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Rousseau und die Moderne...12 Rousseau: Emil oder Über die Erziehung Vollständige Ausgabe In neuer dt Fassung besorgt v Ludwig Schmidts 11 Aufl , Paderborn [u a ] 1993, S IV368;

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Rousseau und die ModerneEine kleine Enzyklopädie

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WALLSTEIN VERLAG

Rousseau und die ModerneEine kleine Enzyklopädie

Herausgegeben von Iwan-Michelangelo D’Aprile

und Stefanie Stockhorst

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Inhalt

Vorwort 7

Siglen 8

StefanieStockhorstÄsthetik (esthétique) 9

Hans-JürgenLüsebrinkAutodidaxie (autodidactisme) 21

LilianeWeissbergBekenntnisse (confessions) 34

PeterSchröderBürger (citoyen) 44

KarolineSpelsbergEntfremdung (alienation) 55

NicholasMillerFamilie ( famille) 72

FraukeStübigFrauenbilder (images de la femme) 83

Iwan-MichelangeloD’AprileGeschichte (histoire) 95

CélineSpectorGeschmack ( goût) 105

DirkWiemannGleichheit (égalité ) 114

JürgenOverhoffGroßbritannien (Grande Bretagne) 126

ChristopheLosfeldHöflichkeit (courtoisie ) 136

AnneBaillotKommunikation (communication) 149

TristanCoignardKosmopolitismus (cosmopolitisme) 157

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inhalt

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ElisabethDecultotKunstgeschichte (histoire de l’art) 169

RüdigerZillLeidenschaften ( passions) 183

MeikeSophiaBaader/AnnedorePrengelMenschenrechtsbildung ( formation des droits de l’homme) 197

ThomasIrvineMusik (musique) 211

HannoSchmittPhilanthropismus ( philanthropisme) 221

SonjaAsalPhilosophen ( philosophes) 230

AgnieszkaPufelskaPolen (Pologne) 241

JosephVoglPolitische Ökonomie (économie politique) 250

MarkusMesslingRomantik (romantisme) 259

DirkWerleRuhm ( gloire) 275

UlrikeEisenhutSprachanalogien (analogies de langue) 288

NinaLexSubjektivität (subjectivité ) 304

VanessadeSenarclensTheater (théâtre) 315

HolgerBöningVolksaufklärung (Lumières populaires) 324

AviLifschitzZeichensprache (langue des signes) 339

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Vorwort

Kein Autor des 18 Jahrhunderts hat die Ambivalenzen der Moderne so vorgedacht wie Jean-Jacques Rousseau Dabei zeigt sich nicht nur die enorme Anschlussfähigkeit bestimmter Begriffe, die Rousseau als notorischer Querdenker seiner Epoche entwickelte, sondern es treten auch Brüche und Widersprüchlichkeiten der Aufklärung zutage, die sich ebenfalls bis heute fortschreiben Rousseau hat in diesem Sinne auf den unter schiedlichsten Gebieten Bahnbrechendes geleistet: von der Politik bis zur Pädagogik, von der Sprache bis zur Literatur und zum Theater Die ideengeschichtliche Reichweite dieses Spektrums lässt sich heute wissenschaftlich nur erfassen, wenn man es aus der Sicht verschiedenster Fachdisziplinen untersucht und deren jeweilige Per-spektiven und Herangehensweisen miteinander ins Gespräch bringt

Vor diesem Hintergrund wird in diesem Band eine Zusammenschau derjenigen Aspekte im Werk Rousseaus angestrebt, die eine Relevanz für die Ideengeschichte der Moderne in den nachfolgenden Jahrhun-derten bis in die Gegenwart gewinnen Diese ›Schlüsselkategorien‹ sollen jenseits von nationalsprachlichen und disziplinären Grenzen mit Blick auf ihr sinnstiftendes Potential hin ausgeleuchtet werden Sowohl inter-national ausgewiesene Rousseau-Experten als auch solche Wissenschaft-lerinnen und Wissenschaftler, die mit wichtigen aktuellen Beiträgen zum Moderne-Diskurs hervorgetreten sind oder aber als Nachwuchs-wissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler anregende Per-spek tiven entwickeln, präsentieren jeweils eine Schlüsselkategorie der Moderne In spielerischer Anlehnung an die große Encyclopédie der Aufklärung folgen wir dabei einer alphabetischen Ordnung, wobei Querverweise am Ende der Artikel die Zusammenhänge untereinander aufzeigen Da es sich nur um eine ›kleine‹ Rousseau-Enzyklopädie han-delt, lag das Ziel hier – anders als bei dem großen französischen Modell – weder im Streben nach systematischer Vollständigkeit, noch ging es darum, die Schlüsselkategorien philologisch erschöpfend in Rousseaus Gesamtwerk nachzuverfolgen Die Einträge besitzen vielmehr den Charakter von Essays: Sie identifizieren bestimmte Themenfelder als ›Schlüsselkategorien der Moderne‹, um ihre anhaltende Wirkung schlag-lichtartig durch verschiedene Zeiten und Diskurse nachzuverfolgen oder auch um punktuelle historische Rekonstruktionen vorzunehmen 1

1 Zur Ergänzung verweisen wir auf die beiden Rousseau-Wörterbücher: Dic-tionnaire de Jean-Jacques Rousseau Hg v Raymond Trousson u Frédéric S Eigeldinger Paris 1996; sowie Nicholas J H Dent: A Rousseau Dictio-nary Cambridge 1992

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vorwort

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Obwohl es sich bei dem vorliegenden Buch also gewissermaßen um einen ›Konzeptband‹ handelt, nicht um einen Sammelband, geht es auf eine internationale Tagung zurück, die vom 10 bis 13 Mai 2012 an-lässlich des 300 Geburtsjahres Rousseaus an der Universität Potsdam durchgeführt wurde Sowohl die Tagung als auch der vorliegende Band wurden von der Gerda Henkel Stiftung großzügig gefördert, wofür wir herzlich danken Unser Dank geht zudem an unsere Kooperations-partner, das Rochow-Museum Reckahn, die Bibliothek für bildungs-geschichtliche Forschung Berlin und das Institut Français Dr Ulrike Wels und Jesko Hilbrecht danken wir für die Unterstützung beim Korrekturlesen des Manuskripts Unser besonders großer Dank gilt Vinzenz Hoppe für seinen unermüdlichen Einsatz bei der Redaktion der Artikel und beim Einrichten des Manuskripts

Potsdam, am 24. Januar 2013Iwan-Michelangelo D’Aprile und Stefanie Stockhorst

SiglenOC Jean-Jacques Rousseau: Œuvres complètes 5 Bde Hg v

Bernard Gagnebin u Marcel Raymond Paris 1959-1995 (Bib-liothèque de la Pléiade)

CC Correspondance complète de Jean Jacques Rousseau 52 Bde Hg v Ralph Alexander Leigh Genf [u a ] 1965-1998

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Ästhetik (esthétique)

Als Lehre von den ›niederen‹ nicht-rationalen Kognitionsweisen im Allgemeinen sowie von den Formen und Funktionen des Natur- und Kunstschönen im Besonderen sorgte die Ästhetik in gebildeten Kreisen des 18 Jahrhunderts für großes Aufsehen Denn im Sinne einer »scien-tia cognitionis sensitivae«,1 also einer Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis, wie es Alexander Gottlieb Baumgarten 1750 ausdrückte, lieferte sie nicht nur ein rationales Fundament für die schwer objek-tivierbare Kategorie des Geschmacks, sondern ebnete auch den Weg für eine neue, empfindsame Gefühlskultur 2 Jean-Jacques Rousseau allerdings nahm im Bereich der Ästhetik mehr als sonst eine Außen-seiterposition ein, obwohl er – der zumal selbst als Komponist, Roman-cier und Dramatiker hervortrat – die großen ästhetischen Debatten seiner Zeit nicht nur rezipierte, sondern auch seinerseits maßgeblich auf sie einwirkte 3 Trotz seiner vordergründigen Begeisterung für ästhetische Fragen, insbesondere im Bereich der Musik, entwarf er keine systematisch geschlossene Theorie der schönen Künste, diskutierte keine Theorien anderer Autoren und zeigte sich überhaupt etwas desinteres-siert an systematischer Reflexion über die ›Ästhetik‹ 4 Zudem sind die in verschiedenen Schriften vorgetragenen ästhetischen Positionen in der Zusammenschau keineswegs frei von Widersprüchlichkeiten und womöglich gewollten Ambivalenzen 5 Im Grunde macht sich daher jeder Versuch, einen ästhetiktheoretischen Ansatz Rousseaus ex post

1 Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik [1750-58] Bd 1 Lateinisch-deutsch Übers u hg v Dagmar Mirbach Hamburg 2007, S 10

2 Vgl im Überblick Lothar van Laak: Art ›Ästhetik‹ In: Enzyklopädie der Neuzeit Bd 1: Abendland–Beleuchtung In Verbindung mit den Fachwis-senschaftlern hg v Friedrich Jaeger Stuttgart 2005, Sp 715-721

3 Vgl die Gesamtdarstellung bei Philip E J Robinson: Jean-Jacques Rous-seau’s Doctrine of the Arts Bern [u a ] 1984 (Europäische Hochschulschrif-ten; Reihe XIII 90)

4 Vgl Philippe Lefebvre: L’Esthétique de Rousseau Paris 1997, S 6 5 Vgl dazu im Einzelnen Friederike Werschkull: Ästhetische Bildung und

reflektierende Urteilskraft Zur Diskussion ästhetischer Erfahrung bei Rousseau und ihrer Weiterführung bei Kant Weinheim 1994 (Studien zur Philosophie und Theorie der Bildung 27), S 131-147

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zu rekonstruieren, von vornherein angreifbar, weil sich für manche Textbelege – vor allem in der Frage nach der Befürwortung oder Ab-lehnung der schönen Künste – leicht auch ein ebenso schlagkräftiger Gegenbefund beibringen lässt Gleichwohl kann man eine durchgängige Tendenz benennen: Rousseau sieht das Kunstschöne nicht als eigenen Wert an, sondern lediglich als Notbehelf gegen eine sittliche Kor-ruption, die ihrerseits gleichsam als zivilisatorischer Kollateralschaden begriffen wird Diesen ästhetischen Moralismus vertritt er indessen, da-rin ebenso Zivilisationskritiker wie Erzieher, mit durchaus programma-tischem Elan Nicht zuletzt bietet seine Ästhetik eine Selbstrechtfertigung gegenüber dem Vorwurf, dass es »einem, wenn man Musik und Verse macht, schlecht anstehe, die schönen Künste herunterzumachen, und daß es in der Literatur, die ich zu verachten vorgebe, tausend lobens-wertere Beschäftigungen gebe, als Theaterstücke zu schreiben« 6

Vor diesem Hintergrund erscheint es kaum mehr verwunderlich, wenn das Dictionnaire de Jean-Jacques Rousseau kein Lemma zur Ästhe-tik enthält, wohl aber eines zum Sensualismus 7 Denn ihren Ausgang nimmt Rousseaus ästhetische Agenda von der moral sense philosophy, namentlich von der sensualistisch geprägten Erkenntnistheorie in John Lockes Essay Concerning Human Understanding (1690) und ihrer Re-zeption bei Étienne Bonnot de Condillac mit seinem Traité des sensations (1754) Rousseau selbst spricht von jenem »sechsten Sinn«, dem »mo-ralischen Sinn, mit dem so wenige Herzen ausgestattet sind«,8 und der als Funktion einer empfindsamen Seele seiner mitleidsorientierten Wir-kungsästhetik vorausgesetzt ist, um die es im Folgenden gehen soll

Wenn Rousseau über ästhetische Probleme im engeren Sinne spricht, sind seine Auffassungen alles andere als originell So teilt er beispiels-weise in seinem Essai sur l’origine des langues (postum 1781) mit, das Wesen der Kunst liege in der Nachahmung, die jede Kunstsparte mit den ihr eigenen Mitteln vollziehe:

Ebensowenig also, wie die Malerei die Kunst ist, Farben auf eine für das Auge angenehme Weise zu kombinieren, ist die Musik die Kunst, in der man Töne auf eine für das Ohr angenehme Weise kombiniert

6 Rousseau: Vorrede zu ›Narcisse‹ In: ders : Schriften Bd 1 Hg v Henning Ritter Frankfurt a M 1988, S 149 f ; Narcisse, OC II, S 961

7 Vgl Jean Sgard: Art ›Sensualisme‹ In: Dictionnaire de Jean-Jacques Rous-seau Hg v Raymond Trousson u Frédéric S Eigeldinger Paris 1996, S 852 f

8 Rousseau: Die Bekenntnisse Vollständige Ausgabe Übers v Alfred Semerau Mit einem Nachwort u Anm v Christoph Kunze München 1981, S 539; Les confessions, OC I, S 547

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Wenn es nur darum ginge, würden die eine wie die andere zu den normalen Wissenschaften zählen und nicht zu den schönen Kün-sten Die Nachahmung allein erhebt sie zu diesem Rang Was nun macht die Malerei zur nachahmenden Kunst? – die Zeichnung Und was macht die Musik zu einer solchen? – die Melodie 9

In der Auseinandersetzung um das Verhältnis von Kunst und Wirk-lichkeit stellt das Nachahmungspostulat insbesondere im Zeichen der notorisch missverstandenen horazischen ut pictura poesis-Formel10

einen kunsttheoretischen Gemeinplatz dar, der in dieser Form in der zweiten Hälfte des 18 Jahrhunderts durchaus etwas altmodisch an-mutet Indes entwickelt Rousseau an anderer Stelle einen durchaus e igenwilligen Zugriff auf das Postulat der Naturnachahmung (lat imi-tatio naturae), und zwar in seinem Roman Émile (1762), der ideal-typisch konstruiert ist,11 nicht zuletzt um seine ästhetischen Auffas-sungen in Bezug auf die Gesellschaft zu veranschaulichen:

In ihren Werken bringen die Menschen nur durch Nachahmung Schönes hervor Alle wahren Geschmacksvorbilder finden sich in der Natur Je weiter wir uns von dieser Meisterin entfernen, desto entstellter sind unsere Bilder Dann nehmen wir unsere Lieblings-gegenstände zum Modell; und das eingebildete Schöne, das der Laune und der Anmaßung unterworfen ist, ist nichts anderes mehr als das, was denen gefällt, die uns verführen 12

Als Maß und Ziel der Künste sieht er demnach nicht etwa die vollkom-mene Sinnestäuschung, wie sie die vielzitierte Anekdote von Zeuxis illustriert, der im Wettstreit mit Parrhasius derart natürlich wirkende

9 Rousseau: Abhandlung über den Ursprung der Sprache In: ders : Musik und Sprache Ausgewählte Schriften Mit einem Essay von Peter Gülke Hg u übers v dems u Dorothea Gülke Leipzig 1989, S 142 f ; Essai sur l’origine des langues, OC V, S 413

10 Vgl zur Problemgeschichte im Überblick Henryk Markiewicz: Ut Pictura Poesis … A History of the Topos and the Problem In: New Literary His-tory 18 (1986 /87), S 535-558; das Zitat bei Quintus Horatius Flaccus: Ars Poetica Die Dichtkunst Lateinisch / Deutsch Übers u hg v Eckart Schäfer Bibliographisch erg Ausg Stuttgart 1997, S 26 (V 361)

11 Vgl Wilhelm Voßkamp: »Un livre paradoxal« J -J Rousseaus ›Émile‹ in der deutschen Diskussion um 1800 In: Herbert Jaumann (Hg ): Rousseau in Deutschland Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption Berlin [u a ] 1995, S 101-113, hier S 108-111

12 Rousseau: Emil oder Über die Erziehung Vollständige Ausgabe In neuer dt Fassung besorgt v Ludwig Schmidts 11 Aufl , Paderborn [u a ] 1993, S 368; Émile, OC IV, S 672

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Trauben gemalt haben soll, dass die Vögel daran zu picken versuch-ten 13 Statt um solche kunstfertige Illusionen geht es bei Rousseau um die Orientierung an der Natur selbst, die er in den Künsten seiner Zeit vermisst Damit bricht er mit der seit der Antike fortgeschriebe-nen Vorstellung der Kalokagathie (von gr kalòv kaì ágaqóv), also mit der Annahme, das Schöne müsse zugleich gut sein und das Gute zugleich schön Anders als traditionell üblich begreift Rousseau den Zusammenhang von sinnlicher und sittlicher Vollkommenheit durch einen exklusiven Syllogismus, der wie folgt zu denken ist: Nur das Natür liche ist gut, nur das Gute ist schön, daher kann auch nur das Natür liche schön sein 14 An diesem Punkt setzten diejenigen Über-legungen ein, welche die spezifischen Besonderheiten seiner Ästhetik aus machen, denn er interessiert sich nicht für eine Phänomenologie des Kunstschönen, sondern vor allem für die sozialethischen Wir-kungen der Künste

In diesem Sinne spitzt er den traditionellen platonischen Lügen-vorwurf (Politeia, 398a; 595a-607b), der die wahrscheinliche Fiktion nicht als poetische Wahrheit gelten lässt, dahingehend zu, dass die Dichtkunst entweder wahr und nützlich oder aber lügenhaft und nutzlos sein könne Diese Auffassung erklärt er anhand der Gegen-überstellung von Fabeln und Romanen Erstere zielten allein darauf, »nützliche Wahrheiten in anschaulicher und einnehmender Gestalt darzustellen«, so dass ihr Autor »keineswegs ein Lügner genannt wer-den« könne Romane hingegen hätten, »ohne eine wirkliche Belehrung zu enthalten, bloße Unterhaltung zum Zweck« und entbehrten daher »allen mora lischen Nutzens« Daher könnten sie »lediglich nach der Absicht ihres Erfinders beurteilt werden, und wenn er sie als wirkliche Wahr heiten ausgibt, so ist es fast nicht zu leugnen, daß es wirkliche Lügen sind« 15

Seinem Discours sur les sciences et les arts (1750) gab Rousseau ein Motto, das aus der Ars poetica des Horaz stammt Es zielt abermals auf

13 Vgl Plinius: Naturalis Historiae Bd XXXV Hg u übers v Roderich König in Zusammenarb mit Gerhard Winkler 2 , überarb Aufl , Düssel-dorf u Zürich 1997, 64-66 (S 56-58)

14 Vgl Servanne Woodward: Diderot and Rousseau’s Contributions to Aes-thetics New York [u a ] 1991 (New Studies in Aesthetics 8), bes S 12 f ; sowie zum ›Erhabenen‹ als Konkurrenzbegriff zum ›Schönen‹ seit dem 18 Jahrhundert, wenngleich nur unter marginalem Bezug auf Rousseau, Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne Revisionen des Schö-nen von Boileau bis Nietzsche Stuttgart u Weimar 1995

15 Rousseau: Träumereien eines einsamen Spaziergängers In: ders : Schriften Bd 2, S 680; Les rêveries, OC I, S 1029

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das Moment der Illusion: »Decipimur specie recti«16 – wir werden vom Anschein des Rechten getäuscht Indes spannt Rousseau unter diesen poetologischen Vorzeichen einen weiten Bogen von der Nachahmungs-ästhetik hin zu einer fundamentalen Zivilisationskritik: »[H]ier aber ist die Wirkung gewiß und das Verderben augenscheinlich, unsere Seelen sind in dem Maße verdorben, in dem unsere Wissenschaften und unsere Künste vollkommener geworden sind «17 Bereits im Vorwort distanziert sich Rousseau von der fortschrittsoptimistischen Aufklärungsliteratur, indem er mit sokratischen Unwissenheitsgesten die aufklärerische Wert-schätzung für die Künste und Wissenschaften hinterfragt Er entlarvt die Künste wie auch die Wissenschaften als Schauplätze des menschlichen Ehrgeizes, auf denen überfeinerte Fähigkeiten und Wortgewandtheit über aufrichtige Tugenden und schlichte Wahrheiten dominierten Für die Gesellschaft seiner Zeit stellt er fest, dass die Künste und Wissen-schaften einerseits und die politische Macht andererseits einander zu-arbeiteten und so die Freiheit der Menschen nachhaltig einschränkten

Während die Regierung und die Gesetze über die Sicherheit und Wohlfahrt der versammelten Menschen wachen, breiten die Wissen-schaften, die Literatur und die Künste, die weniger despotisch, aber vielleicht desto mächtiger sind, über die ihnen angelegten Ketten Blumenkränze aus, ersticken bei ihnen diese Empfindung der ur-sprünglichen Freiheit, um deretwillen [!] sie doch geboren zu sein schienen, lassen sie ihre Sklaverei lieben und bilden aus ihnen, was man gesittete Völker nennt 18

Den beklagten Zustand der zwischenmenschlichen Beziehungen führt Rousseau auf einen Verlust der Unmittelbarkeit im Miteinander zu-rück, die in früheren Zeiten bestanden habe: »Die menschliche Natur war im Grunde nicht besser, aber die Menschen fanden ihre Sicherheit in der Leichtigkeit, mit der sie sich wechselseitig durchschauten, und dieser Vorteil, dessen Wert wir nicht mehr erkennen, überhob sie vieler Laster «19

16 Rousseau: Abhandlung über die Frage, ob die Wiederherstellung der Wissen-schaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen hat In: ders : Schriften Bd 1, S 31; Discours sur les sciences et les arts, OC III, S 5 – Vgl Quintus Horatius Flaccus: Ars Poetica, V 25 (S 4)

17 Rousseau: Abhandlung über die Wissenschaften und Künste, S 37; Dis-cours sur les sciences et les arts, OC III, S 9

18 Rousseau: Abhandlung über die Wissenschaften und Künste, S 34; Dis-cours sur les sciences et les arts, OC III, S 6 f

19 Rousseau: Abhandlung über die Wissenschaften und Künste, S 35; Dis-cours sur les sciences et les arts, OC III, S 8

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Die erste Wirkung der Künste und Wissenschaften auf die Gesell-schaft besteht nach Rousseau darin, dass »sie die Menschen geselliger machten, indem sie ihnen das Verlangen einflößten, einander durch Werke zu gefallen, die ihres wechselseitigen Beifalls würdig waren« 20 Neben diesem integrativen Effekt deutet sich jedoch zugleich eine kompetitive Dimension der Künste an, deren Erzeugnisse erst durch öffentliche Auszeichnung in den Rang von Kunstwerken erhoben würden: »Jeder Künstler will Beifall erhalten, und der kostbarste Teil seiner Belohnung sind die Lobreden seiner Zeitgenossen «21 Dies führe zu tiefer Zwietracht in der aufgeklärten Letternrepublik:

Argwohn, Mißtrauen, Furcht, Kälte, Zurückhaltung, Haß und Ver-leumdung werden sich ewig unter diesem einförmigen und betrü-gerischen Schleier der Höflichkeit, dieser gepriesenen Feinheit der Sitten verstecken, welche wir der Aufklärung unseres Jahrhunderts zu verdanken haben 22

In gesellschaftlichen Beziehungen, die auf Konkurrenz gründeten, ver-kümmere die echte Wertschätzung nach Rousseau zur floskelhaft praktizierten Ehrbezeugung, während die gelebte Tugend bedeutungs-los würde: »Woher entstehen diese Mißbräuche anders als aus der unseligen Ungleichheit, die durch die Unterscheidung der Talente und die Geringschätzung der Tugend unter den Menschen eingeführt wurde?«23 Infolge der Agonalität von Künsten und Wissenschaften entstünde auf diesen Gebieten in besonderem Maße ein Hang zur Täuschung im Streben nach Erfolg und Ruhm

Als weitere Folge zunehmender Zivilisierung einer Gesellschaft führt Rousseau an, dass die Entscheidung des Künstlers, »glanzvoll zu sein und kurze Zeit zu bestehen oder tugendhaft und lange zu dauern«,24 in aller Regel zugunsten des vergänglichen Zeitgeschmackes getroffen werde Indes müssten die wenigen Künstler und Wissen-schaftler, die sich aufrichtig für die Wahrheitsfindung einsetzten, we-gen mangelnder Anerkennung resignieren:

20 Rousseau: Abhandlung über die Wissenschaften und Künste, S 33; Dis-cours sur les sciences et les arts, OC III, S 6

21 Rousseau: Abhandlung über die Wissenschaften und Künste, S 49; Dis-cours sur les sciences et les arts, OC III, S 21

22 Rousseau: Abhandlung über die Wissenschaften und Künste, S 36; Dis-cours sur les sciences et les arts, OC III, S 8 f

23 Rousseau: Abhandlung über die Wissenschaften und Künste, S 54; Dis-cours sur les sciences et les arts, OC III, S 25

24 Rousseau: Abhandlung über die Wissenschaften und Künste, S 49; Dis-cours sur les sciences et les arts, OC III, S 20

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Der Weise läuft dem Glück nicht nach, gleichwohl ist er für den Ruhm nicht unempfindlich, wenn er ihn aber so schlecht verteilt sieht, so ermattet seine Tugend, welche durch einige Aufmunterung der Gesellschaft vielleicht sehr nützlich geworden wäre, und sie erlischt im Elend und in Vergessenheit 25

Nach einer Klage über die Ablösung der wehrhaften Tugend im alten Rom durch ihr blutleeres Abbild in Künsten und Wissenschaften for-muliert Rousseau einen fiktiven Aufruf zum Bildersturm Er legt ihn dem römischen Staatsmann Gaius Fabricius Luscinus (3 Jh v Chr ) in den Mund, der für seine Prinzipientreue gerühmt wurde: »Römer, eilt, diese Amphitheater zu zerstören, zerbrecht diese Bildsäulen, ver-brennt diese Gemälde und verjagt diese Sklaven, welche euch unter-jochen und deren schädliche Künste euch verderben «26 Hierbei han-delt es sich freilich um eine polemische Evidenzierungsstrategie, denn Rousseau selbst hält die Hinwendung zu den Künsten und Wissen-schaften für eine zwar jeweils unterschiedlich ausgeprägte, jedoch na-turgegebene Neigung des Menschen, die unter bestimmten Umständen durchaus förderlich sein könne: »Die Seele richtet sich unmerklich nach den Gegenständen, mit welchen sie sich beschäftigt, und die gro-ßen Ge legenheiten machen große Männer «27

Seinen wohl profiliertesten Ausdruck findet Rousseaus ästhetisches Programm in der Vorrede zu seiner Komödie Narcisse ou l’amant de lui-même aus dem Jahr 1753 Narcisse wurde in der Comédie Française als einziges der sieben Theaterstücke Rousseaus öffentlich aufgeführt Zur Rechtfertigung dieses Stückes angesichts seiner radikalen Kritik an den schönen Künsten bekräftigt Rousseau Kernthesen aus dem Ersten Diskurs, indem er betont, dass er nicht grundsätzlich die Produktion von Kunstwerken verurteile, sondern nur einige ihrer gesellschaftlichen Folgen Er sei »entsetzt […] zu sehen, bis zu welchem Punkt unser vernünftelndes Jahrhundert in seinen Grundsätzen die Verachtung der Pflichten des Menschen und des Bürgers getrieben«28 habe Für das Auseinandertreten von Sein und Schein der Tugend in der Gesellschaft macht er auch hier die Entfaltung der Künste und Wissenschaften ver-antwortlich Mit der Hinwendung zur Gelehrsamkeit wie zum Kunst-

25 Rousseau: Abhandlung über die Wissenschaften und Künste, S 54; Dis-cours sur les sciences et les arts, OC III, S 26

26 Rousseau: Abhandlung über die Wissenschaften und Künste, S 43; Dis-cours sur les sciences et les arts, OC III, S 14 f

27 Rousseau: Abhandlung über die Wissenschaften und Künste, S 58 f ; Dis-cours sur les sciences et les arts, OC III, S 29

28 Rousseau: Vorrede zu ›Narcisse‹, S 154; Narcisse, OC II, S 965

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schönen, die beide auf öffentlichen Beifall angewiesen seien, würden sich die Menschen in die Abhängigkeit von Fremdurteilen begeben:

Daraus entstehen einerseits die Feinheiten des Geschmacks und der Lebensart, gemeine und niedrige Schmeichelei, verführerische, hinter-listige und kindische Sorgfalt, welche mit der Zeit die Seele herabsetzen und das Herz verderben, und andererseits entstehen daraus Eifer-süchteleien, Rivalitäten und Feindschaften so angesehener Künstler, üble Verleumdung, Betrug, Verrat, alle Feigheit und alle Widerwärtig-keit, die das Laster überhaupt nur haben mag 29

Die Künste verschleiern nach Rousseau ebenso wie die Wissenschaften mit Artigkeit und Raffinesse eine rohe, von der genuinen Be dürfnislage des Menschen abgelöste Herrschaftsausübung, zu deren Instrumenten sie verkommen würden Gleichwohl bestreitet er, dass es der Gesellschaft seiner Zeit förderlich sein könnte, die Wissen schaften und Künste an-gesichts ihrer fatalen Folgen gänzlich zu verteufeln Im Gegenteil:

Denn erstens, da ein lasterhaftes Volk niemals zur Tugend zurück-kehrt, handelt es sich nicht darum, diejenigen gut zu machen, die es nicht mehr sind; sondern diejenigen gut zu erhalten, die das Glück haben, noch gut zu sein Zweitens dienen dieselben Ursachen, wel-che die Völker verdorben haben, manchmal dazu, eine größere Verderbnis zu verhindern […] 30

Dementsprechend legitimiert er auch sein dramatisches Schaffen in-sofern, als er hofft, sein Publikum durch eine harmlose Zerstreuung von schlechteren Vorhaben ablenken zu können 31

Ich würde mich glücklich schätzen, wenn ich alle Tage ein Stück zu geben hätte und damit die Pläne auch nur eines einzigen Zuschauers aufhalten und die Ehre der Tochter oder der Frau seines Freundes, das Geheimnis seines Vertrauten oder das Vermögen seines Gläubi-gers retten könnte 32

Trotz des pessimistischen Grundzugs enthält Rousseaus Kritik an einem moralvergessenen Ästhetizismus letzten Endes doch einen zukunfts-weisenden Impuls, denn die »Beschwörung einer verlorenen Wahrheit

29 Rousseau: Vorrede zu ›Narcisse‹, S 156 f ; Narcisse, OC II, S 968 30 Rousseau: Vorrede zu ›Narcisse‹, S 161; Narcisse, OC II, S 971 f 31 Vgl dazu ausführlich Ulrich Kronauer: Rousseaus Kulturkritik und die

Aufgabe der Kunst Zwei Studien zur deutschen Kunsttheorie des 18 Jahr-hunderts Heidelberg 1978 (Sammlung Groos 4)

32 Rousseau: Vorrede zu ›Narcisse‹, S 162; Narciss, OC II, S 973

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birgt die emanzipative Kraft des Heraustretens aus gegenwärtiger Verfallenheit« 33 Aus diesen Überlegungen heraus sieht Rousseau in der Beschäftigung mit den Künsten letztlich ein Korrektiv, welches nicht nur die wenigen Guten gut erhalte, sondern auch das abhandengekom-mene Mitgefühl im Menschen erneut zu wecken vermöge 34 Denn nur die ästhetische Wahrnehmung (gr aiçsqhsiv) könne die Fähigkeit frei-setzen, den eigenen Standpunkt zu relativieren So heißt es im Émile: »Man wird nur dann empfindsam, wenn sich die Phantasie regt und beginnt, uns aus uns selbst heraustreten zu lassen «35 Somit greift Rousseau selbst wiederholte Male ausgerechnet auf ästhetische Aus-drucksmedien zurück, um den von ihm wahrgenommenen gesell-schaftlichen Defekten quasi mit den Mitteln entgegenzutreten, die sie verursacht haben 36 Dabei ergibt sich für ihn die Qualität eines Werks allein aus der moralischen Wirkung, was sich besonders klar aus der Nouvelle Héloïse (1761) ersehen lässt, wenn es dort heißt: »und ich vermag mir auch nicht vorzustellen, was an einem Buche, das seine Leser nicht zum Guten treibt, Gutes sein kann« 37 Auf ein plattes fabula docet richtet sich dieser Maßstab jedoch keineswegs, wie der vorgängig zitierte Passus aus dem Émile deutlich macht, auf ein freies Spiel der Einbildungskraft, welche gleichsam über den ästhetischen Gemeinsinn zum ›Guten‹ gelangen solle Gleichwohl deutet sich bei Rousseau im Bereich der Ästhetik eine ähnlich paradoxale Spannung von Anleitung und Selbstentfaltung an, wie sie sein Erziehungskonzept insgesamt kennzeichnet

Mit dieser moralischen Nützlichkeitsprogrammatik liegt Rousseau nun allerdings quer zu den ästhetischen Moden des ausgehenden 18 Jahrhunderts Bei dem, was er einfordert, handelt es sich um eine engagierte Literatur, während ansonsten allenthalben die Zweckfrei-heit der Kunst zum ästhetischen Goldstandard erhoben wurde In Deutschland hatte etwa Karl Philipp Moritz in seiner wegweisenden

33 Maximilian Forschner: Rousseau Freiburg 1977 (Kolleg Philosophie), S 8 34 Diese Dimension macht Rousseau insbesondere für materialistische Ästhe-

tikauffassungen anschlussfähig (vgl z B Terry Eagleton: Ästhetik Die Geschichte ihrer Ideologie Übers v Klaus Laermann Stuttgart und Wei-mar 1994 [engl EA 1990], S 26 f )

35 Rousseau: Emil oder Über die Erziehung, S 224; Émile, OC IV, S 506 36 Vgl zu diesem Motiv bei Rousseau Jean Starobinski: Das Rettende in der

Gefahr Kunstgriffe der Aufklärung Übers v Horst Günther Frankfurt a M 1990 [frz EA 1989], bes S 186-236

37 Rousseau: Julie oder die Nouvelle Héloïse Nach der Edition Rey (Amster-dam 1761) vollst überarb u erg v Dietrich Leube 2 Aufl , München 1988, S 268 f ; La Nouvelle Héloïse, OC II, S 261

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Abhandlung Über die bildende Nachahmung des Schönen (1788) die Interesselosigkeit der Kunst eingefordert, damit die Vollendung eines Kunstwerks einzig durch sich selbst erzielt würde Mit der program-matischen Freisetzung einer ungebundenen Schöpfungskraft, die jen-seits von Mäzenatentum, Regelpoetik und Buchmarkt ihren eigenen Gesetzen folgen sollte, etablierten sich Genie und Originalität als ästhe-tische Qualitätsmerkmale des deutschen Idealismus, so insbesondere bei Goethe, Schiller und Kant

Gleichwohl ist es gerade Schiller, der sich in jungen Jahren für Rousseau begeistert, der später die »Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet« und der verkündet: »Die Schaubühne ist der gemeinschaft-liche Kanal, in welchen von dem denkenden bessern Teile des Volks das Licht der Weisheit herunterströmt und von da aus in milderen Strahlen durch den ganzen Staat sich verbreitet «38 Desgleichen zeigen sich in der Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung (1795) bei aller sonstigen Distanz zu dem früheren Vorbild noch Re-flexe des Rousseau’schen Nachahmungsbegriffes, wenn Schiller die Naturbetrachtung als moralisches Vergnügen auffasst:

Könnte man einer gemachten Blume den Schein der Natur mit der vollkommensten Täuschung geben, könnte man die Nachahmung des Naiven in den Sitten bis zur höchsten Illusion treiben, so würde die Entdeckung, daß es Nachahmung sei, das Gefühl, von dem die Rede ist, gänzlich vernichten Daraus erhellet, daß diese Art des Wohlgefallens an der Natur kein ästhetisches, sondern ein mora-lisches ist; denn es wird durch eine Idee vermittelt, nicht unmittel-bar durch Betrachtung erzeugt; auch richtet es sich ganz und gar nicht nach der Schönheit der Form 39

Gegen einen ästhetischen Moralismus, wie Rousseau ihn vertritt, lassen sich gewichtige Einwände vorbringen So führt der Vorrang des mora-lisch ›Guten‹ vor dem ästhetisch ›Schönen‹ einerseits zur Missachtung von künstlerisch originellen, anspruchsvollen Werken, wenn sie keine Moral transportieren Zum anderen reicht allein das ›Gute‹ sicherlich nicht aus, um künstlerische Ambitionen geltend machen zu können, denn solange nicht ein Mindestmaß an ästhetischer Qualität – nicht

38 Friedrich Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? [1784 /85; ab 1802: Die Schaubühne als moralische Anstalt be-trachtet] In: ders : Sämtliche Werke Bd 5: Erzählungen Theoretische Schriften Hg v Gerhard Fricke u Herbert G Göpfert 9 , durchges Aufl , München 1993, S 828

39 Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung [1795] In: ders : ebd , S 694 f

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unbedingt ›Schönheit‹, aber doch zumindest eine gewisse Kunstfertig-keit gepaart mit partiell deutungsoffenen Sinnangeboten – vorliegt, wechselt das Genre von der Kunst in die Propaganda

Obwohl sich die Autonomieästhetik im Wesentlichen als Wert-maßstab durchgesetzt hat, erweist sich zu Beginn des 21 Jahrhunderts die ungebrochene Aktualität, die Rousseaus ästhetischem Moralismus weniger als Kunsttheorie denn als Bildungskonzept innewohnt Eine besonders prominente Vertreterin findet er derzeit in der amerikani-schen Sozialphilosophin Martha C Nussbaum (*1947) auf In Zeiten, in denen die Geisteswissenschaften und schönen Künste mehr denn je unter Rechtfertigungs- und Sparzwang geraten, verficht sie nach-drücklich eine umfassende ästhetische Bildung Auch wenn sich ihr Beitrag zu wirtschaftlichem Wachstum und technischen Entwicklungen schwerlich quantifizieren lasse, seien gerade diejenigen Kompetenzen, welche die geisteswissenschaftlichen Fächer vermitteln, von existen-tieller Bedeutung für den Erhalt funktionsfähiger demokratischer Kultu-ren In ihrem Buch Not for Profit (2010) schreibt sie:

I shall argue that cultivated capacities for critical thinking and re-flection are crucial in keeping democracies alive and wide awake The ability to think well about a wide range of cultures, groups, and nations in the context of a grasp of the global economy and of the history of many national and group interactions is crucial in order to enable democracies to deal responsibly with the problems we currently face as members of an interdependent world 40

Bei Nussbaum geht es um intellektuelle Selbständigkeit, ein kritisches Reflexionsvermögen, um das Verständnis für die Bedürfnisse anderer sowie um generelle Achtung der Menschlichkeit Diese Fähigkeiten bilden nach Nussbaum die Grundlage sowohl für lebendige Demokra-tien als auch für ökonomische Effizienz, die nicht von ausgebildeten Fachkräften, sondern von umfassend gebildeten, geistig flexiblen, em-pathiefähigen Individuen getragen werde Die reine Berufsfeldorientie-rung könne dies nicht leisten:

A flourishing economy requires the same skills that support citi-zenship, and thus the proponents of what I shall call ›education for profit‹, or (to put it more comprehensively) ›education for eco-

40 Martha C Nussbaum: Not for Profit Why Democracy Needs the Human-ities Princeton 2010, S 10 – Vgl auch die Musterinterpretation von ders : »Finely Aware and Richly Responsible« Moral Attention and the Moral Task of Literature In: The Journal of Philosophy 82/10 (1985), S 516-529

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nomic growth‹, have adopted an impoverished conception of what is required to meet their own goal 41

Mit den ästhetischen Leitideen von empfindsamer Seele, Natur und Tugend bildet Rousseau eine wichtige ideengeschichtliche Bezugs-größe für Nussbaums Bildungsideal So urteilt sie über den Roman Émile: »This story of narcissism, helplessness, shame, disgust, and compassion lies, I believe, at the heart of what education for demo-cratic citizenship must address «42 Sie findet in dem narrativ vorge-führten Erziehungsmodell einen zukunftweisenden Anspruch verwirk-licht: »Rousseau held that the ability to navigate in the world by one’s own wits was a key concept of making a child a good citizen who could live on terms of equality with others, rather than making them his servants «43 Als Theorie des Kunstschönen mag Rousseaus Ästhetik bereits im 18 Jahrhundert überholt gewesen sein, aber die Erlangung nicht nur ästhetischer, sondern auch bürgerlicher Mündigkeit durch die Übung des Geschmacksurteils leuchtet nach wie vor ebenso ein wie die Möglichkeit, aus Kunstwerken grundlegende Einsichten in die conditio humana zu gewinnen

––› Ruhm ––› Geschmack ––› Politische Ökonomie

41 Nussbaum: Not for Profit, S 10 42 Ebd , S 40 43 Ebd , S 57 f

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Autodidaxie (autodidactisme)

I ›Selbstgelehrter‹ – ein Faszinationstyp der Aufklärung

Die Figur des Autodidakten zählt zu den verborgenen, aber zugleich, bei näherem Hinsehen, zentralen Faszinations- und Denkfiguren des Aufklärungszeitalters Mit der Figur des Autodidakten, die Daniel Defoes Romanfigur Robinson Crusoe in der Fiktion und soziale Auf-steiger wie Valentin Jamerey-Duval in der gesellschaftlichen Wirk-lichkeit verkörperten, verband sich zum einen nicht nur die Kritik am tradierten Wissen, sondern auch an der herkömmlichen, lehrer- und dozentenzentrierten Wissensaneignung; zum anderen die Valorisierung des autonomen Individuums und seiner potentiell unbegrenzten Fähig-keiten, deren Entfaltungsmöglichkeiten bisher jedoch durch soziale Zwänge, zu denen auch verkrustete Formen der Pädagogik zählten, grundlegend reduziert und eingeschränkt worden seien Und zum dritten verknüpfte sich mit der Figur des Autodidakten und dem ihr eigenen Prozess der Wissensaneignung eine neue und dezidierte Valo-risierung von Natur, Originalität und unmittelbarer Erfahrung

Der Begriff ›Autodidakt‹ (frz ›autodidacte‹), der seit 1580 im Fran-zösischen in der Bedeutung ›eine Person, die sich selbst bildet‹ (»Une personne qui s’instruit elle-même«)1 existiert, findet sich in keinem der gängigen Wörterbücher und Enzyklopädien des Aufklärungszeitalters, obwohl das Phänomen selbst vor allem seit der zweiten Hälfte des 18 Jahrhunderts eine zunehmende Aufmerksamkeit von verschiede-nen Seiten erfuhr

Im Zuge der Volksaufklärungsbewegung und im Kontext der entste-henden neuen Anthropologie der Spätaufklärung mit ihrem Bestreben, die grundlegende Gleichheit und, hiermit verknüpft, die potentielle Bildungs- und Entwicklungsfähigkeit aller Menschen unabhängig von ihrer sozialen sowie kulturell-ethnischen Herkunft und Zugehörigkeit aufzuzeigen, entstand in verschiedenen Diskurszusammenhängen ein nachhaltiges Interesse an Personen, die aufgrund ihrer natürlichen Ver-

1 Art ›Autodidacte‹ In: Trésor de la langue française Dictionnaire de la langue du XIXe et du XXe siècle (1789-1960) Bd III: Ange-Badin Hg v Paul Imbs Paris 1974, S 986

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anlagungen zu Wissen und Gelehrsamkeit gelangt waren Ähnlich wie in anderen Wissensbereichen – etwa der Naturphilosophie und der Physio-logie, die sich in besonderem Maße für Blinde und Taubstumme inter-essierten – wurden somit Ausnahmephänomene zu Symptomen für all-gemeine Strukturen der kulturellen und intellektuellen Entwicklung

Voltaire etwa interessierte sich wiederholt für Autodidakten wie den Physiker Varinge in Lunéville, einen ehemaligen Schlossergesellen, der dank seiner »natürlichen Fähigkeiten« und der Förderung durch den Herzog von Lothringen zum »geschätzten Philosophen« gewor-den sei 2 Den am Hof von Lunéville als Bibliothekar tätigen Valentin Jamerey-Duval (1695-1775), einen ehemaligen Bauernsohn und Schaf-hirten aus der Champagne, der es zum Verwalter des kaiserlichen Münz-kabinetts in Wien bringen sollte, bezeichnete Voltaire, der ihn auch in seiner Korrespondenz erwähnt,3 im Artikel ›Astronomie‹ seines Dic-tionnaire Philosophique als »außergewöhnliches Kind« (»enfant extra-ordinaire«), dessen Autobiographie er zu veröffentlichen beabsichtig-te 4 Sein umfangreiches astronomisches Wissen habe er sich allein (»apprit par lui-même«), durch seine Neugier (»curiosité«), seine Be-harrlichkeit (»persévérance«) und durch intensive Naturbeobachtung angeeignet Johannes Heinrich Scherber unterstrich in seinem Werk über Leben und Selbstbildungsgeschichte des Bauers Nikolaus Schmidt das Aufsehen, das der »gelehrte Bauer« unter den Gelehrten seiner Zeit erregt habe Dieser habe »durch sich selbst geleistet […], wonach die Gelehrten forschten« 5 Ganz im Gegensatz zum Gelehrtenmilieu sei-

2 Vgl Voltaire an Nicolas-Claude Thierot, 15 Mai 1735 In: Voltaire: Corres-pondance Bd 1 (décembre 1704–décembre 1738) Hg v Theodore Bester-man Paris 1977 (Bibliothèque de la Pléiade 162), S 592 f : »Il y a ici un ex-cellent physicien nommé M de Varinge, qui de garçon serrurier est devenu philosophe estimable grâce à la nature, et aux encouragements qu’il a reçu de feu M le duc de Lorraine qui déterroit et qui protégeoit ses talents«

3 Ebd , S 593: »Il y a aussi un Duval bibliothécaire qui de paysan est devenu un savant homme, et que le même duc de Lorraine Léopold rencontra un jour gardant les moutons et étudiant la géographie«

4 Ebd , Anm 1564 – Es handelt sich um das letztlich nach dem Willlen des Autors, wohl aufgrund seiner sozialkritischen Passagen, erst postum veröffent-lichte Werk Mémoires sur la Vie de Duval In: Œuvres de Valentin Jamerai Duval, précédées des Mémoires sur sa vie [Par M F A de K***] Avec figure St Pétersbourg, et se vend à Strasbourg chez J G Treuttel II Bde Libraire 1784, hier Bd I, S 5-119 – Vgl auch Voltaire: Art ›Astronomie‹ In: Diction-naire philosophique In: Œuvres complètes de Voltaire, avec préfaces, notes et commentaires nouveaux Bd 8 Paris 1862, S 158-159, hier S 158

5 Johannes Heinrich Scherber: Leben und Selbstbildungsgeschichte des Ge-lehrten Bauers Nikolaus Schmidt Schleiz 1832, S 1

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ner Zeit sei der Umgang mit ihm »anziehend, und sein Gespräch, weil er Verstand besaß, unterhaltend und weit davon entfernt von wider-licher Affectation, die, fremden Sitten nachahmend, etwas Besseres er-scheinen will, als was wirklich in der Seelentiefe vorhanden ist« 6 An die Betrachtung des Lebensweges von Schmidt und anderen ›Selbst-gelehrten‹ wie dem Schweizer Bauern Kleinjogg,7 dessen Fall sowohl Jean-Jacques Rousseau als auch den Physiokraten Marquis de Mira-beau, den Schweizer Arzt und Aufklärer Johann Caspar Hirzel8 und den Pädagogen Pestalozzi interessierte, knüpft Scherber eine gene-relle Aussage zur kulturellen und wissenschaftlichen Bedeutung dieser ›Phänomene der Natur‹:9

In der Gelehrtenwelt gibt es eine nur selten wiederkehrende Er-scheinung von Gelehrten, die ohne die Wohlthat eines geregelten Unterrichts zu genießen, aus eigenem freien Antrieb irgend einer Wissenschaft oder Kunst sich widmen, und es darin gleichwohl zu einer bemerkbaren Stufe der Vollkommenheit bringen Man be-zeichnet diese Art von Gelehrten mit dem Namen der Selbstgelehr-ten (Autodidakten) Sie sind gewöhnlich Personen von mancherlei Eigenheiten, und tragen an sich die Farbe einer gewissen Originali-tät Freier, lebendiger bewegen sich ihre Geisteskräfte, und treten schärfer hervor, als im Schulzwange des Mechanismus und der Nachbeterei Sie sehen aber auch, weil sie mit den Schwierigkeiten der Selbstbelehrung zu kämpfen haben, desto schärfer, und ergreifen um so begieriger jede Gelegenheit fremder Belehrung 10

Der ›gelehrte Bauer‹ Nikolaus Schmidt (alias Künzel, 1606-1671) er-scheint seinem Biographen geradezu als ein Prototyp des Auto didakten, da seine Eltern »zwar redliche, aber beiderseits keine schriftgelehrten, Leute« gewesen seien, er selbst die »Wohlthat des Schulunterrichtes« nicht habe genießen können, »theils aus Ermangelung einer Ortsschule,

6 Ebd , S 63 7 Vgl hierzu Rudolf Schenda: Der gezügelte Bauernphilosoph … oder Wa-

rum Kleinjogg (und manch anderer Landmann) kein Freund des Lesens war In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 76 (1980), S 214-228 Auf S 219-222 geht Schenda auch auf andere Autodidakten aus dem ländlichen Milieu im deutschsprachigen Raum ein

8 Vgl Johann Caspar Hirzel: Die Wirtschaft eines philosophischen Bauern Zürich 1761

9 Vgl hierzu auch Hans-Jürgen Lüsebrink: Repräsentanten der Natur Auto-biographies plébéiennes en Allemagne autour de 1800 In: Romantisme Revue du Dix-Neuvième Siècle 56 (1987), S 69-77

10 Scherber: Leben und Selbstbildungsgeschichte, S 20

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theils wegen Überhäufung seiner Eltern mit wirtschaftlichen Arbeiten Die gewöhnlichen Gebete und Katechismusfragen erlernte er durch Vorsagen« 11 Die Tatsache, dass Schmidt trotz dieser widrigen Um-stände seine Talente habe entwickeln und zum Gelehrten habe werden können, erklärt sein Biograph zum einen mit individuellen Charak-tereigenschaften und zum anderen mit dem generellen Gesetz, dass »geniale Geisteskraft« nicht auf Dauer unterdrückt werden könne, sondern wie eine Naturerscheinung zutage treten müsse:

Was er war, ist er geworden durch eigene Kraftanstrengung In seiner Person vereinigt sich beides, das Wechselverhältnis des Leh-renden und des Lernenden Er selbst war Alles in Allem Eben deshalb ward der einsame Selbstzögling von seinen Zeitgenossen bewundert und als eine Erscheinung angestaunt, dergleichen die Welt nie gesehen hätte Gegen ihn standen diejenigen, welche man früher als Selbstgelehrte gekannt hatte, weit zurück […] Indeß die höhere, geniale, Geisteskraft, wo sie vorhanden ist, lässt sich wohl eine zeitlang unterdrücken; sie bricht aber nachher, wie eine Quelle, aus verborgenen Gründen, in ihrer eigenthümlichen Originalität, die etwas Ungemeines leistet, in verstärkter Kraft hervor Was in der geheimnißvollen Tiefe seines Gemüths sich zu regen anfing, war nicht so wohl ein Hang zu Künsten, der sonst talentvollen Bauern-söhnen eigen zu seyn pflegt, als vielmehr eine vorwaltende Liebe zu Sprachen und Wissenschaften 12

Ähnlich wie Jamerey-Duval wies Künzel, der seine Talente auch zum Verfassen von volkstümlichen Kalendern einsetzte,13 eine besondere Begabung auf dem Gebiet der Sternenkunde auf: »So nahm seine Denkkraft«, unterstreicht sein Biograph,

den höchsten Aufschwung in Regionen des Sternengefieldes, wo das Rohr des Sehers, dem physischen Auge neue Weltsysteme nur als Nebelflecke zeigt, und die Anfangspunkte zu Platons großem Sternenjahre ahnden läßt Auch auf diesem Gebiete brach er sich, wie überall, eine neue Bahn, entwickelte als Selbstgelehrter eine eigenthümliche Originalität und zeigte sich als denkender Kopf 14

Christian Gotthold Hoffmann, Physik-Professor in königlich-säch-sischen Diensten, führte 1756 mit dem Bauern Johann Ludewig aus

11 Ebd , S 28 f 12 Ebd , 20 f u S 28 f 13 Ebd , S 111 f 14 Ebd , S 56

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Costebauda eine ausführliche Unterredung, »um dadurch zu erfor-schen, wie weit es derselbe in der Philosophie, welcher er ohne Bey-hülfe eines mündlichen Unterrichts, bloß durch Lesung der Wolfischen Schriften obgelegen hat, durch sein eigenes Nachdenken gebracht haben dürfte«, und bescheinigte ihm im Vorwort seines Werks über den Gelehrten Bauern, dessen Lebensbeschreibung (Relation) er ver-öffentlichte,15 dass »dieser Mann nicht bloß aus dem Gedächtnisse, wie er die Sachen gelesen und behalten hat, sie hersagt, sondern selber denckt, und die Ideen einer Proposition mit einander vergleichet, und nach dieser Vergleichung urtheilet und redet« 16

Gottfried Immanuel Wenzel zog in seinem Werk über Die natür-lichen Zauberkräfte des Menschen zahlreiche Beispiele von Autodidak-ten aus dem literarischen, künstlerischen und wissenschaftlichen Be-reich als Belege für seine anthropologischen Reflexionen heran, die auf der Überzeugung der »Würde«, »Größe«17 und Entwicklungsfähigkeit aller Menschen, ungeachtet der herrschenden sozialen und der vor-handenen ethnischen Differenzen, beruhten »Der Mensch«, schreibt Wenzel zu Beginn seines Kapitels über »Die Zauberkräfte des mensch-lichen Geistes überhaupt«, »ist unstreitig das oberste Glied, die Krone der sichtbaren Schöpfung, das ausgebildetste, letzte, vollendetste Pro-dukt ihrer wirkenden Kraft, der höchste Grad von Darstellung dersel-ben, den unsere Augen zu sehen, unsere Sinne zu fassen vermögen «18 Ganz ähnliche Überzeugungen vertrat Henri Grégoire, Abgeordneter des niederen Klerus in der konstituierenden französischen National-versammlung von 1789 sowie im republikanischen Nationalkonvent von 1792 und der wichtigste Kultur- und Bildungspolitiker der Fran-zösischen Revolution, in seinem Werk De la littérature des nègres, ou Recherches sur leur facultés intellectuelles, leurs qualités morales et leur littérature von 1808, in dem Autodidakten eine zentrale Rolle spielen Autodidaktische Schriftsteller wie die ehemalige Sklavin Phillis Wheatley

15 Christian Gotthold Hoffmann: Der Gelehrte Bauer Mit D Christian Gott-hold Hoffmanns […] Vorbericht, nebst Kupfern Dresden, in Commission bey Friedrich Dresden 1756, S 1-145: »Relation Johann Ludewgs, eines Bauers aus Costebauda, wie selbiger an und vor sich selbst auf die Mathe-matic und Philosophie gekommen, Etwas ohne mündlichen Unterricht aus Büchern darinnen erlernet, Nebst einer Widerlegung der Einwürfe, die ihm darwider gemacht worden Den 22 Martii 1754«

16 Ebd , S 176 17 Gottfried Immanuel Wenzel: Die natürlichen Zauberkräfte des Menschen,

erklärt und in Geschichten, Anekdoten und Beyspielen dargestellt Wien 1800, S 117

18 Ebd

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in den Neu-England-Staaten und der schreibende Bauer Hubert Bott aus den Niederlanden, aber auch Politiker, die keine Schulbildung durchlaufen hatten und sich durch autodidaktisches Lernen die Lese- und Schreibkenntnisse beigebracht hatten, wie der haitianische General und Revolutionsführer Toussaint Louverture oder Julien Raymond, farbiger Abgeordneter von Saint-Domingue in der französischen Na-tionalversammlung, dienen Grégoire als schlagende Beweise nicht für die Notwendigkeit der rechtlichen und politischen Gleichstellung aller Menschen und der Abschaffung der 1802 von Napoléon wieder einge-führten Sklaverei; sondern auch als Belege dafür, dass Talent und Intel-lekt völlig unabhängig von Stand und Hautfarbe bei allen Menschen zu finden seien und durch entsprechende Förderung entwickelt werden könnten: »Uebrigens wiederholen wir es: daß das Talent weder an einem Boden noch an einer Menschengattung ausschließlich gebunden ist«,19 so lautet die Schlussfolgerung Grégoires in seinem wichtigsten anthropologischen Werk, das auch eine nachhaltige Wirkung auf die Anti-Sklaverei-Bewegung des 19 Jahrhunderts ausüben sollte

II Autodidaxie bei Rousseau Figur, Erkenntnisprozess, Kritikpotential

Das Werk Jean-Jacques Rousseaus, insbesondere sein Erziehungs-roman Émile, nahm im anthropologischen Diskurs der zweiten Hälfte des 18 Jahrhunderts über das Phänomen der Autodidaxie und die Figur des Autodidakten eine Schlüsselrolle ein Rousseau interessierte sich, ebenso wie Goethe, Voltaire, Herder, Jean Paul und insbesondere Wieland, für die Biographien und Selbstbeschreibungen einzelner her-ausragender Autodidakten wie Valentin Jamerey-Duval In seinem Briefwechsel mit Alexandre Deleyre aus den Jahren 1759 und 1760, während der Entstehungsphase des Émile, lässt Rousseau sich aus-führlich von Jamerey-Duval berichten, den Deleyre als »seltenen Men-schen in seiner Art« (»un homme rare en son espèce«) bezeichnet, der vom Schafhirten (»Garde des brébis«) zum Bibliothekar und Ver-walter des kaiserlichen Münzkabinettes am Wiener Hof aufgestiegen sei und dessen Lebensweg er als »äußerst ungewöhnlich« (»des plus

19 Hier zit nach der deutschen Übersetzung: Henri Grégoire: Die Neger Ein Beitrag zur Staats- und Menschenkunde [Übers v Saul Ascher] Berlin 1809, S 219 – Vgl ders : De la littérature des nègres, ou Recherches sur leurs facultés intellectuelles, leurs qualités morales et leur littérature Paris 1808, S 195

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singulières«)20 charakterisiert Deleyre exzerpierte für Rousseau ausführ-lich aus Duvals erst postum 1784 zunächst in deutscher Übersetzung und dann in Französisch erschienener Autobiographie Mémoires sur sa Vie,21 die Rousseau in sein Korrespondenzbuch (»copie-de-lettres«) übertrug 22 Obwohl die – im Frankreich des 18 Jahrhunderts generell äußerst seltenen – Begriffe ›autodidacte‹ und ›autodidaxie‹ bei Rous-seau selbst nicht verwendet werden, spielt das hiermit bezeichnete Phänomen in zumindest zweifacher Hinsicht im Émile eine durchaus zentrale Rolle

Zum einen verweist die Praxis autodidaktischen Lernens bei Rousseau auf eine subjekt- und erfahrungszentrierte Konzeption des Lernens, die tradierten Formen der Wissensvermittlung geradezu dia metral ent-gegensteht Nicht der Lehrende, sondern der Lernende, seine Talente, seine Neugier und Experimentierfreudigkeit sowie seine unmittelbare, sinnliche Erfahrungsumwelt sollten nach Rousseau den Lernprozess bestimmen: seinen Rhythmus, seine Zielrichtung und seine Ergebnisse In seinem Erziehungsroman Émile ou de l’éducation unterscheidet er acht Formen der Erziehung und des Lernens, die aus seiner Perspektive im Vergleich zu tradierten Konzeptionen völlig anders und neu gedacht werden sollten: die Ausbildung der Empfindungskraft (»sensi bilité«), des Intellekts, des Körpers, der Sinne, der religiösen Empfindungen, der moralischen Werte sowie der sozialen und der handwerklichen Fähig-keiten Einen zentralen Stellenwert bei der Aneignung dieser Fähigkei-ten maß Rousseau der unmittelbaren Anschauung, aber auch der An-leitung durch Maximen und Aphorismen sowie der Lektüre weniger, aber intensiv zu lesender Bücher bei »Unsere pedantische Lehrsucht bemüht sich fortwährend«, so Rousseau im zweiten Buch des Émile,

die Kinder das zu lehren, was sie allein viel besser lernen, übersieht aber dasjenige, was wir allein lernen können Gibt es eine größere Torheit als die Mühe, die man aufwendet, um sie das Gehen zu lehren? Als ob man jemals ein Kind gesehen hätte, das wegen der Nachlässigkeit seiner Amme als Erwachsener nicht gehen könnte 23

20 Alexandre Deleyre an Rousseau, 5 September 1759, CC IV, S 160; sowie Rousseau an Deleyre, 5 September 1759, ebd , S 161

21 Vgl Anm 4 22 Alexandre Deleyre an Rousseau, 3 Mai 1760, CC VII, S 80-83, hier S 82,

Anm ; sowie Julie von Bondeli an Johann Georg Zimmermann, 21 Januar 1763, CC XV, S 87-91, hier S 91, Anm

23 Rousseau: Emil oder über die Erziehung In neuer deutscher Fassung besorgt von Josef Esterhues 2 Aufl , Paderborn 1962, S 60; frz Original: Émile ou de l’éducation (1762) Chronologie et introduction par Michel Launay Paris 1966, Livre II, S 90: »Notre manie enseignante et pédantesque est

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Rousseaus dezidierter Valorisierung der Autodidaxie liegt – wie auch etwa später bei Henri Grégoire – die grundlegende Überzeugung der anthropologischen Gleichwertigkeit und Entwicklungsfähigkeit aller Menschen ungeachtet ihres Standes und ihrer ethnischen Zugehörig-keit zugrunde Jeder könne, so die grundlegende These Rousseaus, trotz unterschiedlicher Anlagen, Talente und sozialer Herkunft aus eigenem Antrieb zu Wissen und Bildung gelangen, wenn die gesell-schaftlichen Umstände dies zulassen und fördern Schule, Pädagogik und Erziehung in ihren tradierten Ausprägungen sieht Rousseau im Wesentlichen als Institutionen, die die Entfaltung individueller Fähig-keiten nicht fördern, sondern sie begrenzen und beschränken »Laßt ihn«, so sein geradezu flammendes rhetorisches Plädoyer am Ende des zweiten Buches des Émile,

allein in seiner Freiheit; seht ihn handeln, ohne ihm etwas zu sagen Beachtet, was er tut, und wie er sich dabei benimmt Da er nicht nötig hat, sich zu überzeugen, daß er frei ist, verübt er keine un-besonnenen Streiche und tut nichts um nur zu zeigen, daß er sich beherrschen kann; denn er weiß ja, daß er stets Herr seiner selbst ist 24

Das Selbstlernen (»apprendre de lui-même«) erscheint Rousseau als Voraussetzung dafür, sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen – und sich dem Einfluss anderer, den er mit den negativ besetzten Begriffen ›opinion‹ (dt ›Meinung‹) und ›autorité‹ (dt ›Autorität‹, ›Vormund-schaft‹) bezeichnet, so weit wie möglich zu entziehen Autodidaktisches Lernen avanciert somit zur Grundlage der individuellen Selbst-Auf-klärung und der hiermit verbundenen Subjektfindung, die Rousseau in auf Kants kategorischen Imperativ vorausweisenden Formulierungen mit dem Begriff der ›eigenen Vernunft‹ (frz ›sa raison‹) argumentativ verknüpft: »Da er gezwungen wurde, sich selbst zu unterrichten, ge-braucht er seine eigene Vernunft und nicht die der anderen, denn um keinen Vorurteilen zu verfallen, darf man auch keiner Autorität verfal-len Die meisten Irrtümer rühren nämlich weniger von uns als von

toujours d’apprendre aux enfants ce qu’ils apprendraient beaucoup mieux d’eux-mêmes Y a t-il rien de plus sot que la peine qu’on prend pour leur apprendre à marcher, comme si l’on en avait vu quelqu’un qui, par la négli-gence d’un nourrice, ne sût pas marcher étant grand?«

24 Rousseau: Emil, 2 Buch, S 166; frz Original: Livre II, S 207: »Laissez-le seul en liberté, voyez-le agir sans lui rien dire; considérez ce qu’on fera et comment il s’y prendra N’axant pas besoin de se prouver qu’il est libre, il ne fait jamais rien par étourderie, et seulement pour faire un acte de pouvoir sur lui-même; ne sait-il pas qu’il est toujours maître de lui?«

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andern her «25 »Vernunft« und »Autorität« erscheinen in diesem Ar-gumentationszusammenhang ebenso als gegensätzliche Begriffe wie für den Lernprozess selbst die Begriffe ›lernen‹ (frz ›apprendre‹) und ›erfinden‹ (frz ›inventer‹) Der letztgenannte Begriff ist in diesem Kontext gleichzusetzen mit dem Konzept des ›Selbstlernens‹ und der hiermit verbundenen Fähigkeit, gestellte Fragen selbst und ohne An-leitung durch einen Lehrer oder eine sonstige Autorität zu begreifen und zu lösen, wie Rousseau im dritten Buch des Émile in seinen Aus-führungen zur Erd- und Himmelskunde programmatisch darlegt

Macht euren Zögling auf die Naturerscheinungen aufmerksam, und ihr werdet bald seine Wißbegierde anregen Wollt ihr sie aber näh-ren, so beeilt euch nie, sie zu befriedigen Stellt ihm Fragen, die sei-ner Fassungskraft entsprechen, und laßt ihn sie selbst lösen Er wisse nichts, weil ihr es ihm gesagt habt, sondern weil er es selbst begriffen hat; er soll die Wissenschaft nicht lernen, sondern sie selbst erfinden Setzt ihr in seinem Studium jemals die Autorität an die Stelle der Vernunft, so wird er sie nie mehr gebrauchen, sondern der Spielball der Meinungen anderer werden 26

Mit der Valorisierung des autodidaktischen Lernens, ganz oder zu-mindest weitgehend ohne direkte Anleitung eines Lehrers oder Men-tors, geht in Rousseaus Émile die Aufwertung unmittelbarer, sinn-licher Anschauung und die Kritik am tradierten Buchwissen einher Rousseau unterstreicht die grundlegende Notwendigkeit des Lernens durch Anschauung sowohl der natürlichen als auch der sozialen ›Welt‹ (frz ›le monde‹) häufig in geradezu provokativ-apodiktischer Weise, so etwa, wenn er formuliert:

Bei den ersten geistigen Arbeiten müssen die Sinne stets unsere Führer sein Kein anderes Buch als die Welt, kein anderer Unter-

25 Rousseau: Emil, 3 Buch, S 226; frz Original: Livre III, S 269: »Forcé d’apprendre de lui-même, il use de sa raison et non de celle d’autrui; car, pour ne rien donner à l’opinion, il ne faut rien donner à l’autorité; et la plupart de nos erreurs nous viennent bien moins de nous que des autres«

26 Rousseau: Emil, 3 Buch, S 175; frz Original: Livre III, S 215: »Rendez votre élève attentif aux phénomènes de la nature, bientôt vous le rendrez curieux; mais, pour nourrir sa curiosité, ne vous pressez jamais de la satis-faire Mettez les questions à sa portée, et laissez-les lui résoudre Qu’il ne sache rien parce que vous le lui avez dit, mais parce qu’il l’a compris lui-même; qu’il n’apprenne pas la science, qu’il invente Si jamais vous substi-tuez dans son esprit l’autorité à la raison, il ne raisonnera plus; il ne sera plus que le jouet de l’opinion des autres«