, sich zu verschlech-tern. Es hatte sich teilweise sklerotisch verändert. Daher kam er wieder zu mir, hat inzwischen 80 % seiner Funktion wiedererlangt und es geht ihm sehr gut. Bei sei-nem Problem gab es viele irreversible Anteile, aber trotzdem hat er sich, 30 Jahre danach, regeneriert – ein ziemlich gutes Ergebnis. Ich hatte gedacht, dass er besten-falls seinen Zustand erhalten und eine Verschlechterung verhindern könnte. Aber überraschenderweise wurden 80 % seiner Funktion wiederhergestellt. Er benötigt allerdings eine Behandlung pro Monat, um seinen gewonnenen Zustand zu halten, denn das erschöpft e Rückenmark hat seine Isolationsschicht verloren und tendiert dazu, seine Energie zu verlieren. Die zelluläre Struktur kann die elektrische Span-nung nicht halten.

Du wirst nicht immer die Resultate erzielen, die du möchtest. Ich bin mit all den Resultaten – einschließlich der dramatischen »Heilungen«, die ich bei mei-nen Patienten erreicht habe – nie zufrieden gewesen. Wenigstens bleibt dir aber die Befriedigung, zu wissen, dass der Patient vielleicht die Türen für mehr Leben und Bewegung – dieses Leben in Bewegung – geöff net hat.

Der Stille Partner

Frage: Kannst du über das, was du den »Stillen Partner« nennst, sprechen?Nun, wenn ich darüber rede, verfehle ich das Ziel. Man kann lediglich sagen, dass

das reine »ICH«, das mich repräsentiert, mein Stiller Partner ist. Es ist derselbe Stille Partner, wie du ihn hast, derselbe Stille Partner der in diesem Zimmer ist, und derselbe Stille Partner, der zu dem Insekt, das ich hier vorbeilaufen gesehen habe, gehört. Es ist immer derselbe Stille Partner und ihn zu akzeptieren und mich ihm hinzugeben, ist eine bewusste Erfahrung geworden. Der Stille Partner hat keine menschliche Gestalt, er ist er selbst. Du musst ihn bewusst wahrnehmen oder um ihn wissen, aber in der Sekunde, in der du etwas gefunden hast, worauf du deinen mentalen, intellektuellen Finger legen kannst, ist er dir entglitten. Und doch ist er etwas, das existiert.

Man kann den Stillen Partner absichtlich rufen oder ihn auf einer Eins-zu-eins-Basis kontaktieren. Wie und warum er arbeitet, weiß ich nicht, und wenn ich es wüsste, dann würde es nicht das sein. Es ist einfacher, es zu demonstrieren, als dar-über zu reden. In diesem Moment baue ich einen Kontakt zu meinem Stillen Part-ner auf und während ich ihn in meinem Bewusstsein halte, nehme ich Kontakt zu deinem auf. So und jetzt höre ich auf. Wenn ich einen Kontakt zu deinem Stillen

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Der Stille Partner ist – und das ist alles, was es dazu zu sagen gibt. Wenn du wissen willst, wie man ihn einsetzt, so habe ich dir die einfachstmögliche Antwort gegeben. Und wenn ich meinen Stillen Partner kontaktiere, habe ich genauso wenig Ahnung von dem, womit ich in Verbindung trete, wie wenn ich mit dem Mann im Mond Kontakt aufnehmen würde. Wenn ich es wüsste, wäre er kein Stiller Partner. Damit würde ich ihn zu einem Teil derselben eingeschränkten Welt der Eff ekte machen, zu der auch alles andere gehört, das wir mit unseren Gedanken erreichen können. Ich nehme Kontakt zu ihm auf und gebe mich ihm hin – so einfach ist das. Wenn du es komplizierter machst, bist du tot – nichts passiert. Das ist alles, was es dazu zu sagen gibt. Das ist es, worüber A. T. Still sprach, als er sagte: »der Verstand Gottes in der Natur.« Darauf bezieht er sich.

Frage: Es scheint, als sei also ein Teil der Arbeit, sich dem zu öff nen und sich Gott hinzugeben?

Eigentlich konzentriert es sich darauf, wem oder was du dich jetzt hingibst. Dein Stiller Partner ist ein Fulkrum-Punkt; er ist absolut still. Es gibt keine Energie, die im Stillen Partner in Bewegung ist, gar keine. Eigentlich ist er die Quelle der Ener-gie, der Zustand aus dem die Energie kommt. Er ist nicht bewegte Energie, er ist die reine Potency. Er ist omnipotent. Es gibt keine Bewegung und doch ist alles Bewegung. Er ist eben einfach und gibst du dich ihm hin. Fühle die Stille, die sich in diesem Raum entwickelt hat. Es ist die gleiche Stille. Kannst du sie fühlen? Es ist die gleiche Stille und du kannst sie fühlen, aber sie ist nichts, an dem du arbeitest. Wenn du an ihr arbeitest, verpasst du sie. Es ist eine lebendige Stille, die unsere be-wusste Aufmerksamkeit wahrnehmen kann. Diese bewusste Wahrnehmung fi ndet durch unseren großen und nicht durch unseren kleinen Geist statt. Bewusstsein ist das Akzeptieren von etwas.

Das klingt vielleicht esoterisch, ist aber doch eine spürbare Erfahrung. Manch-mal, wenn ich Patienten in meiner Praxis behandle, kannst du die Stille in dem Raum mit einem Messer zerschneiden und ein Iglu daraus bauen – so still wird es. Wie kommt es dazu? Ich habe keine Ahnung und wen kümmert es? Sie ist da, um ein Bedürfnis für etwas, was in diesem speziellen Menschen passiert, zu erfüllen. Woher sie kommt und wohin sie geht, ist nicht von Belang. Es ist eine Art Leben, ja, eine Art Leben. Das ist es also. Mache es nicht kompliziert. Du kannst in diesem Moment mit deinem Stillen Partner Kontakt aufnehmen und Kontakt mit dem Stillen Partner von jemandem anderen aufnehmen und dich dem hingeben. Jeder kann das tun; wir haben alle dieselben Ressourcen.

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nutzen es. Aber wie viele Menschen machen sich buchstäblich die Mühe und nut-zen es? Es gibt sehr wenige Menschen, die versuchen, daraus einen kontinuierlichen Prozess der Hingabe machen. Man benötigt dazu Übung und Erfahrung. Es kostete jene Menschen Jahre und noch mehr Jahre, um manche dieser Dinge zu kreieren. Sie sind nicht über Nacht dazu gekommen.

Es ist wichtig daran zu denken, dass es in jedem Moment der Prozess des Ein-stimmens ist, worauf es ankommt. Die Errungenschaft und das Resultat, das daraus erzielt wird, ist nicht das Wesentliche. Es geht um Einstimmung, nicht um Errun-genschaft . Jenseits des Einstimmens ist alles andere, das stattfi ndet, eine Sache des Ausdrucks; es ist Manifestation. Hier geht es wieder um »Eff ekte« und wenn du das als Errungenschaft ansiehst, hast du dich verwickelt und bist wieder in einem Zustand des Egoismus.

Joel Goldsmith, der Autor von Th e Mystical I, arbeitet in seinem Text einen sehr wichtigen Punkt heraus. Er sagt, wenn du tatsächlich kontinuierlich in diesem Be-wusstsein leben kannst, in völliger Hingabe, erlangst du automatisch einen gewis-sen Grad an Frieden und Zufriedenheit. Du erledigst und löst einfach die Probleme, über die du dich früher aufgeregt hättest.

Wenn ich in einem schwierigen Fall eine Heilung erziele, ziehe ich absolut keine Befriedigung daraus. Ich empfi nde keine Genugtuung für mich, wenn ich sehe, wie Menschen auf die Behandlung, die ich ihnen seit sechs Monaten gebe, ansprechen und plötzlich eine Erfahrung von 20 Jahren ausgelöscht wurde und sie wieder in einem Zustand der Gesundheit sind. Darin liegt für mich keine Belohnung oder Erfüllung – nicht das kleinste bisschen. Die Leute sagen vielleicht: »Ist das nicht wunderbar? Sieh doch, was du für Herrn Schmidt getan hast. Er kann Golf spielen und weitere Millionen Dollar verdienen und vorher war er ganze sechs Monate bettlägerig. Gibt dir das nicht eine tiefe Zufr iedenheit?« Nein, gar keine. Mir ist es egal. Es gibt mir keine Befriedigung, gar keine. Du denkst, ich mache Witze. Es lag aber doch von Anfang an in Herrn Schmidts Verantwortung und was ist mit den anderen fünf schwierigen Fällen, die ich in meiner Praxis habe? Warum reagieren sie nicht auf dieselbe Art und Weise? Ich kann für sie nicht die gleichen Antworten verwenden. Ich habe also immer noch die Verantwortung, herauszufi nden, wie ich mich hingebe, damit dieses kreative Ding für den nächsten Menschen transmutiert werden kann.

Außerdem waren Herrn Schmidts besondere Umstände und alles Weitere, was zu dem Entstehen seiner Schwierigkeiten führte, seine individuellen Probleme und hatten nichts mit meiner Betreuung zu tun. Ich war zufällig der Hebel, das Fulkrum, ein Stillpunkt. Und ein Stillpunkt hat keinen Namen, er hat kein Ego, er hat nichts.

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II–45Kapitel 1 – Ann-Arbor-Seminar

Ziele

Du hast mich gefragt, was das Ziel sei. Du kannst es nicht wirklich als etwas be-trachten, das gesucht werden muss. Menschen haben in ihrer spirituellen Arbeit die Tendenz, zu glauben: »Wenn ich richtig lebe, bekomme ich eine Villa drüben auf der sonnigen Seite des Himmels.« Es ist ein Ziel – wenn ich die Dinge tue, die ich tun sollte, wird etwas Gutes geschehen. Nun, wer bestimmt die Ziele? Wenn ich mich auf meinen Stillen Partner einstimmen könnte, Gegenwärtigkeit praktizieren und tatsächlich all das sein würde, worüber ich all die Jahre meines Lebens gesprochen habe – wenn ich so einen Zustand der Einstimmung erreichen könnte – dann würde meine kreative Energie weitermachen und ihre Sache weiterführen. Wenn keine Egotrips involviert sind, antworten die Menschen in welcher Weise auch immer auf meine Arbeit und etwas passiert. Wenn ich diese Arbeit erledigt habe, soll ich dann die Stechuhr bedienen und sagen: »Jetzt habe ich ein Ziel«? Die Ziele müssen sich mit allem anderen auflösen.

Freilich erfährst du eine gewisse Art von tröstlichem Gefühl. Du erlebst die Fä-higkeit, dich deiner Arbeit hinzugeben, dich dem vollkommenen Austausch hin-zugeben, indem du etwas teilst, worin alles geschieht, und du musst es nicht einmal benennen. Es ist keine Idee von: »Ich habe Befr iedigung daraus gezogen. Ich bin zufr ieden, weil dieses passiert. Es gibt Frieden in meiner Welt, weil …« Diese Art zu denken ergibt für mich keinen Sinn. Wofür machst du das? Wie lange wird Frieden herrschen? Der nächste Job verlangt mehr Arbeit. Es ist ein Zustand von kontinu-ierlichem ausgeglichenem Austausch. Wenn du das tatsächlich tun könntest, wäre keine Zeit für etwas anderes, als in Ruhe das zu tun, was du tust, ohne über den Be-griff »tröstliches Gefühl« nachzudenken.

Wir brauchen zu Anfang alle etwas, woran wir uns festhalten können. Es gibt eine Struktur für die Behandlung. Am Ende gibt es aber nichts, woran wir uns wirklich festhalten können. Es gibt ein Ziel, aber es ist ein Ziel, bei dem es nicht wichtig ist, ob es erreicht wird oder nicht.

Das Ausüben von Medizin ist eine Erfahrung, die Demut erzeugt. Du wirst de-mütig, wenn du einen Fall hast und du einfach nicht weiterkommst. So viele Patien-ten haben schon ihre Runden gemacht, sind in einer Anzahl von Kliniken gewesen und stolpern nun in deine Praxis und sagen: »Mir ist gesagt worden, ich soll sie auf-suchen. Frau Soundso erzählte, wie sehr sie ihr geholfen haben.« Und dann wird dir klar, was für einem Monster du da gegenüberstehst.

Viele Patienten kommen in die Praxis mit Problemen und keiner weiß, was wirk-lich los ist. Manche Patienten übertreiben ihre Probleme und andere untertreiben

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II–47Kapitel 1 – Ann-Arbor-Seminar

Dieselben Regeln gelten in allen anderen Bereichen. Ich hatte einen Ingenieur zum Freund, der 30 Ingenieure in seiner Organisation beschäft igte. Er erlitt einen Herz-infarkt und ich fuhr zu ihm nach Hause, um ihn zu behandeln. Als er über sein Geschäft nachdachte, fi el ihm auf, dass er drei hervorragende Ingenieure hatte. Er hätte tot umfallen können und sein Geschäft würde so gut weitergelaufen wie bisher. Dann gab es einen Haufen Ingenieure in der Mitte, die gut waren. Und unten schie-nen es immer drei zu sein, die zu nichts taugten. Der springende Punkt ist: Wenn du beim Spiel mitmachen und zu den oberen 10% gehören willst, musst du deine gesamten Fähigkeiten einsetzen, um zu funktionieren, man braucht einfach mehr, um es zu schaff en. Und mir ist es dabei egal, um was für ein Spiel es sich handelt.

Als Mediziner verbringen wir vier Jahre damit, ein Stück Papier zu erwerben, das dann an der Wand hängt und schön aussieht. Danach haben wir die Freiheit, unse-ren Egoismus auszuleben und eine Million Dollar zu verdienen: »Das ist Dr. Brown in seinem neuen, schnellen Auto.« Sehr befriedigend? Das langweilt mich – mich interessiert so etwas ganz und gar nicht. Ich habe die medizinische Ausbildung und dieses Stück Papier als Erlaubnis genutzt, um so zu praktizieren, wie ich es möchte. Das Nützliche an der Tatsache, dass man Arzt ist oder einem anderen angesehenen Berufsstand angehört, besteht eigentlich nur in der Möglichkeit, arbeiten zu kön-nen. Mehr ist es nicht.

Ich habe hier ein amüsantes Fallbeispiel, über das es sich lohnt zu sprechen, weil es zeigt, wie albern es ist, ein Mediziner zu sein. Als ich in Michigan praktizierte, kam ein junger Mann zu mir in die Praxis mit einer bilateralen, stark fi brosierenden Psoasitis. Er konnte sich nicht aufrichten und hatte heft ige Schmerzen. Ich musste ihn praktisch zur Behandlungsbank tragen und dann ragten seine Knie in die Luft . Das war noch zu der Zeit, als ich härter arbeitete; ich arbeitete damals nicht auf die Art wie ich es heute tue. Ich habe an dem Kerl, Joe, zweieinhalb Monate lang drei Mal die Woche gearbeitet und am Ende dieses Zeitraums sah er, wenn er in die Pra-xis kam und sich hinlegte, genauso aus wie zuvor. Er sagte mir, er müsse die Stadt verlassen, also trennten wir uns. Ich war froh, ihn los zu sein, ich hatte ihn satt.

Etwas später kam ein neuer Patient mit Arthritis und einem Dutzend anderer Beschwerden zu mir. Er berichtete, Joe habe ihn zu mir geschickt und ihm gesagt, ich könne ihn in einer Behandlung in Ordnung bringen. Ein paar Monate später kam ein anderer Typ und er hatte alles, was man sich denken kann, und wollte nur für eine Woche in der Stadt bleiben, aber das sei schon in Ordnung, denn Joe habe ihm gesagt, er wäre nach einer Behandlung geheilt. Schließlich, ein Jahr spä-ter, kam Joe herein und er war ein großer, kräft iger Kerl und kerzengerade. Er sagte:

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Wenn du schlechte Ergebnisse erzielst, kann es sein, dass du zu manchen der wichtigeren Zentren nicht vorgedrungen bist oder dass die Dummheit der Patienten dazu führt, dass sie deine Behandlung zunichte machen, wenn sie nach Hause gehen. Das passiert die ganze Zeit, fast routinemäßig. Das ist aber nicht dein Problem. Sie essen nicht richtig, es ist ihr Wochenende, an dem sie ein Trinkgelage veranstalten, sie streiten sich wieder mit ihrem Ehemann oder ihrer Ehefrau und so weiter. So verschenken sie ihre Ressourcen und verschwenden sie auf irgendeine Art, kommen dann zurück und der betroff ene Bereich ist wieder durcheinander, obwohl nicht ganz so schlimm wie zuvor, trotz allem, was sie getan oder nicht getan haben.

Lehren

Du weißt, dass es sehr schwer ist, diese Art zu arbeiten jemandem beizubringen. Ein Behandler kommt vielleicht herein und sagt: »Dr. Becker, ich möchte bei Ihnen stu-dieren, bis ich zu verstehen beginne, was hier vor sich geht.« Das Erste aber, was ich mit solchen Menschen machen muss, ist – obgleich sie nur selten tun, was ich ihnen rate – ihnen zu sagen: »Die erste Person, die etwas verändern muss, sind Sie. Verges-sen Sie alles, was Sie bisher in Ihrem Leben gelernt haben.« Und ich sage ihnen auch: »Ich habe hier keine Antworten. Sie werden hier nichts lernen, aber wenn Sie fertig sind, wird Ihnen eine Richtung aufgezeigt, in die Sie gehen können, und Sie werden es auf die harte Art selbst herausfi nden müssen. Aber Sie müssen alles aufgeben – Ihre Identität, Ihren ›Doktor‹ – und ein unbeschriebenes Blatt sein, wenn Sie an die Be-handlungsbank herantreten, um es herauszufi nden.«

Aber wie ich bereits sagte: Selten gibt es einen Arzt-Student, der bereit ist, das zu tun. Am Ende kämpfe ich mit ihren Persönlichkeiten, ihren Egos. Jedes Mal, wenn ich sie ihre Hände an einen Patienten anlegen ließ, mit dem ich arbeitete, konnte ich fühlen, wie sie versuchten, ihre Energie in die Situation hineinzuprojizieren. Sie versuchten, etwas von dem mitzubekommen, was vor sich ging. Interessanterweise wurden die Patienten dabei überbehandelt. Die Patienten sagten das – sie fühlten sich überladen.

Wenn du mit der höchsten bekannten Energie, die vorhanden ist, umgehst, will sie niemanden dabeihaben, der sich in das, was sie tut, einmischt. Sie reagiert da-rauf, wenn jemand sie intellektuell-analytisch beobachtet. Ich habe es aufgegeben, Studenten ihre Hände anlegen zu lassen, solange ich behandle.

Ich erlaube es auch nicht, dass der Arzt-Student mit mir spricht, während ich ei-nen Patienten behandle. Wenn du etwas über diesen Patienten wissen willst, frage

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II–51Kapitel 1 – Ann-Arbor-Seminar

an den Behandlungsbänken praktisch üben zu lassen. Fünf Minuten, bevor er be-ginnen sollte, wurde mir gesagt, dass er nicht kommen würde. Ich hatte jetzt eine Stunde Zeit, die mit etwas gefüllt werden musste, denn du gehst nicht zu einer un-serer Konferenzen, um zu faulenzen. Unsere Gruppe ist wahrscheinlich eine der motiviertesten Gruppen in den Vereinigten Staaten. Wenn die eine Konferenz be-suchen, dann arbeiten sie hart. Tatsächlich ist es am Ende eines Tages schwierig, sie aus dem Konferenzraum zu jagen – so sehr sind sie damit beschäft igt, sich gegen-seitig zu behandeln.

Ich zerbrach mir den Kopf darüber, wie ich die Stunde füllen sollte, und beschloss, sie eine körperliche Untersuchung ohne ihre übliche Routine von Bewegungstests ausführen zu lassen. Ich forderte die Hälft e von ihnen auf, sich hinzulegen, und sagte zu der anderen Hälft e: »Beginnt am Kopf, legt eure Hände an den Kopf, wan-dert dann zum Hals hinunter, dann zum Th orax, geht beide Arme entlang, weiter hinunter zum Abdomen und zum Becken bis zu den Füßen. Nehmt euch 30 Minuten Zeit und tut gar nichts. Sitzt einfach da und fühlt, was ihr fühlen könnt.« Ich sagte nichts darüber, von wo aus sie fühlen sollten oder wonach sie fühlen sollten. Ich sagte lediglich: »Fühlt, was ihr könnt. Spürt, was die physiologische Bewegung des Patienten macht.« Sie hatten 30 Minuten Zeit dafür und dann sollten sie die Part-ner tauschen.

Ich verbrachte die Stunde damit, im Raum herumzugehen und zu sagen: »Hört auf! Ich sagte nicht, testet die Bewegung, sondern fühlt die Bewegung.« Ich bremste sie einfach immer wieder, damit sie schlicht sitzen und nur beobachten mussten. Es war schon eine Augenweide: Hier waren 50 Osteopathen mit vollen Praxen, gewohnt, in Bewegung zu sein, die nun versuchten, 30 Minuten lang still zu sitzen. Das Interes-sante an dieser einfachen Übung war, dass sie buchstäblich in den Prozess hineinge-langten, mit ihrer eigenen Energie zu fühlen. Sie wurden zu Beteiligten. Sie prakti-zierten mitwirkende Quantenmechanik. Sie erweckten alle Energien des Patienten sowie ihre eigenen. In dem Raum stieg so viel Energie auf, dass man daraus Ziegel machen und ein Haus bauen hätte können. Es war erstaunlich.

Mindestens 25 von ihnen kamen später zu mir, um zu sagen, dass dies die beste Behandlung gewesen wäre, die sie je erhalten hätten. Es ist interessant. Es war eine diagnostische Übung, aber alle wurden behandelt. Die andere interessante Tatsache war, dass sie kein bisschen Neugierde unter ihnen geweckt hatte, zu erfahren, wie sie zu Hause so arbeiten konnten. Sie waren bereit, die Erfahrung zu machen, aber sie waren nicht daran interessiert, die Verantwortung für die Entwicklung von so etwas zu übernehmen. Und doch war es eine sehr klare Demonstration des Poten-

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II–53Kapitel 1 – Ann-Arbor-Seminar

wäre? Viel mehr als auf das, was wir Probleme nennen, achte ich darauf, dass die Dinge das tun, was sie tun sollen. Ich versuche nicht, deine Probleme zu lösen; ich bin nicht daran interessiert euch die Nase zu putzen. Ich möchte unter den Schutt gelangen und dem Anteil, der gesund ist, sagen: »Schau mal, du solltest eigentlich die Arbeit hier oben erledigen.«

Mit anderen Worten: Ich behandle, um die Gesundheit wiederherzustellen; ich versuche nicht, das Problem zu beheben. Indem ich so behandle, öff ne ich Türen für den Körper, damit er versuchen kann, mit seinen lebendigen Kräft en so umzu-gehen, wie er möchte.

Frage: Warum kann er das nicht ohne deine Hilfe?Er kann es.

Frage: Aber warum macht der Körper es dann nicht? Du hast gesagt, ein Grund dafür, dass der Körper sich nicht gut oder völlig erholt, ist, dass es andere sich sum-mierende Faktoren gibt, die die Aufmerksamkeit des Körpers auf sich ziehen. Was machst du mit den anderen Faktoren? Sind sie nach deiner Behandlung noch da?

Das stimmt. Aber nach der Behandlung werden sie von einem gesünderen Me-chanismus besser ausgeräumt als von jenem, der es zuvor versucht hat und dabei nicht besonders erfolgreich war.

Frage: Wie ist es mit Traumen im Vergleich zu Krankheit? Gibt es einen Unter-schied in deiner Herangehensweise je nachdem, ob es sich um ein mechanisches Leiden oder um eine Krankheit handelt?

Nein. Du versuchst, die mechanischen Probleme von den durch die Krankheit verursachten Problemen zu trennen, aber sie können nicht voneinander getrennt werden. Steht das Gewebe unter Spannung – wenn z. B. ein Bein eine Dysfunk-tion der Innenrotation hat – sind alle Faszien und alles andere in einem Zustand verminderter Abwehr. Wenn etwas die Haut durchdringt, würden die Faszien und die Lymphe den Bereich nicht so gut drainieren, wie sie sollten. Es wird zu einem lokalen Bereich potenzieller Infektion. Ist aber einmal alles wieder so, wie es sein soll, und funktioniert alles gut, wird dem Bein alles zugeführt, was es braucht, und alles, was drainiert werden soll, wird ausgeschwemmt. Es ist jetzt in einem gesun-den Zustand. Wie Dr. Still zu sagen pfl egte, bewegt sich alles vom Fundament bis zur Kuppel frei in seinem Muster. Jeder Teil des Körpers arbeitet so, wie er soll, und macht physiologisch die Sachen, die er benötigt, um mit allem fertig zu werden, das

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II–55Kapitel 1 – Ann-Arbor-Seminar

übt, der dann sagt, dass er es nicht mehr ertragen kann. Wenn du mit einer Behand-lung vor der Operation all den Schock aus dem Bindegewebe herausnehmen kannst, wird der Eingriff wahrscheinlich viel erfolgreicher sein und die Rekonvaleszenz viel schneller. Postoperativ ist es das Gleiche: Du musst den Schock der Operation hin-terher aus dem Patienten herauswaschen.

Bei einer Operation ist es hilfreich, wenn sie von einem geschickten Operateur durchgeführt wird, der reingeht, geschickte Arbeit leistet und wieder rausgeht. Es gibt sogar Einzelne, die bereit sind, ein Gebet zu sprechen, bevor sie mit dem Schnei-den beginnen, obwohl sie dafür kritisiert werden. Vor einiger Zeit gab es in der Medical World News ein Bild von einem Chirurgen, der ernsthaft mit einem Pati-enten sprach, und sie zitierten ihn, er habe gesagt, die Medizin erkenne jetzt, dass es sich auszahlt, ab und zu den Boss zu rufen. Neun Monate später erschienen in dieser Zeitung immer noch Briefe an den Herausgeber, in denen sich Leser darüber beschwerten, dass dies wohl das Unwissenschaft lichste gewesen sei, das man je ge-hört habe. Ich hingegen fand, es wurde höchste Zeit, dass jemand mal zugab, es zu tun.

Frage: Was passiert mit deinem Körper, wenn du ihn chirurgisch verändert hast?Er passt sich an. Ein chirurgischer Eingriff ist ein organisiertes Trauma.

Regeln für das Behandeln

Wenn du mit den innewohnenden Kräft en des Körpers arbeitest, musst du eine ganze Reihe neuer Regeln aufstellen. In einer gewöhnlichen Praxis siehst du einen geröteten Hals, entscheidest, dass der Patient Penicillin braucht, und verordnest es ihm. Das ist eine äußere Sicht des Ereignisses. Du kannst einen Patienten mit einer Psoasitis aber auch an eine Maschine anschließen und den Bereich unter galvani-schen Strom setzen, um ihn zu stimulieren, und den Patienten dann für 15 Minuten in einen Whirlpool setzen. Das sind mechanische Apparate, die du bedienst, und das ist in Ordnung. Sie arbeiten, wie sie arbeiten sollen. Du könntest aber anderer-seits auch deine Hände an diese Patienten legen und einen Fokuspunkt anbieten, durch den die lokalen Gewebeveränderungen sich aussortieren können. Im Falle einer Psoasitis arbeiten diese anderen Behandlungsweisen an der willkürlich ge-steuerten Muskulatur, die krampft und sich beschwert. Stattdessen hast du auch die Möglichkeit, das unwillkürliche System zu kontaktieren, das daran arbeitet, diesen verfestigten Bereich zehn Mal pro Minute durchzuspülen.

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II–57Kapitel 1 – Ann-Arbor-Seminar

»Antreiben« von BehandlungsergebnissenDu kannst versuchen, den Körper mit galvanischem Strom zu beeinfl ussen, und es wird einen Eff ekt erzielen, aber diese mechanischen Apparate machen nur etwas von außen. Wenn du den Körper nicht genau beobachtest, wirst du nicht wissen, welchen Eff ekt sie haben. Normalerweise legt der Physiotherapeut den Patienten auf eine Maschine, geht fort und kommt 15 Minuten später zurück, um den Patienten von der Maschine zu holen. Vielleicht fühlt das kranke Gewebe sich für ein paar Minuten richtig wohl. Dann verlangst du plötzlich von dem kranken Gewebe, auf eine Art zu reagieren, die ihm nicht möglich ist, und es ermüdet. Hättest du deine Hände am Patienten, wüsstest du das.

Ich habe in meiner Praxis früher eine Diathermie-Maschine benutzt, weil ich die Idee hatte, den einen Patienten aufzuwärmen, während ich den anderen behandelte. Eines Tages war ich aber endlich so klug und habe meine Hände an die Gewebe ge-legt, um zu sehen was passiert. Beim ersten Patienten, den ich überprüft e, kam nach drei Minuten ein Signal vom Gewebe: »Hey, das fühlt sich ziemlich gut an.« Nach fünf Minuten schaltete sich dieses Signal aus und Druck baute sich auf. Ich hatte den Patienten 15 Minuten da. So gab ich ihm fünf Minuten Behandlung und zehn Minuten Trauma. Der nächste Patient, dem ich Diathermie verabreichte, bekam zwei Minuten lang eine Behandlung und 13 Minuten Trauma. Der nächste Patient brauchte zehn Minuten, um zu signalisieren, dass er genug hatte, damit blieben fünf Minuten Trauma übrig. Ich fand heraus, dass die Gewebe defi nitiv auf alle diese Apparate reagieren, aber unsere Hände müssen dort sein, um zu überwachen, wann die Veränderung, die wir suchen, stattgefunden hat. Es stellte sich heraus, dass die 350 Dollar verschwendet waren und ich habe die Maschine weggeworfen. Ich sag es deshalb nochmal: Wenn wir mit der Wissenschaft spielen, die der physiologischen Funktion erlaubt, ihr Ding zu tun, müssen wir die Regeln befolgen.

Ein paar meiner Kollegen versuchen, immer neue Wege zu fi nden, Patienten anzutreiben, damit sie vorübergehend mehr Energie während der Behandlung zur Verfügung haben. Ihre Idee ist, dass sich dann mehr bewerkstelligen lässt. Aber so funktioniert das nicht, denn wenn du dich auf deinen Boss und auf deren Boss ein-gestimmt hast, dann benutzt die namenlose Körperphysiologie nur die spezifi sche Menge an Energie, die benötigt wird. Mit diesen antreibenden Methoden hast du vielleicht das Gefühl, dass mehr passiert, aber es ist nicht so.

Du kannst diese Arbeit nicht forcieren; es wird einfach nicht funktionieren. Frei-lich kann ich jedem von euch in diesem Raum eine Behandlung geben und indem ich direkt arbeite und den Boss und alles an Energie und all mein Wissen nutze, buch-

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II–59Kapitel 1 – Ann-Arbor-Seminar

Die große TideDann gibt es diese große, tidenartige Bewegung. Das ist eine interessante Sache, die ich erstmals vor etwa 10 Jahren bei einigen Leuten bemerkte, die ich behandelte. Off ensichtlich war sie immer schon da, aber zuerst war es verblüff end. Ich arbeitete gerade 15 oder 20 Minuten an jemandem und plötzlich war ich mir der Tatsache be-wusst, dass es sich anfühlte, als würde sich der ganze Patient ausdehnen. Es war als, beobachtete ich die fi ngerartigen Wellen der Tide, wie sie den Strand hinaufspülten und alle Gewebe durchdrangen. Das passierte vier oder fünf Mal. Ich beobachtete sie einfach und dachte: »Das macht Spaß; was geschieht hier eigentlich?« Schließlich passierte ganz plötzlich irgendetwas und das ganze Ding schmolz dahin. Es durch-lief off ensichtlich einen dieser relativen Stillpunkte und dann bedurft e es seines Weiterarbeitens nicht mehr.

Wo kommt also diese große Tide her? Kommt sie von oben oder von unten oder von den Seiten? Ist sie innen und entschließt sich, herauszukommen? Beginnt sie ir-gendwo und hört sie irgendwo auf? Ich habe nicht die geringste Ahnung. Es könnte eine harmonische Schwingung sein. Es sind viele Erklärungen aufgestellt worden für die zehn Mal pro Minute stattfi ndende Fluktuation des Liquor cerebrospinalis. Es ist aber einfacher, diese tidenartige Bewegung zu erklären, weil es sich um einen Flüssigkeitskörper in einem bestimmten Raum handelt. Aber bei dieser großen Tide habe ich keine Ahnung. Alles, was ich weiß, ist, dass sie sich zeigt.

Frage: Hast du sie bei jedem gefunden?Nein, das habe ich nicht. In der Tat schaue ich noch nicht einmal danach. Mir

ist aufgefallen, dass sie manchmal auft aucht, wenn Menschen viele allgemeine sys-temische Probleme haben, Dinge, die die gesamte Körperphysiologie beanspruchen. Wenn du einen Patienten hast, bei dem ein recht großes Gebiet oder genügend klei-nere betroff en sind, taucht sie allmählich und manchmal wahrscheinlich auch wäh-rend eines Behandlungsprogramms auf. Anscheinend muss der Patient eine recht große Anzahl an miteinander verbundenen Problemen aufweisen, damit sie in Ak-tion tritt.

Ich glaube sie ist immer da, aber wie alles andere auch steht sie, solange kein Problem vorhanden ist, strikt im Austausch mit dem gesamten Universum. Wenn kein Problem da ist, fühlst du nur den einfachen Rhythmus. Ich glaube, wir sind im einfachen rhythmischen Einklang mit den weit entfernten Sternen, zehn Mal pro Minute für den Liquor cerebrospinalis und alle anderthalb Minuten für diese große Tide. Ich glaube diese große Tide ist immer vorhanden, aber wenn ein Wi-

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II–61Kapitel 1 – Ann-Arbor-Seminar

in diesem Fall ein Fulkrum ist – gleich ob es eine Hand ist, ob es beide Hände sind, ein Ellenbogen, ein Knie oder was immer du dagegensetzt.

Das Fulkrum ist die Quelle der Kraft . Es ist der Referenzpunkt, von dem aus die Hebel deines Körpers – du als schwebende, palpierende Person – und die Hebel des Körpers des Patienten versuchen, sich mit dem Problem auseinanderzusetzen. Wenn du mit irgendeinem Teil deines Körpers ein Fulkrum aufgebaut hast, arbeitest du mit Hilfe von Hebeln, während gleichzeitig ihr Körper Hebel liefert. In diesem System ist dein Fulkrumpunkt ein neutraler Punkt, der den Schauplatz bildet für den Kampf, der stattfi nden muss,.

Frage: Also zentrierst du ihn auch? Ich weiß nicht, ob ich das Zentrum bilde. Alles, was ich weiß, ist, dass du ihnen

eine Arena anbietest, indem sie ihr Ding machen können. Man kann nicht sagen, dass du das Zentrum vorgibst. Ich weiß nicht, was passieren wird. Vielleicht zentriert es sich, vielleicht nicht. Es kann in die Peripherie ziehen oder mehr zentral stattfi n-den. Du bietest lediglich das Schlachtfeld.

Frage: Ich verstehe.Nein, du verstehst nicht und wirst es auch niemals verstehen. Ich habe es noch

nicht verstanden, aber ich mache mir darum keine Sorgen.Du kannst Funktion nicht beschreiben. Ich kann sie dir nicht beschreiben oder

sagen, wie sie funktioniert. Ich kenne die Regeln. Ich kenne das Prinzip: Wenn ich meinen Arm von einem Ort an den anderen bewege, muss ich von einem Fulkrum-punkt aus arbeiten. Ansonsten könnte ich das nicht machen. Ich muss mich von ei-nem Punkt aus bewegen, der irgendwo hinten in meinem Körper ist. Ich muss mich von einem Fulkrumpunkt aus bewegen. Daher bilde ich einen Fulkrumpunkt für den Patienten, der eine namenlose Körperphysiologie besitzt, damit etwas aus ihm selbst heraus geschieht. Ich verstehe nicht, wie sie es macht, und es ist mir gleich-gültig. Aber ich kenne das Prinzip. Ich muss den Punkt erwischen, von wo aus es geschehen kann. Es gibt immer ein Fulkrum für jede Veränderung.

Wenn ich an jemandes Hüft e arbeite, so wie ich es vorhin demonstriert habe, dann stütze ich meine Ellenbogen auf meine Oberschenkel. Das gibt mir Referenz-punkte. Ich bin Behandler und ich möchte in einer angemessenen Zeit etwas er-reichen und nicht 24 Stunden herumsitzen und mich fragen, was hier eigentlich passiert. Ich möchte wissen, wann ich mit der Arbeit am Patienten beginnen und wann ich aufh ören soll. Dafür brauche ich einen Referenzpunkt. Das erlaubt dir

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II–63Kapitel 1 – Ann-Arbor-Seminar

Du kannst die Dinge, die die Funktion ausführen, beschreiben, aber die Funktion selbst ist unbeschreiblich. Du musst dir darum aber keine Gedanken machen, denn sie fi ndet trotzdem statt. Wenn sie Hilfe benötigt, bildest du einfach ein Fulkrum, bilde einen Punkt, von wo aus die Funktion loslegen und ihr eigenes Ding machen kann. Das nimmt dir viel Druck. Nicht du musst die Verdauungssäft e herstellen, die das belegte Brot, das heute gegessen wurde, verdauen sollen. Die Körperphysiologie übernimmt das – du unterstützt nur den Prozess.

Palpatorische Fähigkeiten

Ihr werdet eure palpatorischen Fähigkeiten viel schneller entwickeln, als ich es ge-tan habe. Es kostete mich vier ganze Jahre, von 1945 bis 1949, bis meine dummen sensorischen Zellen aufwachten und die Sachen fühlten, die ich wahrnehmen sollte. Unser Tastsinn ist vollkommen tot, außer, wenn es darum geht, zu sagen: »Hier ist eine Tasse Kaff ee«, oder so etwas Ähnliches. Du hast deine Augen benutzt, seit du geboren wurdest. Du hast sie nicht mit dem Geschick eines Künstlers eingesetzt, aber du hast immer sehen können. Du hast immer gehört, wenn auch nicht mit dem Geschick eines Musikers. Den Tastsinn so zu entwickeln, dass er von gleicher Sen-sibilität wie deine Augen oder deine Ohren ist, erfordert wahrlich Zeit. Es dauert mindestens ein, zwei Jahre.

Je mehr du deine Hände an Menschen anlegst, desto mehr merkwürdige Sachen spürst du und desto weniger verstehst du sie. Aber selbst dann verbesserst du stetig deinen Tastsinn. Schließlich kommt die Zeit, wo du analysieren und sagen kannst, dass dies wahrscheinlich der Grund für diese besonderen Beschwerden des Patienten ist, weil du deine Anatomie und Physiologie kennst. Du kannst entscheiden, dass dieser Bereich vermutlich Aufmerksamkeit benötigt, weil er sich ein wenig so an-fühlt, als würde wahrscheinlich etwas passieren, wenn ich das, was da drinnen los ist, ein bisschen aufbrechen und sich auflösen lassen könnte. Es gibt jedoch keine Garantie, vielleicht passiert es nicht. Aber auf jeden Fall hat dir dein Tastsinn einen Hinweis gegeben, wo du nachschauen solltest. Es dauert einige Zeit, seinen Tastsinn zu entwickeln. Mir ist es egal, ob du genau weißt, was ein Fulkrum ist, und alle da-zugehörigen Antworten kennst. Du würdest dir trotzdem eine lange Zeit nehmen müssen, um deinen Tastsinn zu entwickeln. Du hast es hier mit einem endlichen Körper und dessen eigenem Mangel an Entwicklung zu tun. Es gibt keinen Grund zur Eile. Ich habe meinen Tastsinn bei jedem Patienten, der in den letzten 35 Jahren zu mir kam, bewusst angewendet und ich entwickle ihn immer noch.

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II–65Kapitel 1 – Ann-Arbor-Seminar

schmerzt, wenn es in die andere Richtung gebracht wird, aber wenn ich es bis zu dem Punkt bringe, an dem es in Dysfunktion geriet, tut es kein bisschen weh. Es ist vollkommen neutral. Ich kann es dort also unterstützen und diese vier Hauptbewe-gungen, die ständig vorhanden sind, daran arbeiten lassen und die spielen mit den Ligamenten und führen nach und nach eine Korrektur dort durch. Dann kehrt der Mechanismus des Gelenks zurück und ist ohne Dysfunktion neutral.

Du kannst dasselbe mit Direkter Aktion erreichen. Du kannst den betroff enen Teil zum Punkt, an dem er sein sollte, zurückbringen – obwohl der Patient das in einem akuten Fall nicht mögen wird. Du suchst den Punkt irgendwo zwischen dem Zustand, in dem sich das Gelenk jetzt befi ndet, und dem, in den du es gerne wieder zurückbringen möchtest. Du fi ndest den Punkt, an dem es wieder neutral ist. Es handelt sich nur um balancierte Fulkrumpunkte; du musst immer nach solchen Sachen Ausschau halten. Du arbeitest daran, es in einen neutralen Zustand zu brin-gen, bis du es an einem Punkt hast, wo du das Gefühl bekommst: »Ah, dort ist es.« Halte dann dieses Gleichgewicht, bis es einen Behandlungszyklus durchlaufen hat. Es wird sich wehren, drehen und wenden und sich dann lösen. Es wird sich selbst korrigieren. Man nutzt das Auseinanderführen, um eine Dysfunktion oder einen Mechanismus an einen Punkt zu bringen, an dem er in die Verstärkung oder die Direkte Aktion gehen kann.

Einsatz von KompressionIn meinen Behandlungen setzte ich zu Beginn gerne ein wenig Kompression ein. Meinem Verständnis nach ist eine Person irgendwo zentriert – es gibt einen Mittel-punkt. Als Hilfestellung bei der Behandlung kann ich in Richtung dieses Mittel-punktes eine kontrollierte Kompression anwenden – von wo aus auch immer und auf welches Dysfunktionsmuster auch immer. Es handelt sich hierbei um eine kon-trollierte Kompression, ich schiebe es nicht einfach dorthin zurück. Und auch hier fungiere ich wieder als ein Beteiligter, ein an Quantenmechanik Beteiligter. Wenn ich zuerst ein bisschen Kompression in Richtung des Mittelpunktes einsetze und dann die Verstärkung, Direkte Aktion oder was auch immer ich möchte dazunehme, stelle ich fest, dass ich viel schnellere Resultate und bessere Korrekturen erziele.

Die Kompression geht in Richtung des Punktes, von wo aus die Energie kommt. Die sich manifestierende Energie strahlt weiter und weiter aus, bis zum Ende der Extremität. Wenn ich in Richtung des Punktes, von dem die Kraft ausgeht, kom-primiere, bringe ich sie zurück in Richtung ihres eingebauten Fulkrumpunktes. Ich

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II–67Kapitel 1 – Ann-Arbor-Seminar

baut habe. Es ist etwas, dass gegen die Ausrichtung meines normalen Mechanismus geht. Ich bin eines Tages in einem Boot gefahren und habe genau dieses Problem produziert.

Ich fuhr über einen See mit sehr rauen Wellen und habe mich vollkommen ver-kühlt. Ich stemmte mein Bein in Innenrotation gegen das Boot, um zu verhindern, dass ich hinausgeworfen wurde, und brachte dadurch das ganze Bein in ein Innen-rotations-Dysfunktionsmuster. Als ich das endlich verstanden hatte, stellte ich fest, dass dieses Muster nicht zu mir passte und dass es mich ermüdete, damit herumzu-laufen. Es zog an meinen Muskeln und an allem anderen. Ich war bereits bei einigen meiner Kollegen gewesen, aber sie hatten mir nicht helfen können. Schließlich habe ich es selbst herausbekommen und fi ng an, damit herumzuspielen. Endlich fand ich den Balancepunkt, unterstützte ihn und nach einer Weile fühlte es sich so an, als würde das ganze Bein abfallen. Als ich hinsah, tat sich natürlich nichts, aber es fühlte sich so an, als versuche es, auf die eine und die andere Art hochzukommen. Es stemmte sich gegen dieses Boot, den ganzen Weg über den See, bis es plötzlich einen Gang herunterschaltete, sich entspannte und wieder in Außenrotation zu-rückkehrte. Es hatte sich selbst behandelt.

Wenn das Okziput auf einer Seite tief steht, bedeutet es, dass die ganzen dichten Faszien, die an der Schädelbasis ansetzen, dies widerspiegeln. 34 Muskeln setzen an der Schädelbasis an, 17 auf einer Seite und 17 auf der anderen. Zusätzlich zu diesen Muskeln gibt es Faszien, die an der Schädelbasis anheft en und kontinuierlich bis zu den Füßen weiterverlaufen. Wenn das Okziput auf einer Seite tief steht, ist diese Seite des Okziput in relativer Außenrotation und du fi ndest daher alles, was auf dieser Seite damit in Verbindung steht, in relativer Außenrotation und alles auf der anderen Seite in relativer Innenrotation vor. Du kannst vielleicht sogar eine kleine Skoliose im Körper haben, die damit zusammenhängt.

Wenn sich das Sakrum auf einer Seite senkt, entsteht eine kleine Kurve. Aber solange diese Kurve sich frei bewegen kann, macht es keinen Unterschied, wie viele Kurven es gibt. Solange die Wirbelsäule ohne Behinderung in ihre inhärente Fle-xion-Extension-Bewegung gehen kann, gibt es kein Problem. Das Problem entsteht, wenn du dieses Muster zerstörst. Wenn du z. B. eine normalerweise extern rotierte Rippe hast, die plötzlich zu einer intern rotierten Rippe wird, hast du eine Rippen-dysfunktion und die tut wirklich weh. Es passt nicht mehr in das Muster hinein. Du nimmst den Brustkorb in die Hände und stellst fest, dass der Patient sich vornüber gelehnt und seine Rippen in die falsche Richtung gedreht hat. Dann überlegst du dir einen Weg, wie du das Ding halten kannst, damit es sich löst und seine relative

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II–69Kapitel 1 – Ann-Arbor-Seminar

später nochmal zurück wegen einer relativ kleinen Beschwerde und ich fand seine Muskeln im oberen thorakalen Bereich so gut wie neu vor. Sie hatten sich, durch acht Jahre der Massage, vollständig geheilt.

Du kannst sehen, wie wichtig es ist, zu lesen, was das namenlose, physiologische Funktionieren im jeweiligen Patienten gerne tun würde, wenn es ein unbelasteter namenloser Körper sein könnte. Denke daran, wie viel Potenzial es gibt, jemandem zu helfen. Die Person muss noch nicht einmal Beschwerden haben. Alles, was du brauchst, ist eine universelle namenlose Körperphysiologie, die sagt: »Ich habe Re-geln, um meine Gesundheit aufr echtzuerhalten und diese Regeln werden verletzt.« Und wenn die Regeln verletzt werden, kannst du dieser Situation nachgehen.

Mindestens 35% aller Patienten, die einen Autounfall hatten, weisen einen blo-ckierten Mechanismus auf. Es macht keinen Unterschied, ob sie von der Seite, von vorne oder von hinten getroff en wurden, solange sie getroff en wurden.

Frage: Bleibt das auf unbestimmte Zeit bestehen, wenn du es nicht korrigierst?Ja, glücklicherweise passen sich jedoch die meisten Menschen daran an und haben

nicht so starke Schmerzen. Häufi g musst du, wenn du einen blockierten Mechanis-mus entdeckst, die Leute daran erinnern, dass sie einen Unfall hatten. Die 10 Mal pro Minute stattfi ndende Fluktuation läuft trotzdem weiter, aber sie läuft nicht so gut und weniger effi zient.

Das Sakrum ist ein keilförmiger Mechanismus, der zwischen den Beckenkno-chen liegt. Beim Brustkorb ist uns bewusst, dass die Schulterblätter, das Brustbein und die Rippen voneinander getrennte Strukturen sind, mit einem gewissen Grad an unabhängiger Beweglichkeit – auf die gleiche Art sollten das Sakrum und die beiden Beckenknochen einen gewissen Grad an unabhängiger Funktion besitzen. Durch ein Trauma kann das Sakrum zwischen den beiden Beckenknochen fest-geklebt oder eingekeilt werden und sie funktionieren dann als Einheit. Bei einem Auto unfall z. B. wirst du erst vom Sitz hochgeschleudert und kommst dann mit einem Knall wieder runter. Das kann zu einer Blockade der unwillkürlichen Bewe-gung des Sakrum führen.

Du kannst eine Hand unter das Sakrum legen und es mit deinen Fingerspitzen an der Basis wie eine Schale leicht umfassen, um eine Blockade zu diagnostizieren. Mit dem anderen Arm bildest du eine Brücke zwischen den beiden Ilia, um deren Bewe-gung zu überprüfen. Lasse dann den Patienten seine Knöchel in Dorsalfl exion und dann in Extension bringen – lasse den Patienten seine Knöchel rauf und runter und wieder rauf und runter bewegen und beobachte dabei, ob das Sakrum sich frei zwi-

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II–71Kapitel 1 – Ann-Arbor-Seminar

ist, dass der Patient aufgrund der Behandlung und deren Auswirkungen auf das vegetative Nervensystem und dessen Befehle für die Nahrungsverwertung endlich in der Lage war, die Medikamente ganz aufzunehmen und zu verwerten. Daher ka-men diese Patienten, die bisher zehn Mal täglich Medikamente erhielten, plötzlich mit weniger aus.

Behandeln von SchultersteifeDu wirst dein ganzes Leben lang Fälle von steifen Schultern sehen. Ich habe vor neun Jahren eine Dame mit beidseitiger Schultersteife gesehen. Sie konnte ihren Arm nur ein bisschen heben und dann wurde sie einfach ohnmächtig. Sie hatte eine beidsei-tige Neuritis brachialis und das schon seit vielen Jahren. Sie hatte lange alle mögli-chen Behandlungsarten ausprobiert, bevor ich sie sah, und als sie kam, arbeitete ich mit allen Techniken, die je entwickelt worden sind. Ich habe alles, was im Buche stand, ausprobiert, um diese Schultern zu lockern. Die Schulter ist eine beeindru-ckende Struktur. Der einzige Ort an dem die obere Extremität an dem knöchernen Skelett hängt, ist die Verbindung mit dem Sternum am medialen Ende der Klavi-kula. Hier ist der einzige knöcherne Kontakt des Armes mit dem Rest des Körpers. Alles Weitere ist ein frei hängender Mechanismus aus Bändern, Sehnen und Faszien, die bis zum Hals hinaufreichen, über den Th orax und die Hüft e hinunter verlaufen. Alles andere hängt im Raum.

Nach drei Monaten fühlten sich die Schultern der Frau etwas wohler, aber in Bezug auf die Beweglichkeit des Armes waren wir keinen Schritt weitergekommen. Eines Tages lag sie auf meiner Behandlungsbank, ich zog meinen Schuh aus und legte meinen Fuß in ihre Achselhöhle. Ich setzte meinen palpatorischen Tastsinn bis durch die Sohle meines Fußes hindurch ein und versuchte herauszufi nden, was los war. Da kam mir ein Gedanke und gleichzeitig berichtete sie mir, dass sich das, was ich gerade tat, gut anfühle. Ich übte nicht viel Druck auf ihre Achsel aus und ich dachte mir: »Du hast einen Fulkrumpunkt hergestellt, wie wäre es denn, hier eine Krücke hinzusetzen?« Genau das tat ich und es half ihr.

Um diese Methode anzuwenden, stellst du unter Berücksichtigung der Schuhe, die der Patient gewöhnlich trägt, eine Krücke auf die richtige Höhe ein. Sie wird so justiert, dass sie genau die höchste Stelle der Achsel erreicht. Das Einzige, was die Patienten tun, ist, die Krücken mittels der Griff e zu lenken, wenn sie darauf laufen. Sie sollen sich überhaupt nicht darauf stützen; sie gehen ganz normal mit der Krücke unter dem Arm. Sie benutzen sie für jeden Schritt den sie machen, vom

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II–73Kapitel 1 – Ann-Arbor-Seminar

Die Patienten werden eine Erleichterung haben. Manche machen nur bis zu ei-nem Punkt mit und haben immer noch einen gewissen Grad an Bewegungsein-schränkung, aber die Schulter ist vergleichsweise so frei, dass sie keine Lust mehr haben, mit der Krücke herumzuspielen und nicht bis zum Ende durchhalten. Wenn sie wirklich ein schwerwiegendes Problem haben, wird es zwei bis drei Wochen dau-ern, bis sie eine Erleichterung spüren. Es ist so viel los im Schulterbereich. Erinnerst du dich an die anatomischen Bilder von allem, was es in der Achselhöhle gibt? Alle diese Dinge müssen gebadet werden. Es gibt viele Sachen dort, die Aufmerksamkeit benötigen, und sie werden nicht einfach reagieren, nur weil du es verlangt hast. Bei diesem Prozess geht es nicht darum, den Geist über die Materie zu stellen. Es geht darum, es dem Verstand zu erklären.

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II–75Kapitel 2 – Die Stille nutzen

der absoluten Grund-Qualität des Lebens seien – der Bewegung. Und aufgrund eigener direkter Erfahrung betonte der Buddha den dynamischen Charakter von Realität im Gegensatz zu der damals allgemein vorherrschenden Auff assung, dass es ein feststehendes Atmaveda gäbe, in der eine ewige und unveränderliche Wesen-heit proklamiert wurde.10 Weiterhin sagte der Autor, dass in der Tat das ursprüng-liche Konzept des Atman das einer »universellen rhythmischen Kraft , des lebendigen Atems des Lebens« sei, vergleichbar mit dem griechischen Pneumatos (Geist), der das Individuum wie das Universum durchfl utet.11

Er sprach über das Vorhandensein einer dynamischen, direkten Erfahrung, die dieser Stille entspricht. Es ist nicht das, was wir den Stillpunkt nennen – davon gibt es unzählige. Es ist diese Stille. Die Stille ist die treibende Kraft in dem Konzept, das ich in meiner Praxis nutze. Ich benutze defi nitiv die Stille als treibende Kraft , um Veränderungen in meinen Patienten sicherzustellen.

Bei einem anderen östlichen Philosophen fand ich eine wunderschöne Beschrei-bung der Stille. Der Mann lauschte einem Künstler, der ein sehr kompliziertes indi-sches Musikinstrument spielte. Der Musiker spielte wunderbar, seine Hände glitten über die Saiten und indem er die Saiten in die richtige Spannung versetzte und auf korrekte Weise zupft e, erzeugte er die richtige Tonqualität. Der Zuhörer fährt in seiner Beschreibung fort:

»Etwas Merkwürdiges geschah in dem Raum, den man Verstand nennt. Er hatte die anmutigen Bewegungen der Finger betrachtet, den süßen Klängen gelauscht, die nickenden Köpfe und die rhythmischen Hände der stillen Menschen beobachtet. Plötz-lich verschwand der Beobachter, der Zuhörer; er war durch die melodischen Saiten nicht in einen Schwebezustand eingelullt worden, sondern vollkommen abwesend. Es existierte nur der gewaltige Raum des Geistes. Alle Dinge der Erde und der Menschen waren darin, aber ganz am äußeren Rande, vage und weit weg. Innerhalb des Rau-mes, wo nichts existierte, gab es eine Bewegung und die Bewegung war Stille. Es war eine tiefe, gewaltige Bewegung, ungerichtet, absichtslos, die von den äußeren Rändern herrührte und sich mit unglaublicher Kraft in Richtung Zentrum bewegte – einem Zentrum, das überall innerhalb der Stille ist, innerhalb der Bewegung, die Raum ist. Dieses Zentrum ist vollkommenes Alleinsein, unbefl eckt, unkennbar, eine Einsam-keit, die nicht Isolation bedeutet, die keinen Anfang und kein Ende hat. Sie ist in sich

10 Main Currents of Modern Th ought, Sept./Okt. 1970. 11 Atman: das Selbst; der Geist; das ewige, im Herzen eines jeden lebenden Wesens vorhandene

Prinzip.

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II–77Kapitel 2 – Die Stille nutzen

austausches, seines arteriellen Zufl usses und seiner venösen Drainage. Der gesamte Überblick unserer Ausbildung gibt uns ein dynamisches Verständnis von dem, was wir palpieren und was wir in unseren Händen haben. Sobald ich mir der Stille als treibende Kraft , welche die Kontrolle über diesen Fall hat, bewusst bin, beginnen meine Hände zu palpieren und fühlen das Verschieben der Elemente der Körper-physiologie und deren Antwort auf diese treibende Kraft , die aus der Stille herrührt. Es ist mehr als nur ein Gefühl von Bewegung. Ein lebendiger Austausch fi ndet statt. Es ist ein wahres physiologisches Beschreiben des Musters der Körperphysiologie, so wie sie in dem vorhandenen Problem existiert, das in die Praxis gebracht wurde. –

Meine Hände spüren das gesamte Muster des Krankheitsprozesses, des trauma-tischen Prozesses – alle Elemente der ganzen Körperphysiologie, die sich als trau-matischer Prozess oder Krankheitsprozess der Funktion innerhalb dieses Systems manifestieren. Meine Hände – meine denkenden, fühlenden, wissenden Finger – können die äußeren Manifestationen des Lebens als Zeit, Raum und Bewegung in diesem existierenden Problem innerhalb des Patienten spüren. Das ist für die Hände und die Sinne spürbar. Es ist an dem Gang des Patienten zu sehen und daran, wie er seine Geschichte dem Behandler gegenüber beschreibt. Es ist die Sinneserfahrung der Auswirkungen dieses Problems auf den Patienten, und all dies ist dem Empfi n-dungsvermögen des Behandlers zugänglich.

Wir haben bisher zwei Punkte angesprochen. Der erste ist das Wahrnehmen oder das Sich-Bewusstmachen von Stille – und dies ist ein Produkt des Geistes. Dies ist das Gebrauchen des Geistes. Dies ist die Fähigkeit, die Stille zu erfassen, zu erken-nen und zu erfahren und muss durch Wahrnehmen und Bewusstmachen vom Geist aus geschehen. Der zweite Punkt ist, dass dieser arbeitende Mechanismus für den ausgebildeten Tastsinn der denkenden, sehenden, fühlenden und wissenden Finger zu erspüren ist. Es ist möglich, die Manifestationen der Veränderung zu spüren, die im Gewebe stattfi nden, angeregt durch die Stille, die im Patienten ist. Wenn wir sie uns bewusst machen oder wahrnehmen, wie sie ihre Arbeit im Patienten vollzieht, dann haben wir hier ein Gesetz der inhärenten physiologischen Funktion, die ihre eigene unfehlbare Potency manifestiert. Lass es uns nochmal ein bisschen anders ausdrücken, indem wir sagen: Der inhärenten physiologischen Funktion wird er-laubt, sich zu manifestieren als Resultat von Potency oder Stille in Aktion in diesem Patienten.

Als Behandler bin ich mir tief bewusst, dass ich durch meine denkenden, fühlen-den, wissenden Finger teilhabe an diesem Erfahren von Bewegungen, Mobilität und Funktionsabläufen, die in den krankheitsbedingten und traumatischen Zuständen

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II–79Kapitel 2 – Die Stille nutzen

Tatsache zu spüren, dass es einen Austausch zwischen Stille und Gesundheit gibt. Genauso viel Energie wie in die Körperphysiologie hineinfl ießt, fl ießt aus ihr zurück, um sich in die Stille aufzulösen. Es vollzieht sich ein vollständiger Austausch, eine Ebbe und eine Flut. Du kannst diesen Austausch von Stille und Gesundheit als einen freien Austausch und als ein totales Aufl ösen in beide Richtungen spüren, wenn du deine Hände auf einen gesunden Körperteil legst. Es gibt kein Problem – es herrscht Freiheit. Wenn du deine Hände auf ein Problem legst, teilst du als Behandler die Erfahrung, du teilst die Erfahrung des Problems im Patienten. Du erfährst die Stille, mit ihrer motivierenden Energie, die den ganzen Körper zentriert. Du kannst den Austausch zwischen der Stille und dem Problem spüren. Du kannst die Verschie-bung in der dynamischen Körperfunktion spüren und wie sie zu ihrem eigenen in-härenten Problem in Beziehung steht. Und du kannst spüren, wie sie versucht sich zu befreien und in vollkommenen Austausch mit der Stille zu gelangen. Das ist die Einfachheit beim Erspüren der körperphysiologischen Funktion, wie sie die aufge-stauten Kräft e, die Spannungen, Druckzustände, artikulär-ligamentären Dysfunk-tionen und toxischen Zustände löst und verwandelt. So fühlt es sich an, wenn die ganze Organisation der Körperphysiologie mit der Energie der Stille arbeitet und von ihr angeregt wird, um ein Muster der Veränderung, ein Muster der Korrektur zu erzeugen. Daher ist dies ein Behandlungsprogramm, in dem Gesundheit eine Rück-kehr zum freien Austausch zwischen Körperphysiologie und Stille bedeutet.

Nun, ich habe es wahrscheinlich nicht besonders gut ausgedrückt, Anne. Ich fühle aber ganz deutlich, dass wir die Gelegenheit haben, uns intensiver dem Stu-dium der Stille zu widmen. Ich bin der Überzeugung, dass es unser bewusstes Recht als Behandler ist, dieser Stille einen lebendigen Anteil in der Dynamik unserer Dia-gnose, in unserem Behandlungsprogramm und in der Betreuung unserer Patienten einzuräumen. Ich erzählte dir bereits von der Erfahrung, die ich machte, als ich sie zur Selbstbehandlung einsetzte. In diesem bestimmten Fall versuchte ich nicht, die in meiner Körperphysiologie stattfi ndenden Veränderungen zu palpieren, weil ich derjenige war, der behandelt wurde, und durch meine Sinne die Veränderungen in meiner Körperphysiologie subjektiv erleben konnte. Mein Bewusstsein war geistiges Bewusstsein, geistiges Wahrnehmen von Stille.

Die physiologischen Reaktionen meines Körpers auf dieses Behandlungspro-gramm konnte ich auf sensorischer Ebene durch die subjektiven Sinne meiner Kör-perphysiologie wahrnehmen.

Wenn ich das auf einen Patienten anwende, ist das Bewusstsein meines Geistes und meines Verstandes auf die vollkommene Stille gerichtet, die das gesamte Selbst

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3. Ein Konzept für Gesundheit, Trauma und Krankheit und die Technik für den rhythmisch

balancierten Austausch

Diesen 1972 verfassten und dann zwei Mal – im Mai 1974 und im Januar 1975 – überarbeiteten Text, in dem er sein eigenes Verständnis von Behandlung und seinen Ansatz zusammenfasste, schrieb Dr. Becker nur für den eigenen Gebrauch. Er versuchte niemals, ihn zu veröff entlichen, obwohl er ihn Kollegen zeigte. Die vorliegende Version stammt von 1975.

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II–83Kapitel 3 – Ein Konzept für Gesundheit, Trauma und Krankheit

Ein Konzept für Gesundheit, Trauma und Krankheit

Die Körperphysiologie demonstriert die folgenden Prinzipien:

1. LEBEN wird durch2. Raum und Zeit als Bewegung manifestiert, um sich als3. Funktion der Körperphysiologie darzustellen.

Leben lässt sich nicht defi nieren. Es kann beschrieben werden. Zeit, Raum und Bewegung sind die Manifestationen des Lebens, von seinen höchsten spirituellen Manifestationen bis hinunter zu den einfachsten physischen Phänomenen. Leben beinhaltet Stille und Raum/Zeit :: Bewegung, um den Körper als physiologische Funktion zu demonstrieren.13

Gesundheit: Körperphysiologische Funktionsweise (anatomisch-physiologische Mobilität, Motilität, balancierter Flüssigkeitsaustausch) (Raum/Zeit :: Bewegung) und die Stille (Potency) des Lebens manifestieren völlige Freiheit in rhythmisch balanciertem Austausch.

Traumen, Krankheit etc.: Körperphysiologische Funktionsweise (anatomisch-physiologische Mobilität, Motilität, balancierter Flüssigkeitsaustausch) (Raum/Zeit :: Bewegung) und die Stille (Potency) des Lebens manifestieren einen für jedes Trauma, jede Krankheit oder jeden anderen eingeschränkten Zustand spezifi schen begrenzten rhythmisch balancierten Austausch.

Die Stille des Lebens wird durch genaue Wahrnehmung (Bewusstheit) direkt erfahren als dynamischer Charakter der Wirklichkeit. Raum/Zeit :: Bewegung der körperphysiologischen Funktion wird durch genaue Wahrnehmung (Bewusstheit) und durch die physischen Sinne einschließlich der Palpation direkt als dynamischer Charakter der Wirklichkeit erfahren.

Die Anwendung dieses Wissens kann auf verschiedene Arten beschrieben wer-den.

Um die körperphysiologische Funktion einschätzen zu können, ist es notwendig, mit Hilfe der wissenden Bewusstheit dieses dynamischen Faktors des Lebens die Stille wahrzunehmen und gleichzeitig mit Hilfe der physischen Sinne, einschließ-

13 Das mathematische Symbol »::« steht für »Proportion« – eine proportionale Beziehung zwischen Anteilen. Dr. Becker zitierte in einem Brief an einen Kollegen einen Autor, dessen Werk er gelesen hatte, und der sagte, dass Raum und Zeit zwei Aspekte der fundamentalsten Qualität des Lebens seien, nämlich der Bewegung.

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II–85Kapitel 3 – Ein Konzept für Gesundheit, Trauma und Krankheit

nötigt der Behandler eine Arbeitsphilosophie und physiologische Kenntnisse vom anatomisch-physiologischen Mechanismus des Patienten. Die Techniken für den rhythmisch balancierten Austausch in der Körperphysiologie bewerten und för-dern die Gesundheit (Gesundheit: uneingeschränkte Funktionsfähigkeit in allen Gebieten der Körperphysiologie) und können Traumen und Krankheit (Traumen und Krankheit: eingeschränkte Funktionskapazität in spezifi schen Gebieten der Körperphysiologie, für jedes Trauma und jeden Krankheitszustand spezifi sch) dia-gnostizieren und behandeln.

Der Osteopath verfügt grundsätzlich über eine Ausbildung in Anatomie, Phy-siologie, Pathologie und allen verwandten Wissenschaft en, die einer medizinischen Bewertung der Gesundheit dienen, und ist in der Lage, etwas für den Patienten zu tun mittels Medizin, Chirurgie oder anderen Vorgehensweisen, Traumen und Krankheit diagnostizieren und behandeln. Die Techniken für den rhythmisch ba-lancierten Austausch verlangen von einem Behandler, einen Schritt weiter Richtung Verständnis der Körperphysiologie des Patienten zu gehen, indem er mit den anato-misch-physiologischen Mechanismen des Patienten und durch sie hindurch arbei-tet und deren Potency als motivierende Kraft nutzt, um Gesundheit einzuschätzen und zu erzeugen und bestehende Traumen und Krankheit zu diagnostizieren und zu korrigieren.

Leben ist Bewegung in Raum- und Zeitbezügen, von den höchsten spirituellen Manifestationen bis zu den einfachsten physischen Phänomenen. Die Körperphysio-logie ist Bewegung in Raum- und Zeitbezügen, von den höchsten spirituellen Mani-festationen bis zu den einfachsten physischen Phänomenen. Die Körperphysiologie schließt Energien auf allen Ebenen ihrer Existenz in Bewegungs- und Zeitkoordi-naten ein; sie bezieht alle Körperfl üssigkeiten, alle Weichteilgewebe, alle knöcher-nen Gewebe mit ein und ebenso den Austausch zwischen allen Elementen der Kör-perphysiologie, von den höchsten spirituellen Manifestationen bis hinunter zu den einfachsten physischen und in der Umwelt vorkommenden Phänomenen. Es reicht von der Einnistung des befruchteten Eis bis hin zu dem letztendlich empfundenen Übergang des Individuums auf eine andere Ebene des Handelns.

Jede individuelle Körperphysiologie ist, um Leben zu manifestieren (Bewegung :: Raum/Zeit, höchste spirituelle Manifestation bis hin zu physischen Phänomenen), mit Kraft , Energiefeldern und Potency ausgestattet – einer Potency, die man anzap-fen, lesen und mit der man arbeiten kann und die sich vom Behandler für seine Di-agnostik und sein Behandlungsprogramm nutzen lässt, um Gesundheit zu schaff en und die Eff ekte von Traumen in der individuellen Körperphysiologie des Patienten

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II–87Kapitel 3 – Ein Konzept für Gesundheit, Trauma und Krankheit

Die Körperphysiologie des Patienten hat die Ressourcen, in allen Beziehungen zu kooperieren. Sie nutzen zu lernen, ist die Aufgabe des Behandlers.

Defi nitionen

Kör per ph ysiologie: Generelle Fähigkeit eines Individuums, Gesundheit zu kreieren und Traumen und/oder Krankheit zu widerstehen oder sich daran anzu-passen.Potency: treibende Kraft des Lebens, von der höchsten spirituellen Manifestation bis zu den einfachsten physischen Phänomenen.R h ythmisch: die Wiederkehr einer Aktion oder Funktion in regelmäßigen In-tervallen; harmonische Beziehungen.Ausba la nciert: das Prinzip der Einheit, des Einsseins; ein automatisch sich verschiebendes, frei schwebendes Fulkrum innerhalb aller anatomisch-physiologi-schen Mechanismen; die Stätte der Potency für alle Energien, die mit einem Bewe-gung :: Raum/Zeit-Verhältnis zusammenhängen; in ihr ist die Stabilität, die in der Ursache liegt. Austausch: gegenseitiges Geben und Nehmen.

Anatomisch-physiologische Mechanismen

Rhythmisch balancierte Austauschtechniken nutzen direkt die gesamten Energien und Ressourcen der Körperphysiologie des Patienten für die Diagnose und die Be-handlung durch Interpretation der Bewegung des Lebens in Raum/Zeit-Verhältnis-sen einschließlich des Austausches der Körperfl üssigkeiten, aller Zellbewegungen der Weichteilgewebe und der artikulären Mobilität der knöchernen Bestandteile. Diese Techniken sind mehr als fasziale Techniken, ligamentär-artikuläre Techniken oder membranös-artikuläre Techniken. Dennoch sind diese Anwendungsbeschrei-bungen die Werkzeuge, mit deren Hilfe der Behandler seinen Tastsinn und sein Pal-pationsvermögen ausbilden kann, um bei Diagnose und Behandlung die gesamten Energien und Ressourcen der Körperphysiologie zu nutzen.

Der einfache Hebel und sein Fulkrum dienen als ein Beispiel der Raum/Zeit-Be-wegungen der Hebelarme über einen Bereich der Fulkrumbalance, der die Potency enthält. In den Funktionsabläufen der Körperphysiologie werden aus den Ebenen der Raum/Zeit-Bewegung der faszialen Gewebe und des Bindegewebes Hebelarme

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II–89Kapitel 3 – Ein Konzept für Gesundheit, Trauma und Krankheit

Allgemeine Prinzipien

Es ist das primäre Ziel der Körperphysiologie-Ressourcen, Gesundheit für den Ein-zelnen zu erschaff en. Die Tendenz der Körperphysiologie geht immer in Richtung Gesundheit. Wird der Körperphysiologie Traumen oder Krankheit hinzugefügt, widersteht sie oder passt sich an die ihr auferlegten Einschränkungen an und sucht in den anatomisch-physiologischen Funktionsabläufen kontinuierlich weiter nach Gesundheit. Rhythmisch balancierte Austauschtechniken sind ein direkter Ansatz, um mit der Körperphysiologie zu arbeiten und sie beim Herstellen von Gesundheit sowie beim Aufl ösen von Traumen und Krankheit in ihren anatomisch-physiolo-gischen Funktionsabläufen zu unterstützen. Es ist der intelligente Einsatz rhyth-misch balancierter Austauschtechniken, notfalls ergänzt durch medizinische und/oder chirurgische Intervention, der für die Körperphysiologie des Patienten in Zei-ten des Bedarfs die effi zienteste Form von Betreuung darstellt. Man kann die Selbst-heilungsfähigkeit der Körperphysiologie gar nicht hoch genug einschätzen.

Rhythmisch balancierte Austauschtechnik

Diese Technik ist eine Methode, mit der man die Körperphysiologie des Patienten dazu bringen kann, ihren Gesundheitszustand selbst einzuschätzen und sich bei jedem möglicherweise bestehenden Traumen und Krankheitszustand selbst zu be-handeln und dabei ihre eigenen Ressourcen zusammen mit denen zu nutzen, die der Behandler einbringt. Das aktive Anwenden dieser Technik im Körpers des Patien-ten kann der Behandler durch sein Palpationsvermögen und sein bewusstes Wahr-nehmen der Gewebeprozesse in ihrem Behandlungszyklus beobachten. Die in der jeweiligen Behandlungssitzung erreichbaren Korrekturen werden bis zum nächsten Behandlungstermin anhalten.1. Beim Auswählen des Bereichs, auf den die Behandlung abzielen soll, stützt sich

der Behandler auf Anamnese und Beschwerdenverlauf des Patienten sowie auf Tests, die er durchführt, um herauszufi nden, was zuerst Aufmerksamkeit benö-tigt.

2. Der Behandler legt seine Hand oder seine Hände an den Körper oberhalb oder unterhalb der Gewebe des Zielorts und übt auf die betroff enen Gewebe eine maß-volle, kontrollierte Kompression aus.

2a. Der Behandler baut gegenüber der Körperphysiologie des Patienten ein Fulkrum auf.

2b. Der Fulkrumkontakt des Behandlers ist wie alle naturgegebenen oder vom Men-

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II–91Kapitel 3 – Ein Konzept für Gesundheit, Trauma und Krankheit

am Ort der Balance, um die Verschiebung am Ort der Potency im Patienten her-beizuführen und ein Lösen des Musters oder der rhythmisch balancierten Aus-tauschaktivität der betroff enen Gewebe zu bewirken.

4. Der Behandler erhält seine(n) Fulkrumhandkontakt/e aufrecht, bis seine be-wusste Wahrnehmung und Palpation ihn davon überzeugt haben, dass in der Potency eine Verschiebung vollbracht ist, und bis die rhythmisch balancierte Aus-tauschaktivität der betroff enen Gewebe darauf hinweist, dass die Elemente am Zielort sich lösen und nun auf dem Weg sind zu einem gesünderen Funktionieren in der Körperphysiologie des Patienten.

5. Der Behandler verlegt dann seine(n) Fulkrumhandkontakt(e) an den nächsten Zielort in der Körperphysiologie des Patienten. Dieser nächste Ort wird durch die spezifi schen Bedürfnisse des traumatischen oder krankhaft en Zustandes während der Behandlung bestimmt.

5a. Der Behandler baut erneut einen oder mehrere Fulkrum-Potency-Hand-kontakt(e) auf, mit deren Hilfe die Körperphysiologie des Patienten die Behand-lung fortführen kann.

5b. Durch palpatorisches Gespür fühlt der Behandler als Antwort die Verschiebung des ersten Zielortes zusätzlich zu der am zweiten Zielort angestrebten Verschie-bung. Er harmonisiert die erwünschten Korrekturen am zweiten Zielort mit de-nen, die am ersten erzeugt wurden.

5c. Er begleitet die Aktivitäten am zweiten Zielort durch die gleichen Schritte wie zuvor am ersten Zielort.

6. Der Behandler führt die Behandlung an so vielen Zielorten durch, wie es für den Behandlungsplan bei diesem Termin angebracht oder nötig erscheint.

7. Die für eine Behandlung benötigte Zeit variiert von Patient zu Patient. Der Sinn der Behandlung ist es, die Körperphysiologie zu erwecken, damit sie ihre eigenen Gesundheitsmuster einschätzt und ihre eigenen traumatischen oder krankhaf-ten Zustände mit Hilfe der Ressourcen aus ihren anatomisch-physiologischen Mechanismen behandelt. Es dauert vielleicht ein paar Minuten, um den ersten Zielort durch den Behandlungszyklus zu führen, aber wenn die Reaktion der Körperphysiologie erst einmal in Gang gebracht ist, reagieren die nachfolgend ausgewählten Zielorte viel schneller auf die fortwährenden Bedürfnisse inner-halb des Patientenkörpers. Die am ersten Zielort erreichte Korrektur agiert als Stimulus, um mit den korrigierenden Maßnahmen an den anderen Zielorten schneller fortzufahren, während die Potency-Faktoren der Gewebe der Körper-physiologie ihre Veränderungen durchführen.

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II–93Kapitel 3 – Ein Konzept für Gesundheit, Trauma und Krankheit

rhythmisch balancierte Austauschtechnik, die die bewusste Wahrnehmung, den Tastsinn und das Palpationsvermögen des Behandlers trainiert.

Der Behandler projiziert seine bewusste Wahrnehmung und seinen Tast- und Palpationssinn in den Körper des Patienten hinein, um1. den gegenwärtigen Zustand der Gesundheit der Gewebe des Individuums zur

Zeit der Behandlung zu beurteilen – um also ein von der Frage »Was ist für die-sen individuellen Patienten Gesundheit?« ausgehendes Bewusstsein und palpa-torisches Gespür zu entwickeln, was sehr wichtig ist.

2. die spezifi sche Tonusqualität der Gewebe am Zielort des Traumas oder der Krankheit in Bezug darauf zu bewerten, ob sie aktuell oder chronisch involviert sind, und um den off ensichtlichen Zeitfaktor dieses Involviertseins einzuschät-zen.

3. das Potenzial der Verbesserungsfähigkeit der anatomisch-physiologischen Funk-tion in den Zielgeweben hinsichtlich einer eventuell vollkommenen Gesundung oder einer unvollständigen Anpassung in Bezug auf den Rest der physiologischen Funktion des Patienten zu bestimmen.

4. die Reaktionszeit einzuschätzen, die benötigt wird, um einen rhythmisch balan-cierten Austausch in den vielschichtigen faszialen, ligamentären und oder mem-branösen Hüllen hervorzurufen oder zu induzieren und sie dazu zu bringen, dass sie ihre eigene Balance für die spezifi sch stattfi ndende Behandlung fi nden. Durch den Einsatz rhythmisch balancierter Austauschtechniken können die Gewebe des Patienten am effi zientesten in ihre eigene organisierte Aktivität gebracht wer-den.

5. den Ort der Balance im Bereich des rhythmisch balancierten Austausches in den Zielgeweben zu evaluieren – um die Gewebereaktion am Ort der Balance zu unterstützen – um während der Behandlung einen Moment der Pause, des In-nehaltens, eine »Stille«, eine Modifi kation der Potency am Ort der Balance im Muster zu spüren – dies ist der Moment der Korrektur.

6. korrigierende Veränderungen, die in den Zielgeweben stattfi nden, zu bewerten, nachdem die vorhandene Korrekturphase am Ort des rhythmisch balancierten Austausches stattgefunden hat.

7. Schritte 4, 5, und 6 bilden eine Diagnose-Behandlung-Einheit für einen Zielbe-reich, der mittels rhythmisch balancierter Austauschtechniken behandelt wird. Die Sequenz kann für alle drei Schritte nur eine Minute oder auch mehrere Mi-nuten erfordern, abhängig von der Komplexität des Problems, das in den Zielge-weben zu fi nden ist. Die anatomisch-physiologischen Bedürfnisse innerhalb der

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II–95Kapitel 3 – Ein Konzept für Gesundheit, Trauma und Krankheit

Anwendungen der Körperphysiologie

Pathologien der Weichteilgewebe: (Muskeln und Organe aus Parenchym wie z. B. Le-ber, Herz, Nieren, Lungen etc.). Sie erfordern seitens des Behandlers ein detailliertes Wissen über die Rolle der Faszien, die die Beweglichkeit des Bindegewebes, der in-volvierten spezifi schen Weichteilgewebe und der Organe unterstützen.

Der Behandler sichert den rhythmisch balancierten Austausch in den faszialen Hüllen der involvierten Weichteilgewebe oder Organe, um ihre Mobilität in einer gesunden physiologischen Funktion wiederherzustellen. Zusätzlich sichert er den rhythmisch balancierten Austausch der zugehörigen venösen und lymphatischen Drainagewege, der arteriellen Versorgung und der Kontrollinstanzen des vegetati-ven Nervensystems für die involvierten Organe, um eine gesunde anatomisch-phy-siologische Funktion wiederherzustellen.

Ligamentäre Gelenkdysfunktionen: Sie erfordern seitens des Behandlers ein de-tailliertes Wissen über die Funktionsmuster der ligamentär-artikulären Beziehun-gen der zervikalen, thorakalen und lumbalen Wirbelsäule, des Brustkorbes, des Be-ckens und der damit verbundenen Gebiete. Der Behandler sichert den rhythmisch balancierten Austausch der involvierten spezifi schen ligamentär-artikulären Dys-funktionen und die der assoziierten Gewebe der venösen und lymphatischen Drai-nage, der arteriellen Versorgung und der spinalen Kontrollinstanzen des vegetati-ven Nervensystems, um die Gesundheit der anatomisch-physiologischen Funktion wiederherzustellen.

Membranöse Gelenkdysfunktionen: Was sie voraussetzen, ist ein detailliertes Wis-sen über die koordinierten und integrierten Funktionsmuster der Fluktuation des Liquor cerebrospinalis, die Motilität des Gehirns und des Rückenmarks, die Mobili-tät der reziproken Spannungsmembran (Dura mater), die artikuläre Mobilität der 22 Schädelknochen und die unwillkürliche Mobilität des Sakrum zwischen den Ilia.

Der Behandler sichert den rhythmisch balancierten Austausch der involvierten spezifi schen membranösen Gelenkdysfunktionen, um eine gesunde anatomisch-physiologische Funktion wiederherzustellen.

Traumen und Krankheitszustände: Sie umfassen sämtliche traumatischen Prob-leme, unabhängig von deren Einfachheit oder Komplexität, und sämtliche Krank-heitszustände, unabhängig von deren Einfachheit oder Komplexität.

Dies erfordert seitens des Behandlers ein detailliertes Wissen der Anatomie, Physiologie und Pathologie und der Veränderung in den Mustern der anatomisch-physiologischen Funktion für jeden spezifi schen traumatischen oder krankhaft en Zustand während seines Fortschreitens von seinen Anfängen über den Zeitpunkt,

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II–97Kapitel 3 – Ein Konzept für Gesundheit, Trauma und Krankheit

physiologie des Patienten herzustellen. Der Behandler nutzt seine bewusste Wahr-nehmung und seine Hände, um aktiv die Zielgebiete auszuwählen und er baut aktiv eine Hand-Fulkrum-Kompressions-Potency am Körper des Patienten auf, die für die Körperphysiologie des Patienten eine Ausgangslinie schafft , von der aus sie ihre rhythmisch balancierte Austauschaktivität beginnen kann. Dieses Fulkrum ist also eine Ausgangslinie, von der aus der Behandler die Veränderungen, die innerhalb der Körperphysiologie des Patienten stattfi nden, lesen kann. Der Behandler spürt, fühlt, und erfährt die Aktivitäten der Körperphysiologie des Patienten, nimmt an ihnen teil und folgt ihnen, während sie den Behandlungszyklus durchläuft . Der Behandler wählt die sekundären Zielgebiete aus, um vom Körper des Patienten die effi zienteste Antwort für das zu behandelnde Problem zu gewinnen. Der Behand-ler beendet die Behandlung, wenn er das Gefühl hat, die maximale Antwort zu spüren, die die Körperphysiologie an diesem speziellen Behandlungstermin geben möchte oder kann. Der Behandler plant den nächsten Behandlungstermin so, wie es den durch die Ergebnisse der Behandlung geäußerten Bedürfnissen des Patien-ten entspricht.

Die Anatomie-Physiologie des Patienten ist ein großartiger Lehrer. Und der auf-merksame, aktive Geist (Bewusstsein, Wahrnehmung) und die Hände des Behand-lers werden diesen zu einem exzellenten Studenten machen, wenn er die rhythmisch balancierten Austauschtechniken anwendet.

Rhythmisch balancierte Austauschtechniken setzen voraus, dass der Behandler damit einverstanden ist, sich von der Körperphysiologie des Patienten benutzen zu lassen, um der innewohnenden physiologischen Funktion zu erlauben, ihre eigene unfehlbare Potency zu manifestieren, statt blinde Gewalt von außen anzuwenden.

Es folgen Auszüge aus Briefen von Dr. Becker an seine Kollegen.

Ich habe kürzlich den beigefügten Artikel geschrieben – er repräsentiert über Jahre angesammelte, in Worte gefasste Daten. Wenn dir der Ausdruck »Raum und Zeit :: Bewegung« bekannt vorkommt, kannst du ihn in Main Currents in Modern Th ought, Sept./Okt. 1970, Seite 20… fi nden. In dieser Ausgabe ist ein Artikel von einem östlichen Philosophen, der das Mysterium der Zeit diskutierte. Er behauptete, dass sowohl Raum als auch Zeit zwei Aspekte von Bewegung – der Grund-Qualität des Lebens – seien.

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4. Was machst Du?

Überarbeitete Abschrift einer Frage-und-Antwort-Periode während eines Grund-kurses, der 1988 in der Sutherland Cranial Teaching Foundation in Tulsa, Ok-lahoma, stattfand. Die genannten Mitglieder des Lehrkörpers sind Drs. Rollin Becker, John Harakal, Edna Lay und Herbert Miller.

Frage: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich meine Hände an einen Kopf an-lege, zu arbeiten beginne und dann hochblicke und darüber schockiert bin, dass 30 Minuten vergangen sind. Habe ich etwas Schlimmes gemacht?

E. Lay: Du wirst damit niemanden schaden, aber das bringt uns zu einem guten Punkt. Menschen, die diese Arbeit verrichten, können so verliebt sein in diese fan-tastische, merkwürdige Welle von rhythmischen Sachen, die passieren, dass sie sich davon mitreißen lassen. Sie genießen es einfach. Du wirst keinen Schaden anrichten und du kannst ewig so weitermachen, aber es bringt dich nicht voran.

Ich möchte gerne, dass Dr. Becker sich zu dem Unterschied zwischen »Auf-der-Welle-Mitreiten« und »Behandlung« äußert. Etwas passiert, wenn er an der Bank sitzt und arbeitet, obwohl es so aussieht, als säße er nur da. Ich möchte, dass Dr. Be-cker uns die Tatsache vermittelt, dass ein gewisser Grad an Anstrengung in die Ar-beit einfl ießt, wenn er behandelt.

R. Becker: Viele Jahre lang habe ich beim Behandeln von Patienten darauf hin-gearbeitet, eine Eins-zu-eins Beziehung zwischen mir und der Lebenssubstanz des Patienten aufzubauen. Wenn du deine Persönlichkeit komplett herausnimmst, dei-nen Namen wegnimmst, alles wegnimmst, was du im Leben besitzt, außer dem, was dich am Leben erhält, bist du automatisch einfach eine Körperphysiologie, die arbeitet. Wenn ich auf einer Eins-zu-eins-Basis arbeiten kann und versuche zu ver-stehen, was der Mechanismus (des Patienten) mir sagen will, werde ich geführt von der bestimmten Art des Musters und von der Art der Funktion in diesem Patienten. Sein Mechanismus hat buchstäblich das Sagen. Ich suche nicht nach einem Mus-ter innerhalb dieses Mechanismus. Ich höre zu, wie der Mechanismus funktioniert, während ich meine Hände anlege.

Ich beschreibe einen Fall, um es leichter zu machen. Ein Mann kam in meine

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II–101Kapitel 4 – Was machst Du?

Was ich damit verdeutlichen möchte ist Folgendes: Wir werden von der lebenden Physiologie des Patienten geleitet, um den Ort zu suchen, von wo aus etwas getan werden kann, um dem Körper zu erlauben, sich selbst beizubringen, seine Probleme loszulassen, und dieser Ort ist oft nicht dort, wo die Symptome sind. Indem wir kon-stant in diesem lebendigen Mechanismus lesen, sind wir in der Lage, zu erkennen, wie er auf das, was in der letzten Behandlung durchgeführt wurde, reagiert hat, und zu überlegen, was an diesem bestimmten Tag getan werden kann.

Es gibt eine konstante Verschiebung in der Verfügbarkeit dieser Information. Was hat dieser Körper, das er mir mitteilen möchte, und wie kann ich ihn dazu bringen, lauter zu sprechen? Wie kann ich fühlen, dass etwas passieren wird? Plötz-lich wird mir bewusst, dass es passiert ist, also sollte ich lieber loslassen und den Pa-tienten nach Hause gehen lassen, um zu genesen? Diese Herangehensweise an die Behandlung ist eine organisierte Methode, um dem menschlichen Mechanismus zu erlauben, eine Veränderung in einem lebendigen Körper, durch einen lebendi-gen Arzt zu erzielen.

Ich akzeptiere die Tatsache, dass ich lernen kann, die Körperphysiologie des Pa-tienten dazu zu nutzen, ihre eigene Arbeit zu machen. Die Frage ist: Welches ist der einfachste Mechanismus, den ich nutzen kann, der buchstäblich ein gewisse Kon-trolle über alles im Körper hat? Viele verschiedene Arten von Mechanismen sind am Arbeiten. Denke an alles, was unser Körper macht. Jedoch egal was er macht: Alles im Körper geht einfach rhythmisch in Flexion/Außenrotation und Extension/ Innenrotation. Absolut alles. Ich habe palpatorische Fähigkeiten entwickelt, mit denen ich den Flexions- und Extensionsmechanismus von jeglichem Gewebe im Körper lesen kann. Ich muss es nicht einen Muskel nennen, ich muss es nicht einen Ellenbogen nennen. Ich kann es einfach einen Teil des Körpers nennen, der die Re-geln befolgt.

Ich kann mit Jeglichem, was ich aussuche, im Körper arbeiten, weil jedes Ge-webe die Regeln von Flexion und Extension befolgt. Es muss keinen Namen haben. Die andere Sache ist, dass alles im Körper einen Fluid Drive hat, sonst würde es gar nicht erst funktionieren. Daher können meine palpatorischen Fähigkeiten den Fluid Drive lesen, der mit der Flexion und der Extension einhergeht.

Hier habe ich ein weiteres Beispiel aus der Praxis. Eine Frau kommt in die Pra-xis mit einer unglaublichen Dysfunktion des M. psoas. Sie war in einem Zelt zum Camping gewesen, mitten in der Nacht heulte ein Wolf und ihr Mann setzte sich auf, um zu sehen, was los war; wobei er sich mit seinem Ellenbogen direkt auf ihren Psoasmuskel lehnte.

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II–103Kapitel 4 – Was machst Du?

Als sie das nächste Mal wiederkommt, sagt ihr Mechanismus: »Bei mir hier drü-ben läuft es ziemlich gut. Ich arbeite mich hier gut hindurch, also lasse mich bitte die Behandlung die nächsten zwei Wochen lang überspringen, damit ich dies alles ab-sorbieren kann.« Ich bin also für heute fertig mit der Behandlung. Die Patientin kommt zurück und ich fühle dieselbe »Lebendigkeit« unten im Psoas wie oben in ihrer Schulter. Beim Einsetzen meiner palpatorischen Fähigkeiten, leitet mich die Patientin mit ihrem Fluid Drive und ihrem Flexion-Extension-Mechanismus als einzige Werkzeuge.

Es hat mich viel Zeit gekostet, um zu verstehen, dass du diesen Mechanismus auf das Allereinfachste reduzieren kannst. Es gibt nicht ein einziges medizinisches Textbuch, das sagt, dass die ganze Körperphysiologie ein Flexion-Extension-Mecha-nismus mit einem Fluid Drive ist, aber jeder Patient, der in deine Praxis kommt, ist einer. Du musst nicht danach suchen. Er liegt genau vor dir.

Frage: Dr. Becker, gerade sprachen Sie darüber, ganz dicht an diese Psoas-Dysfunk-tion heranzugehen, und gestern sprachen Sie darüber, weit draußen wie ein »Was-serläufer« zu sein. Könnten Sie über diese beiden Ideen sprechen? Wie verhalten die sich zur Potency und wie können diese beiden Dinge gleichzeitig existieren? Um ge-nau zu sein: Könnten Sie bitte über das Ganz-dicht-Herangehen im Gegensatz zum Weit-draußen-sein sprechen?

E. Lay (zu Dr. Becker): Darüber wollte auch ich dich bitten zu sprechen – es gibt Zeiten, wo du ein gewisse Kraft von außen anwenden musst, um das Innere zu be-einfl ussen.

R. Becker: Ich weiß nicht, ob ich eine Antwort habe. Die Idee des Wasserläufers ist ein Bild, das ich nutze. Ich sprach über die Tatsache, dass es verschiedene Ebenen gibt, auf denen wir palpieren lernen. Es gibt den Tastsinn in unseren Händen und die Propriozeptoren in den Muskeln unserer Unterarme. Zusätzlich können wir uns bewusst machen, dass wir diese Information durch das sensomotorische System in unserem Gehirn erhalten. Alle diese Herangehensweisen an die Kräft e innerhalb des menschlichen Körpers sind automatisch verfügbar durch das einfache Studium des Mechanismus, wie er im Patienten existiert.

Der Patient kommt mit einem Problem, mit etwas, das sich festgefahren hat, also müssen wir etwas tun, um ihm zu helfen. Lasst uns zurück zur Ausgangsidee gehen, über die wir vorhin gesprochen haben, nämlich dass der Körpermechanismus ein

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II–105Kapitel 4 – Was machst Du?

H. Miller: Ich möchte, dass Sie bemerken, dass Dr. Becker die ganze Zeit, während er sprach, über einen Mechanismus sprach und nichts benannte. Wenn Sie verwirrt sind, weil Sie glauben aus versicherungsrechtlichen oder anderen Gründen etwas benennen müssen, sind Sie ständig beunruhigt und liegen im Streit mit der ganzen Situation. Das kommt, weil Sie hingucken und dann aufh ören und es analysieren. Sie leben dann nicht hier und jetzt. Machen Sie Ihre Arbeit und nachher können Sie es dann analysieren und benennen, wenn es denn unbedingt sein muss.

R. Becker: Das ist hundertprozentig richtig. Wenn ich in meiner Praxis an meinen Patienten arbeite, nutze ich diesen Wasserläufer oder irgendetwas anderes, das mir zur Verfügung steht. Wenn es darum geht, Versicherungsmenschen und jeden an-deren zu befriedigen, ist das ein getrennter Teil meines Praxislebens. Ich arbeite am Patienten und nachher berichte ich, dass es sich um eine somatische Dysfunktion im zervikalen Bereich auf der Höhe von C5 handelte, und das übergebe ich dann dem Versicherungsinstitut.

J. Harakal: Hier haben wir eine weitere Analogie von Dr. Becker erhalten. Er sagt, dass während wir uns unserem Patienten mittels einer Intervention oder einer Ko-operation annähern – wie auch immer wir es nennen wollen – es ein Boot des Lebens gibt, das den Strom entlang geschwommen ist, lange bevor Sie vorbeikamen, und wir hoff en, dass es noch lange weiter schwimmen wird, nachdem Sie gegangen sind. Alles, was Sie tun, ist, auf das Boot zu steigen und zu helfen, es von einigen Ufern fernzuhalten, damit es nicht zu stark beschädigt wird. Das ist eine andere Art zu sagen: »Nimm dich nicht zu ernst, denn deine Intention könnte ein Leck in das Boot schlagen.« Du bist einfach dafür da, um beim Steuern des Bootes mitzuhelfen. Ma-chen Sie sich klar, dass der Fluss des Lebens in dieser Person seit ihrer Empfängnis gefl ossen ist und weiterfl ießen wird bis zu ihrem Tod.

Frage: Mir ist noch immer nicht klar, was wir tun. Wir folgen dem Mechanismus und nun sind wir angekommen, wir sind am Dysfunktionsmuster – wir sehen und fühlen es, und was dann?

R. Becker: Was dann? Wir lassen es arbeiten. Sie schnappen sich die Gewebe in und um diesen Bereich und komprimieren das Ding ein wenig. Sie triezen den Körper-mechanismus, der automatisch in Flexion/Außenrotation und Extension/Innen-rotation geht und Sie folgen diesen Mustern innerhalb dieses Bereichs, wo er am

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5. Vom Wissen zum Behandeln

Dieser Text ist die überarbeitete Abschrift einer Rede von Dr. Becker, die er sei-nen Kollegen in der Dallas Osteopathic Study Group präsentierte. Er hielt diese Rede als Vorbereitung für seine Präsentation dieses Th emas vor einer größeren Gruppe von Osteopathen in Austin, Texas, im Jahr 1967.

Osteopathie ist eine sehr schwer zu erlernende Wissenschaft . Wenn Sie sie lernen möchten, müssen Sie die fundamentale osteopathische Literatur studieren. Es gibt viele gute Bücher über Osteopathie. Wenn Sie aber die Grundlagen der Osteopathie, so wie Andrew Still sie festgelegt und gelehrt hat, lernen möchten, müssen Sie auf seine Schrift en zurückgreifen. Drei seiner veröff entlichten Bücher sind Autobiogra-fi e, Philosophie der Osteopathie und Osteopathie: Forschung und Praxis. Zusätzlich zu diesen Büchern müssen Sie Harold Magouns Osteopathie in der Schädelsphäre16 nehmen, weil Dr. Still die detaillierte Anatomie und Physiologie des kraniosakralen Mechanismus nicht auf die gleiche Art abgedeckt hat wie den Rest des Körpers. Des-halb ist Dr. Magouns Buch notwendig, wenn Sie eine komplette Analyse des ganzen Mechanismus der Körperphysiologie und Anatomie haben möchten.17

Das heißt nicht, dass Sie alles glauben müssen, was Dr. Still gesagt hat. In seiner Philosophie der Osteopathie zum Beispiel geht er sehr ins Detail über die Bedeutung von Ohrenschmalz. Ich habe nie gewusst, worüber er sprach. In seinem Buch For-schung und Praxis schlägt er alle möglichen Techniken für verschiedene Störungen vor, beschreibt, wie Korrekturen durchgeführt werden sollen, und ich bin nicht mit allen von ihm eingesetzten Methoden ganz einverstanden. Ich glaube, wir haben ei-nige der Methoden, die er benutzte, verfeinert, so wie das Analysieren, Diagnostizie-ren und Behandeln von »osteopathischen Dysfunktionen«. Es ist nicht notwendig, Dr. Stills Ansatz in jeglicher Hinsicht als DIE Art und Weise zu akzeptieren, wie

16 Anm. d. Hrsg.: Becker bezieht sich wie Sutherland auf die Erstausgabe des Werkes von H. Ma-goun Sr. Bei der vorliegenden deutschen Ausgabe handelt es sich um eine Übersetzung der vierten Aufl age, die sich in wesentlichen Teilen von der Erstausgabe unterscheidet.

17 Diese Rede wurde gehalten, bevor die Werke von Dr. Sutherland veröff entlicht wurden. Siehe auch Band I & II (Einige Gedanken und Unterweisungen in der Wissenschaft der Osteopathie) in Das große Sutherland-Kompendium, JOLANDOS, 2005.

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vom Wissen zum Behandeln. Wenn Ihre Fähigkeiten und die Resultate Ihrer Be-handlungen sich dann verbessern, werden Sie allmählich mehr über die Wissens-Seite nachdenken, die Prinzipien-Seite. Sie erreichen eine Balance zwischen Wissen und Behandlung und halten Ihren Geist off en für: »Wenn ich dieses mache, wird vielleicht jenes geschehen.« Wenn die Behandlung dann keine Resultate zeigt, haben Sie aus Erfahrung gelernt, dass es bei diesem Problem nicht funktioniert, und pas-sen Ihre Ansicht neu an, lassen sich etwas anderes einfallen und erzielen vielleicht Ergebnisse. Und wenn der nächste Fall mit einem ähnlichen Problem hereinkommt, merken Sie, dass Sie sich mehr auf Ihr Wissen verlassen können, um zu entscheiden, was Sie für den Patienten tun können. Auf diese Art entwickeln Sie ihr Vom Wissen zum Behandeln, und das ist das Ideal.

Die osteopathische Dysfunktion ist allgemein die Grundlage, auf der die osteo-pathische Behandlung aufbaut. Wenn wir in einem Patienten eine osteopathische Dysfunktion fi nden, nehmen die meisten von uns an, dies sei Ursache des Problems, das dieser Patient hat. Aber nicht alle von uns im osteopathischen Berufsstand glau-ben daran. Manche von uns denken in andere Richtungen. Wenn wir einer osteopa-thischen Dysfunktion begegnen, stellen wir fest, dass diese Dysfunktion aus einem bestimmten Grund da ist. Wir versuchen herauszufi nden, welchen Einfl uss eine solche Dysfunktion auf einen bestimmten Bereich haben würde, und denken über die Anatomie und die Physiologie nach, die sie repräsentiert. Vielleicht denken wir zurück bis zu dem, was diese Dysfunktion ausgelöst haben könnte. Warum hat diese Person diese Dysfunktion überhaupt? Wenn wir die osteopathische Dysfunktion als Werkzeug in unserem Gewerbe und nicht als Ursache für unser Gewerbe einsetzen, dann beginnen wir, wissende Osteopathie anzuwenden.

Die osteopathische Dysfunktion ist nur ein Eff ekt. Sie ist nicht die Ursache für irgendetwas. Die osteopathische Dysfunktion wurde durch eine Sache oder eine Kombination von Sachen produziert – Beispiele dazu werden wir später besprechen – und sie repräsentiert einen Übergangseff ekt, den wir mit unserem wahrnehmen-den Berühren palpieren lernen können. Sollten wir mit unserem wahrnehmenden Berühren lediglich eine osteopathische Dysfunktion fi nden und sie mobilisieren, werden wir der Bedeutung dieser Dysfunktion nicht gerecht. Sie ist wirklich nur ein Eff ekt. Sie ist nicht die Ursache für irgendetwas. Sie ist nur eine Phase der ana-tomisch-physiologischen Funktion.

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schon? Hat dieser Punkt etwas mit Ihren Symptomen zu tun?« Dann legen Sie Ihre Hände auf die Gewebe des Patienten und Sie fühlen die Beziehung zwischen seinen Beschwerden und dem Gefühl des Gewebes in den drei Dimensionen und der Zeit. Wie fühlt sich die Dysfunktion an? Auf diese Weise erfahren Sie die Geschichte des Eff ektes, der durch die Energie der Umwelt verursacht wurde, und sich in eine osteo-pathische Dysfunktion gewandelt hat, die wiederum innerhalb ihrer selbst Eff ekte erzeugt auf die Anatomie und Physiologie des Patienten.

Osteopathie ist in erster Linie ein Beruf des Denkens, mit einer denkenden Di-agnose und einer denkenden Behandlung. Sie können zu keinem Zeitpunkt aufh ö-ren zu denken, bei keiner Diagnose und bei keiner Behandlung. In die nachlässige Gewohnheit zu verfallen, eine Dysfunktion zu fi nden, zu machen, was Sie wollen, und zu hoff en, dass es etwas hilft , ist zu einfach. Ein alter Freund von mir hat jedem, der in seine Praxis kam, die gleiche Manipulationsbehandlung verabreicht. Es war egal, ob Sie mit einem Nebenhöhlenproblem oder einer lumbalen Dysfunktion an-kamen, er verabreichte die gleiche Routinebehandlung: rechte Seite, linke Seite, auf den Rücken, knack, knack, knack, er renkte Ihren Hals ein und Sie gingen raus. Er hat das 40 Jahre lang gemacht und verdiente gut. Hat er jemals Osteopathie prak-tiziert? Hat er nicht. Er ist immer noch ein guter Freund von mir. Man muss einen merkwürdigen Verstand haben, um Anatomie und Physiologie zu denken, um die Gewebemuster, die wir osteopathische Dysfunktion nennen, mit dem Problem im Patienten in Zusammenhang zu bringen und zu koordinieren. Und es erfordert Ge-schick – medizinisches Geschick, Wissen und Wahrnehmungsfähigkeiten.

Viele Osteopathen denken an knöcherne Beziehungen, wenn sie Osteopathie denken. Sie sprechen über das Korrigieren eines fünft en lumbalen Wirbels, einer zweiten Rippe, eines dritten Halswirbels und so weiter, aber das ist der unwichtigste Teil der osteopathischen Dysfunktion in der osteopathischen Diagnose. Es ist bis-her noch nie ein Skelett zu mir in die Praxis gekommen. Sehen Sie sich einen Quer-schnitt durch die Wirbelsäule im thorakalen Bereich an und bemerken Sie, dass der Wirbelkörper weit anterior, tief innerhalb der Gewebe liegt. Bemerken sie den Wirbelkanal mit den Nervenwurzeln, die dort herausgehen. Die Processus spinosi reichen an die Oberfl äche des Körpers, aber sehen Sie sich die Tiefe des Gewebes an. Schauen Sie sich die Muskeln, Ligamente, das Bindegewebe und die Blutversorgung, den Zu- und Abfl uss dieses Bereichs an. Die Gesamtheit dieses Bereichs stellt die osteopathische Dysfunktion dar, nicht die eingeschränkte Beweglichkeit der Facet-tenanordnung eines oder mehrerer Wirbel. Die Gesamtheit der muskulär-ligamen-tären Gelenkdysfunktion repräsentiert die osteopathische Dysfunktion. Wenn Sie

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sicherzustellen. Die Mobilisation jedoch ist der am wenigsten wichtige Teil einer osteopathischen Behandlung. Wir sollten zuerst an Funktion denken und dann erst an Bewegung. Warum? Der osteopathische Dysfunktionskomplex, den Sie in-nerhalb dieses Patienten fi nden, repräsentiert den funktionellen Anteil eines Dys-funktionsmusters, der durch etwas erzeugt wurde – durch eine Energie aus der Um-gebung. Er zeigt sich daher als reziprokes Spannungsfunktionsmuster, das sich als Dysfunktionsmuster darstellt und wenn Sie nicht analysieren können, warum es als Dysfunktion funktioniert, wissen Sie nicht, warum Sie es behandeln sollten. Eine Dysfunktion zu mobilisieren, nur um sie beweglich zu machen, löst nicht unbedingt die Energie aus der Umgebung, die dazu nötig war, sie zu erzeugen. Sie können sie vielleicht mobilisieren und es fühlt sich eventuell besser an, aber oft , wenn Sie Ihren Patienten bitten, einmal um den Block zu gehen und zurückzukommen, werden Sie dieselbe Dysfunktion wieder fi nden.

Sie müssen denkende, fühlende, wissende mentale Fähigkeiten entwickeln und eine denkende, fühlende, wahrnehmende Berührung, um die Funktion in diesem Dysfunktionsbereich zu fühlen, um alle Faktoren zu fühlen, die nötig waren, um diese Dysfunktion zu erzeugen. Erst wenn Sie all dies analysiert haben, sind Sie in der Lage, mit welcher Technik Ihrer Wahl auch immer, eine korrigierende Verän-derung sicherzustellen.

Spektrum der Ätiologien

Als Nächstes möchte ich über die osteopathische Dysfunktion in Bezug auf ihr Ätio-logie-Spektrum sprechen. Es gibt physische, emotionale und mentale Ätiologien und wir werden jede in gewissen Einzelheiten erörtern. Jede osteopathische Dysfunktion hat eine Ätiologie. Sie benötigte irgendeine Energie aus der Umgebung, um zu ent-stehen. Osteopathische Dysfunktionen, als Teil des Symptomenkomplexes, der die Störung des Patienten erzeugt, stellen eine Phase dar, die für Analyse und Diagnose verfügbar ist. Wenn Sie das anständig machen wollen, müssen Sie die Umweltfakto-ren, die in ihre Entstehung eingefl ossen sind, mit einbeziehen.

Denken Sie mal, nur zum Spaß, über jeden Patienten, den Sie sehen, auf diese Weise nach. Wenn ein Patient mit einem Dysfunktionsmuster zu Ihnen kommt, machen Sie sich klar, dass dieser Patient eine lebendige, denkende Maschine ist; ein computerisiertes, hoch technisiertes Motorsystem; ein muskulo-skelettäres und vis-zerales System, das eine osteopathische Dysfunktion als Teil des Syndroms oder der Beschwerde, die Sie gerade bei ihm untersuchen, entwickelt hat. Machen Sie sich

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fenen oberen Extremität führen. Alle diese Faktoren können Sie in Betracht ziehen, wenn Sie zurück zur Geburt gehen.

Lassen Sie uns jetzt auf etwas Off ensichtlicheres eingehen. Lassen Sie uns Trau-men betrachten wie sie durch Schläge, Stürze oder durch Heben, Ziehen, Verdrehen oder Schieben entstehen. Wenn Sie bei einem solchen Patienten Ihre Untersuchung nur darauf beschränken, die osteopathische Dysfunktion zu fi nden, haben Sie einen sehr großen Faktor aus Ihrem Wissen ausgeklammert. Dieser Patient ist ein denken-des Individuum mit einem Zentralen Nervensystem. Er musste einen Eimer Wasser von einem rutschigen Boden hochheben und hat sich nach vorne gebeugt, um das zu tun. Er hatte den Prozess so weit durchdacht, dass er sich vorbeugte, um den Ei-mer hochzuheben, und dann rutschte sein Fuß. Wie viele Sachen waren beteiligt? Der Denkprozess, die positionelle Veränderung, als er sich zum Eimer hinneigte, das Gewicht des Wassers im Eimer, das Wasser auf dem Boden, die Richtung des gerutschten Fußes und so weiter. All diese Energie aus der Umgebung war nötig, um diese Dysfunktion zu erzeugen. Das Gleiche trifft auf jegliche Art von Dysfunktion oder Trauma zu.

Wenn ein Patient Ihnen seinen Fall beschreibt, nehmen Sie die exakten Details auf und visualisieren Sie: Wie ist dies passiert? Was tat der Patient zu dem Zeit-punkt? Er sagt, dieses Problem habe bereits vor zehn Jahren begonnen. Was ge-schah damals? Was hat er getan, das ihn für zwei Wochen aus dem Verkehr zog? Gehen Sie zurück zum ursprünglichen Problem und fi nden Sie heraus, was mit seinem Nervensystem geschah und in was für einem Prozess er verwickelt war, um die lebendige Dysfunktion zu kreieren, die einer osteopathischen Dysfunktion innewohnt und die Sie bei Ihrer heutigen Untersuchung fi nden. Meistens werden Ihnen ihre Patienten nicht viel über die Dysfunktion erzählen; Sie werden Fragen stellen müssen. Das bedeutet aber nicht, dass Sie eine lange, detaillierte Anamnese erstellen müssen, bevor Sie herausfi nden, wovon sie eigentlich sprechen. Lassen Sie sie die Geschichte erzählen, während Ihre Hände auf den Geweben liegen. Es dau-ert nur ein paar Minuten und sie haben etwas, worüber sie sprechen können. Und Sie können spüren, worüber sie sprechen, während es sich Ihnen durch Ihre Hände off enbart.

Diese Herangehensweise gewährt Ihnen viel mehr Einblick als einfach die Aus-sage: »Hier ist die Dysfunktion.« Es erzählt Ihnen, warum ihr Nervensystem auf diese Art einbezogen ist, wie das Muster innerhalb des Nervensystems sich auf-gebaut hat. Das Nervensystem muss dies alles aufgezeichnet haben, sonst würden die Gewebe nicht die fasziale und ligamentär-artikuläre Spannung aufrechterhal-

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teopathischen Dysfunktionen im oberen thorakalen und unteren zervikalen Bereich, mit einem allgemeinen Tonus, der die Qualität einer Dysfunktionspathologie hatte und mir gar nichts sagte. Während ich zu fühlen versuchte, was da los war, gab ich ihr eine Behandlung, um etwas von den Beckenrestriktionen zu lösen, die von dem sechs Jahre zurückliegenden Entbindungsprozess stammten. Weiterhin arbeitete ich an ihren allgemeinen Beschwerden im Schultergürtel und im zervikalen Bereich.

Sie kam eine Woche später zurück und beschwerte sich bitterlich, dass keine Linderung eingetreten sei. Bei meiner zweiten Untersuchung zeigte sich, dass wir anscheinend ein paar Sachen getan hatten, um einige Gewebspathologien zu elimi-nieren. Durch die Veränderungen, die stattgefunden hatten, konnte ich jetzt einen Bereich von Th 3 bis Th 5 spüren, der sich bewegungslos anfühlte; er fühlte sich nur halb lebendig an. Von Th 3 aufwärts bis zum Nacken fühlte es sich vital an. Von Th 5 abwärts fühlte sich das Gewebe lebendig an; es hatte eine gute neurologische Vita-lität. Aber zwischen Th 3 und Th 5 fühlt es sich an, als wäre es krank.

Ich begann, ihr Fragen zu stellen. Ich fragte sie, ob sie irgendwelche schweren Stürze gehabt habe oder ihr Kopf gegen die Windschutzscheibe eines Autos geschla-gen sei oder irgendetwas erlebt habe, das dieses Gebiet in dieses schwere Muster ge-zwängt hatte. Nein, nichts dergleichen. Hatte sie jemals einen Stromschlag erlitten? Nein, kein Stromschlag irgendeiner Art. Aber als ich sie heute sah, sagte sie: »Sie hatten Recht, Doktor, ich hab vor sieben Jahren einen Stromschlag abgekriegt. Ein Jahr, bevor ich mein erstes Kind bekam, steckte ich ein Elektrogerät in die Wand und bekam einen fürchterlichen Schlag, der mich vom Stuhl warf und meinen Arm zehn Tage lang taub und schwach machte.«

Hier war also die Ursache für ihre osteopathische Dysfunktion: Die letzten sie-ben Jahre hatte sie 100 Volt bis hinauf durch den Plexus zervikalis und die zervikale Verdickung des Rückenmarks mit sich herumgetragen. Ihr Mann hatte sie daran erinnert. Hier war der Anfang ihrer Pathologie, obwohl sie anscheinend über die meisten Auswirkungen in dem Jahr hinweggekommen war. Dann, nach der Geburt ihres Kindes, nach der plötzlichen mit der Schwangerschaft einhergehenden Verän-derung des Haltungsfulkrums, nach dem Zunehmen an Umfang und dem schlag-artigen, innerhalb von sechs bis acht Stunden stattfi ndenden Wieder-dünn-Werden, war das Muster dekompensiert. Es tauchte nach der ersten Schwangerschaft auf und blieb ihr seither erhalten. Ich glaube, dass in einiger Zeit, falls wir den Eff ekt des Stromschlages auswaschen können, eine Chance besteht, ihr etwas Gutes zu tun. Wir werden es herausfi nden.

Ich habe auch eine viscerosomatische Pathologie als Ätiologie für eine osteopa-

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nung ist, sondern weil ich etwas von diesem Energiefeld dorthin zurückgeben kann, woher es ursprünglich kam. Behandlungen können Spannungsmuster verringern, damit die Patienten überleben, ihre Arbeit effi zienter verrichten und sich allgemein besser fühlen können. Spannungen in der Ehe sind eine andere häufi ge Ursache von Dysfunktionen. Ich sehe es oft . Ich behandle einen Mann in einer sehr schwierigen Ehe einmal im Monat, um das Übermaß an Spannung zu reduzieren.

Wir haben Beispiele von primären Faktoren besprochen, die osteopathische Dys-funktionen produzieren. Osteopathische Dysfunktionen sind Eff ekte, die in der Körperphysiologie zu fi nden sind. Wenn Sie auf eine osteopathische Dysfunktion stoßen, müssen Sie die primären Faktoren in Ihre Gedanken einbeziehen. Beden-ken Sie das Energiefeld, das in den Patienten von außen hineingegeben wurde, und bedenken Sie auch die Faktoren, die von innerhalb des Patienten kommen, die in dessen eigenem bewusstem Denken und in seinem Nervensystem sind und die dazu führen, dass sein Körper dieses Energiefeld kreiert. Sie müssen all dieses kombinie-ren.

Antworten des Nervensystems

Wir alle haben die Pathologie einer osteopathischen Dysfunktion studiert. Es gibt die akute Dysfunktion mit ihrer Einschränkung der normalen Beweglichkeit, Ent-zündung, Hypertonus der Muskulatur, überbeanspruchte Bänder, Störungen der Blutversorgung, Ödeme, ph-Wert-Verschiebungen in Richtung Azidose und ange-bahnte Bereiche, ausgehend vom Nervensystem. Eine chronische Dysfunktion wird zum kompensatorischen Mechanismus mit einem gut organisierten, aus reziprokem Spannungsbindegewebe bestehenden Gerüst, das diese Dysfunktion, relative Alka-lose, Fibrose, Dehydration des Bindegewebes sowie eine kontinuierliche Anbahnung des Zentralen Nervensystems aufrechterhält.

Hier ist etwas zum Nachdenken: Eine akute Dysfunktion kann ein segmentales Ereignis sein in einem lokalen Bereich am Rückenmark, ähnlich einem einfachen Refl exbogen, während an einer chronischen osteopathischen Dysfunktion Tau-sende von Botschaft en beteiligt sind, die von den betroff enen Geweben zurückfl ie-ßen, durch das Zentrale Nervensystem nach oben bis zum Gehirn gehen und als Störmuster in dem bestimmten Bereich der Formatio reticularis eingeprägt werden. Der Input beeinfl usst auch die dazugehörigen motorischen und assoziativen Berei-che, die ihrerseits Botschaft en hinunter zu diesen Geweben schicken. So entsteht ebenso ein Refl exbogen des Zentralen Nervensystems wie ein lokaler Refl exbogen.

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lang – und wenn es im guten Zustand erhalten wird, funktioniert es gut, es ist ef-fi zient, es ist gesund.

Ich möchte kurz darüber sprechen, warum ich diese Aussagen mache. Off en-sichtlich habe ich diese Dinge gelernt, nicht durch Lesen, sondern von der Physio-logie und Anatomie der Patienten, während ich mit meinem palpatorischen Sinn an ihnen gearbeitet habe. Ich habe es versucht und bin bisher daran gescheitert, diese Herangehensweise, die ich »diagnostisches Berühren« nenne, zu vermitteln. Trotzdem ist durch dieses diagnostische Berühren diese Information über die Um-gebungsenergie und der Rest der Sachen, über die ich gesprochen habe, aufgezeigt worden, so dass ich verstehen und solche Aussagen wie eben Ihnen gegenüber ma-chen kann. Der einzige Grund, warum ich auf diese Art des Berührens vertraue, ist, dass es buchstäblich etwas liefert – ich kann erklären, warum ein Patient ein Prob-lem hat, und ich kann etwas dagegen tun.

Lassen Sie uns als Nächstes zurückgehen und die Antwort des Nervensystems auf die dem Patienten aufgezwungenen physischen, emotionalen oder mentalen Umge-bungsenergien betrachten und sehen, wie sich das in Bezug auf unsere Behandlung verhält. Die einfachste Form von Energie, die den Patienten beeinfl ussen kann, ist das Bilden eines einfachen Refl exbogens durch einen segmentalen Bereich der Wir-belsäule im Zusammenhang mit einem bestimmten Dysfunktionsmuster. Dann gibt es einen zweiten Teil dieser Antwort des Nervensystems, der mehr vom Zentralen Nervensystem mit einbezieht. Hier wird die Botschaft der betroff enen Gewebe – einschließlich der Weichteilgewebe und der Viszera – von sensorischen Nerven in das Rückenmark bis hinauf zum Gehirn übermittelt. Viele Teile des Gehirns, ein-schließlich der Formatio reticularis und des Th alamus-Bereiches, erhalten und verar-beiten diese Information. Und als Antwort auf diesen sensorischen Input fi nden wir einen sehr großen Fluss an Information, der am Rückenmark hinunterläuft , hinaus bis in alle Gewebe. Daher gibt es selbst bei einem peripheren Trauma ein Problem im Zentralen Nervensystem und wir haben Wege, hier zu helfen.

Es gibt auch Eff ekte, die im vegetativen Nervensystem auft auchen, so wie Stress-faktoren von der Hypophyse und vom Hypothalamus. In seinem Buch Th e Stress of Life beschreibt Hans Selye die verschiedenen Chemikalien, die beteiligt sind an den Stadien von Alarmierung, Reaktion und Ermüdung und bei Patienten als Stress-Syndrom auft reten. In einem Diagramm führt eine gepunktete Linie vom Bereich des verletzten Gewebes bis hinauf zur Hypophyse. Wie der exakte Mechanismus für die Übertragung der Botschaft en funktioniert, weiß Selye nicht, aber er hat Reaktionen des Zentralen Nervensystems und des hormonellen Systems auf Um-

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schickt, der die Umgebungsenergie und die osteopathische Dysfunktion ist. Der Fulkrumpunkt des Behandlers hat diesen Mechanismus in Gang gesetzt.

Wenn Sie einen Fulkrumpunkt aufgebaut haben und dann etwas Kompression hineingeben, haben Sie eine Kraft angewandt, und es sind die Antworten der seg-mentalen, zentralen und vegetativen Anteile der Nervensysteme, die Sie aufnehmen, während die Gewebe ihr Muster der Aktion beginnen. Wenn der Mechanismus zu agieren beginnt, tendiert er dazu, seinen Weg in Richtung des Balance-Punktes zu suchen, der für dieses anatomisch-physiologisch-pathologische Bild passend ist. Der Mechanismus kommt zu einem Stillpunkt, macht eine Veränderung durch und be-ginnt sich zu entwirren. Klingt einfach. Ich wünschte, es wäre so.

Die Rolle des Behandlers

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass der Behandler seine Hände nicht auf eine unlebendige, inaktive Art anlegt. Sie bauen nicht einen Fulkrumpunkt auf und sit-zen einfach da. Wenn es so einfach wäre, könnten Sie einen Weg erfi nden, wie Sie einen Plastikarm unter den Patienten legen könnten, dann einen Hebel drehen und weggehen und den Patienten alleine lassen. Der Behandler ist aber Teil des Bildes. Er hat den einfachen spinalen Refl ex und den komplexen Refl ex des Zentralen Ner-vensystems hervorgerufen und hat dann die dynamische Antwort beobachtet – die innerhalb des Patienten stattfi ndenden anatomisch-physiologischen Veränderun-gen. Er fühlt, wie sich das sich anpassende Fulkrum im Patienten bewegt. Er muss seinen Druck am Fulkrumpunkt je nach Fall anpassen, während er sich durch seine Aufbauphase bewegt. Sein Handhebelkontakt kontrolliert und reguliert die Rich-tungen der Bewegungen in diesem Prozess und folgt ihnen.

Nur er als Beobachter kann wissen, wann der Punkt erreicht ist, an dem der kor-rigierende Zyklus für diesen Tag durchlaufen wurde. Der chronisch müde Patient wird weniger Input benötigen, um diesen Zyklus zu durchlaufen, weil er weniger vertragen kann. Ein akutes Lumbago, auf Grund schweren Hebens, benötigt viel-leicht eine sehr großes Ausmaß an Fulkrumdruck sowie Handhebelkontakt, um den Grad an Intensität der Energie zu aufrechtzuerhalten, der nötig war, um diese Dysfunktion zu erzeugen.

Wir scheitern in unseren Behandlungen, weil wir, wie beim Golfspielen, nicht am Ball bleiben. Wir schauen hoch, passen nicht auf, und bekommen so keine Resul-tate. Der Behandler ist ein lebendiger, dynamischer Behandler und er diagnostiziert die ganze Zeit, während diese Veränderungen im Gewebe stattfi nden, er stellt sich

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Abschrift aufgezeichneter Gespräche mit Donald Becker, M. D. (Dr. med.)

Sporadisch tauschten Dr. Becker und sein Sohn Donald Becker, M. D., während der 1960er-Jahre Tonbandaufnahmen mit ihren Gedanken, Fragen und Neu-igkeiten aus. Einige der Aufnahmen entstanden zwischen 1962-64, als Don als Arzt bei einer in Deutschland stationierten US-Armee-Einheit diente, weitere zwischen 1966 und 1967, nachdem er eine Privatpraxis in Kalifornien eröff net hatte.

6. Der Punkt der Stille

Überarbeitete Abschrift einer im Mai 1962 auf Tonkassette aufgezeichneten Kor-respondenz von Dr. Becker an seinen Sohn Donald Becker, M. D.

R E B: Es ist schwer über den Punkt der Stille zu sprechen. Wie erläuterst du Po-tency? Wie besprichst du irgendetwas, das mit dem Fulkrum zu tun hat – mit dem Stillpunkt? Er wird uns jeden Tag in unserem Leben demonstriert, aber wie sprichst du darüber auf eine Art, die Sinn macht für diejenigen, die dir zuhören? Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht.

Ich habe ihn in den Unterlagen »Potency« genannt, weil ich ihn mit einem Namen versehen musste. Als ich neulich mit einem Kollegen sprach, machte ich die Feststellung, dass es, einerlei welche Terminologie wir wählen, etwas gibt, das Behinderungen, Traumen und Krankheiten innerhalb der menschlichen Anatomie-Physiologie zentriert, das die Macht, die Autorität, die Potency, für das Muster dieses bestimmten Problems in sich trägt. Trotzdem ist es immer noch schwer zu verstehen. Du musst es mehr oder weniger blind akzeptieren, ohne allzu viel Wissen um die eigentlich beteiligten mechanischen Abläufe.

Welche Worte du auch wählst, um es zu beschreiben, es hat sich in der Praxis tau-sendfach bewährt. Und wenn es praktisch funktioniert, muss es einen Weg geben, es in den Fokus zu bringen, damit du und andere einen Nutzen davon haben können.

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II–127Kapitel 7 – Der primäre Atemmechanismus

Es ist wichtig, die normale Funktion innerhalb des gesamten Mechanismus zu vi-sualisieren. Es ist wichtig, zu erkennen, dass dann, wenn es möglich wäre, einen völ-lig normalen Menschen zu haben, also einen, der nicht, ob nun in der Gebärmutter oder durch den Geburtsprozess, verschiedene Muster von verformenden Dysfunk-tionen erworben hat, das eben beschriebene Muster existieren würde und für uns sichtbar wäre. Wenn wir das Normale visualisieren, hilft es uns, die Komplikationen und Variationen, denen wir im Leben begegnen, besser zu verstehen.

DLB: Wir haben über diesen Ausdruck »Primärer Atemmechanismus« und seine Synonyme schon einige Zeit gesprochen und ich fange ganz ehrlich an, mich etwas zu fragen. Warum ist er vorhanden? Du weißt, worum es sich handelt, du weißt, wie er sich bewegt. Du weißt, welche Strukturen beteiligt sind. Du kennst seine Anato-mie und Physiologie. Aber warum ist er da? Wir wissen, ein Daumen ist da, um zu opponieren, wir wissen, ein Auge ist dazu da, um zu sehen, wir wissen, ein Fuß ist dazu da, um darauf zu laufen. Aber warum haben wir einen Primären Atemmecha-nismus? Was ist seine Funktion?

Lass mich meine eigene Interpretation vorstellen. Es scheint mir so, als würde der Primäre Atemmechanismus, von seiner grundlegenden Natur her den Atem des Lebens repräsentieren. Das er der Atem des Lebens ist. Ich kann keine andere Art fi nden, es auszudrücken. Ich glaube, die vielleicht schönste Art, wie es ausgedrückt wurde, ist in Michelangelos Gemälde in der Sixtinischen Kapelle, wo Gott seine Hand ausstreckt, um Adam zu berühren. Wenn du in letzter Zeit kein Bild davon gesehen hast, würde es sich lohnen, noch mal darauf zu schauen. Mutter hat ein Dia mit nach Hause gebracht von der Zeit, als ich sie dorthin mitnahm. Für mich zeigt dieses Gemälde die Bedeutung des Atems des Lebens, den Funken sozusagen. Was denkst du darüber?

REB: Deine letzte Frage ist gut. Warum ist der Primäre Atemmechanismus vor-handen? Was ist seine Funktion? Und deine Antwort ist, dass im Grunde der Atem des Lebens der Schlüssel zu der Situation ist. Das ist eine exzellente Antwort auf ein sehr kompliziertes Bild. Der Atem des Lebens, der Funke, der Stillpunkt zwischen der Hand Gottes und dem von ihm erschaff enen Adam, das ist der Funke, der das Funktionieren des Primären Atemmechanismus in Gang setzt. Der Primäre Atem-mechanismus ist diese komplizierte anatomisch-physiologische Einheit, die auf den Atem des Lebens reagiert. Das Funktionieren des Primären Atemmechanismus ist

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II–129Kapitel 7 – Der primäre Atemmechanismus

alisieren, denn selbst wenn wir nicht bis zum wahren Normalen hindurchschauen können, sehen wir doch innerhalb jedes Einzelnen ein Grundmuster, das für die-sen Einzelnen richtig ist. Du wurdest nach 30 Stunden Wehen geboren und hast bestimmte kraniale und sakrale Modifi kationen, mit denen du in deinem Leben umgehen musstest. Jede Person hat ihre eigenen, einzigartigen Schwierigkeiten, an die sie sich anpassen muss.

REB: Eigentlich können wir nicht sagen, ob der Knochen die Membran bewegt oder die Membran den Knochen, weil die Membran Teil des Knochens ist – sie ist seine innere Auskleidung. Zusätzlich ist die ganze Dura mater, einschließlich des spinalen Anteils, mit fl uktuierendem Liquor cerebrospinalis und einem bewegli-chen Zentralen Nervensystem gefüllt. Diese ganze Einheit befi ndet sich in Bewe-gung, obwohl wir uns in unserer Palpation vielleicht auf den einen oder anderen Teil fokussieren können. Wir können sanft die Temporalknochen drehen und die Reaktion des Tentorium cerebelli spüren oder wir können die Membranen in ihre Exhalationsphase anheben und fühlen, wie die Temporalknochen nach innen ro-tieren. Aber die Antwort darauf, wer wen bewegt, ist, dass es eine Frage der norma-len Dynamik dieses Mechanismus ist – im normalen Mechanismus ist die ganze Einheit in Bewegung.

Wenn wir einen Fall bekommen, in dem es Dysfunktionen gibt, kann eine be-stimmte Bewegungseinschränkung vorhanden sein, in der ein Membranmuster ein-geschränkt und die Bewegung eines bestimmten Bereiches limitiert wird. Alternativ kann eine artikuläre Dysfunktion existieren, bei der ein Schlag auf den Kopf zu einer Einschränkung der Bewegung zweier nebeneinander liegender Knochen geführt hat und damit automatisch die Membranverbindung an der Innenseite des Knochens in ihrer Beweglichkeit limitiert wird und durch ihre Verbindung zu den Membran-falten – der Falx cerebri und dem Tentorium cerebelli – die ganze reziproke Span-nungsmembran in ihrer normalen Beweglichkeit eingeschränkt wird.

Mit anderen Worten: Wenn ein spezifi scher Knochen von einem Schlag getrof-fen wird, können wir uns das so erklären, dass der knöcherne Mechanismus die Bewegung der Membrane blockiert hat. Andererseits können die Membranen die Bewegung der Knochen blockieren. Es hat zahlreiche Fälle gegeben, in denen Sol-daten einer heft igen Erschütterung durch Artillerie-Bombardements ausgesetzt wa-ren, während sie unter den Waff en eines Kriegsschiff s standen und eine Salve nach der anderen über ihren Köpfen abgefeuert wurde. Diese kontinuierliche Erschütte-rungswelle, die ihre Köpfe trifft , geht hindurch und erschüttert den kranialen Me-

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II–131Kapitel 7 – Der primäre Atemmechanismus

Nun lass uns das diagnostisch anschauen. Die meisten Leute sind wie ich und haben auf der einen Seite ihres Körpers ein Außenrotationsmuster, während die an-dere Seite in Innenrotation steht. Sollte in meinem normalerweise in Außenrotation stehenden rechten Bein eine Dysfunktion entstehen, die es in ein Innenrotations-muster zwingt, würde ich eine Überbelastung bekommen, ein Wundgefühl oder irgendeine andere Einschränkung. Mein linkes Bein ist nach innen rotiert als Teil meines normalen, haltungsbedingten allgemeinem dynamischen Gleichgewichts, aber ich habe nun eine zusätzliche Belastung in meinem rechten Bein erhalten, so dass dieses jetzt auch in Innenrotation ist.

Dieses Problem würde ich diagnostizieren, in dem ich an das gesunde, in meinem Fall also das linke, Bein gehe. Ich würde feststellen, dass es ein grundsätzliches In-nenrotationsmuster hat. Als Nächstes würde ich auf die eingeschränkte Seite gehen, feststellen, dass es ebenfalls in Innenrotation steht, und vermuten, dass eine Art von Überbelastung diese Innenrotation verursacht hat. Ich würde dann versuchen, die interne Dysfunktion im rechten Bein zu verringern oder zu korrigieren, um sein normales Außenrotationsmuster wieder zu Tage treten zu lassen. Das würde das Gleichgewicht, das für mich richtig ist, wiederherstellen. Das für mich richtige Gleichgewicht würde immer noch eine Außenrotation jeder Extremität während der Inhalation und eine Innenrotation während der Exhalation zulassen. Jedes Bein würde dies jedoch innerhalb seines kompensatorischen Musters tun, das ich wahr-scheinlich beim Prozess des Laufenlernens auf dieser Erde erworben habe.

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II–133Kapitel 8 – Eine diagnostische Herausforderung

ckierende Dysfunktion, vor sechs Monate mit solchen Symptomen gezeigt hat. Der Mann könnte durchaus ein Gliom haben, aber er leidet auch unter einer sehr schwe-ren Dysfunktion, die den Dens, den Atlas und die Pars condylaris des Okziput be-trifft und die Pyramidenbahnen und die Pons beeinträchtigen kann.

Ich weiß nicht, ob er weiter zu mir kommen wird, aber physiologisch gesehen ist es ein interessantes Problem. Es war interessant für mich, ein traumatisches Muster zu fi nden, das die Art von Symptomen, unter denen dieser junge Mann leidet, phy-siologisch erklärt. Ich würde liebend gerne für etwa die nächsten zwei Monate an ihm arbeiten und sehen, ob eine Veränderung dieses 20 Jahre alten Problems mög-lich ist, was seinerseits vielleicht einen Einfl uss auf die Symptome in seinem Fall ha-ben könnte, unabhängig davon, ob er ein Gliom hat oder nicht. Sie wollen am Gliom nicht operieren, weil sie es nicht genau genug ausmachen können und denken, die Gefahr, ihn zu dabei umzubringen, sei größer als die Hoff nung, ihm zu helfen.

Natürlich erzähle ich dir nur meine anfänglichen Gedanken. Ich habe ihn erst einmal gesehen und ich messe meiner ersten Untersuchung eines Falles niemals allzu viel Bedeutung zu. Ich benötige mindestens drei Wochen bis zu einem Monat, um einen so komplizierten Fall wie diesen zu diagnostizieren.

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II–135Kapitel 9 – Ein Referenzpunkt

ich verstehen konnte und das vielleicht analog wäre, etwas anderes als dieser Begriff »ein Punkt der Stille.«

Dieser Artikel, den ich fand, spricht über die verschiedenen Abnormitäten von Muskelkontraktionen. Mit Hilfe von Elektromyographie haben sie Muskelzucken als eine spontane Kontraktion einer motorischen Einheit oder eines Bündels von Muskelfasern defi niert. Obwohl Muskelzucken oder Faszikulation meistens bei pa-thologischen Zuständen vorkommt, sagen sie in diesem Artikel, dass es ab und zu auch bei Personen zu fi nden sei, die keine erkennbaren neurologischen oder musku-lären Krankheiten haben, und dass man es in solchen Fällen als »benignes Muskel-zucken« bezeichnet. Der Artikel berichtet, Forscher hätten beobachtet, dass diese Form des Zuckens regelmäßig bei gesunden, jungen Erwachsenen viele Monate lang besonders in der Wadenmuskulatur und in den kleinen Muskeln der Hände und der Füße auft ritt, und zwar gewöhnlich, nachdem die jungen Leute einer ungewohnten Anstrengung ausgesetzt waren. Ich fand es interessant, dass die Forscher sagten, sie seien nicht in der Lage, diese Zuckungen klinisch zu diagnostizieren. Ich weiß, dass ich Muskelzucken selten auch nur grob ausmachen kann.

REB: Was meinst du mit Faszikulation? Ein gelegentliches Muskelzucken?

TLR: Nein, in diesem Artikel wird eine Faszikulation als kurze, wiederholte Entla-dung defi niert, die in Muskeln von Patienten mit Tetanie oder anderen Stoff wech-selstörungen gefunden wird und in kurzen, tetanischen Kontraktionen einer mo-torischen Einheit besteht, wobei das Aktionspotenzial in beinahe identischer Form wiederholt wird. Die Kontraktion tritt bei klinischen Untersuchungen nicht in Er-scheinung, da eine Muskeleinheit klein ist, es sei denn, man führt zu der Zeit ein Elektromyogramm durch. Aber die tetanische Kontraktion ist etwas, das der ein-zelne Patient selbst fühlen oder dessen er sich bewusst sein kann. Eaton und Lambert behaupten weiter, dass diese Kontraktionen in ihrem Ausmaß limitiert sind und sich normalerweise nicht auf den ganzen Muskel ausbreiten.

Ich fand das sehr interessant und dachte, das könnte analog zu deiner Idee vom Punkt der Stille sein, obwohl es uns immer noch nicht hilft bei der Unzulänglichkeit des Spürens oder Fühlens, wenn man versucht, diese Idee klinisch zu entwickeln. Don, ich erzählte deinem Vater von einem Patienten, den ich am Dienstagabend sah. Er ist ein junger, gesunder Mann, der Packarbeiten erledigte; er schob einen Gegen-stand, der ca. 40 Kilo, wog. Dabei lehnte er sich nach vorne, der Gegenstand war sperrig, er kippte nach links und der Mann übte eine korrigierende Kraft aus, die

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die eine Zeitlang vorhanden sind, verstehen würden, dann scheint es mir, als böten sie einen Anfang für diese Idee vom Punkt der Stille auf einer physiologischen Ba-sis. Es könnte ein Modell sein, das ein Zentrum beschreibt, von dem aus man eine fortschreitende Manifestation einer Krankheit hat.

REB: Lass uns zum Patienten zurückgehen, den du wegen seines akuten Rücken-schmerzes gesehen hast. Der ruhige Bereich, der Punkt an dem du nichts fühlen konntest, war vermutlich der Punkt, an dem er die Zerrung ausgelöst hat. Die Punkte darüber und darunter, an denen du den Spasmus gefühlt hast, waren am Ende des Hebels. Sie refl ektierten die Irritation, die von dem Bereich kam, an dem du nichts fühlen konntest. Wenn du an diesem relativ ruhigen Bereich gearbeitet hättest, nicht so wie wenn du Triggerpunkte behandelst, sondern nur, um eine Ver-änderung der biochemischen Flüssigkeitsdynamik in diesem bestimmten Bereich zu erreichen, wäre dir aufgefallen, dass automatisch eine Veränderung oberhalb und unterhalb dieses Bereiches stattgefunden hätte.

Ich habe eine Untermauerung für diese Idee in einem kurzen Artikel über Ner-vennährstoff e, der dieses Jahr veröff entlicht wurde und aus der Forschung stammt, die am Rockefeller Institute in New York gemacht wird. Er besagt, dass Nervenfasern in einer wellenartigen Bewegung kontrahieren und dabei Nährstoff e von den Nuklei im Gehirn und vom Rückenmark transportieren. Sie vermuten, dass die Nährstoff e nicht nur die Nervenfasern ernähren, sondern vielleicht auch die Muskeln an den Nervenendigungen. Sie kamen zu dem Schluss, dass die Nervenfasern aus jetziger Sicht ein plastisches, anpassungsfähiges System zu bilden scheinen, das in der Lage ist, Mängel oder Schäden zu reparieren.

In dem Fall, den du beschreibst, hat der Mann sich eine Zerrung in einem be-stimmten Bereich zugezogen, der Stimuli zurück zum Rückenmark schickt und im Gegenzug Input vom Gehirn erhält – vom Th alamus und den anderen Bereichen

– über das Rückenmark. Es hat eine Veränderung des Musters innerhalb dieser Ver-letzung gegeben, die am spezifi schen Punkt der Verletzung relativ neutral, ruhig oder still ist. Die beteiligten Muskelfasern reichen aber über und unter diesen ruhigen Bereich hinaus. Die Ursprünge des Psoasmuskels verlaufen den ganzen Weg vom zwölft en Brustwirbel bis hinunter zum fünft en Lendenwirbel, und dann läuft der Psoas durch das Becken und setzt am Trochanter minus des Femur an. Daher gibt es Irritationen oberhalb und unterhalb.

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REB: Das hat es doch. Der Bereich war ruhig und signalisierte damit, dass er Hilfe brauchte.

TLR: Warum entwickelt der angrenzende Bereich dann diesen enormen Spasmus, während dieser Bereich so blockiert erscheint?

REB: Weil die angrenzenden Bereiche am Ende der Hebel liegen. Du sagtest, die Irritation war an der zwölft en Rippe, fast am Ursprungspunkt, und der Bereich der Stille war darunter. Die Irritation wurde am Ende des Hebels ausgedrückt, mehr als an dem ruhigen Punkt, wo es relativ still war. Wenn du am anderen Ende des Psoasmuskels hättest fühlen können, wo er am Trochanter minor ansetzt – die Stelle ist schwer zu fi nden – hättest du dort wahrscheinlich genauso viel Empfi ndlichkeit und Irritation gefunden.

TLR: Als ich am Psoasmuskel entlangging, schien das Muster diff user und weniger deutlich zu werden, obwohl ich noch einen Spasmus ausmachen konnte.

REB: Statt ihn einen Punkt der Stille zu nennen, lass uns lieber sagen, dass er ein Referenzpunkt ist, von dem aus du das Bild, wie es darüber, darunter und darum herum vorhanden ist, analysieren kannst. Natürlich hast du es da mit einem drei-dimensionalen Objekt zu tun, aber lass es uns hier auf diesem Stück Papier erst mal in einer zweidimensionalen Ebene aufzeichnen. Ich zeichne ein Rechteck mit zwei langen und zwei kurzen Seiten und wenn ich die Ecken mit diagonalen Linien ver-binde, fi nden wir das Zentrum des Rechtecks, wo die Linien sich überschneiden, und nennen das den relativen neutralen Punkt für diese vorgegebene Situation. Als Nächstes zeichne ich einen Rhombus gleicher Größe, nur dass dessen kurze Seiten schräg sind. Dann zeichne ich die diagonalen, überkreuzten Linien in den Rhom-bus. Ich habe den Rhombus unter das Rechteck gezeichnet und wenn wir ein Lot hinunter vom relativen neutralen Punkt des Rechtecks fällen, sehen wir, dass sich im Falle des Rhombus die Kreuzungsstelle verschoben hat.

Das Rechteck wäre das normale Muster, das einen Schlag in eine der beiden Rich-tungen bekommen und wieder zum Neutralzustand zurückkehren kann. Wenn aber ein Schlag am oberen Ende des Rechtecks ausgeführt würde, mit genügend Kraft , um eine Verzerrung, die sich nicht von alleine auflösen kann, zu erzeugen, würde es eine Verschiebung des Musters innerhalb dieses zweidimensionalen Objektes geben. Dieses vom Trauma induzierte Rhombusmuster, das jetzt existiert, möchte in dieser

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TLR: Wäre es richtig zu sagen, dass diese Punkte auch jene Punkte widerspiegeln, an denen Kraft linien oder Kraft vektoren gleichermaßen auf dieses Gebiet einwirken?

REB: Das würde von der Kontinuität der Gewebe abhängen und davon, welche Gewebe involviert sind.

TLR: Mit Hilfe dieser variierenden Referenzpunkte kann ich sehen, ob diese Ge-webe auf eine Kraft oder eine Belastung reagiert haben, und die Energie, die in sie eingebracht wurde, dargestellt durch Verzerrung usw., ist eigentlich gefangene Energie, nicht wahr?

REB: Ja, es handelt sich um gefangene Energie.

TLR: Und der Mechanismus, der zur Lösung führen kann, was eine lange Zeit dau-ern kann, könnte sich dann in einem Zucken manifestieren, das für den Kliniker nicht festzustellen ist. Und das würde ein Muster aufbauen, wodurch …

REB: Aber die Zuckungen, von dem in diesem Artikel die Rede ist, stellen wahr-scheinlich nur den Eff ekt dar. Sie sind die Enden der Hebel und repräsentieren die Punkte draußen in der Peripherie. Sie repräsentieren nicht diese Punkte im Zent-rum. Sie repräsentieren die Punkte hier draußen am Ende des Hebels.

TLR: Lass mich dich mal etwas fragen. Es kann sein, dass wir über das Gleiche sprechen, nur von verschiedenen Perspektiven aus gesehen. Könnte es sein, dass der Punkt der Stille das ist, was du bei der klinischen Untersuchung spürst, während

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nen, klinisch gesehen ein Referenzpunkt ist. Dieser Punkt repräsentiert das gesamte Bild des ganzen Musters – an diesem Punkt ist das ganze Bild zugänglich. Die an-deren peripheren Punkte sind die Eff ekte. Er ist ein Punkt der Stille, aber er stellt eine enorme kinetische Energie dar.

Lass uns über die darin einbezogene Physik nachdenken, weil wir uns tatsächlich bei allen diesen Dingen mit einem Problem der Physik beschäft igen. Ob wir uns nun über die menschliche Zellstruktur oder diesen Tisch vor uns unterhalten, ist voll-kommen gleichgültig – wir gelangen zu einer Diskussion über Energieebenen.

Lass uns eine beliebige Muskelzelle anschauen, eine einzige Zelle, die ihrerseits aus Millionen von Molekülen aufgebaut ist. Wir haben eine Zelle und viele Mole-küle, aber wir haben noch keinen stillen Punkt. Jedes Molekül ist aus Atomen und die Atome sind aus einem Nukleus und Elektronen zusammengesetzt. Gehört dieses Molekül zu den schwereren Elementen, wird der Nukleus viele Neutronen und Pro-tonen beinhalten und viele Felder kreisender Elektronen wären vorhanden.

Alle diese Elemente drücken Energie aus. Wo ist hierin der sogenannte Punkt der Stille? Tatsächlich ist es auf die Physik der Energie zurückzuführen. Die potenzielle Energie ist in der gefangenen Energie lokalisiert, welche die Neutronen und Proto-nen innerhalb des Nukleus halten und dieses Elektronenfeld stabilisieren. Es sind nicht die Neutronen oder Protonen selbst – sie drücken lediglich die Energie aus.

Wir können dieses Energiekonzept nehmen und zu unserem Spasmus des M. psoas im biologischen Bereich zurückkehren. Wir sagten, dass in einer Verletzung genug Kraft steckt, um ein normales Muster in ein Muster der Einschränkung zu verwandeln, das ein Kraft feld von seinem normalen Lot oder seinem normalen Ener-gieaustausch abbringen kann. Es hält diese Energie an einem gegebenen Punkt – und hält sie gefangen. Je näher du an den eigentlichen Punkt gelangst, an dem die Ener-gie gefangen ist, desto dichter bist du am Punkt der Stille. Es ist unmöglich, ihn mit einer Maschine wahrzunehmen. Wir haben keine Maschine, die dafür empfi ndlich genug ist, einschließlich der Elektromyographen.

Wir nehmen die Verzerrungen der Energien wahr, wie sie sich in der Peripherie zeigen, aber wir können nicht den Punkt ausmachen, wo ihr Zentrum ist. Dazu benötigt man ein kenntnisreiche Bewusstheit und eine genaue Wahrnehmung, die man entwickeln kann. Ich kann keinen Punkt der Stille spüren, aber ich kann mit meinem Tastsinn das Gebiet wahrnehmen, das den Punkt ausmacht, an dem das Energiefeld in diesem bestimmten Bereich blockiert ist. Und ich kann auch wahr-nehmen, wie sich die Eff ekte, die wir in der Peripherie von diesem kranken Muskel haben, von diesem Punkt aus spiralig ausbreiten.

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kostet, der Menge an Energie, die in diesem Bereich der Stille ausgedrückt wird, zu entsprechen.

TLR: Wie manifestiert sich diese Energie?

REB: Wenn dein Tastsinn tiefer in diesen Bereich eintaucht, fühlt es sich an, als würde der Bereich Widerstand leisten. Er ist still, ja, aber er fühlt sich an, als hätte er eine schützende Wand um sich aufgebaut und möchte dich nicht hineinlassen.

TLR: Diese schützende Wand ist nicht das Gleiche wie der Spasmus am Rand?

REB: Oh nein. Wir reden hier über eine Wand aus purer Energie. Stelle deinen Ellenbogen hier raus auf den Tisch. Nun drücke stetig gegen meine Hand und ich leiste keinen Widerstand – ich lasse dich meine Hand wegschieben. Aber wenn ich stattdessen mit der gleichen Menge an Energie, die du einsetzt, zurückdrücke, werden wir einen Punkt der Balance erreichen und die relative Kraft wird gleich null sein.

An diesem Punkt der Ruhe, innerhalb dieses Spasmus, ist blockierte Energie. Während du sie komprimierst, spürst du, dass es einen Widerstand gegen deine ein-gesetzte Kraft gibt. Du aber komprimierst weiter, bis du fühlst, dass du dich der Menge an Energie innerhalb dieses ruhigen Bereichs angeglichen hast. Durch diese Aktion hast du einen Zustand erreicht, wo eine Leere entsteht oder die Energie in-nerhalb dieses Punktes der Stille neutralisiert wird. Dadurch hast du einen Punkt erreicht, an dem es eine Veränderung durchführen kann.

TLR: Verstärke ich die Verspannung in diesem Bereich nicht, wenn ich darauf drü-cke?

REB: Nein. Es stimmt schon, du komprimierst einen Bereich, der bereits kompri-miert ist, aber du wendest eine kontrollierte Kraft an. Du musst sensibel genug sein, um die Menge an Energie zu fühlen, die sich als Energiefeld ausdrückt, und ihn komprimieren bis zu dem Punkt, an dem du spüren kannst, dass es relativ neutral ist. Die relative Kraft ist jetzt gleich null, so wie bei uns, als du und ich die Hände gegeneinander gedrückt haben. Das Merkwürdige daran ist, dass du, wenn du dich diesem relativ stillen Gebiet näherst und endlich an den Punkt gelangst, an dem das Energiefeld in dem Gewebe ausbalanciert ist, zu fühlen beginnst, wie die Enden des

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entsteht, als ob sie sich aus diesem relativen Gebiet der Stille hinein und hinaus dreht und windet. Es fühlt sich an, als würde aufseiten dieser peripheren Struktu-ren eine organisierte Anstrengung unternommen werden – die Bewegung ist nicht mehr zufällig.

Während du die Kompression auf diesen relativ stillen Punkt aufbaust, fi ndet eine off ensichtliche Verschiebung im Muster statt. Du hast dort gesessen mit einem Gefühl eines muskulären Zuges oder einer Kontraktion und dann plötzlich nimmt dieser traumatische Psoasmuskel-Mechanismus das Muster von dir fort. Er fängt buchstäblich an, sich aufzuspulen. Du verlierst die unspezifi sche Art von Gefühl und fühlst ein spezifi sches Muster der Motilität. Es ist nun eine spezifi sche Art der Bewegung. Sie fühlt sich an, als ob sie sagt: »Hey ich hab das jetzt im Griff , Doc, lass du deine Hand dort, während ich mit der Arbeit beginne.«

Trotz deines Kontaktes und Drucks, wird der Patient sich nicht beschweren. Bei ihm wird off enbar genauso viel los sein, aber es tut ihm nicht mehr weh. Das kommt daher, weil es scheinbar hinein und hinein und hinein kommt, sich selber aufwickelt und näher und näher an den Kern des spezifi schen Musters dieses be-stimmten Problems kommt. Nach einer Weile scheint eine kleine Verschiebung am Grund stattzufi nden, am Kern der ganzen Sache und dann entrollt es sich wieder spezifi sch. Der Patient macht dann klinisch eine Veränderung durch. Würdest du in dem traumatischen Fall deine Hände an beiden Enden des Psoasmuskels anle-gen, wo du die Irritation spürst, könntest du dort den ganzen Tag sitzen und nichts würde passieren. Es würde sich vielleicht gut anfühlen, ihn zu massieren, aber er würde sich nicht verändern.

TLR: Genau das passierte tatsächlich in dem Fall, den ich beschrieb. Ich tat genau das und er ging im Grunde genauso hinaus, wie er hereingekommen war.

REB: Das ist richtig. Du wirst medizinisch nichts erreichen, wenn du deine Hände nicht im richtigen Bereich hast, obwohl du vielleicht nicht genau auf dem Punkt der Stille bist, weil du ihn nicht immer spüren kannst. Manchmal, in Fällen schwe-rer Traumen, befi ndet er sich im Schock, er ist schwer zu fi nden, aber du tust dein Bestes, um einen Bereich zu fi nden. Du kannst dir sicher sei, dass du angekommen bist, wenn du diese spezifi sche Art der Motilität fi ndest – die einzige Art, sie zu be-schreiben, ist, dass es so scheint, als würde der kranke Muskel dieses Problem von dir wegnehmen und sagen: »Ich habe es jetzt in der Hand.« Du hast das Gefühl, dass er sagt: »Ich bin jetzt der Boss.« Er gibt dir dieses Gefühl, während du diese kleine

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kompensieren, ein Sichverzweigen der vorhandenen, funktionierenden motorischen Endplatten bewirkt. Diese Verzweigungen wandern zu den angrenzenden Muskel-bündeln, die von ihrer Innervation abgeschnitten wurden, und dann feuern diese Muskeln aufgrund eines physiologischen Mechanismus sehr schnell und ermüden schnell.

REB: Das stimmt überein mit dem, was ich mit meinem Text sagen wollte. Ich sprach über Energiefelder, in denen Muskeln, Ligamente, Blutgefäße, Lymphbahnen, Nervenversorgung und subkutanes Gewebe als eine Einheit agieren. Diese Einheit überlegt, manifestiert, verändert sich und reagiert auf die Auswirkungen von Trau-men. Ich fi nde, du hast es sehr gut formuliert: Sie hat diese gefangenen Energiebe-reiche in sich, die ihr Muster erhalten wollen.

TLR: Wir haben diese Gedankengänge nur für traumatische Zustände entwickelt. Wie ist es, wenn du eine Krankheit hast – zum Beispiel dieser Fall, von dem ich dir erzählte, mit dem akut kranken Mann mit abnormen Leberfunktionen, für die wir keine Ursache erkennen konnten? Ich habe seine Leber gefühlt und sie war unauf-fällig. Ich habe noch nie wirklich die Bewegung der Leber auf dem Ligamentum falciforme, so wie du es beschrieben hast, fühlen können. Diese veränderte Funk-tion: Handelte es sich um abgezogene Energie oder um aufgenommene Energie? Ich meine, welcher Mechanismus wäre in den Veränderungen von Krankheitsprozessen involviert und wie fühlst du ihn? Findest du dort die Punkte der Stille?

REB: Ich glaube schon, dass man sie hat. Zumindest dachte ich in den Fällen, an denen ich gearbeitet habe, dass ich sie hätte, um es so zu formulieren.

TLR: Reagierten sie?

REB: Sie reagierten. Im Falle deines Patienten war die gefangene Energie vielleicht durch eine Virusinfektion ausgelöst. Eine Idee, die ich habe ist, dass Bakterien klei-ner als Zellen sind und sie repräsentieren vom Standpunkt der Energiefelder aus ge-sehen eine andere Energiefrequenz. Eine Zelle wird eine bestimmte Energiefrequenz haben, aber diese kleine Bakterie wird eine höhere, viel schnellere Energiefrequenz besitzen und ein Virus ist noch kleiner, also hat er eine noch höhere Energiefrequenz. Wenn also ein Keim in eine Zelle eindringt, gibt es eine Modifi kation des Energiefel-des innerhalb dieser Zelle, die dann krank wird, aufgrund dieser Kraft von außen –

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auf der Behandlungsbank stehenden Füßen, damit ich mich auf seine Knie lehnen und meinen anderen Unterarm quer über sie legen kann. Auf diese Art richte ich die Kraft direkt auf den Psoas, wenn ich ein wenig Kompression auf seine Knie aus-übe, an den Hüft en entlang. Dann kann ich dort sitzen und meine Hand, die unter der Flanke liegt, in diesem Bereich hinauf und hinunter bewegen, bis ich den Punkt der relativen Stille fi nde.

Ich sitze dort und warte, bis entweder seine Gewebe ein normales Gefühl von rhythmischer Bewegung zeigen – die man immer erkennen kann, indem man auf die gesunde Seite geht und dort sieht, wie sie sich anfühlt – oder ein Gefühl einer unspezifi schen, zufälligen Bewegung. Wenn ich den Eindruck einer veränderten Bewegung habe, versuche ich an den Punkt zu gelangen, an dem dieses Problem von alleine in Gange kommt. Dann weiß ich wenigstens, dass ich in der Nähe des Ortes bin, von dem aus etwas erreicht werden kann, sowohl in der Diagnose als auch in der Behandlung. Dann sitze ich dort, bis ich eine Veränderung spüre, keine voll-kommene Veränderung, nur eine Veränderung. Ich fi nde diese Veränderung nicht anhand der irritierten Punkte oberhalb und unterhalb, sondern an dem Punkt, wo dieses Ding in sich selbst zusammenkauert sitzt, und die peripheren Enden über-lasse ich sich selbst.

TLR: Nachdem du eine Veränderung ausgelöst hast, wie stehst du zur Anwendung von feuchter Wärme, um das, was du begonnen hast, weiter zu lösen?

REB: Manchmal schlage ich feuchte Wärme oder Aspirin oder Muskelrelaxantien vor, wenn sie sich zu sehr beschweren, nur um sie bei Laune zu halten.

TLR: Hat das denn einen wirklichen Wert?

REB: Es hat einen gewissen Wert, weil, obwohl eine Veränderung stattgefunden hat, sich das ganze Muster ändern muss. Nur weil du eine Veränderung bewirkt hast, ist das Gebiet nicht plötzlich normal. Es muss eine vollkommene Umvertei-lung dieses ganzen Musters stattfi nden. Die Lymphgefäße und die Venen müssen sich vollständig entleeren; die Nevenversorgung muss sich verbessern und einige der alten Impulse löschen.

TLR: Also ist trotz der Tatsache, dass du die Energie freigesetzt hast, Zeit zur Er-holung nötig.

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10. Akute und chronische Reaktionen auf Trauma

Überarbeitete Abschrift einer 1966 auf Tonkassette aufgezeichneten Reihe von Gesprächen zwischen Dr. Becker und seinem Sohn Donald Becker, M. D.

Die ursprüngliche Aufnahme von Donald Beckers Anfr age ist nicht vorhanden, deshalb wird diese Zusammenfassung bereitgestellt.

DLB: Meine Frage, die ich an Dad schickte, bezog sich auf einen 48-jährigen Mann, der sich bei einem schweren Autounfall viele thorakale, zervikale und lumbale Trau-men ohne eindeutige Frakturen zugezogen hatte. Die Röntgenaufnahmen waren negativ ausgefallen, aber er entwickelte vier Wochen nach dem Unfall eine ziem-lich schwere rechtsseitige Bicepssehnen-Tendinitis und Nervenwurzelsymptome auf derselben Seite. Er beschwerte sich auch über Schmerzen während der Behandlung. Meine Fragen an Dad waren erstens, ob ich irgendetwas falsch gemacht habe, weil meine Behandlung Schmerzen ausgelöst hat, und zweitens, warum er ohne Anzei-chen von Arthritis oder Verengung der Foraminae Nervenwurzelsymptome hatte. Ich machte auch die Bemerkung: »Ich benutze das Wort Schleudertrauma, aber ich mag das Wort nicht. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich es lieber akute zervikale Zerrung nennen. Das Wort Schleudertrauma ist ja sehr bildhaft , aber schon so oft missbraucht worden, dass es eher eine emotionale als eine auf Fakten basierende Im-plikation enthält.«

REB: Bevor ich deine Fragen bezüglich des Schleudertrauma-Falles beantworte, gibt es ein paar andere Dinge, die ich für dich wiederholen werde, weil ich diese Sa-chen aus dem anatomisch-physiologischen Wissen der beteiligten Gewebe heraus erläutern muss. Ich las in einer meiner wissenschaft lichen Zeitschrift en einen Arti-kel über Atomphysik und eines der Zitate von Robert Oppenheimer lautete: »Diese Unterlagen, trotz aller Vielfalt, off enbaren eine gemeinsame Überzeugung. Alle Auto-ren erkennen, dass wir das Wesen von Materie nicht verstehen, weder die Gesetze, die sie regulieren, noch die Sprache, mit der sie beschrieben werden sollte.«

Meinem Gefühl nach sind wir in den biologischen Wissenschaft en genauso be-hindert. Du hast aus den Unterlagen, die ich dir geschickt habe, ersehen können, was für ein enormes Problem ich habe, wenn ich eine Sprache zu fi nden versuche, in der

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Rückenmark den ganzen Weg hinunter bis zum Sakrum, wo sie dann fest am zwei-ten sakralen Segment anheft et. Zusätzlich bringt jede der spinalen Nervenwurzeln bei ihrem Austritt aus den Foraminae intervertebrales eine Umhüllung aus Dura, Arachnoidea und Pia mit.23

Mit Hilfe dieser Information können wir, glaube ich, die Erklärung dafür fi nden, wieso dein Patient und auch andere mit einem Schleudertrauma eine Irritation der Nervenwurzeln Wochen nach ihren anfänglichen Verletzungen entwickeln. Ich be-nutze mal ein anderes Beispiel aus der Praxis, um meinen Punkt zu verdeutlichen: Bei einem Tic douloureux oder einer Trigeminusneuralgie, die nach einer schwie-rigen Zahnextraktion aufgetreten sind, fi nden wir einen Os temporale mit einer eingeschränkten Beweglichkeit auf der Seite des Tic douloureux. Das Tentorium cerebelli bildet eine Falte, die eine durale Scheide um den großen Trigeminusnerv formt an der Stelle, wo er im Cavum trigeminale liegt. Wenn eine traumatische Be-lastung stattgefunden hat, fi nden wir, dass diese durale Hülle in ihrem Funktionie-ren um das Ganglion trigeminale herum blockiert wurde. Es besteht eine Störung des Flüssigkeitsaustausches in und um dieses Ganglion und eine trophische Störung, weil die durale Membran festgezurrt wurde. So entwickelt der Patient allmählich eine Neuropathie im Ganglion trigeminale und die Symptome eines Tics doulou-reux im Gesicht.

Ich kann das sehr deutlich fühlen, weil ein Schleudertraum ein Blockieren des gesamten duralen Mechanismus zur Folge hat und eine Restriktion der duralen Be-weglichkeit, sowohl in der duralen Röhre, die um das Rückenmark und die innere periostalen Dura hängt, als auch in den duralen Umhüllungen der Nervenwurzeln, die durch die Foraminae nach außen verlaufen. Die freie, normale Beweglichkeit des duralen Mechanismus – sowohl der Arachnoidea als auch der Pia mater – ist in sei-ner Funktion eingeschränkt. So wird allmählich eine Versorgungsstörung auft reten und die Nerven beeinträchtigen. Das wird sich allerdings nicht als unmittelbares Problem darstellen. Die allmähliche trophische Störung beginnt sich erst mehrere Tage und Wochen nach dem Unfall als Symptomatologie zu zeigen. Ich denke, das erklärt vielleicht, wieso sich Symptome später entwickeln können.

Die Lösung, die zu einer eventuellen Erholung führt, besteht off enbar darin, den

23 Anm. d. amerik. Hrsg.: Neuere anatomische Studien haben gezeigt, dass es zusätzliche durale Anheft ungen besonders im lumbalen Bereich gibt. Kurze, starke Anheft ungen nach anterior zum Ligamentum longitudinale anterius kommen vor und schwächere posterior. Die duralen Nervenwurzelscheiden sind auch anterior am Ligamentum longitudinale posterius befestigt und auch lateral am Periost des Pedunkulus inferior.

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Zustand hervorgehen werden als zuvor. Wenn nötig, gib ihnen ein Schmerzmittel und lass sie sich weiter beschweren und arbeite weiter mit ihnen, bis du die Verän-derung erzielst, die du haben möchtest.

Der schwierigste Teil bei diesem Prozess der Arbeit mit dem Tastsinn, dem Füh-len und Analysieren der Gewebsbeschaff enheit, diesem Gefühl für die Arbeit mit den anatomisch-physiologischen Einheiten in der Diagnose oder im Behandlungs-programm ist unser Gespür für Interpretation – das heißt zu wissen, was die Ge-webe innerhalb ihrer Funktionskapazitäten tun. Die einzige Art, das zu lernen, ist, das zu tun, was du schon machst, und es in Fällen, in denen es angebracht, in deiner Praxis anzuwenden. Dieses Interpretationsgespür zu gewinnen – dieses Gespür für eine Funktionsanalyse in Bezug auf das, was die Gewebe tun und zu vollbringen versuchen, sowie in Bezug auf das, was du zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Behandlung erreicht hast – ist ein wirkliches Problem für den Behandler. Es kann nur gelöst werden, indem du mit deiner eigenen angeborenen Fähigkeit arbeitest, fühlst, verstehst und interpretierst, bis dir schließlich die Regeln recht klar werden und du eine Einsicht bezüglich ihres Gebrauchs erlangst. Es geht darum zu lernen, wie der Körper auf verschiedene Probleme reagiert und wie diese hinsichtlich der Gewebefunktion zu interpretieren sind. Und es geht auch darum, zu verstehen, wie viel Zeit benötigt wird, um bei der vorhandenen Pathologie eine Gewebeverände-rung zu erzielen, damit man die Behandlungsergebnisse beurteilen kann.

DLB: Ich würde gerne unsere Diskussion über die Symptome einer Nervenwur-zelsymptomatik ausdehnen von der akuten oder subakuten Phase eines Schleuder-traumas auf eine Situation, wo die ursprüngliche Verletzung jahrelang unbehandelt blieb. Ich stehe zurzeit einem solchen Problem bei einem unserer guten Freunde gegenüber.

Der Freund ist 50 Jahre alt und vor zehn Jahren wurde er unter einem Auto einge-klemmt, mit einem beträchtlichen Gewicht auf dem seitlichen Nacken. Es ging ihm gut bis vor sechs Monaten, wo er eine kleine Nackensteifi gkeit bemerkte. Er konnte seinen Hals nicht vollkommen wenden, aber das störte ihn nicht sehr. In den letz-ten zwei Monaten hat er eine Taubheit der ersten drei Finger entwickelt, auf dersel-ben Seite, an der das Auto auf ihn gedrückt hatte. Die Taubheit ist so stark, dass er kaum etwas halten oder greifen kann, was für ihn sehr problematisch ist, da er als Mechaniker in einer Fabrik arbeitet. Er hat Parästhesien, aber nur wenig Schmer-zen, was eher auf eine Beteiligung der posterioren als der anterioren Nervenwurzeln hinweist. Eine Aufnahme der Halswirbelsäule zeigt eine Einengung der Foraminae

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die den ganzen Mechanismus zur Aktion getrieben und sich im zervikalen Bereich lokalisiert hat, wo bereits ein Trauma bestand.

Um deine Frage zu beantworten: Ich glaube mit Sicherheit, dass die strukturel-len Veränderungen ein Resultat der trophischen Veränderungen über die Jahre sind. Aber um das zu erklären und zu verstehen, müssen wir viel tiefer als nur an die Ner-venwurzeln und die durale Pathologie gehen. Wir müssen in die grundsätzliche Me-chanik der Gewebefunktion einsteigen, die in vollkommenem Flüssigkeitsaustausch mit allen Körperfl üssigkeiten steht. Ich gehe zurück zu Dr. A. T. Still und zitiere:

»Was ist das Ziel der Bewegung von Knochen, Muskeln und Bändern, welche die Kraft der Nerven usf. aufh alten? Eine sehr häufi ge Antwort ist, alle Räume zu öff nen, durch die Nerven, Venen und Arterien die Elemente des Lebens und der Bewegung transportieren. Wenn das deine Antwort ist, bist du weit von einer Antwort entfernt, die auf dem Wissen über die grundlegenden Lebensprinzipien in einem Lebewesen und der Methode basiert, Teile, Organe, Gliedmaßen oder das ganze System zu reparieren … wir würden erst die Erneuerung einleiten, indem wir die Lymphe anregten und ihr die Zeit geben, ihre Arbeit, die Atomisierung aller Müllberge zu erfüllen … Also ver-ändern wir die Position eines Knochens, Muskels oder Bandes, um den Flüssigkeiten die Freiheit zu geben, das zurückgehaltene Material zu verfl üssigen und abzutranspor-tieren. So ermöglichen wir der Natur, die zerstörte Umgebung erneut aufzubauen. … Wir müssen wissen, wenn wir als Heilende erfolgreich sein wollen, dass normal nicht einfach heißt, Knochen in ihre normale Position zu bringen, sodass Muskeln und Bän-der an ihren angestammten Orten in Freiheit arbeiten können. Hinter all dem gibt es noch eine größere Frage zu lösen, nämlich wie und wann die Chemikalien des Lebens im Sinne der Natur anzuwenden sind.« 24

Wir können diese aus dem Jahr 1908 stammende Terminologie von Dr. A. T. Still aktualisieren, indem wir den letzten Absatz des Artikels über die Mechanismen des Todes heranziehen, den du mir geschickt hast. Der Autor sagt: »Wir können nur spekulieren, aber ich sehe mir all dies im Sinne der fundamentalen Energieversorgung an. Ein Konzept, das mir behagt, ist, dass alle von uns, ob Mann oder Maus, bei der Empfängnis mit einer bestimmten Kapazität zu leben ausgestattet werden, einem er-erbten Vorrat an biochemischer Energie, wenn man das so will.«

In meinem Artikel habe ich diese biochemische Energie mit »Bioenergie« und einem Dutzend anderer Namen benannt. In letzter Zeit habe ich sie als »Kont-

24 Still A. T.: Das große Still-Kompendium. 2. A., Band I: Autobiographie, JOLANDOS, 2005, S. I-97.

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unbedingt den subtilen Ansatz der Tidenkontrolle benutzen, den ich einsetze. Du kannst die Art von funktioneller Technik anwenden, die Harold Hoover dir beige-bracht hat, oder eine Technik, die ich dir jetzt beschreiben werde.

Grundsätzlich nimmst du einen Kontakt mit allen vorhandenen Geweben auf und fühlst nach dem Bewegungsmuster, nach der Richtung, in die sie gerne gehen möchten. Bei deinem Patienten mit dem schmerzenden Nacken würdest du, wenn du mit deinen Händen seinen Kopf und Nacken stützt und tief in die zervikalen Muskeln und durch sie hindurch spüren würdest, fühlen können, dass der betrof-fene Bereich dazu neigt, leichter in die eine als in die andere Richtung zu rotieren. Wenn du das spürst, verstärkst du ganz sanft das Dysfunktionsmuster und nimmst es in die Richtung, in die es gerne gehen möchte. Während du mit jenen Geweben arbeitest, behalte jene Idee der Bioenergie immer in deinen Gedanken. Fühle nach der Tide, die tief in diesen Geweben vorhanden ist, und versuche diesen Endpunkt, den du schon einmal erkannt hast, zu spüren. Arbeite damit, bis eine Veränderung oder ein Gefühl des Lösens innerhalb des Gewebes stattgefunden zu haben scheint. Dazu benötigt man nur fünf bis zehn Minuten pro vorgegebenen Bereich.

Zusammenfassend gesagt würde ich dort hineingehen und ein tiefes, suchendes Studium der Wirbelmechanik, der Gewebemechanik, der Muskelmechanik und der Faszienmechanik durchführen. Versuche herauszufi nden, was dieses Dysfunktions-muster bezüglich der Flexion, Extension, der Seitneigung und der Rotation macht. Befunde diese Gewebe, während du sie durch verschiedene Bewegungen hindurch-führst, und versuche, eine Stelle zu fi nden, wo sich eine Balance oder ein Fulkrum-punkt zeigt, wo sich ein Komfortpunkt befi ndet. Wenn du es in diese besondere Position führst, sagt der Patient, der auf der Behandlungsbank liegt, oft : »Das fühlt sich richtig gut an.« Dies ist wirklich ein Fulkrumpunkt tief innerhalb der Physio-logie des Gewebes und der Patient fühlt sich dort wohl. Du hältst es dann dort ein paar Minuten lang, während die Tide und ihre Bioenergie-Mechanismen sich dort fokussieren. Sie bewirken die Veränderung, die sie gerne zu diesem bestimmten Zeit-punkt durchführen möchten.

Bei dieser Art Fall würde ich im Allgemeinen ein paar Wochen lang zweimal wö-chentlich behandeln, um das Ding organisiert zu bekommen, und dann auf einmal wöchentlich reduzieren. Du arbeitest weiter in diesen Intervallen, bis in diesen alten chronischen Dsyfunktionen eine eindeutige Gewebsveränderung und eine gewisse Korrektur stattfi ndet und der Patient beginnt, sich besser zu fühlen. In einem chro-nischen Fall, wie du ihn beschreibst, wird gewöhnlich innerhalb von fünf bis sechs Wochen eine zufriedenstellende Veränderung in Richtung Symptomverringerung

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II–163Kapitel 10 – Akute und chronische Reaktionen auf Trauma

Gewebe erlauben würde, sein Problem neu zu beurteilen und eine Normalisierung zu bewirken. Wie Dr. Sutherland mir zu sagen pfl egte, gibt es keine spezifi sche Tech-nik – es ist eine Frage des Verständnisses. Er sagte: Wenn du deinen Mechanismus verstehst, ist die Technik einfach. Deine Technik ist dein Werkzeug, um einen sich normalisierenden Mechanismus innerhalb der Funktion des Gewebes zu nutzen.

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II–165Kapitel 11 – Traumafälle und die Kraft quelle

Position und es löste sich und gab nach. Wieder fühlte sie sich sofort viel besser und ging zufrieden hinaus. Ich habe sie letzte Woche wiedergesehen und Ähnliches pas-sierte, aber diesmal ging ihr Kopf nicht wie zuvor in die gewohnte Position. Sie sagte, sie habe noch ein paar Kopfschmerzen und fühle sich nicht ganz okay, aber wenn ich an die vielen Fälle von Schleudertrauma dachte, die ich gesehen habe und die drei Wochen lang nichts hatten machen können, und hier war sie und lief fast schmerz-frei herum, dann erstaunte mich das. Ich balancierte auch zufällig ihr Becken und arbeitete an ihren Schulterblättern. Wenn du irgendwelche Anmerkungen zu der Behandlung einer Schleudertrauma-Dysfunktion mit Sidebending hättest, wäre mir das sehr willkommen.

Jetzt würde ich, wenn ich darf, gern ein paar Kommentare machen über das, was du sowohl in deinem Unterricht als auch in deiner Forschungsarbeit tust. Ich sage »Forschung«, weil es im Grunde genommen das ist, was du tust. Ich habe darüber einige Zeit nachgedacht und schon bei verschiedenen Anlässen überlegt, diese Kom-mentare zu machen. Du hast in einem Dilemma gesteckt, so wie ich es verstehe. Du hast hauptsächlich versucht, über dieses Material zu schreiben und in einer Sprache zu lehren, die Menschen ohne deinen Grad an Geschicklichkeit und Erfahrung ver-stehen können, hast versucht eine Terminologie und bestimmte Redewendungen zu entwickeln, die es dem Einzelnen erlauben, tatsächlich eine Vorstellung von dem zu bekommen, worüber du eigentlich sprichst. Es ist eine enorme Aufgabe, diese Art von Material zu beschreiben; es ist so, als wolle man die Farbe blau beschreiben. Ich glaube aber, dass dies nicht deine einzige Aufgabe bleiben sollte. Die andere Seite der Medaille ist, dass du das, was du tust, in einem schrift lichen Manuskript oder einer Tonbandaufnahme niederlegen solltest, und zwar in der Terminologie, die du benutzen möchtest und die du verstehst.

Das hätte verschiedene Vorteile. Als Erstes würdest du davon profi tieren, weil du dich endlich freimachen und sagen könntest, was du wolltest. Du würdest eini-ges von diesem Material aufgezeichnet bekommen, ohne es zu fi ltern, auf die Art ausgedrückt, die du für richtig hältst. Es wäre, als ob du mit dir selber darüber spre-chen würdest oder mit jemandem, der gut versiert ist und es vollkommen verstehen könnte. Es wäre auch von Vorteil für Menschen in der Zukunft , die dieses Material in der Sprache, die du gewählt hast, studieren könnten. Du weißt, sie verstehen es im Augenblick nicht, aber es kann sein, dass es in 20 Jahren von jetzt aus gesehen

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II–167Kapitel 11 – Traumafälle und die Kraft quelle

sern und dessen Dauer verkürzen. Aber dafür war er nicht gekommen; er kam, um seinen Rückenschmerz loszuwerden. Also gab ich ihm so viel an Behandlung, wie nötig war, um ihm die Erleichterung, die er wollte, zu verschaff en, und er ging fröh-lich seines Weges. Meiner Meinung nach hätte er bei mir bleiben sollen, aber seiner Meinung nach, war das alles, wofür er gekommen war. Ich glaube fest daran, dass 99 von 100 deiner Patienten, die zu dir wegen dieser chronischen Probleme kommen, Erleichterung ihrer Symptome erhoff en. Das ist alles, was sie von mir wollen – eine neue Kompensation ihres Dysfunktionsmusters bis zum Wohlfühlpunkt und dann wollen sie es bis zum nächsten Mal dabei belassen.

Trotzdem möchte ich diese Bemerkung machen: Da wir alle lediglich Kompen-sationsmuster sind, ist es nicht notwendig, sich großartig zu bemühen, mehr zu tun als das, was der Patient möchte. Es ist in Ordnung, eine neue Kompensation für ei-nen Fall zu fi nden bis zu dem Punkt, wo Wohlbefi nden herrscht, und dann zu ak-zeptieren, dass dies alles an Betreuung ist, was zu diesem Zeitpunkt benötigt wird. Trotz der Tatsache, dass die meisten meiner Patienten nur zu mir kommen, um eine Linderung ihrer Symptomatik zu erzielen, bin ich beruhigt, weil ich weiß, dass jede Behandlung, die ich gebe, eine Korrektur des ganzen Mechanismus zur Folge hat, zusätzlich zur Erleichterung der Symptome. Ich muss einfach akzeptieren, dass die Patienten nicht so lange bei mir bleiben, bis ich ihr Problem gänzlich behandelt habe.

Die enormen Resultate, die du bei der Frau mit dem Schleudertrauma erreicht hast, sind etwas, was bei akuten Problemen zu erwarten ist. Ich bin sehr froh, dass du die Gelegenheit hattest, ein akutes Problem zu behandeln und die Kräft e so ak-tiv bei der Arbeit fühlen konntest, wie sie sind. Sie arbeiten genauso in chronischen Fällen, aber auf einer viel subtileren Ebene.

Wenn du beginnst, diese grundsätzliche Annäherung anzuwenden, fi ndest du bei allen Fällen von Schleudertrauma zusätzlich zu den physiologischen Veränderungen in den Geweben Kraft vektoren, die in Richtung des Aufpralls zeigen. Wenn du den Stillpunkt oder den Endpunkt in jeder Behandlung mit dieser Frau durchlaufen hast, wurden diese Kraft faktoren zusammen mit den physiologischen Veränderungen des Gewebes aufgelöst. Diese Kraft felder wurden so schnell aufgelöst, dass sie sie nicht Monat für Monat mit sich herumtragen musste, so wie andere Patienten es tun müs-sen. Mit anderen Worte: Sie kehrte in die Biosphäre ihres eigenen Wesens zurück und musste daher nicht ihr ganzes Leben lang ein unidirektional ausgerichtetes Kraft vektorenfeld wie eine Kugel an einer Kette hinter sich herschleifen.

Ich habe das so oft beobachtet. Es ist immer eine interessante Beobachtung, diese

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II–169Kapitel 11 – Traumafälle und die Kraft quelle

handlung anschaltest. Du wirst eine konstruktive Veränderung in wenigen Wochen sehen, indem der Patient einen gewissen Grad an Wohlbefi nden erreicht. In einem typischen Fall wie diesem, kannst du ihn vielleicht in einem Monat oder zwei weg-schicken, wenn dieser Bereich sich für ihn wieder gut anfühlt. Wenn das geschieht, wird er lernen, seinen Arm mit einem gewissen Gefühl von Gesundheit einzusetzen und er wird nicht länger dieses eingeengte Gefühl und die Schmerzen haben. Das ist aber nicht das Ende des Prozesses. Noch lange, nachdem du ihn entlassen hast, wird die Heilung weiterlaufen. Ein Jahr später würdest du beim Untersuchen des Bereichs viel weniger Fibrose vorfi nden, weil der Heilungsprozess allmählich das Problem normalisiert, nachdem du ihm die Kraft gegeben hast, die Pathologie rückgängig zu machen in Richtung Normalisierung. Gewebe heilen in ihrer eigenen Zeit und ihrem eigenen Raum; wir setzen diesen Prozess nur in Gang.

Also das sind meine Kommentare zu deinen beiden Fällen und zum Hausarzt-sein.

Quelle der Kraft Als Nächstes möchte ich dir eine kurze Lektion im grundsätzlichen Spüren geben. Sie beinhaltet hauptsächlich Forschungsarbeit, also akzeptiere es einfach, wende es an, probiere es aus und lass mich wissen, was daraus geworden ist.

Wir sind ausgestattet mit, umgeben von und Teil einer Biosphäre. Mit anderen Worten: Mein Körper wandert durch Zeit und Raum in dieser Welt des Jahres 1967, umgeben von einer Biosphäre der Aktivität, die mich am Leben erhält, einschließ-lich einer Quelle der Kraft . Wo ist diese Kraft quelle? Ich weiß es nicht und es ist nicht wichtig, aber sie ist da. Sie ist um dich herum und um jeden einzelnen Patien-ten, der in deine Praxis kommt.

Jetzt, nur aus Spaß, stelle dir diese Kraft quelle wie eine Wolke vor, die über deinem Praxisgebäude hängt. Mache eine Wolke daraus, die über dir hängt. Als Nächstes denke daran, dass diese Quelle der Kraft oder Wolke mit einer elektrischen Quelle verglichen werden kann, durch die kontinuierlich 110 Volt hindurchfl ießen. Diese Elektrizität ist immer da, ist immer vorhanden, wird aber genutzt oder nicht genutzt, abhängig davon, ob sich jemand einstöpselt oder nicht. Selbst wenn du nicht den Stecker in die Steckdose steckst, ist der Energiefl uss noch da – er arbeitet. Wenn du dich einstöpselst, kannst du diese Elektrizität spezifi sch nutzen. Es ist wie ein Werkzeug, das du hast, eine elektrische Bohrmaschine, die einen Schalter hat, den du an- und ausschalten kannst.

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II–171Kapitel 11 – Traumafälle und die Kraft quelle

Wenn du ein bisschen Spaß an dieser Sache haben und damit herumspielen möch-test, kannst du Folgendes einmal ausprobieren: Lege deine Hand unter einen Pati-enten, baue ein Fulkrumpunkt auf, reiche hinauf und schalte dann die Quelle der Kraft ein, bumm, einfach so. Fühle, wie dein Tastsinn sofort mehr wahrnimmt als zu dem Zeitpunkt, als die Quelle der Kraft noch nicht eingeschaltet war, und fühle eine absichtsvolle Reaktion in dem vorliegenden Problem. Es wird übrigens einfa-cher sein, wenn du es bei einem Problem versuchst, das ein wenig Vitalität enthält. Schalte dann, während du noch in Kontakt mit diesem Prozess stehst, die Quelle der Kraft ab, einfach so, als würdest du einen Schalter bei einer fl uoreszierenden Glüh-birne umlegen. Achte sofort auf das, was du erfährst. Du musst das nicht sehr lange machen; in 30 Sekunden ungefähr kannst du es beurteilen. Ich empfehle nicht, diese An-und-aus-Signale bei jedem anzuwenden, der in deine Praxis kommt. Ich schlage das nur für deine persönliche Beurteilung dieser Annäherung vor.

Ich habe diese Idee einer Kraft quelle der Arbeitsgruppe letzte Woche vorgeschla-gen. Ich könnte jetzt Vermutungen anstellen, wie gut sie es aufgenommen haben und was sie damit anfangen, aber das werde ich nicht tun. Don, dies ist eine Art, wie du deinen Grundkontakt verbessern kannst. Nur deshalb habe ich es erwähnt. Schalte die Kraft ein in dem Wissen, dass sowohl du als auch der Patient angeschaltet wer-den. Versuche es und lass mich deine Reaktion wissen.

Es folgen Auszüge aus zwei direkt nacheinander entstandenen Tonbandaufnahmen mit Mitteilungen von Dr. Becker an seinen Sohn.

Ich möchte, dass du mir einen Gefallen tust. Ich möchte, dass du dir die letzte Kassette vornimmst, die ich dir geschickt habe, und alle Information, die ich dir zum Th ema »Die Quelle der Kraft anschalten« gegeben habe, löscht. Ich habe dir diese Information voreilig gegeben, ohne vorbereitendes Material. Ich habe eine ähnliche Terminologie auch vor Ort im Gespräch mit einigen meiner Kollegen ver-wendet, die mit mir arbeiten, und bin ganz und gar nicht glücklich mit ihrer In-terpretation dessen, was ich zu sagen versuchte, und auch nicht mit ihrer Reaktion oder ihrem Verständnis davon. Für mich bedeutet das, dass ich mich hätte klarer ausdrücken können.

Ich freue mich, dass du die Quelle der Kraft benutzt. Ich weiß auch, dass du die Kassette erhalten hast, auf der ich dich darum bat, die beschreibende Analyse, die ich dir zu dem bestimmten Zeitpunkt gab, zu vergessen. Was ich sagte war vollkom-men legitim. Wenn du deine Hände auf einen Patienten legst, muss dir klar sein,

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12. Ebenen der Palpation

Überarbeitete Abschrift einer etwa 1967 auf Tonband aufgenommenen Korres-pondenz zwischen Dr. Becker und seinem Sohn, Donald Becker, M. D.

REB: Don, ich habe zwei Dinge, die ich gerne mit dir teilen möchte. Das erste stammt aus einem Vorwort, das ich geschrieben habe für Material, das veröff entlicht werden wird. Das zweite ist eine kurze Ausführung über die Kunst der Palpation. Mitten in der Nacht ist mir dieser Gedanke gekommen, als ich herauszufi nden ver-suchte, wie man durch Festlegen von Funktion-Struktur und Struktur-Funktion in der Anatomie-Physiologie die Kunst der Palpation besser beschreiben kann. Ich hoff e, das wird für andere hilfreich sein, die einen tieferen Einblick in die Anatomie-Physiologie bekommen möchten.

Hier ist das Zitat aus dem Vorwort:»Diese Schrift en von William G. Sutherland ,D. O., zu deren Lektüre Sie jetzt

die einmalige Gelegenheit erhalten, illustrieren die fundamentalen Grundsätze der Osteopathie …. Einer dieser wichtigen Grundsätze in der Osteopathie ist die Tatsache, dass Struktur und Funktion bei der klinischen Beurteilung des Patienten nicht vonei-nander getrennt werden können …. Es ist eine anerkannte Maxime, dass Struktur die Funktion bestimmt, und es bedarf keiner großen Überlegungen oder Diskussionen um zu erkennen, dass dieses Diktum wahr ist. Es ist ebenso richtig, dass die Funktion die Struktur bestimmt. Diese Idee erfordert jedoch eine weitaus umfangreichere Analyse, hinsichtlich ihrer vollen Bedeutung in der praktischen Anwendung.

Während der formgebenden Zeit von der Empfängnis bis zur körperlichen Reife und insbesondere in den ersten Monaten und Jahren, hat die wachsende strukturelle Entwicklung des Körpers beträchtlichen Einfl uss auf das Funktionieren des heranrei-fenden Geistes und Körpers.

Zum Beispiel wird ein perinatales körperliches Strainmuster das gesamte sich noch entwickelnde, körperliche und geistige Muster des Kindes sein ganzes Leben lang hin-durch beeinfl ussen. Ein Beckenschiefstand, eine skoliotische Wirbelsäule und ein ein-gefallener Th orax führen zu einer entsprechenden Fehlplatzierung der darin befi ndli-chen Organe und ändern die Funktion dieser Strukturen so ab, dass sie die Bedürfnisse des Patienten erfüllen. Krankheit oder Folgen von Traumen im Körper eines Kindes, wie etwa Morbus Perthes, verändern die Beckenfunktion und die daraus hervorgehen-

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II–175Kapitel 12 – Ebenen der Palpation

Ulna, die acht Karpalknochen, die fünf Metakarpalknochen und all die Phalangen. Diese sind von Muskeln, Ligamenten und Sehnenscheiden umgeben und von Haut bedeckt und alle diese Gewebe werden durch und durch in den Flüssigkeiten des Körpers gebadet. Die obere Extremität ist auch mit Tausenden von Nervenendigun-gen beladen, besonders in den palmaren Flächen der Fingerspitzen, mit Nerven, die hinauf durch die tieferen Strukturen reichen, bis nach oben zum Plexus brachialis, zur zervikalen Wirbelsäule und zur oberen Brustwirbelsäule.

Wir haben in der Oberfl äche der Haut eine oberfl ächige Gruppe von Nervenen-digungen, für die palpatorische Berührung. Wir haben auch tiefere propriozeptive Fasern, deren Funktion es ist, uns zu ermöglichen, die Position unserer Hand oder unseres Armes im Gesamtbezug darauf zu bestimmen, wo im Raum wir sie gerade platzieren. Um unseren palpatorischen Tastsinn zu entwickeln, musst du sowohl die oberfl ächigen Nerven für das Tasten als auch die tieferen propriozeptiven Fasern mit all den Muskeln und Ligamenten, von den Fingerspitzen den ganzen Weg hinauf bis zum Schultergürtel, benutzen.

Nimm mal, nur zur Übung, einen einfachen Ball in eine Hand. Ertaste seine Rundung mit deiner Hand, mit den Fingerspitzen, mit der palmaren Fläche der Hand selbst. Achte auf die Beschaff enheit und die Konsistenz. Hierzu benutzt du den Oberfl ächenkontakt deiner Hand und die Muskeln der Hände, um die Quali-täten und die Beschaff enheit des Balls, den du aufgehoben hast, zu bestimmen.

Bringe jetzt, um etwas zu dem palpatorischen Sinn hinzuzufügen, die proprio-zeptiven Fasern ins Spiel, vom Rückenmark und dem Schultergürtel bis zu Hand. Mache dir bewusst, dass du den Ball mit der gesamten Extremität fühlst, nicht allein durch den Handkontakt, und sofort bemerkst du ein – verglichen mit der Erfah-rung des Ball-Betastens durch reinen Handkontakt – vollkommen anderes, tieferes Erspüren dieses gleichen kleinen Balls.

In diesem Moment halte ich eine Packung Zigaretten in meiner Hand. Es han-delt sich um eine rechteckige Packung, die mit 20 Zigaretten gefüllt ist. Wenn ich aber das tiefere Fühlen mit der ganzen Extremität einsetze, während ich die glei-che Packung mit genauso wenig Druck halte, als würde ich sie nur in meiner Hand halten, bin ich mir bewusst, dass ich meinem Gespür einen Sinn für Dreidimensio-nalität hinzugefügt habe. Ich habe das Gefühl, als ob ich durch die ganze Packung hindurchfühle, statt nur die Oberfl äche der Packung zu halten. Das ist der erste Schritt: Füge beim Befühlen des Objektes, das du hältst, den propriozeptiven Sinn der gesamten oberen Extremität und des Schultergürtels mit hinzu.

Der zweite Schritt besteht darin, die ganze obere Extremität und den Schulter-

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II–177Kapitel 12 – Ebenen der Palpation

Schultergürtel abwärts. Wenn du die Kompression hinzufügst, drückst du deine Hand nicht notwendigerweise hinauf ins Gewebe, sondern übst nur am Fulkrum-punkt Kompression aus, um so eine noch tiefere Schicht der Einschätzung mit in das Gesamtbild zu bringen. Auf diese Art gewinnst du drei verschiedene Bewer-tungen desselben Objektes, das du untersuchst. Du kannst dies an allem und jedem ausprobieren. Du kannst beim Untersuchen jedes Gegenstandes, auf den du deine Hände legst oder mit dem du arbeiten willst, alle drei oder eine dieser Zugangsebe-nen nutzen.

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II–179Kapitel 13 – Korrespondenz: William G. Sutherland

jeglichem Gewebe, das er porträtieren möchte, darzustellen. Das Master-Fulkrum kann fast mit einer Master-Spirale für den ganzen Mechanismus verglichen werden, mit Hunderten von kleineren für die individuellen Funktionen.

Zurück zu meinem Problem. Ich habe festgestellt, dass ich, wenn ich den Master-Fulkrum-Ansatz benutze, nicht so wie bisher arbeiten kann, ohne den Patienten da-bei überzubehandeln. Meine derzeitige Vorgehensweise ist es, den Patienten auf die Behandlungsbank zu legen, mit den Füßen gegen das Brett am unteren Ende. Dann lege ich sanft meine Hände mit einer Handhaltung am Parietale an, initiiere eine kleine Aktion in der Tide des Liquor cerebrospinalis und bringe mich zur Ruhe, um die Befehle des Master-Fulkrums zu suchen und zu befolgen. Es gibt zwei Schritte, von denen ich zu glauben beginne, dass sie überfl üssig sind – der erste ist, die Füße gegen das Fußende zu stemmen, und der andere ist, die Tide zu initiieren. Um jedoch fortzufahren, ich fi nde, dass jegliches Problem im faszialen, membranösen, ossären, vegetativen oder zentralnervösen System – wo auch immer im Körpermechanismus

– in den Vordergrund zu treten scheint, dann zu arbeiten beginnt, seine unphysio-logischen Faktoren für diesen Tag auflöst und sich in dem kurzen rhythmischen Fluktuieren abwechselnd nach lateral und ap (anteroposterior) beruhigt. Wenn ich stattdessen den Ansatz benutze, den ich von Dr. Anna Slocum gelernt habe, haben meine Patienten in den nächsten Tagen so viel zu verarbeiten, das sie sich ziemlich unwohl fühlen.

Es ist viel mehr an diesem Master-Fulkrum-Ansatz dran, als beschrieben oder besprochen werden kann. Ich bin mir bewusst, in der Gegenwart dessen zu sein, was uns funktionieren lässt. Das Wissen von dem, womit ich arbeite, erzeugt ein Gefühl von etwas so Überwältigendem, dass beim Anwenden der Wissenschaft der Osteopathie all meine Wertvorstellungen revidiert werden müssen. Meine Philoso-phie besagt, dass das Master-Fulkrum nichts Falsches tun kann, dass es zu jeder Zeit zum Wohle des Patienten arbeiten wird. Es hat solch ein Potenzial, das ich spüren, aber nicht verstehen kann.

Nun, das drückt mein Problem so genau aus, wie ich es derzeit vermag. Ich wäre dankbar für ein paar Worte von dir. Vereinfache ich diesen Ansatz zu sehr? Kannst du mir einen Hinweis geben, wie ich eine tiefere Einsicht bekomme in das, womit ich arbeite? Bin ich auf dem richtigen Weg oder auf der falschen Spur?

Wenn dies sich verwirrt anhört, liegt es wahrscheinlich daran, dass es das ist. Al-les, was ich weiß, ist, dass meine Patienten einige schöne Fortschritte machen. Ich möchte aber wissen, warum und wie, um den Dienst, der ihnen entgegengebracht werden sollte, fortzuführen.

Page 278: Rollin Becker_Leben in Bewegung-Stille Des Lebens

II–181Kapitel 13 – Korrespondenz: William G. Sutherland

Einige Enträtselungen (korrigiere mich, wenn ich mich irre):

Gott, formlos und ohne Muster

Geist

Master-Fulkrum für die Form, die untersucht oder behandelt wird

Neutralzustand nach Anwendung

einer CV4-Technik

usw. Neural-membranös-ossärer Normalzustand

usw.

Neural-membranös-ossärer Normalzustand usw.

Fluktuation des LCS verschobenes Fulkrum von Dysfunktionsmustern

Alle Unterteilungen unterhalb des Master-Fulkrums sind lediglich Manifestationen des Master-Fulkrums in Aktion. Ein verschobenes Fulkrum ist nicht die Ursache eines Dysfunktionsmusters, das man diagnostiziert. Es ist nur eine Manifestation der Ursache. Die Unterteilungen unter jeder Überschrift könnten unendlich wei-tergehen.

Wenn man einen bestimmten Fall so nahe wie möglich an das Master-Fulkrum heranführt, gibt man ihm eine Möglichkeit zur Zusammenfaltung und Entfaltung in einem Muster, das näher am Master-Fulkrum ist als zuvor.

28. August 1951Will, ich habe einige ziemlich »unheimliche« Erfahrungen gemacht. Ich

wünschte mir wirklich, dass wir eine weitere Plauderstunde haben könnten, weil es schwer ist, sie zu Papier zu bringen. Ich bekomme immer öft er meine Signale von der Stille, einschließlich des »Entwarnungssignals«. Wenn dieses Signal kommt, überprüfe ich den physischen Mechanismus und stelle fest, der »Boss« ist nach Hause gekommen.

Page 279: Rollin Becker_Leben in Bewegung-Stille Des Lebens

II–183Kapitel 13 – Korrespondenz: William G. Sutherland

Untersuche einen Patienten mit dem mikroskopischen Wissen von Dr. Still, fi nde die Dysfunktion, lege sie in die Räume und beobachte, wie sie in der Leere ver-schwindet. Es handelt sich um einen einzigen Vorgang, aber wenn ich ihn schritt-weise beschreiben müsste, würde ich es so machen.

Dein »Lichtstrahl des Leuchtturms« und der Vortrag in Milwaukee waren wun-derbar. Du bringst das osteopathische Konzept in großen, leuchtenden Lettern her-aus, die wir alle zu sehen und zu kennen beginnen können. Wir sind zutiefst dank-bar.

Der Zeichner hat eine Serie von fünf Zeichnungen beigefügt und um deine Ab-segnung gebeten.

1. Atem des Lebens Wissen Intelligenz Potency

2. Atem des Lebens Wissen Intelligenz

3. Atem des Lebens Wissen

4. Atem des Lebens

5.

16. Oktober 1951Ich bin eingeladen worden, vor der New York Academy of Osteopathy über die

pathologische Physiologie der Halswirbelsäule einschließlich des cervicodorsalen Übergangs und der praetrachealen Züge, zu sprechen. Ich würde gerne die Reziproke Balancierte Spannung im Normalzustand und in der Dysfunktion hervorheben ….

Ich habe mir das so gedacht, dass ich meine Präsentation um die drei Kernaussa-gen herum aufbaue, die ich in Carl McConnells Artikel über ventrale Technik ge-lesen habe, die angewendet wird, um den inhärenten Atem des Lebens des lebenden Gewebes herauszubringen. McConnell sagt:

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II–185Kapitel 13 – Korrespondenz: William G. Sutherland

Ich schlage folgende Beobachtung vor, um meine Behauptung zu untermauern. Wenn ich meinen Patienten an einen Punkt irgendwo auf der Fulkrumlinie bringe, der durch die gerade Linie in der Zeichnung oben dargestellt wird, ist es so ähn-lich wie der Dirigent, der das Orchester in einen Moment der Stille bringt, bevor die Symphonie beginnt. Dann fi ndet das komplizierte Entfalten und Neufalten der Muster der Flüssigkeiten, Faszien und Gewebeaktivitäten und Reaktionen während der folgenden Zeit statt und schließlich gibt es ein Verschmelzen innerhalb des gan-zen Mechanismus und ein Ende »in der Fülle der Tide«. Das ist der Punkt, an dem ich zu dir sagte, dass der Boss nach Hause gekommen sei und ich die Behandlung beenden könne. Alle Aktivität fi ndet hinter dem Vorhang statt und ein Einmischen ist nicht nötig. Manche Orchestrierungen haben eine ziemlich gewalttätige Natur und manche sind die schönsten Sonaten, die man jemals hörte. Aber alle werden durch diesen Moment der Stille, wenn der Dirigent mit seinem Taktstock klopft und Aufmerksamkeit verlangt, initiiert. Ich glaube, ich beginne diesen Moment der Stille zu fi nden, der die erste Bewegung initiiert.

Einige begleitende Beobachtungen: Dies wird das, was ich bisher geglaubt habe, als veraltet hinstellen, nämlich dass es vier Stadien für den Flüssigkeitsmechanismus gibt: 1) Organisation der Flüssigkeit, 2) Fokussieren auf die Flüssigkeit, 3) Moment der Stille und 4) Ausbalancieren eines neuen Musters. Dieser Mechanismus trifft für die Flüssigkeiten, Faszien, Ligamente usw. zu, aber sie sind Fulkrumpunkte auf der Spitze oder der Talsohle und lediglich einige der Harmonien innerhalb der Auswahl an Symphonien des Körpers.

Das ist alles. Dein Kommentar und deine Korrektur werden begierig erwartet.

7. Dezember 1951 Antwort von Dr. SutherlandAlles war in Harmonie wie eine perfekte Fuge. Dein »Boss« als »Dirigent« hat

mit Sicherheit einen »Moment der Stille beobachtet«, indem wir den »Frieden auf Erden« erkannten. In dieser Referenz fi ndest du meinen »Kommentar«, den du so »begierig erwartet« hast. Der Gedanke sollte »sehr geschätzt« werden.

Februar 1952Wie immer öff nete dein willkommener Kommentar ungefähr sechs Türen mehr,

die ich nicht einmal in Erwägung gezogen hatte. Hatte seitdem viele Gelegenheiten, einen »Moment der Stille« zu beobachten, in dem wir den »Frieden auf Erden« in unseren Patienten erkennen können. Die daraus folgenden Manifestationen über-trafen bei Weitem meine Erwartungen. Dafür danke ich dir.

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II–187Kapitel 13 – Korrespondenz: William G. Sutherland

15. Februar 1952Ardath bittet mich darum, das, was ich gestern sagte, in Begriff en zu interpretie-

ren, die sie verstehen kann, und zu versuchen, den Schutt beiseitezuräumen. Also hier ist es:

MeerUmUns: Licht, Ein Ewiges immer-vorhandenes Licht, Einheit.Licht oder Einheit ist die eine konstante Ursache, Balance. Sie manifestiert sich

in elektrischen Strömen, Tiden, Myriaden sich austauschender Muster in ständiger Bewegung; all diese Ausdrücke werden durch das unveränderliche Licht, Potency, Ursache zentriert. Der Atem des Lebens ist der individuelle Funke des Lichtes, der den Einzelnen zentriert. Einer seiner Qualitäten innerhalb des Einzelnen manifes-tiert sich als Wissen. Wissen um die Ganzheit des Lichtes erlaubt eine richtige Be-urteilung der immerwährend sich verschiebenden, immerwährend veränderlichen Muster. Die Muster sind nur Werkzeuge, in der Bewegung manifestiert; die Ursache liegt innerhalb des Lichtes, des Fulkrums.

Der Atem des Lebens zentriert den Einzelnen. Wenn wir die Qualität des Wis-sens nutzen, haben wir als Behandler ein Wissen um die Ganzheit des menschli-chen Körpers. Das ewig sich verändernde Muster der Flüssigkeit – einschließlich des Liquor cerebrospinalis, der Membranen, Faszien, knöchernen Gewebe und or-ganisierten Gewebe – tauschen sich in zahllosen, sich verändernden Mustern aus als Reaktion auf das innewohnende Licht, das nur die Balance kennt. Der Liquor cerebrospinalis hat eine noch wichtigere Funktion in der Umwandlung des Atem des Lebens oder Licht in elektrische und andere Qualitäten, die vom chemisch-physischen Körper benötigt werden. Die Körpersäft e drücken die Produkte dieses Umwandlungsprozesses im Austausch ihrer Myriaden von Bewegungsmustern aus, immer auf der Suche nach Balance.

Der osteopathische Behandler, als Mechaniker der Wissenschaft des Wissens, hat das Wissen um die Ganzheit des Patienten, der vor ihm steht. Daher hat er, weil er das ganze Bild erfassen kann, die Fähigkeit die Einzelteile richtig einzuschätzen. Denn alles, was man auf einer sensorischen Ebene sehen, hören und spüren kann ist lediglich ein Werkzeug und als Werkzeug reagiert es auf die automatisch sich verschiebenden, frei schwebende Fulkren innerhalb des Körpers. Die Fulkren wer-den ihrerseits durch Licht, den Atem des Lebens, Potency und ein unveränderbares Einssein zentriert, das dem Mechaniker, durch Wissen, das komplette und richtige Bild gibt. Der Atem des Lebens ist der eine vereinigende Faktor für den ganzen Mechanismus.

Perfekte Gesundheit ist ein balancierter Austausch zwischen dem Individuum

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II–189Kapitel 13 – Korrespondenz: William G. Sutherland

Dysfunktionen korrigiert. Ich musste hinuntergehen und den Atlas einzeln befreien, aber der Rest des Mechanismus war frei. Die ganze Zeit über sagte der Assistenzarzt: »Meine Güte, hast du das gesehen, hast du das gefühlt?« Das Baby blieb zyanotisch.

Exzellente Ergebnisse bis zu diesem Moment, aber die Arbeit war nur halb getan. Ich konnte nicht ausmachen, ob die Batterie genügend »Saft « enthielt. Die physi-sche Batterie war ziemlich in Ordnung, aber der Atem des Lebens war nicht voll-ständig vorhanden. Ich drehte das Baby auf die Seite und legte sanft zwei Finger auf das Okziput und zwei auf das Sakrum. Nach ungefähr fünf Minuten überstreckte er sich in eine Extensionsposition und kam wieder nach vorne und augenblicklich begann der Atem des Lebens zu funktionieren und das Sakrum und das Okziput wurden so warm, wie sie sein sollten. Das Ödem an der Kopfh aut begann abzuzie-hen, die Atmung des Babys war wie das eines Kindes, das Sauerstoff bekommt und ihn vernünft ig verwertet, und das Schädeldach hörte auf, sich mit jedem Atemzug zu heben und zu senken, das Kind fi ng an zu weinen, die linke Hand öff nete und schloss sich und die Zyanose der linken Hand ließ nach. Das Baby war noch zyano-tisch, aber das war nur noch eine Kleinigkeit. Dem Assistenzarzt fi elen die Augen fast aus dem Kopf.

Das Baby bekam für die nächsten 18 Stunden Sauerstoff (denn natürlich muss das Krankenhaus die Lorbeeren einheimsen). Am nächsten Morgen legten sie das Kind bei der Mutter an die Brust. Das Kind war schön rosig. Seine linke Seite bewegte sich normal und er griff nach der Brust seiner Mutter, als hätte er drei Tage nichts zu essen bekommen, was wahrscheinlich der Fall war. Der für den Fall zuständige Arzt rief mich nicht an, um die Veränderung anzuerkennen, der Assistenzarzt aber blieb mit mir in Kontakt und sagte, das Baby habe keine Schwierigkeiten mehr.

Das eine wichtige Detail dieser Geschichte ist, sich sicher zu sein, dass der Atem des Lebens die volle Kontrolle hat, bevor man diese bestimmte Behandlung am Pa-tienten beendet. Ich habe diesen Faktor bei allen Behandlungen seitdem berücksich-tigt und natürlich könnte ich dir täglich schreiben: »Hast du jemals schon so etwas gesehen?« Es war all die Arbeit der letzten acht Jahre wert, in der Lage zu sein, dem kleinen Kind und so vielen anderen, die ich in meiner täglichen Praxis sehe, diesen Dienst zu erweisen. Wir im osteopathischen Berufsstand sind zutiefst dankbar für das Wissen, das du uns vermittelt hast, und für die Methode der Präsentation.

20. März 1952Du hast uns nicht auf dem Arm genommen, als du im »Lichtstrahl des Leucht-

turms« behauptet hast: Die Hauptarena ist die See; der Raum dazwischen; wir vi-

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II–191Kapitel 13 – Korrespondenz: William G. Sutherland

nicht mal in den tiefsten Stellen des Abgrunds, der nicht die mysteriösen Kräft e, die die Tide erzeugen, kennt und ihr antwortet.«33

Das MeerUmUns ist in jedem Patienten und in jedem Ereignis des Lebens wahr-nehmbar. Es ist echt und man kann darum wissen. Die resultierende Tide kann von fühlenden Fingern und wissenden Sinnen gefühlt werden. Das Wissen um sie und ihre Potency, während deine Finger einen sanft en, aber deutlichen Kontakt haben, erlaubt dem Behandler zu erkennen, dass hier die Quelle der mysteriösen Kräft e liegt, die die Tide erzeugen. Was ist die Quelle? Ich weiß es nicht. Ich als Behandler weiß nur, dass ich mich dann, wenn ich meinen Blick auf das Meer und nicht auf die entstehenden Tiden, Strömungen, Stromwirbel und Wellen halte, »in die Riemen, Matrose, legen und die Tide zum Meeresufer reiten« kann. 34

Wozu ist ein Behandler notwendig? Das ist die Frage, die mir Schwierigkeiten ohne Ende bereitet hat. Du und Adah (Frau Sutherland) und ich saßen zusammen in einem Hotel in Milwaukee und das MeerUmUns tat seine Arbeit. Ich habe gesehen, wie es an anderen gearbeitet hat, ohne die Hände eines Behandlers zu benutzen. Ich vermute, die Antwort liegt in der Tatsache, dass wir in einer primär sensorischen Welt leben und der Behandler durch seinen Kontakt wie der Kapitän des Bootes ist. Seine ruhige Hand, sein Wissen um die Elemente in dieser Situation und sein lenkender Einfl uss helfen, die Reise bequemer zu gestalten, und wenn die Reise zu Ende ist, weiß er, dass alles sicher ist für die Reise auf dem Meer. Ein Behandler ist notwendig, besonders in diesem elektrischen Universum, aber er sollte die »mysteri-ösen Kräft e, die die Tide erzeugen« kennen und beim Behandeln eines jeden Falles immer sie die Arbeit tun lassen. Lasst uns daher diese mysteriöse Kraft den Atem des Lebens nennen und darauf zuhalten.

8. März 1952Deine Beschreibung der Funktion der Epiphyse als Refl ektor in Funktion, ver-

gleichbar mit dem Eff ekt des Mondes auf die Tiden des Ozeans, fand ich sehr anspre-chend. Als Resultat habe ich ein neues Diagramm für deine Überlegungen:

33 R. Carson, Th e Sea Around Us, 1950; Hervorhebung von Dr. Becker eingefügt. 34 Anm. d. amerik. Hrsg.: Diese Zeile stammt aus einem Lied über religiöse Erlösung mit dem

Titel, Pull for the Shore (Rudere ans Ufer), 1873 von Phillip Paul Bliss geschrieben. Ein Teil des Refrains lautet: »Rudere ans Ufer, Matrose … Achte nicht auf die rollenden Wellen, sondern leg dich in die Riemen. Nun, wo du sicher bist im Rettungsboot, halte nicht mehr am Selbst fest.«

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II–193Kapitel 13 – Korrespondenz: William G. Sutherland

Ich habe neulich das Notizbuch gefunden, das Dad benutzt hat, um die Prin-zipien zu unterrichten, und habe es gründlich durchgesehen. Was einem ins Auge springt, ist die Tatsache, dass er das Th ema gründlich und im Detail bearbeitet hat, es aber dennoch in einer Gesamtheit präsentiert, die zeigt, dass er wirklich das ganze Problem erfasste. Sein Ansatz wirkte insgesamt als Hinführung auf die Fragen: Was ist bei dem dir vorliegenden Fall nicht in Ordnung? Wo ist die Ursache? Was ist die Diagnose? Warum ist dieser Bereich normal und dort einer mit einem Dysfunkti-onsmuster? Diagnose, Diagnose der Ursache. Behandlung fi ndet statt, aber die Be-tonung liegt auf der Frage: Warum ist dieser Patient krank?

Vielleicht habe ich Unrecht, aber ich glaube, dass das dem, was Still dachte, näher kommt als »strukturelle Th erapie.« Richtig oder falsch?

Noch ein Gedanke. Als ich für meinen Colorado-Vortrag über die Faszien nach-las, stolperte ich über die Aussage in Stills Philosophie der Osteopathie:

»Wenn man es mit den Faszien zu tun hat, hat man es mit den Filialen des Gehirns, mit dem allgemeinen Gesetz der Zusammenarbeit, mit dem Gehirn selbst zu tun, wa-rum sollte man sie also nicht mit dem gleichen Respekt behandeln?« 35

Diese Aussage hat mich schon viele Male zum Studieren angeregt. Das besondere Verhalten der Faszien und Ligamente, wenn man sie zu einem Fulkrumpunkt ihres Stressmusters leitet und das Gewebe beobachtet, wie es sein endgültiges, glättendes analytisches Muster, das jenem Muster innewohnt, annimmt und damit fortfährt, in deinen Händen seine eigene inhärente Korrektur durchzuführen, während du da-sitzt und zuschaust, kommt einem der Gedanke, dass das Gehirn in deinen Händen ist und die Faszien die Fähigkeit haben, unabhängig von Muskeln, Organen, Kno-chen oder was immer sie auch beinhalten zu funktionieren. Das wäre eine Interpre-tation der Idee von der »Erweiterung des Gehirns.« Aber dann wiederum müssen die Faszien und alle anderen Behältnisse des Körpers der Position des automatisch sich verschiebenden Fulkrums innerhalb des individuellen Mechanismus oder Kör-peranteils gehorchen, und Veränderungen, die du beim Initiieren der inhärenten heilenden Korrektur des Körpers spürst, und der Akt der Korrektur selbst sind dy-namische Eff ekte, die stattfi nden, weil die »Ursache« gefunden wurde und das sich verschiebende Fulkrum den Mechanismus korrigiert. Bei dieser Interpretation sind das Gehirn und die Faszien ein und dasselbe, aber beide sind Werkzeuge, die in der Dynamik des physiologischen Funktionierens genutzt werden können.

35 Still A. T.: Das große Still-Kompendium. 2. A., Band II: Die Philosophie der Osteopathie, JOLANDOS, 2005, S. I-75.

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II–195Kapitel 13 – Korrespondenz: William G. Sutherland

Gedankengut läuten. »Warum ist dieser Patient krank?« ist richtig. Diese frühen D. O. waren Denker und »sie dachten Osteopathie« mit Doktor Still.

Es ist recht schwierig, festzulegen, was ich vielleicht über das mir zugeteilte Th ema Die manuelle Veränderung der Frequenz, Richtung und Amplitude des LCS sagen werde. Einige der Gedanken in meinem Kopf sollten lieber ungesagt bleiben. Es ist immer leicht, unintelligent über ein Th ema zu sprechen, von dem wir so we-nig wissen.

Aber was ich zu sagen habe, muss deine Präsentation deines Th emas nicht beein-fl ussen. Das »fl üssige Wasser« ist mit Sicherheit tief. Das Muster der Fluktuation des Liquor cerebrospinalis wurde dem Fluid Drive beim Auto nachempfunden und wir wissen, dass es in den Mustern der Menschen Dysfunktionen geben kann. Nur: Wie die Terminologie genau in den Körpermechanismus hineinpasst oder anderen erklärt werden kann – da wird’s schwierig.

Auf jeden Fall kann Die manuelle Veränderung der Frequenz, Richtung und Amp-litude des LCS zusammengefasst werden als: Ein Ausdruck der nicht invasiven chir-urgischen Fähigkeit, in den Gesetzen, die dem Flüssigkeitsmechanismus zugeordnet sind, Balance sicherzustellen, oder »die Gesetze, die nicht von menschlicher Hand geprägt sind«36 zu balancieren.

13. Oktober 1952Ich dachte, du wärst vielleicht interessiert an einer Zusammenfassung der Th e-

men, die wir in Denver besprochen haben, und an deren Anwendung während dieser paar Tagen zu Hause. Also, sie funktionierten hundertprozentig die ganze Zeit.

Unnötig, zu sagen, dass meine Dankbarkeit euch Leuten (Will und Adah Suther-land) gegenüber alle Worte übersteigt. Glücklicherweise weißt du, glaube ich, wie tief wir in dieser Hinsicht empfi nden, also lassen wir es dabei, dass Ardath und ich euch danken.

Eines der Dinge, an denen ich beim Refl ektieren über unsere Diskussio-nen hängen geblieben bin, war die Tatsache, dass du, Will, in meinem klei-nen Bild eines Flüssigkeitskörpers, der von einer Membran umgeben ist und einen knöchernen Mechanismus enthält, die Energiequelle abgetrennt hast.

36 »Ich nehme nicht für mich in Anspruch, Autor der Wissenschaft Osteopathie zu sein. Keine menschliche Hand hat ihre Gesetze geformt.« [Aus: Still A. T.: Das große Still-Kompendium. 2. A., Band I: Autobiographie, JOLANDOS, 2005, S. I-140]

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II–197Kapitel 13 – Korrespondenz: William G. Sutherland

8. Dezember 1952… Hier ist eine Idee für meinen anstehenden Vortrag über die Faszien der Herz-

und Kreislauf-Systeme. Das Kreislaufsystem ist hauptsächlich ein schwimmender Mechanismus, vom Herzen zu den Kapillaren und zurück, unterstützt von einem faszialen Rahmenkonstrukt, das frei sein muss, um eine normale Aktion zu gewähr-leisten. Das Perikard wird gestützt durch die Processus styloidei oberhalb und die Zentralsehne des Zwerchfells unterhalb sowie durch die ligamentären Fortsätze von Manubrium und Processus xyphoideus. Es schwimmt. Von diesem Ausgangspunkt geht es weiter und weiter.

Ich habe kürzlich herausgefunden, was für ein wirklich einsamer Mann du viel-leicht diese vielen Jahre lang gewesen sein musst, Will. Du hast mit Still, McConnell und den anderen an der Radnabe oder am Fulkrum, wenn dir das lieber ist, gesessen und hast beobachtet, wie sich die Räder drehten, der Sand im Getriebe knirschte und wie Reibung entstand zwischen und unter denen von uns, die dachten, wir hiel-ten auf das Fulkrum zu, während wir in Wirklichkeit höchst fasziniert waren von den hellen Scheinwerfern und dem Geschehen in der Peripherie. Ich weiß, dass es so war. Und wie hast du es geschafft und wie schaff st du es, die Geduld aufzubrin-gen, angesichts so viel linkischen Herumsuchens Haltung zu bewahren? Ich sage dies, weil ich in den letzten Wochen selbst in einem geringen Maße eine kleinen Portion dieser Einsamkeit zu spüren bekam, als ich versuchte, einer anscheinend interessierten Kranial-Gruppe einiges von dem Material zu zeigen, das in Denver gelehrt wurde. Tom Schooleys Vortrag ging an ihnen vorbei wie eine Wolke in der Nacht. Sie ward nie gesehen, wahrscheinlich dank meiner schwachen Präsentation. Und wie viel erst würden sie nicht begreifen, wenn sie einigem von dem Material ausgesetzt wären, das du mir gegeben hast?

ABER, meine Patienten sind mit diesem größeren Wissen in Berührung gekom-men durch die Anwendung seiner Prinzipien, so gut, wie ich es vermochte, und die Resultate waren so wie die, von denen du sprachst. »Warte, bis du einige dieser fr ap-pierenden Resultate in deiner Praxis siehst«, sagte Dr. Sutherland und er hatte Recht. Das MeerUmUns zeigt sich in jedem von uns, zu allen Zeiten und es schwillt bei jedem Fall an und manifestiert sich in einer Größe, die dem des Himmels gleicht. Ja, du bist einsam gewesen, aber es ist ein Wunder für mich, dass du so viele Worte gefunden hast, um das Fulkrum und seine Manifestationen zu beschreiben, so wie du es getan hast und es noch weiter so gut machst. Bleib dabei. Wir lieben es.

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II–199Kapitel 13 – Korrespondenz: William G. Sutherland

Aus dem Einen, Gott, Atem des Lebens kommt das Bild der Spiralen, die vom Atem des Lebens für den perfekten Ausdruck des rhythmisch balancierten Austau-sches zentriert werden.

Da alle materiellen Manifestationen – der Mensch, die Umgebung und seine Beziehung zu seinen Mitmenschen – vom selben Atem des Lebens zentriert wer-den, der alle Komponenten seines Lebens in diesen zentralen Raum bringt, erlaubt der Atem des Lebens einer neuen, auf Perfektion ausgerichteten Balance, sich zu manifestieren.

In jedem Individuums und seiner Umgebung liegt die Fähigkeit, sich in diesem gemeinsamen Zentrum zu zentrieren oder, wenn es nötig ist, sich Hilfe durch an-dere (den Behandler) zu suchen. Der Behandler hat die Kompetenz, den Patienten zu zentrieren, denn derselbe Atem des Lebens zentriert alles Leben.

Da der Atem des Lebens das Gleiche ist wie der Raum, der das Universum formt, kann sich im Patienten nur eine noch perfektere dynamische Balance manifestie-ren, wenn er in einen rhythmisch balancierten Austausch mit dem Atem des Lebens gebracht wird.

Der Atem des Lebens liefert Gesetze, welche die Muster und die Energie in Form von Ebbe und Flut erschaff en, um das Muster auszudrücken. Das Muster und seine stoff lichen Manifestationen von Energiewellen sind so zahlreich wie das Unendli-che. Alle kommen vom selben Atem des Lebens und kehren zum selben zurück.

Die Kenntnis, die Gesetze und Muster in diesen Räumen existieren, und die Fä-higkeit, diese Gesetze und Muster zu verändern und ein ausgeprägteres rhythmisch balanciertes Muster auszudrücken, sind im selben »Raum« zu fi nden.

Ja, Will, deine »Räume« und der Atem des Lebens sind POTENCY in Anwen-dung, in Wissen und bereit, JETZT genutzt zu werden.

Die gleiche alte Geschichte. Ich hoff e, ich habe es etwas klarer gesagt.

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II–201Kapitel 13 – Korrespondenz: William G. Sutherland

27 März, 1953… den Kopf festhalten, von dem der ganze Körper, ernährt und zusammengehal-

ten durch seine Gelenke und Ligamente, mit einem Wachstum wächst, das von Gott kommt.40

Ich wollte dir schon lange schreiben und mein Empfi ndungen zum Ausdruck bringen über die Art und Weise, wie du das Programm der osteopathischen Wissen-schaft durch die Osteopathie im kranialen Bereich geführt hast. Weil er durch den Kopf, sozusagen durch die Straßenbahn-Oberleitung arbeitet, hatte Will sehr wenig über die Programmgestaltung zu sagen, aber Will hat nichtsdestotrotz wunderbare Arbeit geleistet, indem er die zu leistende Arbeit aufgezeigt hat.

Du Lauschst und du hörst. Du wirst Geführt und du zeigst die Resultate. Du bist Bewusst und dein Bewusstsein spiegelt sich in deiner Arbeit wider. Die Refl e-xionen haben sich in den Hunderten und Tausenden von Menschen, den wir die-nen, fortgepfl anzt.

Du hattest keine Wahl – der Atem des Lebens gab dir den Job und du hast ge-antwortet und der Job entfaltet sich immer weiter.

Für all dies sind wir dir dankbar, danken wir dir und vor allem lieben wir dich.

2. April 1953 Antwort von Dr. Sutherland… Danke dir für das Zitat aus den Kolossern. Und am allermeisten: meine größte

Dankbarkeit für deine wunderbare Liebe.

25. April 1953Höre dir das Lied von einem entmutigten Mann an und wenn du es gelesen hast,

dann verbrenne und vergiss es.Zuerst zu meinen persönlichen Problemen. Als Dr.----------- mich 1950 in Des

Moines behandelt hat, ging ich fünf Monate lang durch die Hölle, bis sich die Last physisch und mental endlich hob und ich wieder frei schwimmen konnte. In diesem Januar behandelte sie mich erneut in Kirksville und ich habe seitdem konstant Pro-bleme mit meinem Sakralmechanismus, und obwohl es mich nicht wieder in den deprimierten Zustand versetzte, dem ich damals fünf Monate lang ausgeliefert war, ist es mir nicht gut gegangen. Die einzige Erleichterung erziele ich, wenn ich mir eine Auszeit nehme und sage »Sei still.« Es hilft eine Zeit lang. Das andere Mal bekam ich ein bisschen Erleichterung, als Sam Hitch mir eine Behandlung gab, aber selbst dann konnte er es nicht lösen oder Resultate in den Mustern sehen, bis ich mich in

40 Kolosser 2:19 (Überarbeitete Standardversion).

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II–203Kapitel 13 – Korrespondenz: William G. Sutherland

men und aus dem Weg gehen. Sie ist trotzdem symptomfrei. Warum löst sich das Muster nicht auf? Mache ich Fehler bei meiner lokalen Diagnose? Sollte ich lokal behandeln? Wenn ich das tue, erzeugt das schlechte Ergebnisse, behandle ich sie je-doch durch den Atem des Lebens, geht es ihr von den Symptomen her gut, aber das off ensichtliche Muster bleibt. Warum?

Eine andere Frau hat eine ernste Vorgeschichte mit einer frontalen Gehirner-schütterung vor sieben Jahren und im letzten Jahr hatte sie einen Nervenzusammen-bruch. Ihr Arzt sagt, sie hätte ein hysterisches Problem, Probleme mit ihrem zweiten Ehemann usw. – die übliche Fehlinformation, die wir durch die herkömmlichen Herangehensweisen bekommen. Sie hat ziemlich bemerkenswert auf den Atem des Lebens reagiert, aber jedes Mal, wenn sie behandelt wird, gibt es ein sprunghaf-tes, verschobenes, sich verschiebendes Fulkrum, das nicht zum Boss nach Hause kommen möchte. Welches Zeitelement ist in diesem Problem vorhanden? Warum kommt es nicht nach Hause und bleibt zu Hause? Es blieb drei Wochen zu Hause; ging dann aus dem Fokus und bleibt dort. Warum? Warum? Warum?

So geht es mit jeglicher Arbeit, die ich mache. Ich fühle mich wie der Prediger in der Bibel: »Alles Eitelkeit und viel Trachten nach dem Wind.« Die Patienten sind glücklich, mein Geschäft wächst und meine Kollegen denken, ich bin verrückt – rufen mich aber an, damit ich ihre schwierigeren Fälle diagnostiziere, und ich gehe durch die Hölle bei dem Versuch, meine Befunde in für sie verständliche Worte zu fassen. Terminologie erklärt nicht das, was ich fi nde. Meine »kranialen« Kollegen fi nden mich wunderbar. Wenn sie wüssten, in was für einer Verwirrung ich stecke, würden sie ihre Meinung ändern.

Ich sehe so viel, was es zu lernen gilt. Ich sehe so viel in den modernen diagnosti-schen Methoden und Befunden, das ich verlernen muss. Ich kann meine Laborbe-funde nicht mit denen koordinieren, die ich im lebendigen Organismus sehe. Und ich kann auch meinen physischen Gedanken über ihre Probleme nicht länger trauen oder durch meine Berührung genügend Information sammeln, um die multiplen Muster zu befriedigen, von denen ich weiß, dass sie vorhanden sind. Zudem habe ich nicht adäquat die Kunst des Zuhörens gelernt und auch nicht das Verständnis für das, von dem ich weiß, dass es das richtige Wissen ist, das ich erhalten sollte.

Ich behandle, um die besten Resultate zu erzielen, der Patient geht zum Atem des Lebens und ein neues Muster tritt hervor, JETZT. Ich verstehe das Alte nicht beson-ders gut und das Neue ist unbegreiflich, was das Planen künft iger Behandlungen anbelangt. Mit anderen Worten: Keines der physischen Attribute, einschließlich der Gedanken, arbeitet mit dem Atem des Lebens. Wo ist dann die Antwort?

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II–205Kapitel 13 – Korrespondenz: William G. Sutherland

Ein fraglicher Fall: Eine Dame zog sich vor 15 Jahre eine Drehverletzung zu, als sie während eines Autounfalls zwischen Vordersitze und Rückbank ihres Fahrzeugs fi el. Sie wurde damals ins Krankenhaus eingeliefert, bekam einen Gips, wurde danach sechs Monate lang orthopädisch behandelt und kehrte zurück zu ihrer Beschäft i-gung als Tänzerin. Wegen weiterbestehender Probleme im Lumbalbereich war sie jedoch in den darauf folgenden Jahren mehrmals beim Arzt. Vor drei Jahren heira-tete sie einen Millionär und seitdem hat sie, von einer Küste zur anderen, insgesamt zehn orthopädische Spezialisten aufgesucht, von denen keiner in der Lage war, ihre Schmerzen im unteren Rücken und das Gefühl der Unsicherheit in diesem Bereich, zu erklären. Die vielen Korsetts und die vielen Übungen hatten keinen besonderen Einfl uss.

Meinem Eindruck nach arbeitet sie von einem Fulkrum aus, wenn man es so nennen kann, das ungefähr sechzig Zentimeter anterior ihrer physischen Anatomie liegt und in einem Raum gegenüber ihres Lumbalbereichs lokalisiert ist. »Na, das ist eine feine Diagnose, Doktor«, würde jeder intelligente wissenschaft liche Arzt sagen. »Was genau, zum Teufel, meinen Sie?« Nichtsdestotrotz schildere ich einfach, was ich beobachtet habe, als der Stillpunkt in eine Ruhepause überging. Sie berichtete von sofortiger Erleichterung nach der Behandlung, und hat das erste Mal Hoff nung, dass vielleicht etwas für sie getan werden kann.

Kommentar: Der Atem des Lebens arbeitet im ewigen JETZT. Die Dame ma-nifestiert ein Fulkrum, dass lange Jahre existiert hat, und die Symptome sind das physische Muster, das dieses Fulkrum im Jetzt zulässt, als Ergebnis einer graduellen Anpassung der physiologischen Funktionsabläufe, um dem Fulkrum zu entsprechen. Ich habe ihr gesagt, dass ich den Schock, der vor 15 Jahren auft rat, behandelt habe. Wenn der Atem des Lebens das induzierte Fulkrum lösen oder auflösen kann, wird sie in die Form ohne Muster zurückkehren, die sie früher hatte, und der Sympto-menkomplex wird verschwinden.

Verdammte Worte. Sie drücken nicht aus, was ich sagen will. Ich glaube, dass wir am freiesten in einem Ausdruck ohne Muster leben können, ausgestattet und aufrechterhalten vom Atem des Lebens. Gelegentlich werden uns andere Muster auf unser Wohlbefi nden auferlegt und solange diese wirken, passen wir uns an sie an. Die Energie ihres Ausdrucks, sei sie krankheits- oder stressbedingt, kommt von derselben Quelle, aber sie ist nicht in Balance mit dem, was Gott für uns haben möchte. Diese induzierten Muster in die Hände von Gott, dem Atem des Lebens, zu bringen, erlaubt Seinem musterlosen Ausdruck, sich erneut zu manifestieren. Das Element der Zeit ist in Bezug auf den Atem des Lebens ohne Belang. Die physische,

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II–207Kapitel 13 – Korrespondenz: William G. Sutherland

der STILLE treten auf, je nach Problem, und in ein paar Minuten ändert sich das materielle Bild erheblich und immer in Richtung Freiheit.

Ich versuche, den einen wichtigen Punkt hervorzuheben, dass diese darunterlie-gende TIDE universell ist, ohne Defi nition, und dass sie keine echte Verbindung zu den Problemen hat. Es ist wie bei dem Glashaus, das du in Kirksville beschrieben hast: »Der Atem des Lebens oder die TIDE berührt das Haus nicht, beleuchtet es je-doch durch Refl ektieren durch und durch.«

Es genügt die TIDE bei der Arbeit zu betrachten – das ist die Realität. Was getan werden muss, fi ndet statt, denn die materiellen Produkte sind lediglich eine Refl e-xion ihrer Quelle. Die komplexen Produkte der medizinischen Wissenschaft müs-sen sich den Entscheidungen der TIDE fügen und die Intelligenz, die komplexen Produkte der stoff lichen Manifestation zu verstehen, ist eine der Gegenleistungen der TIDE.

Genug, genug! Ist es möglich die TIDE wahrzunehmen? Ist es erlaubt, sich bei Diagnose und Behandlung voll und ganz auf die TIDE zu verlassen? Die TIDE wird die höchste Heilkunst-Qualität liefern, die dem Menschen bei seinem Erdenwandel zur Verfügung steht?

11. August 1953Die ziemlich enthusiastische Karte, die ich dir am 31. Juli zusendete – »Was für

ein Fulkrum! Toll!« – hab ich aus einer momentanen Laune heraus abgeschickt und sie wird die Gefühle, die ich vermitteln möchte, besser ausdrücken können als das jetzige Schreiben.

Bis zum 31. Juli hat es viele Male gegeben, in denen mich die Tide im Laufe der Diagnose und Behandlung zum Atem des Lebens geführt hat – zum Moment der Stille, indem das Ganze dem Schöpfer näher steht als die Atmung. Am 31. Juli und danach starten wir, anscheinend willentlich, von einem Stillpunkt aus und strahlen nach außen, um das ganze Muster zu entfalten. Auf der einen Seite kommen wir von der Peripherie zum Zentrum und auf der anderen Seite beginnen wir am Zentrum und gehen nach außen. Macht das Sinn?

Ardath äußerte, sie fühle sich »durchweg wie Flüssigkeit« an. Eine andere Pati-entin, die sehr eingestimmt ist, berichtete, sie habe einmal während einer vorigen Behandlung das Gefühl gehabt, von außen nach innen bearbeitet worden zu sein, und sei an einen Punkt gekommen, wo sie dem Schöpfer näher stehe als beim Atmen. Diese geschah nur bei einer von vielen verabreichten Behandlungen. Als es in der nächsten Behandlung nach dem 31. Juli wieder geschah, berichtete sie, es beginne

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II–209Kapitel 13 – Korrespondenz: William G. Sutherland

Das orthodoxe, unseren bekannten Autoritäten gemäße physiologische Verständnis passt nicht zu dem, was sich in diesem Patienten entfaltet.

Eine weitere Schwierigkeit: Meine vorherigen Konzepte passen nicht zu dem, was passiert. Meine sogenannten Kenntnisse von den beteiligten Prinzipien werden mo-difi ziert oder müssen modifi ziert werden, um anzuerkennen, was geschieht.

Macht all dies Sinn oder bin ich verrückt?Dein Atem des Lebens ist ein lebendiges Prinzip und kann willentlich herbeige-

rufen werden, um in diesem Patienten eine Entfaltung eines normalen physiologi-schen Musters, in einem normalen anatomischen Mechanismus zu erzeugen. Das ist vorrangig. Die Spannungen, Dysfunktionen und die ausgedrückte unphysiolo-gische Pathologie werden ersetzt oder ins Normale transmutiert – die Spannun-gen werden nicht zum Normalen umgewandelt, sondern das Normale ersetzt das Problem. Ich habe den Eindruck, dass die Potency, die vom Atem des Lebens frei-gesetzt wird, in den Liquor cerebrospinalis umgewandelt wird, der seinerseits den Primären Respiratorischen Mechanismus aktiviert, der dann den sekundären Me-chanismus modifi ziert usw. Ich unterteile das nicht beliebig. Es ist alles ein sanft er Ausdruck des Atems des Lebens und seine Seins-Off enbarung auf den physischen Ebenen.

Was hältst du von diesem Durcheinander? Es macht auf jeden Fall Spaß, darum zu wissen und es zu nutzen, und das Schöne ist: Der Atem des Lebens scheint die gesamte Verantwortung für den ganzen Prozess zu haben. Ich hoff e es jedenfalls. Ich würde nur ungern einige dieser Veränderungen durchführen, die ich in dem Tempo stattfi nden sehe, in dem diese inhärente Potency sie vollbringt.

23. Dezember 1953… P. S. Es scheint einen universellen Pulsschlag oder eine Fluktuation zu geben,

die nach dem Stillpoint kommt und keine Beziehung zum physischen Flüssig-keits- oder faszial-ligamentären Mechanismus hat. Er scheint bei allen Menschen einschließlich Kinder die gleiche Frequenz zu haben und kann vor Eintreten des »Stillpunktes« wahrgenommen werden, aber noch deutlicher, nachdem der Boss gesprochen hat. Du möchtest so eine Aussage bestimmt nicht bestätigen oder dem widersprechen, oder?

27. Dezember 1953 Antwort von Dr. SutherlandDanke für deinen Weihnachtsbrief. Keine »Bestätigen« oder »Widersprechen«

hinsichtlich deines Postskriptums – außer dass du meistens Recht hast.

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Aber ich weiß, dass in dem Umwandlungsprozess, wenn der Boss in das Fulkrum hineintritt, viel mehr passiert, als lediglich ein Verlust des Dysfunktionsmusters. Es gibt eine Neugeburt, eine Regeneration der physischen, mentalen und emotionalen Struktur. Für mich ist es wie die Welt, von der wir in Denver sprachen, eine Welt mit der Gesamtfähigkeit zum völlig konstanten Funktionieren. Sie ist ruhig, gelassen, ewig und kann objektiv und subjektiv gemessen werden. Frage einfach den Patienten. Er fühlt sich wie eine »neue Person.« Und warum auch nicht? Er ist es.

29. März 1954Diese Mitteilung dient dazu, von einer signifi kanten Veränderung in meiner An-

wendung der Wissenschaft der Osteopathie zu berichten. Meine Aufmerksamkeit ist durch die »kranialen« Kollegen, mit denen ich es in letzter Zeit zu tun hatte, darauf gelenkt worden. Wir haben uns ausgetauscht und ich stelle fest, dass ich sie nicht mehr klar verstehen kann, als ob ich das jemals gekonnte hätte.

Mir geht auf, dass ich meine Fälle bewerte, indem ich nach der Quantität und der Qualität des Lichtes in ihnen suche, und durch diesen gleichen Atem des Lebens wird ein Problem gelöst, das sich physisch, mental, emotional oder in einer Kombi-nation davon widerspiegelt. Wenn ich mit diesen anderen D. O.’s rede und an ihnen arbeite, ist es limitierend, zu entscheiden, welches Muster oder welche Verschie-bung von membranösen oder ligamentären artikulären Mechanismen vorhanden ist, wenn off ensichtlich der Atem des Lebens nicht seine volle Potency manifestiert. Und warum sollten wir uns nicht an ihn wenden, um dem physiologischen Funkti-onieren zu erlauben, seine unfehlbare Potency zu manifestieren?

Ein Fall oder zwei, um das zu verdeutlichen. 1) Eine 26-jährige Frau, seit fünf Jahren verheiratet, mit starkem vaginalem Ausfl uss – seit vier Jahren schmerzhaft und reizend. Drei Behandlungen, um einen gestörten Atem des Lebens im Becken-bereich zu korrigieren, und der Ausfl uss ist verschwunden. Nur einmal wendete ich Beckenlift an. Bei allen drei Behandlungen beobachtete ich vom Sakrum aus, wie der Atem des Lebens im Beckenbereich seine volle Kraft und Potency wieder-erlangte. 2) Man brachte mir eine Frau, die halb verrückt war und kurz davor, eine Schocktherapie zu erhalten. Es war off ensichtlich, dass sie am Sakrum festgehalten wurde. Fünf Minuten später löste es sich und sie hat seitdem keine Beschwerden mehr gehabt. Sie war seit einer Fehlgeburt vor sechs Monaten so gewesen. 3) Ein chronischer Fall von Depression – ein ausgetrocknetes Feld, der zehn elektrische Schockbehandlungen erhalten hatte, wurde innerhalb von wenigen Wochen wie-der normalisiert.

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schen Fehler beheben kann. Wie ist die Beziehung zwischen diesem mechanischen Fehler und dem Kraft vollen Atem des Lebens?

Die Sachen, über die ich schreibe, habe ich ohne Ansage oder verbale Vorberei-tung des Patienten beobachtet und das Ergebnis für die fortbestehende Gesund-heit ist viel erfolgreicher als mit jedem anderen Ansatz der heilenden Künste. Frage meine Patienten. Ich bespreche das nicht mit ihnen; sie sind damit zufrieden, zu wissen, dass sie gesunden.

P. S. Mir kommt ein Gedanke: Könnten wir das Leben als einen vitalen mecha-nischen, mentalen und emotionalen Körper bezeichnen, der vorzugsweise in einem Stillen Atem des Lebens arbeitet? Bei Stress aus der Umgebung in irgendeiner Phase oder in einer Kombination von Phasen wird ein Fulkrum aus Licht gebildet, das die Potency bereitstellt, mit der dieses Fulkrum sein Muster aufrechterhalten kann. Das Licht ist neutral in Bezug auf die Gründe, weshalb oder woraus diese Stressfaktoren produziert oder erhalten werden, aber das Licht ist das Fulkrum und die Kraft , die sich daraus manifestiert, kommt aus der Kraft , die das Muster erhält. Dies gilt für die emotionale Ebene ebenso wie für die mentale und physische, denn sobald irgendeine Veränderung im Fulkrum vorgenommen wird, ändern alle drei ihre Manifestatio-nen. In der Korrektur des Fulkrums durch das Licht, das es zentriert, manifestiert sich erneut die Gesamtheit der Körpereinheit in einem Stillen Atem des Lebens als eine Einheit in der normalen Gesundheit.

Lokale Stressbereiche werden lediglich aufrechterhalten, bis sich die Gelegenheit zur Rückkehr in das gemeinsame Reservoir eines gemeinsamen Atems des Lebens wieder ergibt.

Das Ideal ist ein Stilles Meer des Lichtes. Weniger als ideal sind kleine Wellen oder ein Auffl ackern in den vorübergehenden Manifestationen der Muster im Un-terschied zu dem Stillen MeerUmUns.

30. Juni 1954Mir ist neulich ein Gedanke gekommen, während ich einen Patienten behandelte,

und es ging dabei um eine Bemerkung, die du gegenüber einigen von uns in Chicago gemacht hast, als wir uns die Show South Pacifi c angesehen haben. Der Vorhang ver-deckte teilweise einen der Schauplätze des Stückes und deine Bemerkung war, dass du dir wünschtest, der Vorhang würde den Schauplatz der Handlung vollkommen verdecken. Die Bemerkung bezog sich auf die Tatsache, dass wenn im kranialen Mechanismus der Vorhang (der Vorhang, auf den ich mich bei meinen Gesprächen mit dir beziehe, ist derjenige, der sich schon vor so vielen meiner Lieblingstheorien

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serausscheidung und Nutzung, aber sie haben lange Zeit kein Wasser mehr gehabt und die erste Auswirkung davon äußert sich in Form von Symptomen.

Die Notiz auf meiner Karte, die ich schrieb, um mich daran zu erinnern, dir von dieser Idee zu schreiben, lautet:

›Ausgetrocknete Felder, die mit Wasser versehen werden, machen Veränderungen durch wie ausgelaugtes Baumwollland beim Erneuertwerden durch Wicke.‹

Ich glaube, du verstehst, was ich meine. Ich habe zwei Patienten, die schon seit vielen Jahren vollkommen ausgelaugte Felder gewesen sind. Sie haben jetzt breit gefächerte Symptomenkomplexe und wenn ich sie untersuche, würde ich sagen, der Atem des Lebens arbeitet innerhalb eines veränderlichen Mechanismus und es fi n-den gewaltige erneuernde Veränderungen innerhalb ihres gesamten Körpers statt.

Ein Kommentar zu meiner letzten Vermutung wäre willkommen.

4. Juli 1954 Antwort von Dr. SutherlandRe: gewünschter Kommentar. Klug und intelligent dargestellt. Den Nagel auf

den Kopf getroff en.

9. August 1954Wir hatten einer arbeitsreichen Sommer und es sieht weiterhin so aus, als würden

wir nicht die Zeit haben, die Dinge zu tun, die wir gerne tun würden – wie alles Un-kraut aus dem Rasen zu bekommen, ruhig zu bleiben, alle Rechnungen zu bezahlen und das Fulkrum zu verstehen.

Eine Bemerkung über das Fulkrum: Die Welt des Gespürs und seine Muster reagieren nicht auf das Fulkrum. Eine Verschiebung im Fulkrum (und ich meine Fulkrum mit einem fettgedruckten »F«) erzeugt ein neues Muster. Es ist nicht nur eine Veränderung im alten Muster – das Alte ist verschwunden. Ein neues Muster hat sich in der Welt des Gespürs und der Muster manifestiert. Der Grund, warum ich darüber spreche, ist, dass einer unserer »kranialen« Kollegen seit einiger Zeit krank ist und ich ihn täglich behandelt habe. Da er einer von uns ist, hat er die Vor-stellung, dass ich seinen Mustern folgen sollte, um Ergebnisse zu erzielen, aber wenn ich das tue, geschieht nichts, was ihm hilft . Mir fällt auf, dass wenn das Fulkrum sich verschiebt, eine Korrektur stattgefunden hat. Er folgt weiterhin den Verände-rungen des Musters und schreibt die Verbesserungen denen zu. Ich stelle fest, dass eine Veränderung im Fulkrum neue Muster zur Folge hat. Seine Gesundheit kehrt zurück. Einer von uns ist natürlich verwirrt – ich glaube, das bin ich.

… Ein neuer D. O. kam neulich vorbei, um ein ausgiebiges Gespräch über die Ar-

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II–217Kapitel 13 – Korrespondenz: William G. Sutherland

zeptieren, was es an Gutem oder Einsicht in jeder Person gibt, mit der ich in Kontakt trete, und weiß, dass jeder Einzelne von uns sich irgendwo auf dem göttlichen Pfad befi ndet und dass diejenigen, die gegenüber diesen Wahrheiten, die mir klar sind, blind zu sein scheinen, einfach nicht so viel Glück gehabt haben wie ich. Es gibt be-stimmt viele fortgeschrittenere Seelen, die meine Anstrengungen als die eines Kin-dergartenkindes ansehen, aber je weiter man fortschreitet, desto toleranter werden sie, also macht es mir nichts aus.

Ich weiß genau, was du meinst – die alte Geschichte, »wissenschaft lich« zu sein hinsichtlich einer spirituellen Wahrheit. Ich wünschte, ich würde Worte außer »spi-rituell« kennen – die Assoziationen, die man damit hat, schränken es ein. Der In-newohnende Geist – das Wort – oder wie du sagst: der Atem des Lebens – also, mein Lieber, es gibt solche, denen du das nicht erklären kannst – du kannst keinen Kontaktpunkt fi nden – alles, was du also tun kannst, ist, es zu leben und der Inne-wohnenden Anwesenheit erlauben, dich bei deiner Arbeit zu führen. Ich weiß, du tust das, und sagen die Leute über dich: »Ich weiß nicht, was an ihm ist, aber da ist etwas.« Das Einzige, was zählt, ist, dass die Patienten davon profi tieren. Ab und zu wird einer verstehen, worum es geht …

Mutter

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II–219Kapitel 14 – Korrespondenz: Anne L. Wales

Abschlusszeugnisse auch Beginn der Aufgabe nennt. Für mich scheint es, als stünde ich ewig am Beginn.

Die enorme Aufgabe, die »Gesetze, die nicht von Menschenhand aufgestellt wurden«45 verständlich zu machen, wir mir mehr und mehr bewusst. Wir werden eine gänzlich neue Terminologie in Worte fassen müssen, die eher die Funktion als die Endprodukte beschreibt. Die heutigen Gesetze beschreiben die Endprodukte, nicht den Prozess, der sie produziert hat, und Wills Gesetze beschäft igen sich mit den Prozessen, die diese Endprodukte produzieren. Was für ein Feld für die For-schung! Wo fängt man an? Wie behält man das ganze Bild im Auge, während ein Faktor nach dem anderen hinzugefügt wird? Wie integriert man stetig alles, wäh-rend man ein Stück nach dem anderen hinzufügt, um das Bild zu vervollständi-gen? Wie lernt man es, Sackgassen zu umgehen, oder eher: Wie bleibt man auf der Hauptstraße und führt eine adäquate Untersuchung aller Straßen durch, die darauf zuführen? Ein ganz schönes Stück Arbeit.

5. April 1967… Es besteht ein enormer Unterschied zwischen dem Sprechen über den Atem

des Lebens in der Wissenschaft der Osteopathie und seiner Anwendung auf einer stetigen Basis bei jedem Patienten in jeder Behandlung…

… Ich erinnere mich gut daran, dass Will, als ich bei ihm studierte und ihm ein Problem vortrug, darauf antwortete: »Warum nicht?« Es kostete mich fünf Jahre, um zu begreifen, dass sein »Warum nicht?« bedeutete: »Rollin, du bist zu weit ab-geschweift . Fang noch mal von vorne an.« Wenn ich endlich eine Antwort fand, die die Bedürfnisse abdeckte, gab er keine Antwort; er lächelte mich lediglich an. Wenn ich die Antwort hatte und er kannte die Antwort, was gab es da zu diskutieren?

2. April 1969Bei einem Vortrag an der Academy (of Applied Osteopathy) am letzten Freitag

hatte ich ein Erlebnis, das ich an dich weitergeben möchte. 78 Ärzte waren für ein Drei-Tage-Treff en eingetragen und am Freitagabend wurde das Treff en in zwei Gruppen aufgeteilt, eine, um Dr. Angus Cathie über »Schultersteife« sprechen zu hören, und die andere, um Becker über »Stills Palpationsprinzipien« reden zu hören. Ungefähr 25 hörten meinem Vortrag zu und 12 davon blieben, um danach praktisch zu arbeiten.

45 Still A. T.: Das große Still-Kompendium. 2. A., Band I: Autobiographie, JOLANDOS, 2005, S. I-140.

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II–221Kapitel 14 – Korrespondenz: Anne L. Wales

die in ihnen (Gewinden) enthaltenen Kunstfertigkeiten ist es für mich nur nötig, den Webstuhl in Bewegung zu setzen.«47

Das erste Zitat wies darauf hin, dass die motorischen Kräft e in der lebendigen Ana-tomie bereits wirken, und das zweite Zitat besagte, dass ich nur den Webstuhl in Bewegung setzen muss, und das Störungsmuster wird sich meiner palpatorischen Beobachtung off enbaren.

Zu guter Letzt unterwies ich sie, in ihrer palpatorischen Untersuchung aktiv zu sein und mit der lebenden Anatomie und den physiologischen Veränderungen, die unter ihren Händen stattfi nden, zu arbeiten. Jene, die für die praktische Übung geblieben waren, konnten alle während der Arbeit die lebendige Anatomie und die stattfi ndenden Korrekturen fühlen. Diese Korrekturen vollziehen sich übrigens nor-malerweise innerhalb der ersten zehn Minuten einer jeglichen Behandlung.

Der wesentliche Punkt dieser kurzen Zusammenfassung ist folgender: Prakti-zierende Behandler mögen es nicht, mit einer neuen Terminologie konfrontiert zu werden. Sie möchten klare Erklärungen in der Sprache, die sie in ihrer tagtäglichen Praxis benutzen. Daher habe ich vor, in künft igen Diskussionen über Stills oder Sutherlands grundlegende Prinzipien von Anatomie und Physiologie und über die palpatorischen Fähigkeiten, die nötig sind, um diese Prinzipien in klinische An-wendung zu bringen, den Begriff »Diagnostisches Berühren« nicht mehr zu ver-wenden.

Das Material, das ich dir geschickt habe, ist dennoch gültig. Es ist einfach anzu-wenden, nachdem du dir einen wissenden Berührungssinn angeeignet hast, und gibt dir praktisch hundertprozentige Kontrolle für jedes medizinische Problem während des Patientenbesuchs. Es hält dich auf dem Laufenden über den therapeutischen Fortschritt, Verbesserung oder Verschlechterung und es erlaubt größtmögliche Re-versibilität einer Symptomatik in Bezug auf den gegebenen Zustand. Selbst dann, wenn du als ausgebildete Ärztin mit modernem Verständnis nicht glauben solltest, dass eine Reversibilität möglich ist, könnte sich dieser Ansatz als hilfreich erweisen. Irreversible Probleme beheben sich nicht von allein, und du wirst Einsicht in diese Dinge erlangen und erfahren, warum sie nicht reagieren.

Man hat mich eingeladen, in Kirksville einen Vortrag über das gleiche Th ema zu halten, und ich bat darum, den Vortrag »Osteopathische Palpation« zu nennen statt

47 Still A. T.: Das große Still-Kompendium. 2. A., Band I: Autobiographie, JOLANDOS, 2005, S. I-69.

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II–223Kapitel 14 – Korrespondenz: Anne L. Wales

ihren unwillkürlichen Bewegungen zu studieren. Alle unwillkürlichen Mechanis-men bewegen sich in der gleichen einfachen, primären Art und Weise im ganzen Körper, ob er ruht oder sich in willkürlicher Bewegung befi ndet. Wenn ich die un-willkürliche Mobilität und Motilität wiederherstellen kann, ihr volles Potenzial durch meine Behandlung des Patienten hervorbringen kann, werden sich die will-kürlichen Mechanismen automatisch selbst korrigieren.

19. Februar 1974Du kannst gerne den Absatz über die willkürliche und unwillkürliche Mobilität

und Motilität des menschlichen Körpers verwenden. Es ist als eine klinische Einheit, die buchstäblich in der Diagnose und Behandlung genutzt werden soll, ein praktisch unbekannter Faktor innerhalb des Berufsstandes. Die »kraniale« Gruppe hat da-rüber gelernt in Hinblick auf den Primären Respiratorischen Mechanismus, aber dort hören sie meistens auf. Wenn sie sie überhaupt benutzen, betrachten sie sie in Gedanken und Taten nicht in Bezug auf die gesamte Körperphysiologie.

2. Juni 1976Du hast mich zum Nachdenken gebracht… über unsere Kollegen im kranialen

Bereich, die diese »Fremdsprache« nicht verstehen. Ich glaube, es ist immer schwer zu akzeptieren gewesen, dass der »Fluid Drive, der durch einen Funken des Atems des Lebens in Aktion gebracht wurde, das wahre fundamentale Prinzip des Primä-ren Respiratorischen Mechanismus ist. Der Fluid Drive, das bewegliche Zentrale Nervensystem, das Sutherland-Fulkrum und die reziproke Spannungsmembran und die kranialen Knochen und das Sakrum, die alle mitgenommen werden, sind abhängig von diesem »Funken« und dem daraus resultierenden Fluid Drive. Ich gebe unseren Kollegen keine Schuld. Es ist eine harte Nuss zu knacken, obwohl es einfach ist, wie Will gesagt hat.

…P. S. Wir alle, einschließlich aller unserer Kollegen, haben diese Prinzipien in unseren Behandlungsprogrammen benutzt, denn das ist der einzige Weg, wie es funktionieren kann. Es war viel schwerer zu akzeptieren und einzusehen, warum es so funktioniert.

27. Januar 1979Das Th ema, das mir für die Konferenz der SCTF (Sutherland Cranial Teaching

Foundation) zugeteilt wurde ist: Bewegung – der Schlüssel zu Diagnose und Behand-lung. Es scheint recht einfach zu sein, über dieses Th ema zu sprechen, aber wo be-

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II–225Kapitel 14 – Korrespondenz: Anne L. Wales

27. April 1981Heute ist ein schwarzer Tag. Ich muss mich zusammenreißen, meine Patienten zu

behandeln und nicht zu erschießen. »Auch das geht vorbei«, hoff e ich.

23. Januar 1987Als ich dein Manuskript49 las, hatte ich das Gefühl, einen Abschnitt meines Le-

bens von 1944 bis 1954, den ich mit dir, Chester, Will und Adah geteilt habe, wie-derzuerleben.50 Es gab viele Hoch- und Tiefphasen und uns leiteten Standhaft igkeit und das führende Licht von WGS und sein Wissen um den Primären Atemmecha-nismus einer lebendigen Wissenschaft der Osteopathie. Jetzt kommt eine andere Generation von Ärzten, die das Wachstum am Leben erhalten müssen, durch unser Engagement und das des SCTF Wills grundsätzliche Lehren betreff end.51 Einige aus unserer jüngeren Generation wollen ihren eigenen Text schreiben anstatt hinzu-hören. Ich bin froh, dass wir eine Anne Wales haben, die hinhört und die Botschaft neu aktiviert.

… Will wollte, dass seine Arbeit ein wahres Studium des Primären Respiratori-schen Mechanismus, innerhalb einer Wahren Wissenschaft der Osteopathie, sei. Er hatte es, er studierte es, er erfuhr es, er wusste es. Er wollte, dass jeder Einzelne es mit ihm zusammen lebte.

21. August 1987… Du sagtest, dass du, als Will in New York auft auchte, dich dafür entschieden

hast, Will zu folgen und dein Leben seinem Werk zu widmen. Du hast genauso viele Jahre damit verbracht, seine Werk umzusetzen, wie Will benötigte, es an den Berufsstand weiterzugeben.

Will benötigte die Zeit von 1900 bis 1944 und du die Zeit von 1944 bis 1987. Die Reise hat sich gelohnt und wir sind sehr dankbar dafür, dass deine Eins-zu-eins-Beziehung mit Will eine Beziehung der Liebe und der Hingabe war …

49 W. G. Sutherland, Teachings in the Science of Osteopathy, Hrsg.: Anne L. Wales. 50 Anm. d. amerik. Hrsg.: Chester Handy, D. O. (1911-1963) war der Ehemann von Dr. Wales und

ein Mitglied von Dr. Sutherlands Fakultät. »Will« und »Adah« bezieht sich auf Dr. und Frau Sutherland.

51 Anm. d. amerik. Hrsg.: Dr. Becker war von 1962 bis 1979 Präsident der Sutherland Cranial Teaching Foundation (SCTF) und von den 1950ern bis 1988 in deren Vorstand.

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II–227Kapitel 15 – Korrespondenz: Kollegen und Freunde

physischen und biologischen Begriff en beschreiben, so wie es Bornemisza getan hat, und dem Behandler ermöglichen, diese Begriff e zu studieren und das Poten zial des zentrierenden Fulkrums zu erkennen. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass den meisten von uns nicht klar ist, dass wir eine neue Seite aufschlagen müssen. Wir sind zu sehr zufrieden mit unseren derzeitigen Konzepten …

21. Dezember 1955Liebe Adah,

… Ich soll auch über Techniken sprechen, aber wie kann ich das, wenn ich keine habe, außer dem lebendigen Körper, an dem ich arbeite?

2. November 1961Lieber Dr. -----,Ihr sehr interessanter Brief und ihr Manuskript

verlangen nach einem Kommentar, aber ich befi nde mich in einem Dilemma, wie ich Ihnen antworten soll. Ich habe eine Skizze gemalt, die George Laugh-lin mir am letzten Abend, den ich in Kirksville ver-brachte, gegeben hat.

Er fragte mich: »Gibt es nicht eine fundamentale Potency in jedem von uns, welche die gesamte Gesund-heit des Einzelnen repräsentiert?« Meine Antwort war: »Ja. Tatsächlich ist es so, dass du, wenn du den Menschen unter deinen Händen studierst und liest bis hindurch zu seiner fundamentalen Potency, entdeckst, dass sie in Aktion treten will. Und sowohl die Potency der Krankheit, als auch die trau-matische Potency neigen dann dazu, sich aufzulösen und hinterlassen nur die funda-mentale Potency, um die Aufgabe der Aufr echterhaltung der Gesundheit weiterzufüh-ren.« Er hat mit dem Kopf genickt und das war das Ende der Diskussion.

Es gibt eine fundamentale Potency, die für eine verständige Berührung so klar spürbar ist, wie die Potency einer Verletzung oder einer Krankheit. Die Potencys von Krankheit oder Traumen sind leichter zu fi nden, da sie in einem mehr oder weniger bestimmten Fokus funktionieren, je nach den Störungen des Patienten.

Die fundamentale Potency ist da und diese Potency ist in jeder Hinsicht domi-nant. Sie kann mit jeglichem diagnostischen und therapeutischen Streben wahrge-nommen und in Aktion gebracht werden.

[Deutsche Version der Zeichnung von C. Hartmann.]

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II–229Kapitel 15 – Korrespondenz: Kollegen und Freunde

Mitte der 1960erLieber Dr.---,Mir ist vor ungefähr zwei Wochen etwas eingefallen, das Sie berücksichtigen soll-

ten. Die Tatsache, dass es 34 Jahre klinische Erfahrung gekostet hat, um diesen Ge-danken zu erzeugen, bedeutet nicht, dass alle Reifungsperioden so lang sein müssen. Der Gedanke ist im Grunde dieser: Es gibt in jedem Individuum Haltungsmuster oder Funktionsdynamiken, die individuell für diese Person und keinen anderen auf der Erde existieren.

Ebenso wie es homöostatische Steuerungen der allgemeinen Körpersysteme gibt, die nur eine physiologische Funktion innerhalb bestimmter Grenzen zulassen, und ebenso wie wir Immunreaktionen auf alle fremden Zellen, die in unseren Körper eindringen, haben, gibt es eine haltungsbedingte Einheit, ein dynamisches Hal-tungsmuster, das jedem Einzelnen spezifi sch zu eigen ist. Das ist ein dynamisches Funktionsmuster.

Dieses Haltungsmuster beginnt pränatal bei der Bildung des Körpers innerhalb der physischen Umgebung des Uterus. Das Muster wird weiter durch den Geburts-prozess verändert. Es entwickelt sich weiter während der Jahre des Wachstums vom Säuglingsalter zur Kindheit bis hin zum Erwachsenen. Es schließt jede Zelle des Bewegungsapparates und jede Zelle des gesamten bindegewebigen Rahmenkonst-ruktes mit ein und trainiert sich darin, diese haltungsbedingte, für dieses bestimmte Individuum passende Einheit in Struktur und Funktion zu werden.

Bei den allgemeinen Körpersysteme und ihrer Immunreaktion auf fremde Sub-stanzen, führt jede Abweichung vom normalen physiologischen Funktionieren zu einer sofortigen körperlichen Reaktion über hormonelle und chemische Wege, um die Homöostase wiederherzustellen. Der Körper reagiert ähnlich auf jegliches Er-eignis, das den Körper beim Funktionieren aus seinem normalen Haltungsmuster bringt und unternimmt sofort Anstrengungen, um das Problem zu korrigieren. Er arbeitet an der Wiederherstellung des normalen Funktionsmusters, das in das binde-gewebige Rahmenkonstrukt ebenso eingebaut ist wie in die darin eingeschlossenen Muskeln und Ligamente und das knöcherne Skelett, um das herum dieser Mecha-nismus gebildet wurde.

Um dies in den klinischen Bereich zu übertragen, könnte man sich eine Gruppe von Patienten mit einer Dysfunktion des fünft en Lumbalwirbels anschauen, die au-

zu ziehen. Der Cranial Rhythmic Impuls ist zweifellos eine physische Manifestation der Vital-kräft e im Einsatz, aber die beschriebenen Beobachtungen gehen weit über diesen C. R. I. hin-aus.«

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II–231Kapitel 15 – Korrespondenz: Kollegen und Freunde

gischen Zustände perfektionierte, bemerkte ich, dass die Patienten nicht versuchten zu verstehen, wie ich arbeitete; für sie war es von Interesse, Ergebnisse zu erzielen, die ihre Probleme linderten oder lösten. Indem ich meine Hände und meinen Stil-len Partner in Kontakt mit dem Bereich der Beschwerde brachte, tauchte ich ein in den Grund für ihre Schwierigkeiten. Auf diese Weise konnte ich, statt ihnen zu erklären »wie« ich arbeite, erklären »warum« sie ihre Probleme hatten. Und das stellte sie zufrieden.

… Studieren Sie die beigefügten Dokumente und es wird Ihnen helfen, das zu verstehen, was wir machen werden, wenn Sie nächsten Januar nach Dallas kommen, und damit zu experimentieren. Es handelt sich um eine Methode, die ein immer-währendes Vertrauen verlangt. Lassen Sie sich damit Zeit und komplizieren Sie es nicht. Sie haben den Rest Ihres Lebens, um es zu meistern.

28. Oktober 1976Lieber Dr.----------,Danke für die Kopie Ihres Mauskriptes, die Sie mir geschickt haben … Ich

stimme Ihnen prinzipiell zu, dass es nötig ist, das arbeitende Energiefeld mit den bei der somatischen Dysfunktion involvierten physischen Teilen zu nehmen. Jedoch sind sowohl das Energiefeld und die Gewebebeteiligung lediglich Eff ekte und nicht Ursachen …

Im letzten Teil Ihres Manuskripts sprechen Sie darüber, dieses Energiefeld zu manipulieren. Wenn ich die gleichen Behandlungsergebnisse erzielen würde, wie die, die Sie beschreiben, so müsste ich mich fragen: »Habe ich dieses Energiefeld manipuliert oder habe ich dieses Energiefeld dabei beobachtet, wie es Veränderungen durchführte?« Lassen Sie mich das in ein Bild fassen: Eine verdrehte Angelsehne mit einem kleinen Senkblei daran oder ein verdrehtes Telefonkabel gehen mit verzerrten Energiefeldern einher. Ich halte die Angelsehne oder das Telefonkabel hoch und die Schnüre entwirren sich und korrigieren die Ausrichtung und die verzerrten Felder. Habe ich sie manipuliert oder sie beobachtet?

17. Februar 1978Liebes Fakultätsmitglied,

… ich möchte ein paar Bemerkungen über die knöchernen Elemente des Schädels machen. Die knöchernen Elemente sind lebendige Knochenplatten, die in innigem Kontakt mit der RSM (reziproken Spannungsmembran) stehen. Sie sind komplex in ihrer Form und ihren Verzahnungen ineinander und in ihren Bewegungsmustern.

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II–233Kapitel 15 – Korrespondenz: Kollegen und Freunde

Gefühl habe, dass die Behandlung Zeit benötigt, um ihre Wirkung beim Patienten zu entfalten. Das ist alles. Irgendwelche Vorschläge?

Dan war so freundlich, mir ein Schädeldach eines Lamas, der vor 150 bis 200 Jah-ren (gelebt hat) zu geben. Es ist höchst ungewöhnlich, weil die Meditationen, die er durchgeführt hat, bewirkt haben, dass der Vertex seines Schädels sich von den üb-lichen zwei Schichten auf eine Schicht ausgedünnt hat. Materie und Energie sind wahrlich austauschbar …

22. Juli 1978Lieber Dr.-----,

… Ja, Ihr ganzes Praxisleben und wahrscheinlich das Leben selbst folgt einem neuen Weg – und das ist wunderbar.

Erlauben Sie mir, W. G. Sutherland zu zitieren:»Der innewohnenden physiologischen Funktion zu erlauben, ihre unfehlbare Po-

tency zu entfalten, statt von außen blinde Kraft anzuwenden …. Eine Potency, die eine innere Intelligenz besitzt.«54

Als ich anfi ng, durch Anwendung der Grundprinzipien, die uns von Drs. Still und Sutherland gegeben wurden, mit den inneren Ressourcen des Patienten zu arbei-ten, hatte ich dasselbe Problem mit Patienten, die zu stark oder zu wenig aufgeladen waren und mich entweder aufgedreht oder ausgelaugt haben. Ich fragte Dr. Suther-land danach und er sagte: »Das ist wahr und es ist gar nicht nötig. Du hast das Recht, dich zu schützen:« Er sagte mir aber nicht, wie.

Mit den Jahren lernte ich, dass ich einen Stillen Partner habe, eine Quelle und mein Patient hat einen Stillen Partner und seine oder ihre Quelle – eine Quelle, die mich mit all der Potency versorgt, die ich benötige, um auf Erden zu wandeln, die-selbe Potency, die mein Patient auch in sich trägt.

Daher stimme ich mich auf meinen Stillen Partner zuerst ein und dann in aller Stille, durch meinen Stillen Partner, stimme ich mich in den Stillen Partner des Pa-tienten ein und schlage dem Stillen Partner des Patienten vor, seine eigene Quelle für seine Potency-Bedürfnisse zu nutzen.

Ich fahre nicht mehr auf dem Karussell mit, wo ich Stromschläge erhalte, weil ich zu sehr aufgeladen oder entladen wurde. Meine Quelle und ihre Quelle sind die

54 Rollin Beckers Vorwort aus: Sutherland, W. G. & A. S.: Das große Sutherland-Kompendium. Band I: Unterweisungen in der Wissenschaft der Osteopathie, JOLANDOS, 2004, S. I-ix.

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II–235Kapitel 15 – Korrespondenz: Kollegen und Freunde

Ich habe in meinen frühen Jahren viel Zeit mit einem gesprengten Schädel ver-bracht.

Frag (meine Frau) Ardath.

1. April 1986Lieber Dr.------,Ich bin froh, dass Sie sich so für die Wissenschaft der Osteopathie interessieren

… ich füge einiges an Grundmaterial bei, das mir ermöglicht »den Mechanismus zu verstehen«, als Vorbereitung auf eine »Technik« zum Zwecke der Behandlung. Als Erstes kommt die Grunddefi nition der Wissenschaft der Osteopathie in einem Absatz, den ich in Dr. Stills Autobiographie gelesen und ohne Vorbehalte akzeptiert habe.55 Ich habe Stills Beschreibung eines mir zur Verfügung stehenden lebendigen Mechanismus, den ich für meine Diagnose und Behandlung einsetzen kann, ak-zeptiert. Ich hatte bis dahin zehn Jahre lang allgemeine OMT56 praktiziert und be-fand sie hinsichtlich des Verständnisses und der klinischen Resultate als mangelhaft . Dann entdeckte ich diesen Absatz, gab meine allgemeine OMT auf und benutzte den Inhalt der Defi nition, um mein Wissen zu entwickeln und die Lebendigkeit der Körperphysiologie und der körpereigenen Selbstkorrektur in Richtung Gesundheit, die von innen kommt, einzusetzen.

Der Schlüssel ist, ohne Zweifel zu akzeptieren, was in dem Absatz steht, um einen inneren Grad an palpatorischem Geschick zu entwickeln, mit dem man die Körper-physiologie des Patienten lesen kann und »der (dem Patienten) innewohnenden phy-siologischen Funktion erlaubt, ihre unfehlbare Potency zu entfalten, statt von außen blinde Gewalt anzuwenden.« (W. G. Sutherland)

… Ich habe diesen Ansatz durch die letzten 42 Jahre angewendet und lerne noch immer. In dem Moment, wenn ein Patient meine Praxis betritt, werde ich zum Stu-denten, der »innere Arzt« des Patienten wird der Lehrer und seine/ihre Körperphy-siologie wird das lebendige Werkzeug, durch das meine palpatorischen Fähigkeiten lernen können, an diesem bestimmten Tag »den Mechanismus zu verstehen«. So-bald ich die Kontakte mit den Händen und dem Körper aufgebaut habe, beginne ich zu fühlen, zu lauschen, um leise, ohne Urteil, aktiv mitzuerleben, was der innere Arzt und die Körperphysiologie des Patienten durch meine palpatorischen Kontakte manifestiert. Wenn diese diagnostische Behandlung beendet ist, kann ich meine

55 Voller Wortlaut des Zitats siehe Seite II–16. 56 Anm. d. Hrsg.: Osteopathic Manipulative Treatment.