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Gruppendynamik und Sozialpsychologie Gruppendynamik und Sozialpsychologie Kurt W. Back & Brigitte U. Neary Zusammenfassung: Dieser Aufsatz beschreibt Lewins Einführung von Gruppendynamik als eine separate Wissenschaft und verfolgt ihren Fortschritt und ihre Relation zu Sozialpsychologie (die eine separate Wissenschaft ist), Die folgenden Punkte werden erörtert: 1) Der Platz von Gruppendynamik in Lewins Wissenschaftslehre. 2) Die Definierung von Gruppendynamik und ihre Relation zu Sozialpsychologie. 3) Die Beziehung zwischenwissenschaftlicher und angewandter Gruppendynamik. 4) Der Platz von Gruppendyna- mik und Sozialpsychologie in der Zeitgeschichte. 5) Der Fortschritt von Gruppendynamik, von biographischer und Verbindungsanalyse ergänzt. Summary: This paper describes Lewin's introduction to group dynamics as a separate science and traces its progress and its relation to social psychology (which is seen to be a separate science). The following points will be considered: 1)The place of group dynamics in Lewin's theory of science. 2)The definition of group dynamics and its relation to social psychology. 3) The progress of group dynamics, supplemented by biographical and linkage analysis. 4)The relation of scientific and applied group dynamics. 5 )The place of group dynamics and social psychology in the history of the time. Lewins Wissenschaftslehre In den ersten Jahren nach seiner Promotion befaßte sich Kurt Lewin mit der Frage einer allgemeinen Wissenschaftslehre. Sein Ziel war es, eine umfassende Theorie zu entwickeln, die zwar die Einheit des Wissens anerkennt, aber die Vielfältigkeit der Wissenschaften be- tont. In diesem Ansatz widersprach er der zu der damaligen Zeit einflußreichen Schule der Logischen Positivisten (Wiener Kreis), deren Dogma die Einheit aller Wissenschaften war und deren Gipfelleistung eine Enzyklopädie der vereinten Wissenschaften werden sollte. Lewin bestand darauf, daß die unterschiedli- chen Gegenstandsarten der Wissenschaften auch unterschiedliche Konzepte, Theorien und Methoden erfordern. Wissenschaftslehre sollte diese Unterschiede zu ihrem Gegenstand ma- chen und sollte sie systematisieren (Lewin 1922a). Lewin veröffentlichte einige program- matische Schriften über diese Grundsätze. Er erörterte eine Anwendung in seiner ersten buchlangen Schrift: "Der Begriff der Genese in Physik, Biologie and Entwicklungsge- schichte" (Lewin 1922b; Back 1986). Hier zeigte er, wie die verschiedenen Wissenschaf- ten dasselbe Phänomen jeweils unterschied- lich betrachten. Er wies nach, daß in dieser Hinsicht besonders zwischen physikalischen und biologischen Entstehungszusammenhän- gen prinzipielle Unterschiede bestehen. Zum Beispiel, wenn ein Ast vom Stamme des Bau- mes abbricht, sieht der Physiker zwei neue Gegenstände - Baum und Ast - während der Biologe noch immer einen Baum sieht, der nun einen Ast verloren hat. In dieser gesamten Auseinandersetzung bezog sich Lewin nicht auf seine eigene Wissenschaft, die Psycholo- gie. Als er diese Arbeit dann für seine Habi- litation vorlegte, wurde sie als Philosophie betrachtet und für Psychologie zurückgewie- sen (Métraux, im Druck). Lewin befaßte sich aber weiterhin mit Wissenschaftslehre allgemein, ohne Psychologie in seinen Beiträgen zu erwähnen. Erst später entfernte er sich von diesen allgemei- nen, philosophischen Betrachtungen und kon- zentrierte sich mehr auf seine eigene Wissen- schaft. Es ist jedoch zu vermuten, daß Lewin die Absicht hatte, nach seinen intensiven Stu- dien in der Psychologie, wieder auf die Ver- besserung der allgemeinen Wissenschaftsleh- 102 Psychologie und Geschichte

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Gruppendynamik und Sozialpsychologie

Gruppendynamik und Sozialpsychologie

Kurt W. Back & Brigitte U. Neary

Zusammenfassung: Dieser Aufsatz beschreibt Lewins Einführung von Gruppendynamik als eine separateWissenschaft und verfolgt ihren Fortschritt und ihre Relation zu Sozialpsychologie (die eine separateWissenschaft ist), Die folgenden Punkte werden erörtert: 1) Der Platz von Gruppendynamik in LewinsWissenschaftslehre. 2) Die Definierung von Gruppendynamik und ihre Relation zu Sozialpsychologie. 3) DieBeziehung zwischenwissenschaftlicher und angewandter Gruppendynamik. 4) Der Platz von Gruppendyna-mik und Sozialpsychologie in der Zeitgeschichte. 5) Der Fortschritt von Gruppendynamik, von biographischerund Verbindungsanalyse ergänzt.

Summary: This paper describes Lewin's introduction to group dynamics as a separate science and traces itsprogress and its relation to social psychology (which is seen to be a separate science). The following points willbe considered: 1)The place of group dynamics in Lewin's theory of science. 2)The definition of group dynamicsand its relation to social psychology. 3) The progress of group dynamics, supplemented by biographical andlinkage analysis. 4)The relation of scientific and applied group dynamics. 5 )The place of group dynamics andsocial psychology in the history of the time.

Lewins Wissenschaftslehre

In den ersten Jahren nach seiner Promotionbefaßte sich Kurt Lewin mit der Frage einerallgemeinen Wissenschaftslehre. Sein Ziel wares, eine umfassende Theorie zu entwickeln,die zwar die Einheit des Wissens anerkennt,aber die Vielfältigkeit der Wissenschaften be-tont. In diesem Ansatz widersprach er der zuder damaligen Zeit einflußreichen Schule derLogischen Positivisten (Wiener Kreis), derenDogma die Einheit aller Wissenschaften warund deren Gipfelleistung eine Enzyklopädieder vereinten Wissenschaften werden sollte.Lewin bestand darauf, daß die unterschiedli-chen Gegenstandsarten der Wissenschaftenauch unterschiedliche Konzepte, Theorien undMethoden erfordern. Wissenschaftslehre solltediese Unterschiede zu ihrem Gegenstand ma-chen und sollte sie systematisieren (Lewin1922a).

Lewin veröffentlichte einige program-matische Schriften über diese Grundsätze. Ererörterte eine Anwendung in seiner erstenbuchlangen Schrift: "Der Begriff der Genesein Physik, Biologie and Entwicklungsge-schichte" (Lewin 1922b; Back 1986). Hier

zeigte er, wie die verschiedenen Wissenschaf-ten dasselbe Phänomen jeweils unterschied-lich betrachten. Er wies nach, daß in dieserHinsicht besonders zwischen physikalischenund biologischen Entstehungszusammenhän-gen prinzipielle Unterschiede bestehen. ZumBeispiel, wenn ein Ast vom Stamme des Bau-mes abbricht, sieht der Physiker zwei neueGegenstände - Baum und Ast - während derBiologe noch immer einen Baum sieht, dernun einen Ast verloren hat. In dieser gesamtenAuseinandersetzung bezog sich Lewin nichtauf seine eigene Wissenschaft, die Psycholo-gie. Als er diese Arbeit dann für seine Habi-litation vorlegte, wurde sie als Philosophiebetrachtet und für Psychologie zurückgewie-sen (Métraux, im Druck).

Lewin befaßte sich aber weiterhin mitWissenschaftslehre allgemein, ohne

Psychologie in seinen Beiträgen zu erwähnen. Erstspäter entfernte er sich von diesen allgemei-nen, philosophischen Betrachtungen und kon-zentrierte sich mehr auf seine eigene Wissen-schaft. Es ist jedoch zu vermuten, daß Lewindie Absicht hatte, nach seinen intensiven Stu-dien in der Psychologie, wieder auf die Ver-besserung der allgemeinen Wissenschaftsleh-

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re zurückzukommen. Sein Ansatz zur Psycho-logie kann, im weitesten Sinne, unter diesemGesichtspunkt betrachtet werden.

Von Anfang an unterschied Lewin zwi-schen Sinnespsychologie (experimentellerPsychologie) und Psychologie (Lewin, 1918).Die erste war die psychophysische Psycholo-gie wie sie in den Laboratorien, in der Tradi-tion von Wundt, ausgeführt wurde; die zweiteerforschte die subjektive Mitwelt und Um-welt, welche Lewin dann den „Lebensraum"nannte. Wie gesagt, betrachtete Lewin seineArbeit als eine neue Wissenschaft, mit einemneuen Gegenstand. Für ihn war der Gegensatzzwischen der Studie der Reaktion des Orga-nismus zu Reizen der Außenwelt einerseits,und der Studie der persönlichen Erlebnisse desIndividuums andererseits, maßgebend, umneue Konzepte und Methoden zu entwickeln.In diesem Zusammenhang, nannteer die Reizeund Geschehnisse in der Umwelt, die keinempsychologischen Gesetz unterliegen, die aberden Lebensraum der Person beeinflussen kön-nen, die "fremde Hülle". Da sie keine psycho-logische Gesetzmäßigkeit hat, schied er sieaus seiner Wissenschaft aus. Für Lewin unter-schieden sich Psychologie und Sinnespsy-chologie dadurch, daß Sinnespsychologie diefremde Hülle als ihren Gegenstand nimmt.Folglich unterschied sich Lewin von traditio-nellen Psychologen (Lewin, 1943a).

Abbildung 1, zusammengestellt aus demTheasurus of Psychological Index Terms (1991,6th, ed.), reflektiert, welchen Platz sich dieWissenschaft der Psychologie selbst zusprichtin der Wissenschaftslehre. Hier wird unter denSozialwissenschaften z.B. zwischen Psycho-logie, experimenteller Psychologie und Sozi-alpsychologie unterschieden. Unter der Ru-brik von Psychologie, die als umfassendereKategorie erscheint, sind experimentelle Psy-chologie und Sozialpsychologie allerdings in-klusive Kategorien, der Psychologie also nichtgleichgestellt. Es ist daher anzunehmen, daßsie, im Gegenteil zu Lewins Grundsatz, nichtals separate Wissenschaften m it ihrem eigenenGegenstand betrachtet werden.

Das Inhaltsverzeichnis der PsychologicalAbstracts differenziert erst in 1962 (Vol. 36,1)

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zwischen Psychologie und experimentellerPsychologie. Erst in diesem Jahr werden beideals jeweilige Überschrift für einen selbständi-gen Forschungsschwerpunkt angeführt. Dasdeutet darauf hin, daß die Einstellung Lewins- auf jeden Fall während seiner Lebzeit - nichtdie geläufige war. Das heißt, die Standespsy-chologie teilte Lewins starkes Interesse überdie Einheit und Vielfältigkeit im Bereich desWissens und der Wissenschaftslehre anschei-nend nicht.

Abbildung 1 aus dem Thesaurus zeigt auch,daß Gruppendynamik weder unter den Wis-senschaften, noch den Sozialwissenschaften,noch der Psychologie an sich geführt wird. Siestellt eine separate Kategorie dar, die abernirgendwo richtig hinzupassen scheint, wasmit dem Schicksal der Gruppendynamik all-gemein übereinstimmt. Der Zeichenerklärungim Thesaurus istzu entnehmen, daß der BegriffGruppendynamik in 1967 zum ersten Mal alsSchlüsselwort in die Psychological Abstractseingeführt wurde. Er erschien aber dort nieInhaltsverzeichnis als Überschrift einer sepa-raten Kategorie. Gruppendynamik wurde alsoweder als ein selbständiger Forschungs-schwerpunkt in der Psychologie, noch als eineselbständige Wissenschaft betrachtet.

In ähnlichem Zusammenhang dokumen-tiert Carl-Friedrich Graumann (im Druck),wie Lewin und Feldtheorie während der letz-ten Jahrzehnte vermindert zitiert werden. UndMartin Gold (1990, 68) beklagt sich darüber,daß "field theory" (Feldtheorie) nie unter denIndex terms" (Schlüsselwörtern) im Thesauruserscheint. Diese Tatsache, so meint Gold, er-schwert die Arbeit der Wissenschaftler, diesich mit Feldtheorie beschäftigen. Fortschrittauf dieser Ebene wird dadurch behindert.

Gruppendynamik und Lewins Wissen-schaftslehre

Seinem Ziel einer separaten Wissenschaft,der Gruppendynamik, zustrebend, konzen-trierte sich Lewin auf eine besondere Art vonfremder Hülle, nämlich auf das Soziale. Wenndas Soziale - in diesem Falle Gruppen - seine

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Gruppendynamik und Sozialpsychologie

eigene Gesetzmäßigkeit hat, die nicht vomIndividuum kontrolliert werden kann, dannergibt sich eine neue Sachlage, die eine neueWissenschaft benötigt. Diese Wissenschaft istGruppendynamik. Für Lewin wurde die Grup-pe also eine fremde Hülle, die Regelmäßigkei-ten aufweist und wissenschaftlich erforschtand analysiert werden kann. Es ist nicht klar,ob Lewin selbst diesen stufenweisen Aufbaugeplant hatte. Im Rückblick kann man aber dieEinführung eines neuen Sachverstandes in derDekade von 1935-45 sehen. Dies war geradevor der Gründung des Research Center forGroup Dynamics (wo der Name prominenterschien) (Back, im Druck).

Überwiegend führten Forschungen überGruppenklimen und Gruppenstandarte sozia-le Konzepte in die individuelle Handlung ein.Diese neuen Tatsachen standen außerhalb desindividuellen Lebensraums. In den Experi-menten über Gruppenklimen wurden dieGruppenleiter beauftragt, ihre Gruppen aufeine bestimmte Art zu leiten (autokratisch,demokratisch oder anarchisch). Diese Organi-sation, die vom Gruppenleiter ausging, unter-schiedzwischen dem Verhalten der Individuen,den Verhältnissen zwischen ihnen und demSchicksal der Gruppe insgesamt (Lippitt,1940). Dabei war die Richtung, die der Grup-penleiter, der sich außerhalb der Lebensweltder Gruppe befand, einschlug - ob autokra-tisch, demokratisch oder anarchisch - die maß-gebende Variable für den Lebenslauf derGruppe. In den Experimenten über Gruppen-standarte zeigte sich, daß sich dieser Einflußauch dynamisch auswirkte. Nämlich, wennman Individuen beeinflussen will - sei es ver-schiedenes Brot zu essen, oder Vorurteile auf-zugeben - lassen sie sich für den Augenblicküberzeugen. Sie fallen bald auf die alte, grup-penverstärkte Gewohnheit zurück. Nur wennsie sich einer neuen Gruppe anschließen oderwenn sich die Gruppe förmlich ändert, wirdder Einfluß wieder ein Teil der Person (Lewin,1943b).

Diese Beispiele zeigen die Unabhängig-keit von Gruppeneigenschaften gegenüber denEigenschaften des Individuums. Die Gruppe

kann nicht auf ihre einzelnen Mitglieder zu-rückgeführt werden. Gruppen haben ihre eige-nen Begriffsbildungen und Methoden, die Le-win als Kennzeichen einer selbständigen Wis-senschaft anerkannt hatte. Deshalb wäre fürihn eine Einheit dieser Wissenschaft, derGruppendynamik, mit Psychologie, und afortiori mit experimenteller Psychologie, sounangebracht gewesen, wie eine Vereinigungvon Physik und Biologie. Folglich kann manannehmen, daß Gruppendynamik ihre autono-me Stellung gehabt hätte, wenn Lewin dazugekommen wäre, eine definitive Wissen-schaftslehre zu entwickeln und darüber zuschreiben.

Sozialpsychologie und Gruppendynamik.

Sozialpsychologie und Gruppendynamikstudieren oft dieselben Phänomene. Sie sehenund gehen diese aber von unterschiedlichenGesichtspunkten an und suchen nach Ant-worten auf unterschiedliche Fragen. Die So-zialpsychologie konzentriert sich auf die Hal-tung des Individuums in der sozialen Umwelt.Die Gruppendynamik konzentriert sich aufdie Struktur und Funktion der Gruppe und aufihr Verhältnis zum Individuum und zu großen,sozialen Gebilden.

Beide Gesichtspunkte haben ihre Schwie-rigkeiten. Das Problem der Gruppendynamikist unmittelbar zu erkennen. Das heißt, wirwissen - oder glauben zu wissen - was einIndividuum ist, aber wir sind nicht sicher, wieman eine Gruppe definiert und ob die Gruppeein wirkliches Ding ist, oder eine vom For-scher konstruierte Abstraktion. Dies ist einProblem, welches aus der natürlichen Perzep-tion des Menschen erfolgt. Nämlich, der emp-findende Organismus ist für sich selbst dasMaß des natürlichen Systems. Von dieser Sichtaus werden kleinere Einheiten, wie z.B . Organeoder Zellen, als ein Teil des Organismus defi-niert und größere Einheiten als eine Summevon Organismen. Dieses grundsätzliche Vor-urteil erschwert das Verstehen von unter- undüberindividuellen Gebilden.

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Gruppendynamik hat die zusätzlicheSchwierigkeit, daß ihre Grenzen schwer wahr-zunehmen und zu definieren sind. Gruppensind im allgemeinen informell. Mitgliedschaftist oft umstritten. So sind sowohl die äußerenwie auch die inneren Grenzen der Gruppeverschwommen. Daher kann die Realität derGruppe bezweifelt werden. In mancher Hin-sieht ist es leichter, die Realität größerer so-zialer Gebilde zu erkennen. Sie sind vom Indi-viduum weiter entfernt und werden daher eherals ein Ganzes betrachtet, welches sich getrenntvon den Grenzen der Person befindet.

Die Unsicherheit in Bezug auf Grenzenbezieht sich nicht nur auf Eigenschaften derGruppe. Tatsächlich existieren diese Zuständeauch in Bezug auf andere Gebilde, sogar inBezug auf das Individuum. Obwohl wir ge-wöhnlich glauben, daß wir wissen, wo "wir"als Individuen enden und wo die Außenweltbeginnt, stellt sich bei näherer Untersuchungheraus, daß wir uns geirrt haben. Der psycho-logische Begriff des Selbst bezeugt, wie ver-schwommen die Grenzen des Selbst wirklichsind. So können sie als Schichten betrachtetwerden. Zum Beispiel können der Körper undseine verschiedenen Teile sowie Kleidung,Heim, Familie, Glauben und Ideen alle - mehroder weniger - als Teil des Selbst oder alsSchicht um das Selbst angesehen werden. Dazukommt, daß einige Teile des Selbst abgelehntoder unterdrückt werden. Oder das Selbst wirdaufgeteilt in verschiedene soziale Rollen.Obwohl wir den unmittelbaren Eindruck habenzu wissen, daß wir selbst eine klare Einheitbilden, ist dieser Eindruck ebenso fraglich wieder Anspruch auf die Einheit der Gruppe (Back,1977; Wiley, 1974/79; James, 1890).

Es ist daher schwer, Individuum und Grup-pe konzeptuell zu trennen - aber es ist not-wendig. Man kann sehen, warum Lewin vonseinen Studien in individueller Psychologieauf eine neue Wissenschaft kam, die er Grup-pendynamik nannte. Er sah sich gezwungen,sie von der erweitertem Studie des Einzelnenabzusondern. Diese Art von Forschung warimmer die Prozedur der Sozialpsychologiegewesen.

Die Erfolge und Mißerfolge der Gruppen-,dynamik kann man auf die komplizierten be-grifflichen Verhältnisse zwischen Individuumund Gruppe zurückführen (obwohl natürlichhistorische Prozesse auch dazu beitrugen. Diesewerden später in diesem Text erörtert). Lewinerkannte die Schwierigkeit, selbst die Unmög-lichkeit, Gruppen von individuellem Verhal-ten abzuleiten. Das Verhalten einzelner Per-sonen ist sehr unregelmäßig, fast willkürlich,während das Verhalten von Gruppen viel re-gelmäßiger erscheint. Wenn zum Beispiel In-dividuen zu einer Gruppenarbeit zusammen-kommen, können sie mit großem Vertrauenvorhersagen, daß die Gruppe sich organisierenwird, daß Führer, Experten, stille Mitarbeiterund Opposition sich herausbilden werden. Esist jedoch von den Eigenschaften der Mitgliederkaum abzusehen, welche der Einzelpersonendiese Rollen übernehmen werden. Ebensokannman die Phasen der Gruppenarbeit und Grup-pendiskussion voraussagen. Man kann aberschlecht bestimmen, welcher der Diskutieren-den spezielle Funktionen übernehmen wird -noch kann man die einzelnen Beiträge zurDiskussion in einer regelmäßige Folge analy-sieren. Kurzum, die Verhaltensweisen derGruppen können nicht durch unsere - noch sogenaue - Information über die einzelnenGruppenangehörigen verstanden und vorausgesagtwerden. Trotzdem müssen wir im allgemeinenDaten über Individuen in der Gruppenfor-schung benützen. Diesen Maßstab kann mansehr einfach den Ergebnissen der Tabellen 1und 2 dieses Textes entnehmen.

In seinen theoretischen Schriften überGruppendynamik suchte Lewin Konzepte, dienur Gruppen betrafen. Die Gruppe als ein Feldwar der Gegenstand dieser Wissenschaft unddie Individuen wurden einfach als Punkte indem Feld betrachtet. So konnten Regelmäßig-keiten und Veränderungen im Benehmen derGruppenmitglieder nur im Zusammenhang derGruppe analysiert und verstanden werden.Folglich konzentriert sich diese neue Wissen-schaft auf Daten über Gruppen und nicht aufDaten über Einzelne. Trotzdem verwendeteLewin in seiner Theorie analogische Begriffe,

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bezogen auf das Individuum und die Gruppe.Es war auch oft nicht möglich, die innereStruktur der Person vollkommen zu vernach-lässigen.

Aus praktischen Gründen war die Grup-pendynamik oft mit anderen Konzeptionenvermischt. Tests und Theorien der Persönlich-keit befanden sich auf einer hohen Stufe derEntwicklung. Daher war es immer verlok-kend, diese Instrumente in der Gruppendyna-mik zu verwenden und ihre Ergbnisse zu be-nützen; allerdings meistens mit wenig Erfolg.Für die Anwendung in vielen Feldern warendie Daten über die einzelne Personen wichtig,wie z.B. in Therapie oder Training. Nur ver-einzelte Experimente konnten solche Extrem-situationen benützen, in denen individuelleUnterschiede keine Bedeutung hatten und mansich nur auf die Studie der Gruppeneigen-schaften konzentrieren konnte. Es ist kein Zu-fall, daß von allen Studenten Lewinsder theorie-getriebene und anwendungs-feindli-che Festinger die beste Forschung über Grup-peneigenschaften mit seinen Studenten be-treiben konnte.

Die Einführung der Gruppenvariablen hatteam Anfang großen Erfolg als neues Wissenund stellte eine Art Sensation dar. Aber diekonzeptuellen und praktischen Schwierigkei-ten brachten nach einigen Jahren einige Ent-täuschungen. Gruppen an sich wurden weni-ger studiert. Viele Untersuchungen wurden alsGruppenstudien vorgestellt, waren aber inWirklichkeit Studien über Individuen im so-zialen Milieu. Wir werden uns in Kürze imDetail mit dieser Entwicklung befassen. Zu-erst schildern wir die Kulturgeschichte vonGruppendynamik.

Gruppendynamik als Ideologie

Seit ihren Anfängen in den Dreißigerjah-ren spielte Gruppendynamik eine Doppelrol-le. Sie war zugleich eine neue Wissenschaftund ein Symbol der Hoffnung eines neuenZeitalters und neuer Wendungen, ebenso wiedas Proletariat oder das Volk während der

damaligen Zeit diese Rolle spielten.Gruppendynamik entsprang einem Klima

von Aufregung und Erhebung. Die treibendeKraft des damaligen Klimas lag im Zeitgeistder Jahre 1935-50 allgemein. Die Inhaltsver-zeichnisse der einschlägigen Schriften dieserJahre reflektieren Klima und Zeitgeist. Sielegten den wohltätigen Einfluß von Gruppenauf die einzelne Person dar, sowie auch dieFunktion der Gruppe als ein wirksames sozia-les Mittel. Zumindest setzten sie der Förderungdes Gruppenwirkens einen grundsätzlichenWert voraus. Obgleich Gruppenbewegungenauch als gefährliche Bedrohungen erscheinenkönnen, als Keime des wütenden Pöbels oderals Druck zur Übereinstimmung, dadurch dieLeistungen Einzelner vernichtend.

Der fast messianische Ton dieser frühenArbeiten übermittelt, wieviel mehr zur Fragestand als die Forschung eines interessantenGegenstandes; er war ein Ausdruck der ge-samten Kultur und zeigte ihr Unbehagen in derSuche nach neuen sozialen Formaten. DasInteresse an Gruppen - zumindest auf Anwen-dung bezogen - konzentrierte sich wenigerdarauf, Gruppen an sich zu verstehen, sondernbetonte den Wert der Gruppenperspektive aufneuen Gebieten wie der Industrie, Erziehung,Ausbildung, Beratung, Familie oder Therapie(Back, 1972).

Zum Beispiel eines der ersten großen Ex-perimente (die Studien des autokratischen,demokratischen und anarchischen Gruppen-klimas) waren natürlich so konstruiert, diepositiven Eigenschaften des demokratischenKlimas zu bestätigen und deren Ausbreitungund Verbesserung anzubahnen. Gruppendy-namik begann also mit der Aufgabe, tiefge-hende, praktische Probleme zu lösen. Ihr Aus-maß ging jedoch weit darüber hinaus: Es warein Kulturereignis.

Von diesem Standpunkt aus gesehen istGruppendynamik Ausdruck einer bedeuten-den Kulturwende Mitte des zwanzigsten Jahr-hunderts. In der Geistesgeschichte der Jahreum den zweiten Weltkrieg waren Fragen inBezug auf Gruppen, auf Individualismus undKollektivismus heiß umstritten. Daher erwek-

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kten neue Methoden für Gruppenarbeit größe-re Fragen über die Gesellschaft und selbst überdas Schicksal des Menschen.

Dieser neue Enthusiasmus über Gruppenentwuchs der hoch individualistischen Gesell-schaft in Amerika während einer Zeit derSpannung. Die Reaktion gegen "rugged indi-vidualism" nach den Schocks des Börsenzu-sammenbruchs, der Depression und Massen-arbeitslosigkeit drückte diese Spannung in po-litischen Bewegungen aus. Der anscheinendeErfolg kollektivistischer Ideen in Deuschland,Italien und der Sowjet Union war bestechendund führte zu neuen Auswertungen des indi-vidualistischen, demokratischen Ideals. Die-selbe Spannung zeigte sich in den mikro-sozialen Verhältnissen, wo individuelle Psy-chologie und Therapie der Betonung des so-zialen Lebens gegenüberstand. Diese neueRichtung spiegelte sich auch in neuen Insti-tutionen der Gesellschaft wider. In Amerikahalfen Gruppenaktionen vielen der New DealProjekte. Von Theatern zu Volksbildungungs-werken, zu progressiven Schulen und zur Sa-nierung des Ackerbaus, alle wurden Voranzei-ger einer neuen Zeit. So entwuchs Gruppen-dynamik der Unzufriedenheit über den Indi-vidualismus und bot eine Alternative, die denBestechungen der totalitärischen Ideologiennicht zum Opfer zu fallen schien. Nach demZusammenbruch des Faschismus reizte dieseAlternative besonders Leute, die Sympathienmit der Linken hatten.

Aber kleine Gruppen haben auch ihredunklen Seiten. Selbst in Anbetracht des Opti-mismus der frühen Gruppendynamik konntediese dunkle Seite nicht übersehen werden. Inden ersten Stadien von Lewins Arbeit kannman die Ironie erkennen: Ein Film über Kin-derentwicklung, den er in den späten Zwan-zigerjahren produzierte, endete mit Gruppenvon Jugendlichen, die durch die Landschaftmarschieren, sich ihrer Einheit bewußt, die siedurch Gruppenlieder ausdrücken. Wer heutediese Szene betrachtet, kann der Erinnerungdaran, was diese deutschen Jugendlichen Jah-re später machten, kaum entgehen. Diese ideo-logische Zweideutigkeit plagte die Gruppen-

dynamik in späteren Jahren und ist ein wichti-ger Aspekt in ihrer Entwicklung (Van Elterenund Lück, 1990).

Die Geschichte der Gruppendynamikspiegelt all diese ideologischen Fragen undProbleme wider. Angewandte Gruppendyna-mik wurde fast eine unabhängige Bewegungund ein Barometer des Reizes der Gruppen."Sensitivity Training" - in seiner usprüngli-chen Form - verprach, daß Gruppen Sicherheitund gute Leistungen liefern. Es wurde aberbald von "encounter groups" abgelöst, die eineneue Kultur ankündigten. Encounter groupsbenützten Gruppen, um Individuen zu befrei-en und dadurch zu verbessern, ja selbst umeine neue Menschheit anzukündigen. Aus ih-ren Arbeitskreisen wurden tagelange Dramen.Während dieser Zeit (1960er) wurde aus The-ater Psychodrama. Und gerade als diese neueVision die Morgenröte eines neuen Zeitaltersversprochen hatte, verschwand sie wieder.Danach, besonders in Amerika, wurden Grup-pen als Werkzeuge für effiziente Produktionund als die Zauberwaffe gegen japanischeImporte beurteilt.

So war Gruppendynamik während dieserJahre sowohl ein Symptom der Gesellschaftals auch deren Einfluß. Für manche wurdedaraus eine Religion der modernen Zeit. Un-sere Zeit ist skeptisch, wenn nicht feindlichgegenüber transzendentem Glauben. Obwohlwir den überraschend beharrenden Einfluß derreligiösen Ideologien anerkennen m üssen, kannuns kaum entgehen, wie persönliche undGruppenverhältnisse zum Teil die Rolle die-ser Überzeugungskraft übernommen haben.

Diese neue Rolle gab der Gruppendynam ikeine ideologische Dimension. Die verschiede-nen Methoden des Gruppen-Trainings sindnicht bloß gute. alte Lehrerstreiche, wie man-che behaupten. Sie haben auch religiöse undethische Bedeutung und müssen daher als Teilder Kulturgeschichte und nicht nur der intel-lektuellen Geschichte betrachtet werden.

Wir können daher die Geschichte derGruppendynamik nicht als Geschichte einersozialspychologischen Technik in erster Li-nie, sondern als eine Flucht vom Indiviudalis-

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Gruppendynamik und Sozialpsychologie

mus betrachten. So finden wir hier eine Suchenach neuen sozialen Bildungen, die sich auchin anderen Institutionen der Gesellschaft zeig-ten.

Die Kulturschichte der Gruppendynamik

Unzufriedenheit mit dem Indidivualismusdrückte sich als Reaktion gegen seine zweiextremsten Kennzeichen aus: Dem Mangel anRegeln für das Verhalten gegenüber Mitmen-schen, welches zu unbegrenztem Wettstreitführt und der Anerkennnung des Individuums,nicht der Gruppenmitgliedschaft, welches zuEinsamkeit und Entfremdung führt.

Eine plausible Reaktion gegen den Indivi-dualismus wäre, in die Arme des Gegensatzeszu fallen, nämlich einer hierarchischen, be-grenzten Ideologie. Diese Lösung nannte da-mals Erich Fromm (1942) "Flucht von derFreiheit". Dies geschah auf der größeren poli-tischen Szene in den diversen Formen desKollektivismus. Die Aufgabe der Gruppendy-namik, wie viele ihre Gründer es sahen, wardie wirtschaftlichen und politischen Fallendes ungehemmten Individualismus zu vermei-den, ohne die Fesseln diktatorischer Regimeanzunehmen.

Die sorgfältige Verwendung der kleinenGruppen schien eine Gelegenheit zu sein, dasUnbehagen des Individualismus aufzugeben,ohne untragbare Diktaturen annehmen zumüssen. Man stellte sich vor, daß sozialerWandel dadurch ohne große Pläne errungenwerden und eine neue Gesellschaft von kleinaufaufgebaut werden könnte. Neue Ideen in derSozialpsychologie paßten diesen Zielen undflößten ihnen wissenschaftliches Respektver-mögen ein. Auf diesen kleinen Skalen konnteman dem Individualismus auf verschiedeneWeisen entfliehen.

Kleine Gruppen haben einige Vorteile indieser Richtung. Man kann sie aus der größe-ren Gesellschaft herausnehmen und Mitglied-schaft freiwillig machen. Sie sind auch leichtzu manipulieren. Wenn diese Gruppen in derGesellschaft einflußreich werden könnten -

oder an Einfluß zunehmen könnten - dannwäre es möglich, eine geplante, nicht-indivi-dualistische Gesellschaft zu gründen, mit nurerwünschten und keinen unerwünschten Ei-genschaften. Auf eine Verwirklichung dieserGesellschaft hinstrebend, bereiteten Reformervielerlei Arten von Arbeitskreisen (work-shops) vor.

Der erste Schritt war, der Einsamkeit desIndividualismus zu entgehen, indem man denAnhang an die Gruppe verstärkte. Das würdeGruppen und Gruppenmitgliedschaft zu ei-nem wichtigen Teil der gesellschaftlichenOrdnung erheben, während man starre Rollenin der Gesellschaft an sich vermeiden könnte.Dieser Versuch kann als der Anfang der ange-wandten Gruppendynamik betrachtet werden.Sensitivity Training oder T-Gruppen ge-brauchte viele Methoden, wie Rückkoppel lung(feedback), Gruppenarbeiten, Wir-Bewußt-sein, um der ad-hoc Gruppe im Arbeitskreisdie Solidarität und Sicherheit zu bringen, diewirkliche Gesellschaftsgruppen haben würden.Diese Erhöhung würde auch die Rolle desIndividuums unterdrücken und würde dadurchzur erzwungenen Gleichheit führen. In denUnternehmen, für welche die T-Gruppen kon-struiert wurden, konnte das System nicht ein-fach von den Workshopgruppen in the perma-nente Institution übertragen werden. Als dieseUnternehmen selbst Workshops und derglei-chen einführten, in denen sich die Teilnehmerkurzfristig und gezwungenerweise auf dersel-ben Ebene befanden und nach der Übungwieder auf ihren alten Platz zurückgeschicktwurden, wurde das als etwas lächerlich emp-funden.

Dieses System gebar seine eigenen Minia-turgesellschaften mit starken Gruppengrenzenund internen Normen der Gleichheit in Statusund Funktionen. Oft entwickelte es seine eige-ne Ideologie und wurde ein Mittel für politi-sche Bewegungen. Die Grünen und ihre ent-sprechenden Kommunen z.B. folgen dieserAnleitung. Der Höhepunnkt des SensitivityTrainings war in ungefähr 1950 und in denanschließenden Jahren. Die 60er Jahre produ-zierten Nachfolger des Sensitivity Tainings.

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Diese Nachfolger existierten zusammen mitanderen Anpassungsversuchen an den Indivi-dualismus.

Diese Versuche kamen im nächsten Jahr-zehnt, als Individualismus von anderen Ver-haltensmöglichkeiten abgelöst wurde. Diesezweite Welle, das Encounter Movement, ver-suchte Beziehungen in der Gruppe zu erneu-ern, mit weniger Interesse an den äußerenGrenzen der Gruppe. So erschienen neueGruppenstrukturen, die schnell als die neueVerhaltensweise standardisiert wurden. DieseBewegung hatte wenig mit der Gesamtgesell-schaft zu tun, aber sie half etwas, mit denpersönlichen Schwierigkeiten der individuali-stischen Gesellschaft umzugehen. Diese Pha-se erstand gleichzeitig mit der allgemeinenUnruhe in der Gesellschaft (ungefähr 1960-75), die auch persönliche Beziehungen unter-strich und Gruppenidentität verpönte.

Auch diese Perpektive dauerte nicht lange.Die Kultur des individuellen Ausdruckswechselte schnell in die selbst-konzentrierteYuppie -Kultur über und wurde ein fester Be-standteil der neuen individualistischen Gesell-schaft. Vielleicht kann ein Rest der altenRichtung noch in der "New Age" -Bewegungmit ihrer neuen Bedeutung der individuellenErfahrung erkannt werden.

Der Platz kleiner Gruppen als Ideologiescheint schwächer zu werden, zusammen mitanderen Symptomen der kulturellen Reaktiongegen den Individualismus. Neue Adaptionensind erschienen, die Probleme des Individua-lismus zu überwinden, die allerdings nicht vonMitgliedschaft in ad-hoc Gruppen getragenwerden. Wir wissen noch nicht, welche Formsie annehmen werden innerhalb der nächstenDekaden. Wir sehen Vorzeichen im weitenAufstieg des Nationalismus und des religiösenFundamentalismus, zusammen mit einem fastmystischen Anruf an den freien Markt. In-nerhalb dieser Markierungen ist wenig Platzfür Gruppendynamik als Ideologie.

Die Rolle der Ideologie in der Gruppendy-namik hat von Zeit zu Zeit die unsentimentale,experimentelle und theoretische Arbeit in denSchatten gestellt. Forschung an Gruppen ist

noch stark im Laboratorium vertreten. Siescheint heute bescheiden in ihren Zielen, aberproduktiv in den Resultaten innerhalb ihrerFragestellungen. Soziale Beziehungen werdenvielleicht nicht die Welt verbessern, aber siesind wichtig für den Sozialpsychologen. VonIdeologie getrennt kann Gruppendynamik ei-nen gemeinsamen Grund mit der Sozialpsy-chologie finden, als die Studie eines Systems,das für das Individuum so wichtig ist.

Der Fortschritt von Gruppendynamik

Wie die Psychologische Wissenschaft dieArbeit von Lewin und seinen Mitarbeitern sah,reflektieren die Eintragungen im Inhaltsver-zeichnis der Psychological Abstracts. In 1939(Vol. 13), den einflußreichsten Jahren derGruppenforschung, erschienen die Veröffent-lichungen Lewins unter der Rubrik von "Ge-neral". In 1946 (Vol. 20), dem Jahre der Grün-dung des Research Center for Group Dynamicsim Massachusetts Institute of Technology,waren die Eintragungen "General" und "Ge-neral Social Processes" verteilt worden.

Das Konzept von "Gruppe" an sich wurdeerst in 1962 (Vol. 36) direkt erwähnt und zwarim Zusammenhang mit "Group Influences"unter der Rubrik "Social Psychology" (Sozial-psychologie). Fünf Jahre später, in 1967 (Vol.41, 7-12), hatte man "Group Influences" auf"Group and Interpersonal Processes" umgeän-dert und führte sie immer noch unter der brei-teren Kategorie von "Social Psychology". Diesänderte sich, denn 1977 (Vol. 57/58) war sogardie Überschrift "Social Psychology" mit "So-cial Processes and Social Issues" ersetzt wor-den. Stattdessen erschien "Group and Inter-personal Processes" nun unter "ExperimentalSocial Psychology". Dabei blieb es bis ein-schließlich 1988. Ab 1989 (Vol. 76) war aus"Experimental Social Psychology" wieder nur"Social Psychology" geworden und dientewieder als Überschrift für die Gruppenfor-schungskategorie, nämlich wieder der Kate-gorie von "Group and InterperonalProcesses¬". Diese Weise, Gruppenstudien zu klassi-

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Gruppendynamik und Sozialpsychologie

fixieren und sie einmal hier und einmal dahinzu schieben, erzählt die Geschichte der Grup-pendynamik auf eine andere Art, als die imText oben angeführte.

Andererseits erschien der Begriff "GroupDynamics" (Gruppendynamik) selbst, alsHaupteintragung, im Thesaurus of Psycholo-gical Index Terms (1991), der die Jahre von1974 bis 1990 umfaßt. Dort ist er wesentlichprominenter als der Begriff "Social Psycho-logy" (Sozialpsychologie). Group Dynamicserschien nämlich 1009mal zwischen 1974-1982 und 1203mal zwischen 1983-1990; wäh-rend desselben Zeitabschnitts erschien SocialPsychology als Eintragung nur 403mal und704mal. Das heißt, die Psychologie hat sichauf Gruppendynamik viel stärker konzentriertals auf Sozialpsychologie.

Wenn man in den Psychological Abstractsdie Abstrakte selbst etwas näher untersucht,sieht man sofort, daß all das, was unter Grup-penstudien geführt wird, tatsächlich viel öftervon der Perspektive des Einzelnen ange-schnitten ist und zwar im Zusammenhang mitExperimenten (siehe Tabelle 1). Die Jahre1962, 1967 und 1977 stellen die oben ange-führten Markierungen in Bezug auf Gruppenin den Psychological Abstracts dar. Zwischen1977 und 1987 wurde keine Veränderungwahrgenommen, deshalb bot sich 1987 alsguter Vergleich an.

Gruppenexperimente aus der Perspektivedes Individuums gesehen, verringerten sichrelativ, dafür nahmen Gruppenexperimentevom Gesichtspunkt der Gruppe und Theoriezu. Die Zunahme der theoretischen Gruppen-studien kann man zum größten Teil auf Rezen-sionen der bezüglichen Literaturzurückführen, aus der dann theoretische Ansätze entwik-kelt wurden. Theorie ist jedoch auch hier, wieoft, ein Stiefkind. Anwendung schien am we-nigsten zur Untersuchung gereizt zu haben.

Anmerkungen

1. Für die 7. Arbeitstagung der Gesellschaft für Gestalt-theorie und ihre Anwendungen (GTA) vom 7. bis 10.

März 1991 in Eichstätt. Die Unterstützung des DukeUniversity Research Council wird dankend anerkannt.

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Kurt W. Back & Brigitte U. Neary

WissenschaftenAngewandte PsychologieExperimentelle PsychologiePsychologieSozialpsychologie

** Sozialwissenschaften (1)usw.

(1) SozialwissenschaftenAngewandte PsychologieExperimentelle PsychologiePsychologie (2)Sozialpsychologieusw,

(2) PsychologieAngewandte PsychologieExperimentelle Psychologie

* * Sozialpsychologieusw.

(3) Sozialpsychologie(keine inklusiven Kategorien angegeben)

GruppendynamikGruppenkohesionGruppendiskussionGruppenbeteiligungGruppenausführungGruppengrößeGruppenstrukturIntergruppendynamik

Sensitivity Training(verwandter Ausdruck)usw.

Abb. 1; Der Platz der Gruppendynamik in der Wissenschaft

Anmerkung: Gruppendynamik erscheint nie unter den anderen, oben angeführtenKategorien.

Quelle: "Thesaurus of Psychological Index Terms", 1991, 6th edition. Aus demEnglischen übersetzt.

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Gruppendynamik und Sozialpsychologie

1962 Gruppe Individuum

Anwendung 4 3.28 % 2 1.64 % 1.64 %Experiment 104 85.25 %I 5.74 % 97Theorie all

1 0.82% 13

i

Total 10 8.20% 112

Gruppe

8 3.70 %1111111116Anwendun I120 55.56 % 4 %1.85Ex -nriment

Theorie 14 2.31 % 9Total 7.89%

Anwendung 46 10.87 %Experiment 73.76 % 102 24.11 % 210 49.65 %Theorie 38 8.98 % 27 6.38 % 11 2.60 %Total 4I 100.00 % 156 36.88 % 267 63.12 %

Anwendung 33 10.25 %Experiment 51 15.84 % 116 36.02 %

67 20.81 % 34 10.56 %151 46.89 % 171 53.11 %

Tab. 1: "Gruppen" - Studien

Ex 49.77 %Theorie 15.42 % 100 9.23 % 67 6.19%Summe 1083 100.00 % 334 31.58%. 749 69.16%

Tab. 2: Die Summe der "Gruppen" - Studien(1962, 1967, 1977, 1987)

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Kurt W. Back & Brigitte U. Neary

Zu den Autoren: Kurt W. Back ist emeritierter James B. Duke Professor der Soziologie und Professor der MedizinischenSoziologie an der Duke University. Während seines Militärdienstes im 2. Weltkrieg wohnte er Lewins Seminar, imPsychologie Training Programm, bei. Er promovierte am Research Center of Group Dynamics im Massachusetts Instituteof Technology (MIT) und nahm am letzten Abschnitt der Aktivitäten von Lewin teil. Im Laufe seiner Tätigkeit hat er sichmit der Anwendung von Sozialpsychologie in mehreren Bereichen, inklusive Soziophysiologie, Geburtenregelung, Unterkunft,Lebenslauf und soziale Bewegungen, beschäftigt. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, u. a. Beyond Words, The Story . ofSensitivity Training and the Erzcounter Group Movement (1973) und Family Planing and Population Control, The Challenges of a Succesful Movement (1989) und hat zahlreiche Artikel herausgegeben.Brigitte U. Neary promoviert in Soziologie an der Duke University, wo sie auch assistiert und lehrt. Sie hat ein M.A. degree(Magister) in Soziologie und ein B.S. degree in Rehabilitation Services. Sie plant ihre Doktorarbeit, eine vergleichende Studieüber Management im amerikanischen und deutschen Werkzeugmaschinenbau, im Sommer 1992 abzuschließen. Zu ihrenwissenschaftlichen Interessen gehört General Systems Theory - daher beschäftigt sie sich u. a. mit dem Werk von Lewin.Anschrift: Department of Sociology, Duke University, Durham, NC, USA.

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