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ABSCHLUSSBERICHT in den 50er und 60er Jahren

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A B S C H L U S S B E R I C H T

in den 50er und 60er Jahren

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Impressum

Abschlussbericht des Runden Tisches „Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“

Eigenverlag und Vertrieb: Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ Mühlendamm 3, 10178 BerlinTel: +49 (0) 30 40040 - 200Fax: +49 (0) 30 40040 – 232E-Mail: [email protected], Internet: www.agj.de

V.i.S.d.P.: Peter KlauschRedaktion: Holger Wendelin, Katharina LoerbroksSatz und Layout: S. Stumpf Kommunikation & Design

Druck: DCM Druck Center

ISBN: 978-3-922975-92-2

Berlin, Dezember 2010

Diese Publikation wird aus Mitteln des Kinder- und Jugendplans des Bundes und von 11 Bundesländern über die Geschäftsstelle der AGJF sowie der Stiftung Deutsche Jugendmarke gefördert.

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4Gliederung

Vorwort ______________________________________ 4

1. Bewertung der Missstände in der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre aus Sicht des Runden Tisches _____________________________ 7

1.1. Wege ins Heim _____________________________ 9

1.2. Durchführung der Heimerziehung ______________ 13

1.2.1. Strafen in der Heimerziehung ________________ 14

1.2.2. Sexuelle Gewalt ___________________________ 18

1.2.3. Religiöser Zwang __________________________ 19

1.2.4. Einsatz von Medikamenten/Medikamentenversuche 19

1.2.5. Arbeit und Arbeitszwang ____________________ 20

1.2.6. Fehlende oder unzureichende schulische und berufliche Förderung _______________________ 23

1.3. Kontrolle und Aufsicht _______________________ 25

1.4. Folgen der Heimerziehung ____________________ 26

1.5. Zusammenfassende Bewertung ________________ 29

2. Forderungen der ehemaligen Heimkinder ________ 32

3. Systematische Prüfung von Lösungswegen und Lösungsvorschläge __________________________ 34

Abstimmungsprotokoll/Protokollnotizen _____________ 43

Schlusswort der Moderatorin _____________________ 44

Anhänge:

Auswertung der Infostelle des Runden Tisches ________ I

Beispiele gelungener Aufarbeitungsprozesse __________ XIII

Folgen der Heimerziehung aus Sicht ehemaliger Heimkinder __________________________ XVI

Empfehlung: Akteneinsicht durch ehemalige Heimkinder XVII

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Vorwort

Etwa 700.000 bis 800.000 Kinder und Jugendliche lebten inder Zeit von 1949 bis 1975 in Heimen in der BundesrepublikDeutschland. Überwiegend befanden sich diese Heime in kirch- licher Hand (65 %). Ein weiterer Teil wurde von öffent licherHand (25 %) sowie von anderen freien Trägern und Privatper-sonen (10 %) betrieben. Aufgrund historisch gewachsenerStrukturen variierte der Anteil der öffentlichen und der freienTräger in den Ländern und Regionen jedoch erheblich. Bei-spielsweise betrug bei der öffentlichen Erziehung (Fürsorge -erziehung und Freiwillige Erziehungshilfe) der Anteil freierTräger im Jahr 1960 im Bereich des Landesjugendamtes West-falen 95 %, des Landesjugendamtes Rheinland etwa 71 %, in Baden-Württemberg 65 %, in Hessen etwa 50 % und inSchleswig-Holstein lediglich 5 % (s. a. Mitglieder-Rundbriefdes Allgemeinen Fürsorgeerziehungstages e. V., Januar 1962, S. 3). Verantwortlich für Einweisung und Unterbringung warenJugendämter und Landesjugendämter. Häufig ging eine Ent-scheidung des Vormundschaftsgerichts der Heimunterbringungvoraus. In der aktuellen Debatte geht es um Umfang und Fol-gen traumatisierender Lebens- und Erziehungsverhältnisse,von denen ehemalige Heimkinder berichten. Sie zeugen vonkörperlicher, seelischer und sexueller Gewalt.

Im Frühjahr 2006 wurden verschiedene Petitionen zum Thema„Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren in der alten Bun-desrepublik“ beim Deutschen Bundestag eingereicht, die durchden Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages schließlichzu einer Sammelpetition zusammengefasst wurden. In seinerspäteren Beschlussempfehlung stellte der Petitionsausschussdie Inhalte der Petition folgendermaßen dar:

„Mit der Petition wird die Situation von Kindern und Jugend -lichen, die in den Jahren 1949 bis 1975 in der BundesrepublikDeutschland in verschiedenen öffentlichen Erziehungsheimenuntergebracht waren, kritisiert. Es wird vorgetragen, dass viele der in den Heimen unterge-brachten 14- bis 21-jährigen Fürsorgezöglinge unter miss-bräuchlichen Erziehungsmethoden wie entwürdigenden Be-strafungen, willkürlichem Einsperren und vollständiger Ent-mündigung durch die Erzieher gelitten hätten. Überwiegendhätten sie in den Erziehungsheimen unentgeltlich arbeitenmüssen, wobei die von ihnen ausgeübte Arbeit vorwiegendgewerblichen Charakter gehabt und nicht der Ausbildung ge-dient habe. Auch würden die ausgeübten Tätigkeiten nicht inder gesetzlichen Rentenversicherung anerkannt, sodass nun-mehr auch geringere Renten gezahlt würden oder zu erwartenseien.

Es wird gefordert, Entschädigungsleistungen für die Betroffe-nen zur Verfügung zu stellen und ihnen im Rahmen einer An-hörung im Deutschen Bundestag die Möglichkeit zu geben,ihre Heimerfahrung vorzutragen. Weiterhin wird mit der Peti-tion eine Entschuldigung des Deutschen Bundestages sowieeine wissenschaftliche Aufarbeitung der Thematik verlangt.“1

Nachdem sich der Petitionsausschuss mehr als zwei Jahre mitder Thematik der Heimerziehung befasst hatte, erkannte undbedauerte der Bundestag schließlich erlittenes Unrecht undLeid, die Kindern und Jugendlichen in verschiedenen Kinder-und Erziehungsheimen in der Zeit zwischen 1949 und 1975widerfahren ist.2

Er kam zu der Erkenntnis, dass für eine generelle Regelunghinsichtlich Entschädigung und Rentenanerkennung keineRechtsgrundlage vorliege. Eine angemessene Aufarbeitung derHeimerziehungspraxis könne zudem in einem parlamentari-schen Verfahren allein nicht gewährleistet werden. Hieraushat sich der Auftrag des Bundestages an den Runden Tisch ergeben:

„1. Aufarbeitung der Heimerziehung unter den damaligenrechtlichen, pädagogischen und sozialen Bedingungen:Darin sind einzubeziehen:• die Rechtsgrundlagen und die Praxis der Heimerziehung,• die rechtlichen Regelungen der Heimaufsicht und ihre

tatsächliche Wahrnehmung und• die Beschreibung der Ziele und Praxis der Heimerziehung

aus der Sicht der damaligen Erziehungswissenschaft undPädagogik.

2. Die Prüfung von Hinweisen auf Heimkindern zugefügtesUnrecht.

1 „Empfehlung des Petitionsausschusses in seiner Sitzung am 26.November 2008 zur Petition die Situation von Kindern und Ju-gendlichen in den Jahren 1949 bis 1975 in der BundesrepublikDeutschland in verschiedenen öffentlichen Erziehungsheimen betreffend“ Beschluss vgl. lfd. Nr.1 der Sammelübersicht 16/495 BT – Drs. 16/11102.

2 Der Petitionsausschuss benennt an dieser Stelle die Zeit bis 1970.Es ist aber davon auszugehen, dass die problematischen Verhält-nisse bis weit in die 1970er Jahre hineinreichten – auch wenn abEnde der 1960er Jahre eine breite und umfassende Reform ein-setzte. Die Epoche „50er und 60er Jahre“, auf die sich der RundeTisch bezieht, ist begrifflich nicht auf die Zeit bis 1969 begrenzt.Vielmehr reicht sie bis in die 1970er Jahre hinein. Im Auftrag des Petitionsausschusses war die Bearbeitung der The-matik der Behindertenheime nicht enthalten, obwohl dort vonähnlichen Problemen wie in der Heimerziehung der Jugendhilfeberichtet wird.

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3. Aufarbeitung der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen undgesundheitlichen (organischen oder psychischen) Folgender Heimerziehungspraxis.

4. Förderung der Kommunikation zwischen den Betroffenenund den „Nachfolge“-Organisationen der damaligen Heim-träger sowie Herstellen von Kontakten zur individuellenBearbeitung von Heimbiographien.

5. Information ehemaliger Heimkinder.6. Vermittlung von psychologischen, sozialen oder seelsorge-

rischen Beratungsangeboten der beteiligten Institutionenund Organisationen an ehemalige Heimkinder bei Bedarf.

7. Entwicklung von Kriterien zur Bewertung der Forderungenehemaliger Heimkinder und Aufzeigen möglicher Lösungen.

8. Öffentlichkeitsarbeit.“3

In seiner Sitzung am 4. Dezember 2008 folgte der DeutscheBundestag der Empfehlung des Petitionsausschusses und be-schloss einstimmig und in fraktionsübergreifendem Konsensdie Einrichtung eines Runden Tisches.4 Erstmalig in seiner Geschichte beschritt der Deutsche Bundestag mit diesem Be-schluss einen solchen Weg. Der Runde Tisch ist mit der Aufar-beitung und mit der Erarbeitung von Vorschlägen beauftragt.Er hat keine Weisungsbefugnis und seine Ergebnisse sindrechtlich nicht bindend. Die Umsetzung seiner Vorschlägeliegt in der Verantwortung seiner Adressaten.

Der Runde Tisch „Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“konstituierte sich am 17. Februar 2009 unter der Moderationder ehemaligen Bundestagsvizepräsidentin Dr. Antje Vollmerund legt hiermit nach fast zweijähriger Arbeit seinen Ab-schlussbericht vor.

In Anlehnung an die vom Deutschen Bundestag angenomme -ne Empfehlung des Petitionsausschusses sind folgende Insti-tutionen und Personengruppen am Runden Tisch vertreten:

• Ehemalige Heimkinder, • Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages, • Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, • Bundesministerium für Arbeit und Soziales,

3 Ebenda.4 BT-Plenarprotokoll 16/193, S. 20733A.5 Die Vertreter der Länder verfügen nicht über das Mandat, für alle

Länder verbindliche Feststellungen zu treffen. Die Länder werdensich nach Vorlage des Abschlussberichtes des Runden Tisches posi-tionieren.

6 Die Expertisen sind über die Internetseite des Runden Tisches ver-fügbar: www.rundertisch-heimerziehung.de

• alte Bundesländer5, • Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter, • Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände,• Deutsche Bischofskonferenz und Deutsche Ordensobern-

konferenz,• Evangelische Kirche in Deutschland, • Deutscher Caritasverband, • Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutsch-

land,• Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, • AFET-Bundesverband für Erziehungshilfe, • Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge,• Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht, • Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugend -

gerichtshilfen, • Wissenschaft.Das Bundesministerium der Justiz wird anlassbezogen einge-bunden und eingeladen.

Der Runde Tisch „Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“hat in fast zweijähriger Arbeit die Heimerziehung der jungenBundesrepublik untersucht und hinterfragt. In zehn jeweilszweitägigen Sitzungen hat er Betroffene, ehemalige Betreu-ungspersonen und Verantwortliche angehört, Rechtsgrundlagendiskutiert, pädagogische und psychologische Fragen erörtertund gesellschaftliche Entwicklungen nachgezeichnet. Der vorliegende Abschlussbericht konzentriert sich auf eineBewertung der Heimerziehung und auf die einzelnen Lösungs-vorschläge und deren Begründung. Die Arbeit des Runden Ti-sches bildet sich nicht nur in diesem Bericht, sondern auch inweiteren Dokumenten ab: Der Zwischenbericht des Runden Tisches hat sich bereits aus-führlich mit den damaligen Bedingungen befasst. In dem imJanuar 2010 veröffentlichten Bericht werden die Praxis derdamaligen Heimerziehung, die Strukturen, die Verantwortlich-keiten, die rechtlichen Grundlagen, eine zeithistorische Ein-ordnung und die Rollen unterschiedlicher Beteiligter, wieKommunen, Länder und Kirchen, aufgezeigt. Er gibt vor allemEinblicke in die Berichte und Anliegen ehemaliger Heimkinder,die die Aufarbeitung erst angestoßen haben und auf derenWünsche und Forderungen sich die Lösungsvorschläge im Wesentlichen beziehen.

Weitere wichtige Unterlagen des Runden Tisches sind die Expertisen

• „Rechtsfragen der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre“, • „Erziehungsvorstellungen in der Heimerziehung der 50er

und 60er Jahre“ und • „Was hilft ehemaligen Heimkindern bei der Bewältigung

ihrer komplexen Traumatisierung?“6

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Ebenfalls wichtige Erkenntnisse sind in den Anhängen des Abschlussberichtes• Auswertung der Infostelle des Runden Tisches,• Beispiele gelungener Aufarbeitungsprozesse,• Folgen der Heimerziehung aus Sicht ehemaliger Heimkinder,• Empfehlung: Akteneinsicht durch ehemalige Heimkinderzusammengefasst. Die dort zusammengetragenen Informatio-nen sind wichtige Ergänzungen zu den hier veröffentlichtenMaterialien.

Da der Runde Tisch keine von sich aus Ermittlungen anstel-lende Instanz ist, war er auf die Erfahrungen und Berichteehemaliger Heimkinder angewiesen, um Einblicke in die Ver-hältnisse der Heimerziehung, die Folgen der Heimerziehungund in die Anliegen der Betroffenen zu erhalten. Ohne diese z. T. sehr ausführlichen Berichte wäre eine angemessene Auf-arbeitung nicht möglich gewesen. Ob sie sich an die Infostelledes Runden Tisches gewandt haben oder direkt vor dem Run-den Tisch ihre Erfahrungen berichteten – ihnen allen sei herz-lich für ihr Vertrauen und ihre Unterstützung gedankt. IhreBerichte werden im Zwischenbericht und im Anhang „Auswer-tung der Infostelle“ ausführlich wiedergegeben.Auch der Mitwirkung der ehemaligen Heimkinder am RundenTisch kommt eine besondere Bedeutung zu. Sie haben den For-derungen der Betroffenen eine unüberhörbare Stimme gege-ben. Ihnen ist es besonders zu verdanken, dass der Runde Tischdas erfahrene Leid und das geschehene Unrecht klar benannthat und konkrete Vorschläge für die Anerkennung des Schick-sals der Betroffenen unterbreitet. Der Berichterstattung der ehemaligen Heimkinder und dendarin enthaltenen Unrechtserfahrungen wird geglaubt.Für den Erfolg der Arbeit des Runden Tisches war es wichtig,dass sich alle seine Mitglieder der mühseligen Aufgabe desgenauen und kritischen Blicks gestellt haben.

Ohne die Unterstützung und Zuarbeit durch die Wissenschaftwäre eine qualifizierte Aufarbeitung nur schwer möglich ge-wesen. In zahlreichen großen und kleinen Forschungsprojekten – oft auch angestoßen und finanziert von betroffenen Institu-tionen – ergaben sich Erkenntnisse, die sich zu einem Gesamt-bild der Heimerziehung zusammensetzten und dem RundenTisch damit historisches Verständnis und Versachlichung er-möglichten.

Die Aufarbeitung kann mit dem Runden Tisch jedoch nicht abgeschlossen sein. Es hat sich gezeigt, dass weiterhin großerBedarf an Auseinandersetzung mit dem Thema besteht. Insbe-sondere die individuelle und lokale Aufarbeitung – aber auchdie Aufarbeitung in den Ländern – muss fortgesetzt werden.Zahlreiche Länder, Kommunen, Träger und Einrichtungen ha-ben sich in den letzten Jahren, z. T. angeregt durch die Arbeitdes Runden Tisches, ihrer Vergangenheit gestellt und man-cherorts wichtige Aufarbeitungsprozesse initiiert.7 Es sind abernoch längst nicht alle betroffenen Stellen aktiv und auch diebegonnene Auseinandersetzung muss vielfach noch fortge-führt werden.Der Runde Tisch ruft daher alle betroffenen Stellen dazu auf,die Aufarbeitung auch in Zukunft eigenitiiativ durchzuführen.Wesentliche Teile des Lösungsvorschlags zielen auf eine Un-terstützung dieser Bemühungen ab. Dies kann nur gelingen,wenn sich betroffene Stellen vor Ort dieser Aufarbeitung öff-nen, sie anregen und aktiv unterstützen.

Kapitel 1 des Abschlussberichtes stellt eine ausführliche Be-wertung der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre aus juris-tischer, pädagogischer, psychologischer und gesellschaftlicherSicht dar, in der die Grundlagen der Bewertung behandelt unddiskutiert werden. Von diesen Bewertungen ausgehend, folgt die Darstellung derLösungsvorschläge in Kapitel 2. Dort wird auch ein Blick aufdie heutige Situation und die Zukunft der „Heimerziehung“ –heute zutreffender als „Hilfen zur Erziehung“ bezeichnet – geworfen. Die Arbeit des Runden Tisches hat gezeigt, dass esauch heute noch Schlüsselstellen in der – zweifelsohne sehrviel besseren – Jugendhilfe gibt, die zu optimieren und kritischin den Blick zu nehmen sind. Diese Aspekte werden aus Sichtdes Runden Tisches beleuchtet und zeigen, dass der Blick zu-rück auch ein Blick nach vorn sein kann und muss.

7 Siehe Anhang „Beispiele gelungener Aufarbeitungsprozesse“.

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1. Bewertung derMissstände in derHeimerziehung der 50erund 60er Jahre aus Sichtdes Runden Tisches8

Im Zwischenbericht des Runden Tisches wurde die Heimerzie-hung der 50er und 60er Jahre entlang wesentlicher Themenaufgearbeitet und dargestellt. Ausgehend von dieser Aufarbei-tung und der Vertiefung im zweiten Jahr nimmt der RundeTisch nun eine Bewertung der Heimerziehung vor.Diese Bewertung bezieht rechtliche, pädagogische, psycholo-gische und gesellschaftliche Aspekte ein. Sie kann aufgrundder Komplexität der Thematik keinen Anspruch auf Vollstän-digkeit erheben, nimmt aber die wesentlichen Punkte in denBlick. Dabei werden zunächst solche Aspekte fokussiert, ausdenen Unrecht und Traumatisierung entstand und die schick-salhaft für die Betroffenen waren. Es ist wichtig zu betonen,dass die Heimerziehung der 50er und 60er Jahre in ihrer zeit-lichen Entwicklung und in ihrer individuellen Praxis sehr viel-gestaltig war: Vom Anfang der 50er Jahre bis hin zum Endeder 60er Jahre sind deutliche Entwicklungen zu verzeichnen.Die Bedingungen in der Heimerziehung unterschieden sich zu-dem auch von Land zu Land, von Region zu Region, von Heimzu Heim und von Gruppe zu Gruppe. So gab es von denen, diesich gemeldet haben, auch Heimbiografien, die fast frei vonLeid und Unrechtserfahrungen waren, eine große Zahl andererHeimkinder aber war von verschiedenen traumatisierenden Er-fahrungen erheblich belastet. Erschreckend ist, wie viele vonihnen durch die Missstände in voller Härte und über Jahrehinweg betroffen waren. Diese sehr unterschiedlichen Erfah-rungen spiegeln sich auch in den Erkenntnissen der Info- undBeratungsstelle des Runden Tisches wider, wie aus dem An-hang „Auswertung der Infostelle des Runden Tisches“ hervor-geht. Während zum Beispiel körperliche Gewalt in einem

Heim dominierte, kam sie in einem anderen – indem mögli-cherweise demütigende Strafen alltäglich waren – gar nichtvor. Auch kam es gelegentlich vor, dass Betroffene das eineHeim als katastrophal, ein anderes Heim dagegen als eher fürsorglich erlebten.

Dieser Befund zeigt, dass ein angemessener und fördernderUmgang mit Kindern und Jugendlichen in Heimen auch da-mals schon möglich war, aber zu selten praktiziert wurde.

Allein schon wegen dieser Vielgestaltigkeit ist eine einfacheund allgemeingültige Bewertung der Heimerziehung der 50erund 60er Jahre nicht möglich. Es bleibt daher nur, diejenigenAspekte zu beleuchten und zu bewerten, die häufig zu Trauma-tisierung und Unrecht führten und damit für zahlreiche dama-lige Heimkinder lebenslang prägend waren. Die Antwort aufdie Frage, in welchem Maße einzelne oder viele der folgendaufgezeigten Punkte auf den Einzelfall zutrafen, entzieht sicheiner übergreifenden Beurteilung.Die Bewertung der jeweiligen Aspekte der Heimerziehungfolgt der Systematik, die bereits im Zwischenbericht und inder Rechtsexpertise entwickelt wurde und die die Komplexe„Wege ins Heim“, „Durchführung der Heimerziehung“ und die„Kontrolle bzw. Aufsicht“ beleuchtet.

Für eine differenzierte Betrachtung – insbesondere der recht-lichen Aspekte – erscheinen zunächst Vorbemerkungen zu denBegriffen „Leid und Unrecht“ und zu den verschiedenen Ebenenvon Unrecht sinnvoll.

Leid und Unrecht9

Der Runde Tisch und auch schon der Petitionsausschuss desDeutschen Bundestages sehen und erkennen „Leid und Un-recht“ in der Heimerziehung:

„Der Runde Tisch sieht und erkennt, dass insbesondere in den50er und 60er Jahren auch unter Anerkennung und Berück-sichtigung der damals herrschenden Erziehungs- und Werte-vorstellungen in den Einrichtungen der kommunalen Erzie-hungshilfe, der Fürsorgeerziehung und der Freiwilligen Erzie-hungshilfe jungen Menschen Leid und Unrecht widerfahrenist. Nach den vorliegenden Erkenntnissen hat er Zweifel daran,dass diese Missstände ausschließlich in individueller Verant-wortung Einzelner mit der pädagogischen Arbeit beauftragterPersonen zurückzuführen ist. Vielmehr erhärtet sich der Ein-druck, dass das „System Heimerziehung“ große Mängel sowohlin fachlicher wie auch in aufsichtlicher Hinsicht aufwies. Zubedauern ist vor allem, dass verantwortliche Stellen offen-sichtlich nicht mit dem notwendigen Nachdruck selbst auf

8 Die folgenden Ausführungen stützen sich auf den Zwischenberichtdes Runden Tisches, die beiden Expertisen zu „Rechtsfragen“ undzu „Erziehungsvorstellungen der Heimerziehung in den 50er und60er Jahren“ sowie auf die Debatten am Runden Tisch. Hinsichtlicder Expertisen kann hier nur eine Zusammenfassung der Ausfüh-rungen dargestellt werden. Für eine intensive Auseinandersetzungwird die Lektüre der Expertisen, in denen auch zahlreiche Quellenund Belege ausgewiesen werden, empfohlen. Die Expertisen sindunter www.rundertisch-heimerziehung.de herunterzuladen.

9 Die Darstellung stützt sich u.a. auf die Rechtsexpertise, S. 38 f.

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bekannte Missstände reagiert haben. Der Runde Tisch bedau-ert dies zutiefst. Er hält daran fest, dass es einer grundlegen-den gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Heimerzie-hung in dieser Zeit und den sich daraus ergebenen gesell-schaftlichen wie individuellen Folgen bedarf.“(Zwischenbericht, S. 40).

Der Begriff „Leid“ verweist auf ein von einem Menschen er-fahrenes und tief empfundenes Übel, bei dem es nicht daraufankommt, wer es aus welchen Gründen verursacht hat. DasLeid eines anderen Menschen zu bedauern, ist ein Akt desMitgefühls, der nicht unbedingt damit einhergehen muss, dassjemandem die persönliche Verantwortung für dieses Leid indi-viduell zugeschrieben werden kann.Demgegenüber enthält der Begriff des „Unrechts“ die Vorstel-lung, dass es ein „Recht“ gab, das ein Verantwortungsträgerverletzt oder missachtet hat. In der Anerkennung von Unrechtschwingt also die Anerkennung einer Regelüberschreitungoder Rechtsverletzung mit. Für diese Regelüberschreitungbzw. Rechtsverletzung oder Rechtsmissachtung kann im Re-gelfall eine Person oder Institution verantwortlich gemachtwerden. Und während ein Leid das Ergebnis persönlicher Er-fahrung ist, kann die Anerkennung von Unrecht an sachlicheKriterien geknüpft werden. Leid dagegen kann bereits alleinaus dem Grund anerkannt werden, dass die betroffene Persongelitten hat. Das erlebte Leid in der Heimerziehung der 50erund 60er Jahre spricht aus den zahlreichen Erfahrungs- undLebensberichten ehemaliger Heimkinder und wurde – nachjahrelanger Nichtwahrnehmung – in den letzten Jahren durchdie öffentliche Berichterstattung zunehmend erkannt und anerkannt.

Für eine rechtliche oder ethische Bewertung der Geschehnissein der Heimerziehung als „Unrecht“ müssen Kriterien gefundenwerden, die über das subjektive Erleben hinausgehen. DieseKriterien ergeben sich nicht schon aus dem Begriff des Un-rechts selbst. Zunächst muss klargestellt werden, was mit derBewertung als „Unrecht“ gemeint ist bzw. sein soll. Der RundeTisch hat in seinem Zwischenbericht Unrecht gesehen und an-erkannt. Er hat dieses Unrecht dort jedoch noch nicht anhandvon Kriterien konkretisiert oder spezifiziert. Diese Konkretisie-rung der Kriterien wurde im zweiten Jahr der Aufarbeitung –mit Unterstützung der vorgelegten Expertisen – vorgenommenund fließt in die folgende Bewertung ein.

Bei der heutigen Bewertung der damaligen Geschehnissemüssen zunächst zwei Ebenen des Unrechts auseinanderge-halten werden:

Rechtsverletzung nach zeitgenössischen Maßstäben

Unrecht kann zunächst ein Sachverhalt sein, der gegen gel-tendes Recht verstößt, also eine Handlung oder ein Zustand,die rechtswidrig sind. Die Rechtswidrigkeit kann sich am ein-fachen Recht oder aber an der Verfassung festmachen. Un-recht in diesem Sinne kann also auf zwei Ursachen beruhen:(1) Eine Handlung oder ein Zustand verstießen gegen das da-mals geltende Recht, das den betreffenden Lebensbereich re-gelte. (2) Eine Handlung oder ein Zustand verstießen gegendie Normen des Grundgesetzes in seiner damals geltendenAuslegung. Dieses Unrecht unterliegt heute größtenteils der Verjährung.Diese Tatsache schafft jedoch die Bewertung als „Unrecht“nicht aus der Welt; sie steht nur der strafrechtlichen Verfol-gung und Ahndung entgegen sowie der Geltendmachung zi-vilrechtlicher Ansprüche, wenn die Einrede der Verjährung erhoben wird.

Rechtsverletzung und Regelverletzung nach heutigenMaßstäben

Die Bewertung, dass ein Sachverhalt „Unrecht“ ist oder war,kann sich auch aus einem gewandelten Rechts- und Verfas-sungsverständnis ergeben. Für die Geschehnisse in der Heim-erziehung ist offensichtlich, dass unser heutiges Verfassungs-verständnis und die aktuelle Rechtsauslegung viele der dama-ligen Praktiken als „Unrecht“ erscheinen lassen.

Auf die Bewertung, ob ein Sachverhalt „Unrecht“ ist oder war,können sich auch Maßstäbe außerhalb des geschriebenenRechts auswirken. Diese können sich aus der Verletzung vonRegeln für die gute fachliche Praxis im Umgang mit (Heim-)Kindern ergeben. Auch in diesem Lichte erscheinen viele derdamaligen Praktiken als „Unrecht“.

In den folgenden Überlegungen werden daher die Grund-rechtsgewährleistungen und die fundamentalen rechtsstaat -lichen Prinzipien der Verfassung, so wie sie heute verstandenund ins geltende Recht übersetzt werden, als Maßstab der Be-wertung der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre herange-zogen. Die Bewertung der Heimerziehung aus heutiger Sichtmacht aber einen Sachverhalt, der damals als rechtmäßig galt,nicht unrechtmäßig. Er löst daher auch noch keine rechtlichenSchadensersatzansprüche aus und durchbricht nicht die Ver-jährung.

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41. Bewertung der Missstände in der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre aus Sicht des Runden Tisches

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1.1. Wege ins Heim

„Oft waren die Gründe, wegen derer die Kinder und Jugendli-chen in Heimerziehung kamen, aus heutiger Sicht nicht nach-vollziehbar. Denn dabei spielten auch die damalige Rolle derHeimerziehung als disziplinierende und kontrollierende In-stanz, ein reaktionär-konservativer Zeitgeist und eine anderegesellschaftliche Sicht auf Kinder und Jugendliche eine Rolle. Gleichwohl muss bedacht werden, dass es auch viele Kinderund Jugendliche gab, die aus Not in Heimerziehung kamen,die tatsächlich gefährdet waren, die Hilfe dringend benötigtenund für die der Heimaufenthalt eine – wenn auch sicher nichtimmer optimale – Alternative war.“ (Zwischenbericht, S. 46)

Bei der Heimunterbringung waren in pädagogischer und inrechtlicher10 Hinsicht die unbestimmten Begriffe der „Ver-wahrlosung“ und der „Gefährdung“ zentral, insbesondere fürdie Unterbringung ohne Zustimmung der Sorgeberechtigten.

Damit die „Gefährdung des Kindeswohls“ als Voraussetzungfür den Sorgerechtsentzug mit nachfolgender Heimunterbrin-gung gelten konnte, musste eines der drei folgenden Kriterienerfüllt sein: „Missbrauch des Erziehungsrechts“, „Vernachlässi-gung“ oder „ehrloser und unsittlicher Lebenswandel“ der El-tern. Die „Verwahrlosung“ als Voraussetzung für die Fürsorge-erziehung wurde als Abweichung vom Durchschnitt definiert.11

Auch wenn die „Verwahrlosung“ als der schärfere Begriff an-gesehen wurde, bestand in der Praxis eine große Nähe zumBegriff der „Gefährdung“. Maßstab bei der Gefährdung warebenfalls die „normale [...] Entwicklung Minderjähriger ver-gleichbaren Alters und gleichen Geschlechts, die unter ver-gleichbaren Lebensbedingungen aufwachsen“ (Rechtsexper-tise, S. 44 ff.).

Infolge der Unbestimmtheit der Begriffe wurde in vielen Fällenbereits die teilweise geringfügige oder auch nur vermuteteAbweichung von einer idealisierten Vorstellung von Normali-tät zum Anlass für eine Heimunterbringung genommen. AlsSymptome der „Verwahrlosung“ von Kindern und Jugendlichen

konnten gelten: „Unordnung“, „Unbeherrschtheit“, „Pflichtver-nachlässigung“, „Ungehorsam“, „Schule schwänzen“, „Frech-heit“ und „Widerspenstigkeit“, „Bockigkeit“, „Jähzorn“, „Un -flätigkeit“, „Unehrlichkeit“, „Kriminalität“, „Arbeitsbummelei“,„Vagabondage“, „Genussleben“, „Gewalttätigkeit“, „Prostitu-tion“, „Herumtreiben“ oder sonstiges Abweichen von sozialenNormen. Insbesondere für Mädchen war der Begriff der „sittli-chen“ oder „sexuellen Verwahrlosung“, der auf eine rigide Se-xualmoral zurückging, oft verhängnisvoll. Als Anzeichen dafürwurden „unsittsame Kleidung oder Gebärden“, Aufenthalt an„unsittlichen Orten“ wie Tanzbars, „Triebhaftigkeit“ und „Halt-losigkeit“ und vor allem sexuelle Kontakte gewertet. Um als „verwahrlost“ oder „gefährdet“ zu gelten, musste zu-dem nicht unbedingt ein entsprechendes Verhalten der Ju-gendlichen vorliegen. Es genügte gerade bei der Anwendungdes § 1666 BGB oft schon, wenn die Eltern in den Verdachtder Verwahrlosung gerieten. Alleinerziehende Mütter undMütter unehelicher Kinder standen unter dem Generalver-dacht, „sittlich und moralisch nicht gefestigt“ zu sein. Das al-lein schon konnte für die Kinder die Annahme einer „drohen-den Verwahrlosung“ oder „Gefährdung“ bedeuten und damitzur Heimeinweisung führen. Dies war wiederholt sogar einGrund dafür, dass selbst Säuglinge und Kleinkinder als „ver-wahrlost“ oder von „Verwahrlosung bedroht“ gelten konnten.Immer wieder wird zudem berichtet, dass Kinder und Jugend-liche allein deshalb in Heimerziehung kamen, weil sie in ihremsozialen Umfeld die Schwächeren waren. Nachdem beispiels-weise ein Mädchen einen in ihrem Dorf angesehenen Manneines sexuellen Übergriffs bezichtigte, wurde nicht er, sondernsie für diese Tat bestraft, indem sie selbst als „sittlich ver-wahrlost“ hingestellt und in ein geschlossenes Fürsorgeheimeingewiesen wurde.

Die Auslegung und der Stellenwert des Begriffs der „Verwahr-losung“ deuten auf vier wesentliche und aus heutiger Sicht alsproblematisch zu bewertende Grundlagen in der Heimerzie-hung der 50er und 60er Jahre hin:

(1) In der Jugendhilfe der jungen Bundesrepublik bestand inweiten Teilen ein kollektivistisches Erziehungsverständnis.Als oberstes Ziel galt nicht die freie Persönlichkeitsentfal-tung der Kinder und Jugendlichen, sondern deren „gesell-schaftliche Tüchtigkeit“(§ 1 RJWG / JWG). Im Handbuchder Heimerziehung von Trost und Scherpner, das als Stan-dardwerk der damaligen Heimerziehung gilt, wurde inGrundsatzartikeln die Bedeutung der Einfügung der Kinderund Jugendlichen in die „überindividuelle Ordnung“ betont.Kinder und Jugendliche sollten zuvorderst zu funktionie-renden Gliedern der Gesellschaft erzogen werden. Ziele derErziehung waren demnach Anpassungsbereitschaft, Ge-horsam, Fleiß, Ordnung und Anspruchslosigkeit.12

10 Für eine grundlegende Darstellung der Rechtsgrundlagen für eineHeimunterbringung siehe Zwischenbericht, S. 25 ff. und Rechts -expertise, S. 8 ff.

11 Gängige Definition: „Verwahrlosung bedeutet ein erhebliches Sin-ken des körperlichen, geistigen oder sittlichen Zustands des Min-derjährigen unter den Durchschnitt Gleichaltriger in vergleichba-ren sozialen Verhältnissen“.

12 Vgl. Expertise zu Erziehungsvorstellungen, S. 17 f.

41. Bewertung der Missstände in der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre aus Sicht des Runden Tisches

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(2) Der Missbrauch des positiven Rechts durch den National-sozialismus machte nach 1945 eine erneuerte Wertbegrün-dung des Rechts erforderlich. Dies führte auch zu einer Ver-mischung von religiösen Werten und Rechtsgütern. Zeit-bedingte moralische und religiöse Vorstellungen zu Ehe,Familie und Sexualität prägten Recht und Rechtsanwen-dung.

(3) Der Begriff der „Verwahrlosung“ und seine Auslegung wur-den zeitgenössisch durch die psychiatrische Wissenschaftgestützt, die immer noch sozialrassistische Züge aufwiesund dazu beitrug, dass bestimmte „verwahrloste“ Jugend-liche als Psychopathen bzw. Soziopathen angesehen wur-den.

(4) Die (Sozial-)Pädagogik gewann erst im Lauf der Zeit nen-nenswerten Einfluss auf Theorie und Praxis der Heimerzie-hung. Die Heimerziehung der 50er und 60er Jahre warweitgehend religiös-moralisch und medizinisch geprägt.

Bereits in den 50er und 60er Jahren gab es mit Blick auf dasGrundgesetz Anlass, die damalige Rechtspraxis zu hinterfra-gen: Das Bundesverfassungsgericht hatte am 29. Juli 1959darauf hingewiesen, dass allgemeine naturrechtliche Vorstel-lungen bei der Norminterpretation keine Rolle spielen sollten.Maßgeblich sei allein das Grundgesetz. Eine Auslegung desArt. 6 Abs. 2 Satz 2 GG, wonach eine staatlich gelenkte Erzie-hung, die sich an einem allgemeinen „Sittengesetz“ oder anden herrschenden Moralauffassungen orientiert, nicht zulässigist, setzt sich als „herrschende Meinung“ allerdings erst abdem Ende der 1960er Jahre durch. Zeitgleich mehren sich dieStimmen in der Fachliteratur, die es ablehnen, die Fürsorge -erziehung als Mittel zur Durchsetzung sittlicher Ideale zu be-greifen. Kritik an dem obersten Erziehungsziel „Anpassung undGehorsam“ kommt ebenfalls in den späten 60er Jahren auf,nachdem das BVerfG in einer Entscheidung vom 29. Juli 1968festgestellt hat, „dass das Kind als Grundrechtsträger selbstAnspruch auf den Schutz des Staates hat. Das Kind ist einWesen mit eigener Menschenwürde und dem eigenen Rechtauf Entfaltung seiner Persönlichkeit im Sinne der Art. 1 Abs. 1und Art. 2 Abs. 1 GG (...)“ (Rn. 58 der Entscheidungsgründe).

Sozial integriert zu sein und einen Platz in der Gesellschaft zufinden, ist ein Interesse des Kindes, das unter der Herrschaftdes Grundgesetzes eine wichtige Bedeutung hat. Es soll sichzu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb dersozialen Gemeinschaft entwickeln, wie sie dem Menschenbilddes Grundgesetzes entspricht (BVerfG a. a. O.). Wird dieses In-teresse des Kindes an sozialer Integration jedoch ausschließ-lich als „Anpassung und Gehorsam“ verstanden und gegenüberanderen Interessen des Kindes, z. B. nach Entfaltung seiner

individuellen Talente und Fähigkeiten absolut gesetzt, so liegtdarin eine Missachtung der individuellen Persönlichkeit desKindes, die mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist.

Hinzu kommt die Uferlosigkeit der Verwendung der Begriffe„Verwahrlosung“ und „Gefährdung“. Die Auslegung der unbe-stimmten Rechtsbegriffe „Verwahrlosung“ und „Gefährdung“erlaubte, dass in der Praxis jedes als „abweichend“ definierteVerhalten zu einer Heimunterbringung führen konnte. Unbe-stimmte Rechtsbegriffe sind aber nur dann mit dem rechts-staatlichen Bestimmtheitsgebot vereinbar, wenn sie in Recht-sprechung und Lehre eine klare Interpretation erfahren, ausder auch die Grenzen ihrer Anwendung hervorgehen. Die Pra-xis der 50er und 60er Jahre konnte eine derartige hinreichen -de Bestimmtheit der Rechtsbegriffe „Verwahrlosung“ und „Ge-fährdung“ nicht gewährleisten.13 Hinreichende Vorkehrungengegen Beliebigkeit und Willkür in den Entscheidungen übereine Heimeinweisung waren damit nicht getroffen. Auch wennes sicherlich Fälle gab, in denen ebenfalls nach heutigen Maß -stäben eine Form des staatlichen Eingreifens gerechtfertigtwar, ist davon auszugehen, dass viele Kinder und Jugendlicheaufgrund von Entscheidungen in Heimerziehung kamen, dieauf einer rechtsstaatlich fragwürdigen Auslegung dieser Vor-schriften beruhten.

Dies ist umso mehr kritikwürdig, als das Heim nur als UltimaRatio zu gelten hatte. In der o. g. Entscheidung vom 29. Juli1968 hat das BVerfG (a. a. O. Rn. 67) dazu ausgeführt:

„Wenn die staatliche Gemeinschaft eingreifen muss, um an-stelle der versagenden Eltern die Voraussetzungen für eine gesunde körperliche und seelische Entwicklung des Kindes undfür seine rechte Einordnung in die Gesellschaft zu schaffen, sosteht der Staat hierbei vor der Wahl, die Fürsorgeerziehunganzuordnen, das Kind sonst in einem Heim unterzubringenoder es in Pflege zu geben oder schließlich eine Adoption zuvermitteln. Vom Blickpunkt des Kindes werden in dieser Situa-tion die letzten beiden Möglichkeiten regelmäßig den Vorzugverdienen. Die überlieferte Überzeugung, dass für eine nor-male Entwicklung des Kindes das Erlebnis einer harmonischenund lebenstüchtigen Familiengemeinschaft schlechthin uner-setzlich ist, wird durch die Erfahrungen der Jugend- und Für-sorgebehörden sowie die Erkenntnisse der modernen Psycho-logie, Psychiatrie und Kinderheilkunde bestätigt. (…) EineHeimerziehung kann auch unter günstigen Verhältnissen dieGeborgenheit des Kindes in der Familie und die dort gegebe-nen Voraussetzungen für die Entwicklung der persönlichen

13 Rechtsexpertise, S. 57.

41. Bewertung der Missstände in der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre aus Sicht des Runden Tisches

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Fähigkeiten und sozialen Kontakte des Kindes nicht ersetzen,zumal es in zahlreichen Heimen an ausreichendem oder aus-reichend geschultem Personal, an geeigneten Räumlichkeitenund besonders an finanziellen Mitteln fehlt.“

Anhörungs- und Informationspflichten

Gerade weil die Heimeinweisung auf der Grundlage stark aus-legungsbedürftiger Rechtsnormen stattfand, hätte der sorgfäl- tigen Aufklärung jedes einzelnen Sachverhalts besondere Be-deutung zukommen müssen. Die Anhörung ist dabei ein wich-tiges Mittel. In der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre warin den Verfahren nach § 1666 BGB und zur Anordnung der Für- sorgeerziehung eine Anhörung verbindlich vorgeschrieben.14 InVerfahren der Freiwilligen Erziehungshilfe und bei den kommu-nalen Erziehungshilfen war eine Anhörung nicht erforderlich.

Im Verfahren der Fürsorgeerziehung konnten die Anhörungs-pflichten umgangen werden, wenn zunächst die vorläufige(eilige) Fürsorgeerziehung angeordnet und die Anhörung imHauptsacheverfahren nicht nachgeholt wurde. Das auf Ver-waltungsverfahren übertragbare Prozessgrundrecht auf Gehörgem. Art. 103 Abs. 1 GG verlangt, dass eine Anhörung, auf dieim Eilverfahren ausnahmsweise verzichtet werden kann, etwawenn die Maßnahme durch die Gewährung des Gehörs ge-fährdet würde, nachträglich zu gewähren ist. Diese Vorgabewurde im Jugendhilferecht nach dem bisherigen Kenntnis-stand oft nicht umgesetzt. Schon unter dem RJWG hätte dievorläufige Fürsorgeerziehung in einem Hauptsacheverfahrenüberprüft werden müssen. In den Fällen, in denen dies nichtgeschah, erhöhte sich das Risiko, dass Fehlentscheidungen des Eilverfahrens später nicht korrigiert wurden.

Dieses Risiko von Fehlentscheidungen hat sich für die Betrof-fenen weiter erhöht, wenn kein Gerichtsverfahren stattfand.Mit Blick auf die damalige jugendhilferechtliche Diskussionum den Richtervorbehalt bei freiheitsentziehender Unterbrin-gung (Art. 104 Abs. 2 GG) ist festzustellen, dass die Unterbrin-gung in einem Heim im Rahmen der FEH durch eine Verwal-tungsbehörde ohne richterliche Überprüfung angesichts desüberwiegend freiheitsentziehenden Charakters dieser Unter-bringung schon seit den 50er Jahren als rechtsstaatlich be-denklich eingeschätzt wurde.

Bei den zahlreichen Kindern und Jugendlichen, die – insbe-sondere auf Grundlage der Heimunterbringung in kommunalerVerantwortung und in Teilen auch der Freiwilligen Erziehungs-hilfe – mit Zustimmung und teilweise auf Betreiben der Eltern(z. B. weil sie zu Hause nicht ausreichend versorgt werdenkonnten) in Heimerziehung gegeben wurden, war keine rich-terliche Entscheidung notwendig. Die Schlüsselbegriffe „Ver-wahrlosung“ oder „Gefährdung“ mussten nicht erfüllt sein und spielten keine oder eine untergeordnete Rolle. In diesem Bereich gab es aber als Unrecht einzustufende Fälle,in denen auf die Eltern erheblicher Druck ausgeübt wurde, ei-ner kommunalen Hilfe oder einer Freiwilligen Erziehungshilfezuzustimmen.

Missachtung der Kindesinteressen

Mit der o. g. Orientierung an kollektivistischen Erziehungs -vorstellungen ging auch eine weitreichende Missachtung derKindesinteressen einher. Die Plicht des Einzelnen wurde daringesehen, sich unter die gegebene Ordnung unterzuordnen undder Gemeinschaft zu dienen. In der Konsequenz spielten indi-viduelle Lebensbedingungen, Interessen, Kompetenzen, Bedürf-nisse und Ziele der Kinder und Jugendlichen keine Rolle.Ein vorrangiges Interesse des Kindes wurde in der Erziehungzu „gesellschaftlicher Tüchtigkeit“ gesehen. Dieses Interessewurde in die (wiederum kollektiven) Ziele „Fleiß“, „Gehorsam“,„Ordnung“, „Arbeitseifer“ und „Sittsamkeit“ übersetzt. Die Missachtung individueller Interessen und Wünsche drücktsich sowohl in theoretischen Konzepten zur Heimerziehungals auch in Gerichts- und Jugendamtsentscheidungen über die Heimeinweisung aus.15

Diese konsequente Missachtung der Kinder und Jugendlichenund die Verletzung ihrer Rechte auf Kosten einer kollektivisti-schen Erziehungsvorstellung widersprechen einem demokra -tischen Verständnis und sind daher mit Blick auf das Grund-gesetz auch schon für damalige Maßstäbe zu kritisieren.

Verhältnismäßigkeit

Die Heimunterbringung und ihre Durchführung in einem be-stimmten Heim musste verhältnismäßig sein, d.h. geeignet,erforderlich und angemessen, um das betroffene Kind ange-messen zu pflegen und zu erziehen.16

Für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit galten die folgen-den Maßstäbe:(1) Die Heimunterbringung wurde als das schärfere Mittel ge-

genüber Maßnahmen wie der Schutzaufsicht/Erziehungs-beistandschaft oder der Unterbringung in einer Familieangesehen.

14 Vgl. Rechtsexpertise, S. 9 ff.15 Vgl. Rechtsexpertise, S. 53 f., Expertise zu Erziehungsvorstellungen,

S. 25 f. 16 Vgl. Zwischenbericht, S. 30, Rechtsexpertise, S. 57 f.

41. Bewertung der Missstände in der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre aus Sicht des Runden Tisches

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(2) Innerhalb der unterschiedlichen Formen der Heimunter-bringung galt die Fürsorgeerziehung als das schärfste Mit-tel, das nur dann eingesetzt werden durfte, wenn alle an-deren Mittel versagten. Das heißt, dass örtliche Erziehungs-hilfen und die Freiwilligen Erziehungshilfen immer Vorranghatten, wenn sie möglich waren. Innerhalb der Heimunter-bringungen gegen den Willen der Eltern wurde die Anord-nung nach § 1666 BGB als „milder“ eingestuft als die Für-sorgeerziehung.17

Nach den Berichten ehemaliger Heimkinder, der Einsicht inAkten und nach der derzeitigen Forschungslage muss aber be-zweifelt werden, dass die Verhältnismäßigkeit stets geprüftwurde und vorlag. Es sind Fälle bekannt, in denen bereits Klein-kinder in Fürsorgeerziehung kamen oder in denen Jugendliche,die erstmalig und unerheblich auffällig wurden, ohne Weiteresin einer der „Endstationen“18 der Fürsorgeerziehung unter -ge bracht wurden. Für die Jugendlichen konnten die Folgenschwerwiegend sein. Möglicherweise wurden sie dabei wegeneines leichten Vergehens oder einer geringen Unangepasstheitals extrem gefährdet oder wie überführte Verbrecher behan-delt.Eine Erklärung hierfür könnte das System der Kostenträger-schaft sein. Dabei konnten kommunale Jugendämter die Kosten-trägerschaft durch die Etikettierung der Kinder und Jugendli-chen als „schwierig“ oder „besonders schwierig“ an das Landes-jugendamt abgeben.19 Eine unverhältnismäßige Unterbringungkonnte also für das kommunale Jugendamt wirtschaftlich in-teressanter erscheinen als eine verhältnismäßige.

Soweit die Wahl eines Heimes oder einer Unterbringungsartnicht verhältnismäßig war oder die Verhältnismäßigkeit garnicht geprüft wurde, liegt also eine Gesetzeswidrigkeit vor.Dort, wo insbesondere fiskalische Überlegungen zu einer un-verhältnismäßigen Unterbringung führten und das Wohlerge-hen der Jugendlichen damit bewusst hinter materielle Interes-sen zurückgestellt wurde, wiegt dieser Verstoß besondersschwer.

Auch die Umstände der Heimeinweisung konnten unverhält-nismäßig sein: • Einige ehemalige Heimkinder berichten, wie sie, völlig über-

raschend und für sie auch unverständlich, von der Polizei„verhaftet“ wurden und – als seien sie Gefangene undmanchmal sogar in Handschellen – in das Fürsorgeheim gebracht wurden. Auch wenn, soweit ein entsprechenderBeschluss vorlag, eine solche Behandlung nicht unbedingtrechtswidrig sein musste, so ist sie zumindest nach heutigenVorstellungen doch als grob unverhältnismäßig zu bewertenund konnte aufgrund dieser Demütigung traumatisierendeWirkung erzeugen.

• Viele ehemalige Heimkinder berichten und wissenschaftlicheForschungen bestätigen, dass sie unter der Vortäuschungfalscher Tatsachen ins Heim „gelockt“ wurden. Teils warendaran die Eltern, teils die Behörden beteiligt. Einige dachten,es sei ein Familienausflug geplant, der dann schließlich imHeim endete, in dem die Betroffenen dann oft jahrelang un-ter schwierigen Bedingungen untergebracht waren. In jedemFall kann eine solche Täuschung erschütternde, traumatisie-rende und nachhaltig prägende Auswirkungen auf das wei-tere Leben haben.

Neben dem Weg ins Heim sind auch die Übergänge zwischenden Heimen – die allein schon wegen des Älterwerdens not-wendig wurden – zu problematisieren. Auch bei diesen Über-gängen wurde die Verhältnismäßigkeit offenbar zu wenig be-rücksichtigt, individuelle Interessen der Kinder und Jugendli-chen spielten auch hierbei eine nur untergeordnete Rolle. Dieschulischen und beruflichen Folgen von Heimwechseln wur-den kaum beachtet. So wird von ehemaligen Heimkindern bei-spielsweise berichtet, dass die in einem Heim angefangeneschulische Ausbildung in dem folgenden Heim nicht fortge-führt werden konnte.

Zusammenfassend lassen sich folgende Beispiele für Regel-und Rechtsverstöße auf dem Weg ins Heim benennen20:

• Der Anlass der Heimeinweisung stand in keinem ange-messenen Verhältnis zur Heimerziehung. Die Einweisungin ein Heim war nur unzureichend begründet bzw. nachrechtsstaatlichen Prinzipien nicht begründbar. Dies kannder Fall gewesen sein, wenn Jugendliche wegen des Be-suchs eines Rockkonzertes, Jungen wegen langer Haareoder Mädchen wegen des Tragens kurzer Röcke als „ge-fährdet“ oder „verwahrlost“ betrachtet und daher in einHeim eingewiesen wurden.

• Bei der Entscheidung über eine Heimeinweisung wurdenPrüfungs- und Begründungspflichten umgangen, etwa imFall der fortgesetzten vorläufigen Fürsorgeerziehung. DieAusnahmemöglichkeiten für die Unterlassung einer An-hörung vor der Heimeinweisung wurden dabei zu weitausgelegt. Infolgedessen wurden die Jugendlichen nichtangehört und eine Überprüfung, ob die Heimeinweisung

17 Rechtsexpertise, S. 58.18 Vgl. Zwischenbericht, S. 17 f.19 Vgl. Zwischenbericht, S. 32.20 Vgl. dazu ausführliche Beispiele im Zwischenbericht S.25 ff.

41. Bewertung der Missstände in der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre aus Sicht des Runden Tisches

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überhaupt noch notwendig und angemessen sei, fandnicht statt. Die Jugendlichen waren rechtlos und hattenkeine Möglichkeit, an der Heimunterbringung etwas zuändern. Sie wurden in den meist geschlossenen Fürsorge-heimen „vergessen“.

• Bei der Unterbringung in einem geschlossenen Heim lagvielfach keine richterliche Entscheidung vor.

• Es gibt Hinweise darauf, dass bei der Anordnung von FEH,für die die Zustimmung der Eltern notwendig war, Druckauf die Eltern ausgeübt wurde und diese der FEH nur zu-stimmten, um einen Sorgerechtsentzug nach § 1666 BGBzu vermeiden.

• Das Sorgerecht der Eltern wurde unzulässig in Teilen aufPfleger oder ganz auf Vormünder übertragen, nur damitdiese dann FEH beantragten.

• Eine geschlossene Unterbringung, die durch den Vormundbeantragt wurde, war ab 1960 nur nach einer Entschei-dung des Vormundschaftsgerichtes zulässig. In der Praxiswurde dies teilweise umgangen.

• Nach der Anordnung einer vorläufigen Fürsorgeerziehungwurde „versäumt“, eine richterliche Entscheidung über dieendgültige FE einzuholen: Die vorläufige FE musste zwarimmer unmittelbar durch den Richter angeordnet werden(§ 67 RJWG und JWG, dort aber Überprüfungspflicht spä-testens nach 6 Monaten); das Gericht prüfte aber nursummarisch, z. B. auf der Grundlage eines Jugendamts -berichts, ob die Voraussetzungen für eine endgültige FEvorlagen oder nicht.

• Bei einer Einweisung in ein Heim wurde nicht das – ent-sprechend dem Anlass und Entwicklungsstand des/der Jugendlichen – geeignete Heim ausgesucht. Die folgendeMaßnahme war nicht verhältnismäßig und setzte das Kindoder den Jugendlichen besonderen Härten oder unange-messenen Behandlungen aus. Die Auswahl erfolgte oftnach rein formalen Kriterien. Manche Jugendliche sindfür relativ banale Auffälligkeiten als Ersteinweisung inein Heim gekommen, bei dem es sich nach seiner eigenenKonzeption um ein Heim für die „Ultima Ratio“ handelte,die nur gewählt werden sollte, wenn alle anderen Maß-nahmen und Einrichtungen vorher nichts bewirkt hatten.

• Missachtung der Kindesinteressen, wenn die Heimunter-bringung sich nicht an den individuellen Interessen desKindes orientierte, sondern kollektive und gesellschaft -liche Interessen im Vordergrund standen.

• Unangemessene Verbringung ins Heim, wenn die „Zufüh-rung“ in das Heim unter unverhältnismäßigen Bedingun-gen stattgefunden hat.

1.2. Durchführung der Heimerziehung

Ehemalige Heimkinder berichten von massiven Gewalttätig-keiten durch das Erziehungspersonal, von Prügeln, rigiden undunmenschlichen Strafen, Arrest, Demütigungen, Kontaktsper-ren, Briefzensur, religiösem Zwang oder erzwungener Arbeit.Es ist unzweifelhaft und auch von der Forschung bestätigt,dass die Praxis in vielen Heimen von autoritären und gewalt-tätigen Methoden geprägt war. Gleichzeitig war in den 50erund 60er Jahren auch die körperliche Züchtigung durch Elternund Lehrer üblich und auch Kinder und Jugendliche außerhalbder Heime wurden zu Arbeiten herangezogen. Dementspre-chend sieht § 1619 BGB die Pflicht des Kindes zu Dienstleis-tungen in Haus und Geschäft der Eltern vor. Die Berichte ehe-maliger Heimkinder und die Ergebnisse der Forschung lassenaber den Schluss zu, dass der Alltag in den Heimen häufigweit über das hinausging, was durch das Erziehungsrecht, diegesellschaftlichen Erziehungsvorstellungen und durch die Er-ziehungsvorstellungen in der Heimerziehung selbst legitimier-bar gewesen wäre. Wo also lagen die Grenzen des Erziehungsrechts und der Er-ziehungsvorstellungen in der Heimerziehung, denen öffentli-che Ersatzerziehung verpflichtet gewesen wäre? Diese Frage wurde ausführlich in den Expertisen zu Rechtsfra-gen und zu Erziehungsvorstellungen beleuchtet und vom Run-den Tisch debattiert. Vor einer Betrachtung, die sich auch rechtlichen Maßstäbenzuwendet, ist zunächst zu klären, welche Grundrechte Kinderund insbesondere Heimkinder überhaupt hatten.

Grundrechte der Heimkinder

Mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes 1949 wurden dieunveräußerlichen Grundrechte des Menschen festgeschrieben,die der Staat zu respektieren und zu schützen hat und die fürihn daher bindend sind. Im Eltern-Kind-Verhältnis sind dasRecht und die Pflicht der Eltern, ihre Kinder zu erziehen, vorstaatlichen Eingriffen geschützt, sofern das Kindeswohl nichtgefährdet wird. Für Heimkinder gilt: Die jeweiligen Erziehungs-berechtigten mussten von Rechts wegen die zur jeweiligenZeit geltenden gesetzlichen Grenzen des Erziehungsrechtseinhalten. Von zentraler Bedeutung war dabei das bis 1957

41. Bewertung der Missstände in der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre aus Sicht des Runden Tisches

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im Bürgerlichen Gesetzbuch verankerte väterliche Züchtigungs-recht, das erst durch das Gesetz zur Ächtung der Gewalt inder Erziehung vom 2. November 2000 endgültig abgeschafftwurde.

Die Heimunterbringung brachte die entsprechende Übertra-gung des Erziehungsrechts mit sich. Zudem galt bis Anfangder 70er-Jahre zwischen Heimträgern und Heimzöglingen dassog. „Besondere Gewaltverhältnis“. Demnach war es den Hei-men erlaubt, die Grundrechte der Zöglinge nicht nur zur Errei-chung der Erziehungsziele, sondern auch zur Sicherung desordnungsgemäßen Betriebs der Einrichtung einzuschränken.Eine gesetzliche Grundlage, die normalerweise für jeden Ein-griff in Grundrechte erforderlich ist, wurde im „besonderenGewaltverhältnis“ nicht verlangt. Dies änderte sich erst 1972,als das Bundesverfassungsgericht klarstellte, dass es unterdem Grundgesetz keine grundrechtsfreien Räume geben kann.

Allerdings standen auch vor 1972 nicht alle Grundrechte derKinder und Jugendlichen zur Disposition. Auch im besonderenGewaltverhältnis mussten die Unantastbarkeit der Menschen-würde (Art. 1 Abs. 1 GG) und das Freiheitsgrundrecht (aus Art.2 Abs. 1 GG) respektiert werden. Zudem galt das Übermaßver-bot, das unverhältnismäßige Eingriffe in die Grundrechte un-tersagt. Maßnahmen, die nicht vom Erziehungszweck gedecktwaren oder im Verhältnis zu ihrem Zweck unangemessen er-scheinen, waren daher schon in den 50er Jahren mit der Ver-fassung nicht zu vereinbaren. Maßnahmen aus den 50er und60er Jahren können also jedenfalls immer dann als Unrechtbewertet werden, wenn sie die Menschenwürde antastetenoder unverhältnismäßig waren.

In den 60er Jahren wurde darüber hinaus auch die Menschen-würde des Kindes und sein Recht auf freie Entfaltung der Per-sönlichkeit aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG zunehmendbetont. In seiner Entscheidung vom 29. Juli 1968 hat dasBVerfG dies für diejenigen Stellen, die Kinder in ihre Obhutnehmen, wie folgt formuliert:

„Diese Verpflichtung des Staates folgt nicht allein aus dem le-gitimen Interesse der staatlichen Gemeinschaft an der Erzie-hung des Nachwuchses (vgl. § 1 JWG), aus sozialstaatlichenErwägungen oder etwa aus allgemeinen Gesichtspunkten deröffentlichen Ordnung; sie ergibt sich in erster Linie daraus,dass das Kind als Grundrechtsträger selbst Anspruch auf denSchutz des Staates hat. Das Kind ist ein Wesen mit eigenerMenschenwürde und dem eigenen Recht auf Entfaltung seinerPersönlichkeit im Sinne der Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG.“

Auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Kindes aus Art.2 Abs. 1 (Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit) i. V. m.Art. 1 Abs. 1 GG (Unantastbarkeit der Menschenwürde) ist da-her ein tauglicher Maßstab, um Unrecht in der Heimerziehungzu identifizieren.

1.2.1. Strafen in der Heimerziehung

Zum Stellenwert von Strafen und einer strafenden Pädagogikin der Heimerziehung ist an die historischen Entwicklungen zuerinnern, die die Erziehungsvorstellungen der 50er und 60erJahre maßgeblich prägten. Neben der Aufgabe der Betreuungvon armen, verwaisten und bedürftigen Kindern wurde derHeimerziehung die Aufgabe der Verwahrung und Disziplinie-rung insbesondere „verwahrloster“ Kinder und Jugendlicherzugewiesen.21 Die Disziplinierung war dabei unweigerlich mitStrafe und Bestrafung verbunden. In der damaligen fachlichen Auseinandersetzung um dieHeimerziehung wurde angenommen, dass Strafe ein zwar pro-blematischer, aber notwendiger Aspekt sei. Die Diskurse warendabei durch religiös-fundamentalistische, medizinisch-psychi-atrische, manchmal auch sozialdarwinistische Anschauungengeprägt. Gemeinsam war ihnen eine starke Orientierung anrestriktiven Vorstellungen von Gehorsam und Ordnung. DasKind kam dabei vor allem als ein allein mit Mängeln behafte-tes Wesen in den Blick, das durch Bestrafung zu disziplinierenund zu konditionieren war.In vielen theologischen Erziehungsvorstellungen galt es, beiden „verwahrlosten“ Jungen und Mädchen der „Sünde“ zu be-gegnen, Demut einzuüben und sie zu einem Leben nach denzehn Geboten anzuhalten.22 Hierfür wurde die Strafe als un-verzichtbares Mittel gesehen.Ein kritischeres und tendenziell ablehnendes Verständnis vonStrafe hatten lediglich reformpädagogische, heilpädagogischeund fortschrittlichere theologische Ansätze, die Strafen alskontraproduktiv ansahen und stärker auf eine respektvolle,positiv zugewandte, anerkennende und therapeutisch orien-tierte Erziehung setzten. Die Disziplinierung sollte eine Selbst-disziplinierung und keine von außen aufgezwungene sein.Diese Vorstellungen gewannen allerdings erst in den 70er Jah-ren an Einfluss und blieben zuvor in der Minderheitenposition.Um eine differenzierte Bewertung der Strafpraxis in der Heim-erziehung vornehmen zu können, wurden am Runden Tisch die

21 Vgl. Zwischenbericht, S. 15.22 Vgl. Expertise zu Erziehungsvorstellungen, S. 6 f.

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gängigen Strafformen der körperlichen Züchtigung, des Ar-rests, des Essensentzugs, der demütigenden Strafen, der Kol-lektivstrafen und der Kontaktsperre und Briefzensur einzelnbetrachtet.

Körperliche Züchtigung

Der Bundesgerichtshof (BGH) gestand bis in die 70er Jahre Er-ziehern und Volksschullehrern und zum Teil auch Schul- undAnstaltsärzten und Kindergärtnerinnen ein gewohnheitsrecht-liches Züchtigungsrecht zu. Nach Ansicht des BGH war diekörperliche Züchtigung nicht nur eine Ultima Ratio, sonderngalt als tradierte und angemessene Reaktion auf ungebührli-ches Verhalten. Diese herrschende Meinung war allerdingsnicht unumstritten, und es gab einige Bundesländer, in denendie Züchtigung per Erlass verboten oder eingeschränkt wurde. Für den Bereich der Heimerziehung war das Züchtigungsrechtnicht bundesrechtlich geregelt. In der uneinheitlichen Rege-lungslage der Länder war die Züchtigung mancherorts verbo-ten (z. B. Hessen), andernorts beschränkt (z. B. auf Jungenüber acht Jahre). Die meisten Länder verzichteten auf eine Regelung. In diesen Fällen wurde das Züchtigungsrecht im jeweiligen Heimvertrag geregelt, mit der behördlichen Heim-einweisung verbunden oder unmittelbar aus dem „BesonderenGewaltverhältnis“ abgeleitet.Das Züchtigungsrecht war jedoch an bestimmte Vorausset-zungen geknüpft:(1) Die züchtigende Person musste per Landesrecht oder Heim-

vertrag zur Züchtigung befugt sein. In der Regel warendies die Heimleiter.

(2) Die Züchtigung musste aus erzieherischen Gründen und imInteresse des Kindes erfolgen. Dabei war umstritten, ob dieZüchtigung auch zulässig war, um die Anstaltsordnung –etwa durch Abschreckung – aufrechtzuerhalten.

(3) Die Züchtigung als wohlverstandene Erziehungsmaßnahmedurfte nicht unverhältnismäßig sein. Allerdings liegen hierzuKommentierungen und Gerichtsentscheidungen vor, diediese Verhältnismäßigkeit nach heutigem Verständnis er-schreckend weit auslegten. Verhältnismäßig konnten sein:Schläge mit dem Stock auf die Hand, mit einem Federball-schläger auf das Gesäß, mit der flachen Hand, mit doppelt

23 Vgl. Rechtsexpertise, S. 66 ff.24 „In einer Entscheidung aus dem Jahr 1954 legt der BGH an das

Züchtigungsrecht des Lehrers strengere Maßstäbe an als in einerEntscheidung zum Züchtigungsrecht eines Erziehers aus dem Jahr1952 und begründet dies u.a. mit den Worten: ‚Was Fürsorgezög-lingen recht sein mag, braucht den Schülern normaler Volksschu-len nicht billig sein‘“ (Rechtsexpertise, S. 69).

zusammengelegter Bügeleisenschnur, mit dem Gummi-knüppel, einem Metallklopfer, mit zusammengelegten Kabelenden und sogar mit einer Gardinenstange.23

Inwieweit diese Regeln, die maßgeblich für Lehrer galten,auch in der Heimerziehung zur Anwendung kamen, ist unklar.Es gibt aber Hinweise, dass die Regeln für Lehrer strenger aus-gelegt wurden als für das Heimpersonal, was möglicherweiseauch mit einer generellen Geringschätzung der Heimzöglingegegenüber „normalen“ Schülern zu tun hatte.24

Mit welcher Nachsicht auch exzessive Prügel in der Recht-sprechung im Kontext der Heimerziehung bewertet wurden,zeigt folgendes Beispiel:

„In der genannten Entscheidung von 1952 war ein Heimzög-ling mit einem gestohlenen Motorrad verbotenerweise zu sei-ner Mutter gefahren. Als er zurückgebracht wurde, schlug derErzieher wahllos mit einem Gummischlauch auf Rücken, Halsund Kopf des Jungen ein. Der BGH machte deutlich, dass ‚sinn-loses, unbeherrschtes Prügeln‘ grundsätzlich nicht zulässig sei,dass hier aber möglicherweise ein Verbotsirrtum vorgelegenhaben könnte. Überprüft werden musste zudem die Einordnungdes Handelns des Erziehers als gefährliche Körperverletzung:Ein Gummischlauch könne strafrechtlich nur als ‚gefährlichesWerkzeug‘ eingestuft werden, wenn er gegen empfindlicheKörperteile eingesetzt würde, und ein ‚rohes‘ Handeln könnedem Erzieher nicht vorgeworfen werden, wenn er in großerErregung gehandelt habe“ (Rechtsexpertise, S. 69 f.).

Diese Entscheidung macht aber auch deutlich, dass die Recht-sprechung bestimmte Formen der Gewalt nicht als rechtmäßig,sondern nur als im Einzelfall entschuldigt eingestuft hat.In der erzieherischen Fachdiskussion zur Heimerziehung wardie Frage der körperlichen Züchtigung ein fortgesetztes undimmer wiederkehrendes Thema. Vertreter reformpädagogischerund heilpädagogischer Ansätze lehnten gemäß ihrer kritischenHaltung gegenüber Strafen jede körperliche Züchtigung kate-gorisch ab, blieben damit aber ebenfalls in der Minderheit.Generell wurde erkannt, dass die körperliche Züchtigung einproblematischer Bereich war. Viele Autoren in Fachzeitschriftenund Lehrbüchern beurteilten die körperliche Züchtigung alskontraproduktiv und lehnten sie daher tendenziell ab. Gleich-zeitig wurde zugestanden, dass eine Züchtigung unter be-stimmten Umständen erzieherisch wertvoll und notwendigsein könne. Als Maßstab für eine ausnahmsweise legitimeZüchtigung galt, dass die Züchtigung in einem für den Zöglingbegreifbaren Zusammenhang stehen, pädagogisch begründbarund nicht übermäßig sein sollte. Die Züchtigungen sollten nurausgewählte Personen durchführen können. Exzessive undwillkürliche Züchtigung wurde fachlich durchweg abgelehnt.

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Neben einem erzieherischen Wert der seltenen, angemessenenund maßvollen Züchtigung wurde aber auch resigniert einge-räumt, dass Züchtigungen aus dem Alltag, der in der Regel vonÜberforderung und geringer Qualifikation des Betreuungsper-sonals geprägt war, kaum wegzudenken waren. Allein schondie Aufrechterhaltung der Anstaltsdisziplin machte aus Sichtder Verantwortlichen gelegentliche körperliche Züchtigungennotwendig.

Die Überforderung der Erzieher wurde in Texten zur Heimer-ziehung konstant angeprangert und als Ursache für maßloseZüchtigungen gesehen. Die Erzieher wurden häufig mit derFeststellung alleingelassen, dass es ein guter Erzieher nichtnötig habe, körperlich zu züchtigen. An der Überforderungund der mangelnden Qualifikation der Erzieher änderte diesjedoch nichts.

Generell galt also ein fachlich begründetes Züchtigungsverbotdas allerdings Ausnahmen zuließ:

„Zwar war körperliche Züchtigung grundsätzlich verboten,Ausnahmen waren jedoch genehmigt und wurden sogar regelmäßig über die zum Landesjugendamt geschickte Straflisteüberprüft. Vor diesem Hintergrund konnten die Heimleiter voneinem Recht auf Züchtigung bei besonders schwerer Wider-setzlichkeit oder ‚Rohheit‘ der Kinder und Jugendlichen aus -gehen. Dabei wurde in manchen Erziehungsheimen die Aus-nahme zur Regel. Die Behörden waren offenbar einverstandendamit (…)“ (Expertise zu Erziehungsvorstellungen, S. 54).

Es ist davon auszugehen, dass die Erzieherinnen und Erzieherin der Praxis von diesem Verbot wussten. Die fachlichen Dis-kurse, die die Frage der körperlichen Züchtigung immer wiedeaufgriffen, wurden auf Ebene der Heimleiter geführt, die gutvernetzt waren und in regem Austausch standen. Die Debat-ten wurden nicht auf einer abstrakten, praxisfernen Ebene geführt, sondern direkt an der Nahtstelle zur Praxis und in derPraxis selbst. Dies zeigt sich u. a. daran, dass sich das Züchti-gungsverbot in damaligen Heimordnungen wiederfand undhäufig Thema in Erzieherbesprechungen war. In Protokollenvon Erzieherbesprechungen, in denen das Züchtigungsverbotbestärkt wurde, finden sich zugleich auch Erläuterungen zuden Ausnahmen. Es ist davon auszugehen, dass dem Erzie-hungspersonal in den Heimen sowohl das grundsätzliche Ver-bot als auch seine alltagspraktischen Relativierungen gut be-kannt waren.

Eine Beurteilung der körperlichen Züchtigung in der Heimer-ziehung der 50er und 60er Jahre muss also differenziert aus-fallen. Disziplinarrechtlich war das Züchtigungsrecht in vielen

Bundesländern durch Erlasse eingeschränkt. Damit war denHeimerziehern die körperliche Züchtigung ganz untersagtoder nur unter bestimmten Bedingungen erlaubt. Bei Verstö-ßen konnten disziplinarrechtliche Schritte eingeleitet werden.Die Strafgerichte sahen demgegenüber bis in die 70er Jahrehinein nicht in jeder Überschreitung des Züchtigungsrechtsder Lehrer und Erzieher einen Grund zur Bestrafung. Es konntealso sein, dass die körperliche Züchtigung dem Erzieher be-rufsrechtlich verboten war, strafrechtlich aber nicht geahndetwurde. Nach den Erziehungsvorstellungen der Heimerziehung,die aus Fachzeitschriften, Handbüchern, Heimordnungen undProtokollen von Erzieherbesprechungen hervorgehen, wurdenkörperliche Züchtigungen tendenziell abgelehnt, in Ausnah-mefällen und unter bestimmten Voraussetzungen aber als legitim erachtet.

Auf die Praxis vieler Heime aber hatte diese kritische Ausei-, nandersetzung keine Auswirkungen. Aus den Berichten ehe-

maliger Heimkinder, aus Forschungsarbeiten und auch auszeitgenössischen Unterlagen wie Strafbüchern oder der Kor-respondenz der Heimleiter zeichnet sich stattdessen deutlich

- ab, dass die Strafpraxis in den Heimen sehr viel umfassender,ausufernder und unreflektierter war, als es die pädagogischenDiskurse und Erlasse anmahnten. Sowohl in der Häufigkeit alsauch in der Intensität waren körperliche Züchtigungen, die inkeiner Hinsicht zu rechtfertigen waren, vielfach an der Tages-ordnung. Dass die körperliche Züchtigung in ihrem tatsächli-chen Ausmaß schon damals kritisch gesehen wurde, zeigt sichdaran, dass sie immer wieder Thema in der Fachdebatte, in derAuseinandersetzung mit der Praxis und in Gerichtsentschei-dungen war.Die Gründe für die maßlosen Züchtigungen müssen u. a. in

r der Überforderung des Erziehungspersonals, die sich aus einerzu geringen Stellenzahl und der geringen Qualifikation ergab,aber vor allem in der rechtlichen und fachlichen Uneindeutig-

- keit gesehen werden. Die fachliche Debatte um die Zulässig-keit von Züchtigungen war von einem konstanten „theoretischeigentlich nicht, aber praktisch eben doch“ geprägt. Es zeigt sich, dass es seinerzeit keinen fachlichen, Orientierunggebenden Kanon gab, an den sich das Erziehungspersonal hättehalten können. Die Signale aus der Rechtsprechung und ausder Fachdebatte waren widersprüchlich und unklar. Offenbarwurde die maßlose Gewalt in der Heimerziehung von der Jus-tiz, der Fachwelt – hier insbesondere den Heimleitern, die vonder Diskrepanz zwischen Anspruch und Praxis Kenntnis habenmussten – und auch den Aufsichtsbehörden, die davor kaumdie Augen verschließen konnten25, toleriert. Diese Praxis, die

25 Vgl. Zwischenbericht, S. 46.

41. Bewertung der Missstände in der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre aus Sicht des Runden Tisches

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auch nach damaligen Maßstäben vielfach als Unrecht zu be-werten ist, hat bei den Betroffenen schwere Unrechtserfah-rungen erzeugt.

Arreststrafen und Essensentzug

Rechtlich fielen sowohl die Arreststrafe als auch der Essen-sentzug unter das Züchtigungsrecht in der Heimerziehung,waren also prinzipiell zulässig. Allerdings galten auch hier dieVorgaben, dass die Maßnahme von einer berechtigten Persondurchgeführt wurde, dass sie einen erzieherischen Zweck ver-folgen musste und dass sie angemessen sein musste. Für dieAngemessenheit gab es Richtwerte, wie etwa durch eine Re-gelung aus dem Landesrecht Preußens von 192626: Der Arrestdurfte nicht aus nichtigen Anlässen durchgeführt werden, erdurfte nicht übermäßig lang dauern (max. 3 Tage), er durftenicht unter menschenunwürdigen Bedingungen stattfinden (z. B. Dunkelhaft, ohne Matratze, ungeheizt) und es musstefür genügend Bewegung im Freien gesorgt werden. Essens -entzug wurde nur bei älteren Jugendlichen und nur unterärztlicher Aufsicht als möglich erachtet.In der fachlichen Debatte lässt sich erkennen, dass der Arrestdurchaus umstritten war. Auch unter den Befürwortern galtenallerdings Grenzen. Demnach sollte der Arrest nicht mit Es-sensentzug kombiniert werden und es sollte eine sinnvolle Beschäftigung ermöglicht werden. Essensentzug wurde alsgesundheitsschädlich abgelehnt. Nimmt man diese rechtlichen und fachlichen Richtwerte zu-sammen, waren also Arrestaufenthalte, die länger als drei Tagedauerten, mit Essensentzug einhergingen, in denen die Mat-ratze entzogen wurde, in denen Lesen oder sonstige Beschäf-tigungen nicht gestattet waren oder die sonst als entwürdi-gend oder gesundheitsschädlich einzustufen waren, rechtlichnicht angemessen und damit unzulässig. Auch hier zeigt sich durch zahlreiche Berichte, Forschungs -arbeiten und Heimakten, dass diese Grenzen häufig deutlichüberschritten wurden. Es sind einige Fälle bekannt, in denender Arrest mehrere Tage bis Wochen dauerte, bei denen demZögling tagsüber die Matratze entzogen wurde, bei denen Bü-cher u. Ä. verboten waren, bei denen hygienisch unzumutbareBedingungen herrschten oder die mit Essensentzug kombiniert

26 Rechtsexpertise, S. 70.27 Allerdings wiesen schon damals tiefenpsychologisch und heilpäda-

gogisch orientierte Fachleute darauf hin, dass das Bettnässen alsAusdruck von Hospitalisierung gesehen werden muss und nurdurch eine annehmende und liebende Zuwendung zu heilen ist(vgl. Expertise zu Erziehungsvorstellungen, S. 30).

wurden. Ebenso liegen zahlreiche Berichte vor, in denen vonhäufigem Essensentzug gerade bei jüngeren Kindern und Ju-gendlichen berichtet wird. Auch diese maßlosen Überschrei-tungen des damals Erlaubten und fachlich Gerechtfertigtenmussten den Verantwortlichen bewusst sein. Die Bewertungschließt sich demnach der Bewertung körperlicher Züchti-gung an.

Demütigende Strafen

Sehr häufig wird von demütigenden und entwürdigendenStrafen berichtet. Die Vielfalt der hierunter zu zählenden Stra-fen ist sehr groß und oft drangen diese Behandlungen tief indie Intimsphäre der Kinder und Jugendlichen ein. Als sehr ein-dringliche und leider auch besonders oft berichtete Beispielekönnen hier der Umgang mit „Bettnässern“ und eine besondersentwürdigende Form des Essenszwangs angeführt werden.„Bettnässern“ wurde offenbar unterstellt, dass sie absichtlichoder mutwillig, zumindest aber kontrolliert, einnässen würden.Es bestand die Vorstellung, dass sie durch entsprechende Sank-tionen zu konditionieren seien.27 Hierfür wurden sie z. B. ge-schlagen, mit dem Gesicht in die feuchten Laken gedrückt, mit dem nassen Betttuch umhangen, vor den anderen Kindernbloßgestellt oder sogar mit demütigenden Schildern („Ich binein Bettnässer“) angeprangert.Der Zwang zum Essen ging in manchen Heimen so weit, dassden Kindern mit körperlicher Gewalt das Essen verabreichtwurde. Erbrachen sie das so Aufgezwungene wieder, wurdensie – ebenfalls mit körperlicher Gewalt – dazu gezwungen, dasErbrochene aufzuessen. Einige berichten von einem stunden-langen und demütigenden Kampf mit den Erzieherinnen unddem eigenen Erbrochenen.Neben diesen individuellen Strafen müssen auch diejenigenVorkommnisse als demütigend und entwürdigend gelten, indenen die Kinder und Jugendlichen gegen ihren Willen gegenandere Kinder instrumentalisiert wurden.Auch schon in den 50er und 60er Jahren und auch im „Beson-deren Gewaltverhältnis“ galt die Unantastbarkeit der Men-schenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG, sodass hier deutlich fest-zustellen ist, dass entwürdigende und demütigende Strafenschon damals nicht verfassungsgemäß waren.Auch in der Fachdebatte zur Heimerziehung bestand breiterKonsens, dass demütigende Strafen zu unterlassen sind.Damit können diese Strafen ohne Weiteres als damals schonfachlich nicht legitimiert und als verfassungswidriges Unrechtbewertet werden.

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Kollektivstrafen

Als Kollektivstrafen sind solche Strafen zu bezeichnen, bei denen für das vermeintliche Vergehen eines Einzelnen die gesamte Gruppe bestraft wurde oder die Gruppe eingesetztwurde, ein Vergehen zu ahnden. Kollektivstrafen hatten in derHeimerziehung die Absicht, den Einzelnen durch einen entste-henden Gruppendruck zu disziplinieren. Dabei kam es zu hef-tigen Übergriffen auf einzelne Jugendliche, die der Gruppeund ihren gewalttätigen und demütigenden Angriffen schutz-los ausgeliefert waren. Im Fachdiskurs der Heimerziehung be-stand Einigkeit darüber, dass Kollektivstrafen fachlich nichtangemessen seien und unterbleiben sollten:

„Für die Berufspraxis folgert daraus, dass sich der Sinn derStrafe nur erfüllt, wenn sehr dosiert, sehr individuell und si-tuationsgebunden gestraft wird. Die Bedingungen in der Schule,im Kindergarten, im Hort und im Heim sind ganz andere als inder Familie. Hier wirkt sich positiv aus, was anderswo ganzvermieden werden muss, wie z. B. Körperstrafe, Isolierung. Be-stimmte Strafarten, wie z. B. Essensentzug können nicht ohneweiteres angewendet werden. Ehrenstrafen (Anprangerung)sollte es nicht geben. Auch mit Kollektivstrafen wird das We-sen der Erziehungsstrafe entstellt“ (Zorell 1963, S. 50, zit. n.Expertise zu Erziehungsvorstellungen, S. 27).

Dies entspricht auch der rechtlichen Lage, bei der die Grenzendes Erziehungsrechts mit Blick auf das konkret betroffene Kindund nicht auf ein Kollektiv in den Blick genommen werden.

Es existieren Berichte – auch von damaligen Erziehern –, dassKollektivstrafen entgegen den fachlichen Forderungen gezieltzur Steuerung der Gruppe und einzelner Jugendlicher einge-setzt wurden. Man muss also auch in dieser Frage von einerPraxis ausgehen, die wider besseres Wissen Leid und Unrechterzeugte und zuließ.

Kontaktsperren und Briefzensur

Kontaktsperren und Briefzensur wurden in vielen Heimen alsStrafen, in anderen aber auch generell praktiziert und galtenals selbstverständlicher Bestandteil des Erziehungsrechts. Inden 50er und 60er Jahren gab es keine gesetzlichen Regelun-gen für die Durchführung und die Grenzen der Kontaktsperren.Es mussten aber nach den Regeln für das „besondere Gewalt-verhältnis“ zumindest die Verhältnismäßigkeit und der erzie-herische Zweck gewahrt werden. Dies gebietet z. B. der Schutzdes Briefgeheimnisses aus Art. 10 GG.

Auch wenn Kontaktsperren und Briefzensur nicht pauschal alsUnrecht nach damaligen Rechtsmaßstäben bewertet werdenkönnen, müssen sie angesichts der oft rigorosen Praxis undihrer massiven Auswirkungen sehr kritisch bewertet werden:Häufig wird berichtet, dass durch die Kontaktsperre jeglicherKontakt zu Eltern und Verwandten über Monate hinweg un-terbunden wurde und schließlich ganz abbrach. Nicht seltenwurden Geschwister, die im selben Heim lebten, systematischvoneinander ferngehalten. In diesen Fällen kennen die ehema-ligen Heimkinder bis heute ihre Familien nicht und hattenauch nie Gelegenheit, Kontakt zu ihnen aufzunehmen – insbe-sondere wenn nicht einmal der eigene Familienname bekanntwar. Oft war es ihnen erst durch die jetzige Aufarbeitung unddie Akteneinsicht möglich zu erfahren, dass es zahlreiche Kon- taktversuche vonseiten der Familie gab, die aber nicht zuge-lassen wurden. Die Option der Rückkehr in die Familie wurdedurch die konsequenten Kontaktsperren oft von vornhereinausgeschlossen.Eine weitere Funktion insbesondere der Briefzensur bestandoffenbar darin, Problemanzeigen und Beschwerden der Kinderund Jugendlichen nicht nach außen dringen zu lassen. Diestrug dazu bei, dass die Kinder und Jugendlichen dem Heimnoch stärker ausgeliefert waren als ohnehin schon. Mit derBriefzensur wurde eine Beschwerde nach außen unmöglichgemacht. Wenn in diesen Fällen den Beschwerden nicht we-nigstens intern nachgegangen worden ist, um etwaige Miss-stände abzustellen, dann sind solche zurückgehaltenen Briefeals Indiz für Pflichtverletzungen gegenüber dem betroffenenHeimkind zu werten. Auch vor dem Hintergrund der damali-gen Zeit wird die Briefzensur nicht mit Gründen wie der Si-cherung des Anstalts- oder Erziehungszwecks begründbarsein. Vor diesem Hintergrund ist jedenfalls eine pauschaleZensurpraxis als Eingriff in die Persönlichkeitsrechte zu be-werten.

1.2.2. Sexuelle Gewalt

Bereits im Zwischenbericht des Runden Tisches wurde ausge-führt:

„Berichtet werden sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewaltunterschiedlichster Formen und unterschiedlicher Dauer bishin zu schwerer und sich jahrelang wiederholender Vergewal-tigung. Als Täter (überwiegend Männer) werden vor allem Er-zieher, Heimleiter und Geistliche, aber auch heimexterne Per-sonen wie Ärzte, Landwirte oder Personen in Privathaushalten,an die die Jugendlichen als Arbeitskräfte ‚ausgeliehen‘ wur-den, benannt.“ (Zwischenbericht, S. 12).

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Zweifellos besteht hier eine Verletzung der sexuellen Selbst-bestimmung, die sich aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art.1 Abs. 1 GG ergibt. Damals wie heute stellt sexuelle Gewalteinen schweren Straftatbestand dar. Da das Thema der Sexua-lität und der Umgang mit sexueller Gewalt in Institutionen ta-buisiert und verschwiegen wurden, fand hierzu kein fachlicherDiskurs statt. Diese institutionelle und gesamtgesellschaftlicheTabuisierung dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, Fällevon sexueller Gewalt verheimlichen zu können und eine Auf-klärung zu verhindern. Es gibt Hinweise darauf, dass Erziehervon solchen Übergriffen wussten und dass sie ein Unrechtsbe-wusstsein und auch ein Wissen über sexuelle Übergriffe inner-halb der Gruppe der Jugendlichen hatten. Umso erschüttern-der ist es festzustellen, dass oft nichts gegen diese Übergriffeunternommen wurde.Wie die Berichte ehemaliger Heimkinder und die wissen-schaftliche Forschung zeigen, hat sexuelle Gewalt eine tieftraumatisierende Wirkung und beeinflusst das Leben der Betroffenen nachhaltig und tiefgreifend (siehe hierzu auchKa pitel 1.4.).Etwa ein Drittel der Betroffenen, die sich an die Infostelle desRunden Tisches gewandt haben, berichtet von sexuellen Über-griffen unterschiedlichster Art und erwartet eine auf diese Erfahrungen bezogene Lösung. Die Bundesregierung hat zumThema des sexuellen Missbrauchs – auch in Institutionen – imApril 2010 einen Runden Tisch eingerichtet, der über den Um-gang mit dem Thema berät. Um dieser Arbeit nicht vorzugrei-fen, werden hier keine spezifischen Vorschläge zu dieser be-sonderen Problematik unterbreitet. Um jedoch sicherzustellen,dass eine einheitliche Lösung für die von sexuellem Missbrauchbetroffenen Menschen erreicht wird, sind die besonderen Er-fahrungen der ehemaligen Heimkinder am Runden Tisch ge-gen sexuellen Missbrauch zu berücksichtigen.

1.2.3. Religiöser Zwang

In konfessionellen Heimen aber auch in staatlichen Einrich-tungen war Religion und die Ausübung religiöser Praktiken einfester Bestandteil des Heimalltags. In vielen Einrichtungen, indenen mehrmals täglich gebetet und regelmäßig Gottesdienstegefeiert wurden, war die Religionsausübung nicht immer frei-willig. Die Kinder und Jugendlichen wurden zur Teilnahme anden Riten vielmehr genötigt bzw. gezwungen. Sofern Kinder und Jugendliche zur Ausübung einer Religiongezwungen wurden, die nicht die ihre war, verstieß dies auchdamals schon gegen die religiöse Selbstbestimmung nach Art.4 Absatz 1 GG. Näheres ist im bis heute geltenden Gesetz überdie religiöse Kindererziehung vom 15. Juli 1921 geregelt:

Bereits ab Vollendung des 10. Lebensjahres ist das Kind zu hö-ren, wenn es in einem anderen Bekenntnis als bisher erzogenwerden soll. Ab Vollendung des 12. Lebensjahres darf ein Kindnicht mehr gegen seinen Willen in einem anderen Bekenntnisals bisher erzogen werden. Ab Vollendung des 14. Lebensjahreswird in Deutschland eine uneingeschränkte Religionsmündig-keit erworben. Die Religionsmündigkeit beinhaltet sowohl dasRecht, aus der bisherigen Religionsgemeinschaft auszutreten,als auch das Recht, sich einer anderen Religionsgemeinschaftanzuschließen. Im Rahmen der eigenen Konfession rechtfer-tigte das Erziehungsrecht also eine Anhaltung zur Religions-ausübung bis zum 14. Lebensjahr. Ältere Jugendliche hättensich frei entscheiden können. In der (theologisch geprägten)fachlichen Debatte war auch der Aspekt der Religionsausübungumstritten. Einige Autoren mahnten an, dass die Teilnahme anreligiösen Riten freiwillig sein sollte. Diese Forderung weistdarauf hin, dass die Praxis vielerorts anders aussah. Auch wenn der Zwang zur Religionsausübung bei Kindern un-ter 14 Jahren nicht unbedingt rechtlich bedenklich war, so hater doch bei vielen Kindern und auch Jugendlichen oft bleibendeÄngste und eine tiefe Abneigung gegenüber der Kirche verur-sacht. Dies wird umso verständlicher, wenn man berücksich-tigt, dass sich die religiöse Erziehung oft einschüchternderund beängstigender Vorstellungen von „Sünde“ und „Buße“oder des Richteramtes eines strafenden Gottes bediente. DieseVorstellung, dass in den Kindern die Sünde stecke, die ihnenauszutreiben sei, führte zu Abwertung und Misshandlung.

1.2.4. Einsatz von Medikamenten/Medikamentenversuche

Ehemalige Heimkinder berichteten, dass sie im Heim Psycho-pharmaka einnehmen mussten und drangen darauf, diese Pro-blematik im Rahmen des Runden Tisches zu behandeln. Trotzintensiver Bemühungen konnten dazu jedoch nur begrenzteErkenntnisse gewonnen werden. Hier ist darauf hinzuweisen,dass der Runde Tisch von sich aus keine Forschung betreibenkann und auf die Arbeit der Wissenschaft angewiesen ist. Be-richte ehemaliger Heimkinder weisen darauf hin, dass der Me-dikamentengabe oft keine medizinische Indikation zugrundelag.Generell ist zu der Thematik zu sagen, dass Psychopharmakain den 50er und 60er Jahren verstärkt entwickelt wurden undim klinischen Alltag noch erprobt werden mussten. Dabei tra-ten massive und zum Teil dramatische Nebenwirkungen auf,die zumindest aus heutiger Sicht den Einsatz im klinischen All-tag und insbesondere an Kindern und Jugendlichen als höchstbedenklich erscheinen lassen. Einige dieser Medikamente

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wurden nach kurzer Erprobung wegen der Nebenwirkungenwieder vom Markt genommen. Auch die Kinder- und Jugend-psychiatrie orientierte sich in dieser Zeit stark am Begriff der„Verwahrlosung“. So wurde bei den Diagnosen oft nicht ge-fragt, ob die psychische Gesundheit des jungen Menschen be-einträchtigt sei, sondern er wurde nur als Störer gesehen. Zielder Behandlung, etwa durch Medikamentenvergabe, war da-her allzu häufig nicht, den Kindern und Jugendlichen ein Ge-nesen und gesundes Aufwachsen zu ermöglichen, sondern sieruhigzustellen.

Berichte ehemaliger Heimkinder erwähnen, dass das Verabrei-chen von Psychopharmaka in manchen Heimen keine Ausnah -me war. Dass dies individuell und auf jugend-psychiatrischeoder ärztliche Anordnung hin geschah, kann angenommenwerden. Hierfür gibt es für die 60er Jahre auch Hinweise ausder Literatur.28 Aus den Berichten der ehemaligen Heimkindergeht meist nicht hervor, welche Präparate mit welchem Zieleingesetzt wurden und ob die Gabe individuell notwendig odergar angemessen war. Die Betroffenen wissen meist nur, dassihnen „etwas“ gegeben wurde. Auch in Akten und in wissen-schaftlichen Arbeiten finden sich bislang keine konkreten Hin-weise; mit einer Ausnahme:Für ein Heim konnte nachgewiesen werden, dass ohne Einwil-ligung der Kinder und deren Personensorgeberechtigten undtrotz anfänglicher Bedenken des Landesjugendamtes im Jahr1966 eine mehrwöchige Versuchsreihe mit sedierenden Medi-kamenten (Truxal) durchgeführt wurde. Unter den gegebenenUmständen und der Vorgehensweise der Psychiater und derHeimleitung muss dieser Vorgang als ethisch und rechtlichhöchst fragwürdig gelten.29

Wenn es im Rahmen der Heimerziehung zu generellen undkollektiven Behandlungen bzw. Sedierungen gekommen ist,die weniger den Kindern und Jugendlichen als der Disziplin im Heimalltag oder gar der Erforschung von Medikamentenzuträglich waren, ist dies als Missbrauch zu beurteilen und erfüllt ggf. den Tatbestand der (schweren) Körperverletzung –auch nach damaligen Maßstäben. Ob und in welchem Umfang eine solche Praxis vorkam, kannjedoch so viele Jahre später schwer beurteilt werden. Der Me-dikamenteneinsatz in der Heimerziehung, das Zusammenwir-ken von Heimerziehung und Psychiatrie und die Beteiligungvon Ärzten an solchen Versuchen sind für die 50er und 60erJahre noch kaum erforscht und bedürfen der weiteren Aufar-beitung.

1.2.5. Arbeit und Arbeitszwang

Im Zwischenbericht des Runden Tisches wurde das Thema derArbeit in Heimen bereits aufgegriffen.30 Dabei wird deutlich,dass es sehr unterschiedliche Formen der Arbeit gab. Im We-sentlichen ist zu unterscheiden in Arbeit (a) als Beteiligung amHaushalt bzw. am Anstaltsleben; (b) als Disziplinierungsmaß-nahme bei Pflichtverstößen; (c) als internes Lehr- oder Arbeits-verhältnis; (d) als externes Lehr- oder Arbeitsverhältnis. DieArbeit konnte in der Regel nicht verweigert werden und wurdevon den Heimkindern als Zwang erlebt. Für eine Beurteilungder Arbeitseinsätze ist zu fragen, ob es sich um „Zwangsar-beit“ im juristischen Sinn gehandelt hat und ob und in wel-cher Form Sozialversicherungspflicht bestand oder hätte bestehen müssen.

„Zwangsarbeit“ oder „erzieherische Maßnahme“?

Es stellt sich die Frage, ob es sich bei den Arbeitseinsätzen vonHeimkindern in den 50er und 60er Jahren um einen Verstoßgegen das Verbot von Arbeitszwang und Zwangsarbeit (Artikel12 Absatz 2 und 3 GG) handeln könnte. Das Bundesverfas-sungsgericht führt in einer Entscheidung vom 13. Januar 1987hierzu aus:

„Artikel 12 Absatz 2 und 3 GG wird maßgeblich bestimmt von den Begriffen ‚Zwang zu einer bestimmten Arbeit‘ und‚Zwangsarbeit‘. Deren normative Bedeutung und Tragweitelässt sich indessen nicht allein vom gängigen Wortsinn her er-fassen; sie zu ergründen verlangt vielmehr einen Blick auf dasrechtliche und historische Umfeld der Entstehung der Verfas-sungsnormen sowie auf ihre Zielrichtung, wie sie sich in denBeratungen darstellte und wie sie schließlich im Normzusam-menhang ihren Ausdruck fand. Erst aufgrund einer solchenGesamtbetrachtung lässt sich der Sinngehalt dieser Verfas-sungsbestimmungen feststellen.“ (BVerfGE 74, 102, 116).

28 Vgl. Uwe Kaminsky: „Die Verbreiterung der ‚pädagogischen An-griffsfläche‘ – eine medizinisch-psychologische Untersuchung inder rheinischen öffentlichen Erziehung 1966“, in: Andreas Henkel-mann/Uwe Kaminsky/Judith Pierlings/Thomas Swiderek/Sarah Ba-nach (Hg.): Verspätete Modernisierung. Öffentliche Erziehung imRheinland – Geschichte der Heimerziehung in Verantwortung desLandesjugendamtes (1945 – 1972), Essen 2010, S. 485 – 494.

29 Ebenda.30 Zwischenbericht S. 21 f.

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Dem Verfassungsgeber kam es mit der Schaffung des Artikels12 Absatz 2 und 3 GG maßgeblich darauf an, das der NS-Zeiteigentümliche Konzept der Zwangsarbeit zur gezielten Tötung,zum Abpressen von höchsten Gewinnen im Konzerninteresseund die damit einhergehende Herabwürdigung der Person si-cher auszuschließen. Mit einer rein isolierten Betrachtung derBegrifflichkeit unter dem Blickpunkt des nationalsozialisti-schen Systems kann die im Rahmen der Heimerziehung ge-leistete Arbeit nicht als vergleichbare Zwangsarbeit angese-hen werden. Deshalb hält der Zwischenbericht fest:

„Bei einigen der Arbeiten in Heimen wurden mögliche gesund-heitliche Schädigungen vernachlässigt. Ziel war aber keines-falls ein der Zwangsarbeit der NS-Zeit entsprechendes Kon-zept der gezielten Existenzvernichtung durch härteste körper-liche Arbeit. Auch aus diesem Grunde kann der in Deutschlandhistorisch besetzte Begriff der ‚Zwangsarbeit‘ nicht verwendetwerden – auch wenn Kinder und Jugendliche zur Arbeit ge-zwungen wurden und auch wenn sie dies als ‚Zwangsarbeit‘empfunden haben.“ (Zwischenbericht, S. 21).

Allerdings führt das Bundesverfassungsgericht in der genann-ten Entscheidung weiter aus:

„Wo die von der Verfassung gezogene Grenze des Verbots er-zwungener Arbeit im Sinne von Artikel 12 Absatz 2 und 3 GGverläuft, lässt sich danach nur fallbezogen feststellen. Dabeigilt es im Auge zu behalten, dass Artikel 12 Absatz 2 und 3 GGals Ausdruck bewusster Abkehr von Methoden, die die Personherabwürdigen und für totalitäre Herrschaftssysteme kenn-zeichnend sind, in enger Beziehung steht zur verfassungs-rechtlichen Gewährleistung der Achtung der Menschenwürde,auf deren Schutz alle staatliche Gewalt verpflichtet ist (Artikel1 Absatz 1 Satz 2, 79 Absatz 3 GG). Gleichermaßen wird aberauch zu beachten sein, dass der Verfassungsgeber darüber hi-naus schon jede Art zwangsweiser Heranziehung untersagenwollte, die auch nur im Ansatz die Gefahr begründet auszu-ufern, missbraucht zu werden, und so in der Praxis zu einerVerletzung der Menschenwürde führen könnte.“ (BVerfGE 74,102, 120).

Der vom Bundesverfassungsgericht geforderte Fallbezug erfor-dert eine Betrachtung der individuellen Umstände. Nicht außerAcht gelassen werden können dabei die zur maßgeblichen Zeitin den 50er und 60er Jahren geltenden Wertmaßstäbe, die Er-ziehungsvorstellungen und die sonstigen Arbeitsbedingungen. Hier ist zunächst festzuhalten, dass die Arbeit in der Heimer-ziehung stets auch pädagogisch begründet wurde. Sie wurdein vielen Heimen und der rechtswissenschaftlichen Literatursogar als wesentliches und zentrales Erziehungsmittel angese-hen. Aufgrund vieler Berichte ehemaliger Heimkinder sowie

aufgrund vorliegender Forschungsergebnisse, ist allerdings da-von auszugehen, dass in einer großen Zahl von Heimen Arbeitabverlangt wurde, die nicht von einem Erziehungszweck ge-rechtfertigt war. Das war Unrecht.Dabei vermischte sich die erzieherische Absicht mit der Not-wendigkeit, die Heime zu finanzieren bzw. einen Eigenbedarfan Nahrungsmitteln zu decken. Erzieherische Absichten undwirtschaftliche Interessen waren also eng miteinander ver-flochten. Welcher der Aspekte in welchem Heim letztlichüberwog, lässt sich kaum sagen.

Für jede Art von verpflichtender Arbeit musste allerdings dieVerhältnismäßigkeit gewahrt werden. Bei der Beurteilung die-ser Verhältnismäßigkeit ist einerseits zu berücksichtigen, dassKinder in den 50er und 60er Jahren auch in ihren Herkunfts-familien häufig zu Arbeitsleistungen herangezogen wurden,etwa in der Landwirtschaft oder in Familienbetrieben, dasssich also die Vorstellung von dem, was angemessen und üblichist, auf diesem Gebiet verschoben hat. Andererseits war auchschon in den 50er und 60er Jahren anerkannt, dass eine Ar-beitspflicht in der Familie unverhältnismäßig sein konnte:Beuteten die Eltern ihre Kinder in einer Weise wirtschaftlichaus, dass der Schulbesuch darunter litt, wurde dies als Miss-brauch des Sorgerechts i. S. d. § 1666 Abs. 1 BGB gewertet.Da auch im Rahmen der Heimerziehung die Pflicht bestand,für eine angemessene Schul- und Berufsausbildung zu sorgen,müssen daher jedenfalls Arbeitseinsätze, die eine solche Qua-lifizierung der Heimkinder verhinderten, klar als nach dama -ligem Recht unverhältnismäßig gewertet werden. Weiterge-hende Maßstäbe lassen sich der erwähnten Entscheidung desBundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1987 entnehmen.Danach umfasst das Verbot der Zwangsarbeit aus Art. 12 Abs.2 und 3 GG unter allen Umständen Arbeitspflichten, die dieMenschenwürde verletzen sowie solche, die „ungerecht“, „be-drückend“, eine „vermeidbare Härte“, „unnötig beschwerlich“oder „in gewisser Weise schikanös“ sind.

Für eine Klärung des Sachverhalts ist eine Prüfung im Einzel-fall erforderlich. Ehemalige Heimkinder berichten und For-schungsergebnisse bestätigen dies, dass es in zahlreichen Hei-men – sowohl für Jungen als auch für Mädchen – in allenBundesländern einen harten Arbeitszwang gegeben hat.Die gesellschaftspolitische Bewertung des Runden Tisches,dass die Arbeit in Heimen der 50er und 60er Jahre nicht mitder auf Vernichtung angelegten oder die Vernichtung bewusstin Kauf nehmenden Zwangsarbeit im nationalsozialistischenRegime gleichzusetzen ist und dass daher der historisch starkbesetzte Begriff der „Zwangsarbeit“ in diesem Zusammenhangungeeignet ist, bleibt unabhängig von einer juristischen Be-wertung bestehen.

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Sozialversicherungspflichtigkeit der Arbeitsverhältnisse

Ob die Arbeit der Heimkinder sozialversicherungspflichtig war,ist maßgeblich von ihrer Ausgestaltung abhängig. Dabei mussbeachtet werden, dass Zwangsarbeit im Sinne des Art. 12 Abs.3 GG nicht sozialversicherungspflichtig ist. Umgekehrt kannein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnisnicht als Zwangsarbeit eingestuft werden, weil die Sozialver-sicherungspflicht gerade ein frei vereinbartes Arbeitsverhält-nis voraussetzt.

Arbeitsverhältnisse außerhalb des Heims

Selbst wenn die Kinder und Jugendlichen außerhalb des Heimszur Arbeit eingesetzt wurden, so wurde nicht automatisch voneinem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisausgegangen. Wurde allerdings ein individueller Ausbildungs-bzw. Arbeitsvertrag abgeschlossen, wurde in der Regel eineSozialversicherungspflicht angenommen. Dabei war ohne Be-lang, ob der Ausbildungs- oder Arbeitsvertrag von dem Jugend-lichen selbst oder von der Fürsorgeerziehungsbehörde in sei-nem Namen abgeschlossen wurde. Wurde der Arbeitsvertraggegen den Willen des Jugendlichen geschlossen, so war er nachder herrschenden Willenstheorie dennoch „frei“ zustande ge-kommen, weil der Wille des Erziehungsrechts-Inhabers (hierdie Eltern oder die Fürsorgeerziehungsbehörde) den Willen desJugendlichen ersetzte (§ 69 Abs. 4 JWG, vor 1961 § 70 Abs. 3RJWG); für Arbeitsverträge, die für länger als ein Jahr geschlos-sen wurden, bedurfte die Fürsorgeerziehungsbehörde der Ge-nehmigung des Vormundschaftsgerichts, wenn der frühere ge-setzliche Vertreter ein Vormund war (§ 1822 Nr. 6, 7 BGB, str.).Ein solches „freies“ Arbeitsverhältnis ist aber aus heutiger Sichtunter Umständen als Verletzung des Allgemeinen Persönlich-keitsrechts oder der Berufsfreiheit des Jugendlichen zu wer-ten, weil dessen Interessen nicht ermittelt und berücksichtigtwurden. Während es in den 50er Jahren noch undenkbarschien, den (vielfach fast volljährigen) Jugendlichen die Ent-scheidung über ihre Berufswahl selbst zu überlassen, wurdenschon in den späten 60er Jahren Vorwürfe gegen die Entmün-digung der Heimkinder erhoben und eine Verletzung der Be-rufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) angenommen. Im Übrigen warseit den 50er Jahren anerkannt, dass bei der Auswahl einerAusbildung oder Beschäftigung für einen Jugendlichen dessenEignung und die Wirkung auf das spätere Berufsleben zu be-rücksichtigen waren.

Arbeitsverhältnisse im Heim

Auch innerhalb des Heims konnten vertragliche Arbeitsver-hältnisse bestehen, die dann sozialversicherungspflichtig wa-ren. So entschied das BSG im Jahr 1963, dass ein vertraglichvereinbartes und in die Handwerksrolle eingetragenes Ausbil-dungsverhältnis im Heim wie ein reguläres Ausbildungsver-hältnis zu behandeln und somit sozialversicherungspflichtigsei. Noch weitergehend wurde in den 60er-Jahren von einzel-nen Autoren gefordert, die im Heim eingesetzten Zöglingegrundsätzlich wie Arbeitnehmer zu behandeln und also auchbei der Sozialversicherung anzumelden. Eine Ausnahme solltenur für leichte Arbeiten gelten, die nicht als Erwerbs- oderAusbildungsverhältnis qualifiziert werden konnten, also insbe-sondere für die Mithilfe im Haushalt. Begründet wurde dieseAuffassung u. a. damit, dass die Arbeit innerhalb des Heims inder Regel auf einen wirtschaftlichen Erfolg ausgerichtet warund insofern den Arbeitsverhältnissen außerhalb des Heimsgleichzusetzen war. Diese Auffassung setzte sich allerdingsnicht durch. Im Widerspruch zur tatsächlichen Praxis gingman in den 50er Jahren davon aus, dass die Arbeit im Heimals erzieherische Maßnahme, nicht als vertraglich vereinbartesArbeitsverhältnis zu qualifizieren sei. Eine Sozialversiche-rungspflicht schied danach aus. Diese Ansicht wurde im Jahr1975 vom BSG bestätigt. Auch in der heutigen Rechtspre-chung und Literatur ist nach wie vor streitig, unter welchenUmständen ein Arbeitsverhältnis innerhalb eines Zwangsver-hältnisses als sozialversicherungspflichtig anerkannt werdenkann. In der Rechtsprechung zu den sogenannten „Ghettoren-ten“ hat das BSG inzwischen klargestellt, dass auch in einemgenerellen Zwangskontext freie Arbeitsverhältnisse möglichsind. Sie können dann angenommen werden, wenn der Arbeit-nehmer sie unter den gegebenen Umständen „freiwillig“ auf-genommen hat und wenn sie zumindest minimal entlohntwurden. Streitig ist aber bis heute, unter welchen Bedingun-gen man von einer „Freiwilligkeit“ ausgehen kann, wenn dieallgemeinen Lebensbedingungen von Zwang geprägt sind. Hierkönnen die Maßstäbe aus der Ghettorenten-Rechtsprechungnicht ohne Weiteres übernommen werden, weil die Handlungs-spielräume und Bedrohungen der Ghettobewohner unter na-tionalsozialistischer Herrschaft nicht dieselben waren wie dieder Fürsorgezöglinge in westdeutschen Heimen der Nachkriegs-jahre. Wenn allerdings nicht einmal für die wirtschaftlicheAusbeutung in einem Ghetto auf das Merkmal der Freiwillig-keit verzichtet wird, wenn es um die Anerkennung von Ren-tenzeiten geht, so wird man an die wirtschaftliche Ausnut-zung der Arbeitskraft der Fürsorgezöglinge keine leichterenBedingungen stellen können.

41. Bewertung der Missstände in der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre aus Sicht des Runden Tisches

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Die Rolle von externen Firmen und Betrieben

Im System der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre war –ausgehend von den Notzeiten Ende der 40er , Anfang der 50erJahre – eine anteilige Eigenfinanzierung der Heime gängigePraxis. Die geringen Tagessätze der öffentlichen Jugendhilfewaren nicht ausreichend, um den Heimbetrieb aufrechtzuer-halten. Diese – aus heutiger Sicht sehr bedenkliche – „Misch-finanzierung“ war üblich, bekannt und wurde auch von denöffentlichen Trägern gefordert und durch niedrige Tagessätzeerzwungen. Der Arbeit in Heimen kam somit auch die Funktionzu, die Heime selbst zu finanzieren. Dabei wurden auch Arbei-ten für externe Firmen und Betriebe (auch landwirtschaftlicheKleinbetriebe) durchgeführt. Diese Arbeit wurde teilweise inden Heimen und teilweise in den Betrieben erbracht. Wieder-holt kam für diese Firmen und Betriebe in den letzten Jahrender Verdacht der unangemessenen Bereicherung an der Arbeitder Heimkinder auf.In den Fällen, in denen Erkenntnisse über die wirtschaftlichenBeziehungen zwischen Heimen und Betrieben vorliegen, zeich-net sich jedoch ab, dass die externen Firmen geringe Stunden-löhne (oder Sachleistungen, z. B. Kartoffeln und andere Nah-rungsmittel) an das Heim abgeführt haben und dass dannwiederum das Heim diese Gelder einbehalten oder nur zu ge-ringen Teilen an die Jugendlichen weitergegeben hat. Der fi-nanzielle Vorteil lag also auch hier bei den Heimen bzw. deröffentlichen Hand und verweist auf die damals übliche öffent-liche Unterfinanzierung des Heimbetriebs.Bislang liegt noch zu wenig gesichertes Wissen vor, um eineendgültige Bewertung über das Verhältnis von Heimen undexternen Firmen abzugeben. Nur selten lassen sich aus Unter-suchungen über Heime die konkreten Beziehungen zwischenHeimen und externen Betrieben zuverlässig rekonstruieren.Hier liegt weiterer Forschungsbedarf.

Zusammengefasst lässt sich die Arbeitspflicht der Heim -kinder nach folgenden Kriterien beurteilen:

(1) Arbeitspflicht im Heim war dann Arbeitszwang, wennsie nicht überwiegend erzieherischen Zwecken dienteoder übermäßig war. Dies war Unrecht, auch dann, wennes sich nicht um Zwangsarbeit i. S. d. Art. 12 Absatz 2und 3 GG gehandelt hat.

(2) Im Rahmen einer gerichtlich angeordneten Freiheitsent-ziehung ist eine Arbeitspflicht grundsätzlich mit Art. 12Abs. 3 GG und auch mit Art. 4 EMRK vereinbar. In der

Ausgestaltung sind aber (nach damaligem und heuti-gem Recht) die Grenzen der Menschenwürde und derVerhältnismäßigkeit zu wahren.

(3) Ein freies Beschäftigungsverhältnis schließt die Annah -me von Zwangsarbeit aus, begründet aber eine Sozial-versicherungspflicht. Als „frei“ sind nach damaligemRecht alle vertraglich vereinbarten Ausbildungs- undArbeitsverhältnisse anzusehen, auch wenn sie gegen denWillen des Jugendlichen von der Fürsorgeerziehungsbe-hörde als dessen Vertreter abgeschlossen wurden. DieMissachtung des Willens und der Neigungen des Ju-gendlichen kann aus heutiger Sicht u.U. als Verletzungdes Allgemeinen Persönlichkeitsrechts oder der Freiheitder Berufswahl und/oder -ausübung gewertet werden.Dies hängt von den Umständen des Einzelfalles ab.

Sowohl die Praxis als auch die Rechtslage hinsichtlich derFrage der Sozialversicherungspflicht in Heimen war in den50er und 60er Jahren sehr unübersichtlich und unklar.Diese Unübersichtlichkeit spiegelt sich auch in den tatsäch-lichen rekonstruierbaren Handhabungen wider. Es ist kaumnachzuvollziehen warum eine bestimmte Tätigkeit seinerzeitals versicherungspflichtig eingestuft wurde und eine anderenicht. Diese Unklarheit darf den damaligen Heimkindernnicht zum Nachteil gereichen.

1.2.6. Fehlende und unzureichende schulischeund berufliche Förderung

Die Heimerziehung der 50er und 60er Jahre hatte die schuli-sche und berufliche Ausbildung zu ermöglichen. Mindestensdie gesetzliche Schul- und Berufsschulpflicht musste erfülltwerden. Allerdings konnte die schulische und berufliche Aus-bildung nach der Logik des „Besonderen Gewaltverhältnisses“durch den Erziehungszweck näher festgelegt werden. Die Beschulung sollte nach Möglichkeit in öffentlichen Regel-schulen stattfinden und nur in Ausnahmen in heimeigenen(Sonder-)Schulen. Bei entsprechender Begabung sollte denKindern und Jugendlichen der Besuch einer höheren Schuleermöglicht werden. Auch eine Ausbildung war zu ermögli-chen.31

Die Praxis sah auch in diesem Punkt anders aus und erfülltedie Vorgaben vielfach nicht. In manchen Heimen wurde eineBeschulung gar nicht, in anderen nur unzureichend angebo-ten. Etwa die Hälfte der FE- und FEH-Heime unterhielt heim-eigene Schulen, die meist Sonder- oder Hilfsschulen darstell-ten.32 Eine höhere Bildung konnte dort in der Regel nicht 31 Vgl. Rechtsexpertise, S. 78 f.

32 Vgl. Zwischenbericht, S. 22.

41. Bewertung der Missstände in der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre aus Sicht des Runden Tisches

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ermöglicht werden. Auch die Berufs- und Ausbildungsmög-lichkeiten waren meistens unzureichend. Viele Jugendlichewurden in Ausbildungen und Tätigkeiten gebracht, die für dasjeweilige Heim sinnvoll und nützlich erschienen. Andere Heimehielten von vornherein ein sehr begrenztes Ausbildungsange-bot vor. Die Interessen der Jugendlichen wurden dabei nichtoder nur nachrangig berücksichtigt. Für einige Heime giltauch, dass eine Ausbildung gar nicht möglich war und ledig-lich Arbeiten als ungelernte Aushilfskräfte durchgeführt wur-den. Zugunsten der Arbeitsforderungen des Heims wurde dieschulische und berufliche Bildung oft vernachlässigt. Arbeitund Schule standen in einem für die Entwicklung der Kinderund Jugendlichen oftmals schädlichen Spannungsverhältnis.33

Für den weiteren Lebensweg der Kinder und Jugendlichenwäre aber die vom Gesetz geforderte schulische und berufli-che Ausbildung ein unverzichtbarer Grundstein gewesen. Fürviele wurde dieser Grundstein nicht gelegt und somit wurdendurch die Praxis der Heimerziehung die Berufs- und Erwerbs-biografien vieler Heimkinder von vornherein negativ beein-flusst.Bereits in den 60er Jahren galt diese Praxis als verfassungs-widrig:

„Argumentiert wurde dabei vor allem mit dem Urteil des Bun-desverfassungsgerichts aus dem Jahr 1968, in dem das Gerichtdeutlich gemacht hatte, dass der Staat, wenn er die Erziehungs-funktion innehat, auch für gute Lebensbedingungen der ihmanvertrauten Kinder sorgen muss. Zu dieser Verpflichtung ge-hörte nach dieser Auffassung dann auch die umfassende Ver-antwortung dafür, dass das Kind seinen Neigungen und Fähig-keiten entsprechend schulisch ausgebildet wird und eine ei-genständige Berufswahl treffen kann“ (Rechtsexpertise, S. 78).

Dieser Beurteilung ist nichts hinzuzufügen. Zu resümierenbleibt, dass die Heimerziehung ihrer Pflicht zur schulischenund beruflichen Ausbildung der ihr anvertrauten Kinder undJugendlichen in vielen Fällen nicht nachgekommen ist und ih-nen damit von vornherein eine Chancengleichheit verwehrthat.

Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass es in vielerlei Hin-sicht und in zahlreichen Bereichen der Erziehung im Heim zuUnrecht und Unrechtserfahrungen kommen konnte und ge-kommen ist. Dies war schon für die damalige Zeit nicht über-raschend. In der erwähnten Entscheidung vom 29. Juli 1968hat das BVerfG (a. a. O. Rn. 67) dazu ausgeführt:

„Eine Heimerziehung kann auch unter günstigen Verhältnissendie Geborgenheit des Kindes in der Familie und die dort gege-benen Voraussetzungen für die Entwicklung der persönlichenFähigkeiten und sozialen Kontakte des Kindes nicht ersetzen,

zumal es in zahlreichen Heimen an ausreichendem oder aus-reichend geschultem Personal, an geeigneten Räumlichkeitenund besonders an finanziellen Mitteln fehlt. Auch bei ein-wandfreier äußerer Pflege und Versorgung kann der Mangelan personaler Zuwendung, an äußeren Entwicklungsreizen,der häufige Wechsel der Beziehungspersonen, später auch dieUnsicherheit über die eigene Herkunft und über die Zukunftzu Entwicklungsschäden führen, die mit der Dauer des Heim-aufenthalts zunehmen und in schweren Fällen das Bild einerKrankheit annehmen.“

Zusammenfassend können als Regel- und Rechtsverstöße inder Heimerziehung benannt werden:

• Die Beschäftigung von unqualifiziertem und ungeeigne-tem Personal bei zu geringer Stellenzahl: Die fortgesetzteÜberforderung des Erziehungspersonals wurde bereits imZwischenbericht thematisiert und im vorliegenden Berichtim Bereich der Strafpraxis angesprochen. Die Überforde-rung muss neben problematischen Erziehungsvorstellun-gen als ein wesentlicher Grund für die unangemesseneErziehungspraxis, überbordende Gewaltanwendung undgeringe Betreuung im Sinne von pädagogischer Begleitungund Fürsorge angesehen werden. Zudem haben Heimträ-ger und Aufsichtsinstitutionen offenbar zu wenig geeig-netes und qualifiziertes Personal beschäftigt. In Rechnungzu stellen ist dabei ein konstanter Mangel an geeignetenFachkräften.34

• Die Aufrechterhaltung und Etablierung einer Strafpraxis,die weder rechtlich noch fachlich zu legitimieren war unddie Grenzen des Erziehungsrechts weit überschritt. Es kamzu Rechtsbrüchen in den Bereichen Wahrung der Men-schenwürde (Art. 1 I GG), freie Entfaltung der Persön -lichkeit, Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 GG),durch Freiheitsberaubung, Nötigung, Körperverletzung u. a. m.

• Duldung und mangelnde Prävention und Ahndung vonÜbergriffen von Erziehungspersonen auf Kinder und Ju-gendliche – darunter sexuelle Gewalt und sonstige, teil-weise sehr schwere körperliche Übergriffe –, die nicht imRahmen der erzieherischen Aufgabe stattfanden. Es kamzu Straftaten gegen das sexuelle Selbstbestimmungsrecht,Körperverletzung u. a.

33 Ebenda.34 Vgl. Zwischenbericht, S. 19.

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• Duldung und Förderung von gewalttätigen und demüti-genden Übergriffen unter den Kindern und Jugendlichen:Im Rahmen von Kollektivstrafen und einer beabsichtigten„Selbstdisziplinierung“ der Kinder und Jugendlichen kames zu Übergriffen innerhalb der Gruppen, die vom Erzie-hungspersonal zwar wahrgenommen, aber nicht unter-bunden wurden. Ggf. wurde dadurch der Straftatbestandder „unterlassenen Hilfeleistung“ bzw. im Rahmen derGarantenstellung des Erziehungspersonals der „Körperver-letzung durch Unterlassung“ erfüllt. In vielen Heimen wares üblich, dass ausgesuchte Kinder und Jugendliche vonder Heimleitung oder vom Erziehungspersonal gegen Ver-günstigungen zur Bestrafung anderer benutzt wurden.

• Verletzung der Rechte aus Art. 4, Abs. 1 und 2 GG durchEinschränkung der Religionsfreiheit: Beeinträchtigung derReligionsfreiheit durch Zwang, an Andachten teilzuneh-men, zum Gebet und zu anderen religiösen Handlungen,insbesondere wenn eine andere als die eigene Religionausgeübt wurde oder die Jugendlichen über 14 Jahre altwaren.

• Vorliegen eines Arbeits- oder insb. Ausbildungsverhältnis-ses ohne Abführung der entsprechenden Sozialversiche-rungsbeiträge.

• Arbeitspflicht außerhalb des Heims/innerhalb des Heims:Verletzung von Art. 12 GG, wenn die Arbeit nicht primärpädagogischen Zwecken, sondern der wirtschaftlichen Sicherung des Heims diente; Vorenthaltung von Arbeits-lohn; unverhältnismäßige Ausgestaltung der Arbeit (kör-perliche Belastung, Arbeitszeiten u. a.).

• Nicht oder unzureichend ermöglichte schulische und berufliche Ausbildung.

1.3. Kontrolle und Aufsicht

Überprüfungspflichten

Nach dem Rechtsstaatsprinzip müssen Unterbringungsent-scheidungen, die durch einen Richter oder ein Verwaltungs-verfahren getroffen werden, regelmäßig überprüft werden.

35 Vgl. Zwischenbericht, S. 29 f., und Rechtsexpertise, S. 79 ff.

„Betrachtet man die Rechtslage in der Heimerziehung der50er und 60er Jahre, so fällt immer wieder auf, dass die ein-mal getroffene Entscheidung für eine Heimeinweisung so gutwie nie überprüft werden musste“ (Rechtsexpertise, S. 79).

Dies zeigt sich besonders deutlich an der vorläufigen Fürsor-geerziehung, für die bis 1961 keine Überprüfungsfrist vorgese-hen war. Auch nach 1961 wurde die neu eingeführte Sechs-Monats-Frist in der Praxis nur wenig ernst genommen. Nachder herrschenden Meinung konnte nach Ablauf der Frist dievorläufige (!) Erziehungshilfe ohne weitere Prüfung verlängertwerden. Durch diese potentiell unbegrenzte Kettenbefristungkonnten die Kinder und Jugendlichen (geschlossen) unterge-bracht bleiben, ohne dass jemals eine Überprüfung stattfand.Heimkinder konnten demnach auch dann untergebracht blei-ben, wenn die Voraussetzungen für die Unterbringung garnicht mehr vorlagen.Soweit aus dem privaten Umfeld der Kinder und Jugendlichenniemand vorhanden war, der sich energisch gegen diese Ent-scheidungen auflehnen konnte, gab es für die Heimkinderkeine Möglichkeit, sich gegen die Unterbringung zu wehrenoder ihr auf legalem Wege zu entkommen. Verfahrenspflegergab es nicht und Vormünder sahen sich diesbezüglich nicht inder Pflicht. Die betroffenen Heimkinder waren den Behördenund Gerichten damit völlig hilflos ausgeliefert.Diese Rechtspraxis verstieß schon damals gegen den Grund-satz des fairen Verfahrens, das sich aus dem Rechtsstaatsprin-zip und damit aus der Verfassung (Art. 20 Abs. 3 GG) ableitet.

Heimaufsicht

Die gesetzlichen Vorgaben und Probleme der Heimaufsichtwurden bereits im Zwischenbericht ausführlich dargelegt35,weshalb sie hier nur zusammenfassend behandelt werden: Bis 1961 gab es keine bundesweite gesetzliche Regelung füreine Aufsicht über das Heim als Einrichtung (vereinzelt gab esaber landesrechtliche Regelungen). Demnach bestand bis zudiesem Zeitpunkt nur eine auf das einzelne Kind bezogeneAufsichtspflicht für die jeweils unterbringende Behörde (Ju-gendamt, Landesjugendamt), die jedoch nicht die Einrichtun-gen als solche in den Blick nahm. Erst mit der Novelle zumJWG vom 11. August 1961– Inkraft treten am 01. Juli 1962 –wies der Gesetzgeber den Landesjugendämtern (im Saarlandseit 1963) eine Aufsicht über Einrichtungen zu. Die Aufnahmeentsprechender Tätigkeiten erfolgte nach landesrechtlicherUmsetzung in den Folgejahren sehr zögerlich.

Die Aufarbeitung hat gezeigt, dass die Heimaufsicht in ihrenStrukturen und Interessenkonflikten – auch auf Drängen derfreien Träger, die auf ihre Eigenständigkeit pochten – nur

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unzureichend und uneffektiv funktionierte. Vielfach wurdendie katastrophalen Bedingungen und Umgangsformen in denHeimen wegschauend hingenommen und nicht unterbunden.Von einer Heimaufsicht, die kritisch und aus einer starken Po-sition heraus die Bedingungen in den Heimen überprüft undfür deren Verbesserung eintritt, kann für die 50er und 60erJahre nicht ausgegangen werden. Bereits im Zwischenberichtwurde dazu ausgeführt:

„Zu bedauern ist vor allem, dass verantwortliche Stellen of-fensichtlich nicht mit dem notwendigen Nachdruck selbst aufbekannte Missstände reagiert haben“ (Zwischenbericht, S. 40).(...) „Aufsichts- und Kontrollinstanzen, sowohl einrichtungs-und trägerintern als auch extern und staatlich, waren offen-bar nicht in der Lage oder gewillt, diese Missstände – selbstwenn sie bekannt wurden – abzustellen“ (Zwischenbericht, S. 46)

Auch die (Amts-)Vormünder der Kinder und Jugendlichen tra-ten nicht als Kontrollinstanz auf. Nach ihrer Funktion und ih-rem Selbstverständnis oblag ihnen nur die rein rechtliche Ver-tretung ihrer Mündel und die Überprüfung der Vermögensver-hältnisse zur Finanzierung des Heimaufenthaltes. In der Regelhatten sie weder zu dem Heim noch zu ihren Mündeln per-sönlichen Kontakt oder sorgten sich gar um deren individuel-les Wohlergehen.

Die Bewertung sowohl der Strukturen als auch der praktischenUmsetzung der Heimaufsicht muss kritisch ausfallen. Offenbarwar sie zu keinem Zeitpunkt gewillt und/oder in der Lage, dieBedingungen in den Heimen nachhaltig zu verbessern. Vielmehrließ sie vielfach die Missstände bestehen und sorgte sich wenigum die Lebensbedingungen der Heimkinder. Die offensichtlicheRechtlosigkeit, die Heimkinder in der Heimerziehung regelmä-ßig erlitten, wurde durch die Heimaufsicht – entgegen ihremAuftrag – nicht gemildert oder gar unterbunden. Die Schwellevom allgemeinen Missstand zum konkreten Unrecht dürfteinsbesondere dort überschritten worden sein, wo Missständeder Heimaufsicht angezeigt wurden bzw. dieser bekannt wa-ren und sie es trotzdem unterlassen hat, auf die Beseitigungdieser Missstände hinzuwirken.

Aus dem Bereich der Heimaufsicht und Kontrolle leiten sichvor allem folgende Regel- und Rechtsverstöße sowie Ursa-chen von Unrechtserfahrungen ab:

• Unterbringungsentscheidungen, die durch einen Richteroder ein Verwaltungsverfahren getroffen wurden, wurdennicht überprüft, wodurch ggf. die Unterbringung auch beiWegfall des Unterbringungsgrundes fortgeführt wurde.

Damit wurde gegen Grundrechte wie das Recht auf Frei-heit (Art. 1 und 2 GG) sowie den Grundsatz des fairenVerfahrens (Art. 20 Abs. 3 GG) verstoßen.

• Rechtsbrüche und Missstände in der Heimerziehung ein-zelner Kinder und Jugendlicher wurden nicht durch dieeinzelfallbezogene Aufsicht der unterbringenden Stellenerkannt und nicht behoben.

• Rechtsbrüche und Missstände in der Heimerziehung, diedurch die einrichtungsbezogene Heimaufsicht (vor 1962teilweise landesrechtlich, nach 1962 durch die Heimauf-sicht der Landesjugendämter) hätten erkannt und beho-ben werden müssen, wurden nicht erkannt und nicht be-hoben.

1.4. Folgen der Heimerziehung

Viele der ehemaligen Heimkinder erleben, dass ihre Erfahrun-gen aus der Zeit im Heim bis heute nicht nur in ihren Erinne-rungen, sondern auch in körperlichen, psychischen und mate-riellen Beeinträchtigungen nachwirken. Die ständigen Demüti-gungen, die sie erlebt haben, die mangelnde Zuwendung sowiedie Zuschreibung von Diagnosen wie z. B. „schwer erziehbar“,„aggressiv“ oder auch „schwachsinnig“ haben bei vielen vonihnen zu bleibenden starken Verunsicherungen und Selbst-zweifeln, zu Depressionen, zu Gefühlen von Ohnmacht undAngst oder auch zu Hass und Wut geführt. Sie hatten keineMöglichkeit, ein stabiles Selbstwertgefühl aufzubauen undihre Selbstwahrnehmung ist oft gestört. Misstrauen und Ent-fremdung, aber auch ein mangelndes Gefühl für Grenzen sindhäufige Folgen. Das Gefühl der Ohnmacht, das bis heute im-mer wieder erlebt wird, hat seinen Ursprung oft in der Zeit imHeim. Langfristig empfinden viele der ehemaligen Heimkindereine Form von innerer Leere und Einsamkeit. Die Folgen vonHeimerziehung wirken ein Leben lang, da die prägenden Er-fahrungen in der Kindheit und Jugend die Grundlage dafürbilden, wie Erfahrungen im weiteren Leben eingeordnet underlebt werden. „Immer dann, wenn ich heute mit Macht mirgegenüber und meiner Reaktion von Ohnmacht daraufhin kon-frontiert werde, sind die Erinnerungen an meine Zeit im Heimwieder da.“; „Ich habe den Eindruck, dass ich die Schwierigkei-ten in meinem derzeitigen Job nur deshalb habe, weil ich einHeimkind bin und das auch mal geäußert habe.“ Die Menschenverfügen innerlich über eine Art Folie, vor der alle weiterenErfahrungen ablaufen und bewertet werden. Im Fall der Ehe-maligen kann das bedeuten, dass sie grundsätzlich keinem an-deren Menschen trauen und davon ausgehen, dass ihnen auch

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heute keiner glaubt, wenn sie von ihren Erfahrungen erzählen.Viele ehemalige Heimkinder leiden an einer PosttraumatischenBelastungsstörung (PTBS oder PTSD), die ursächlich mit frühentraumatisierenden Erfahrungen zusammenhängt.36 Unter einemTrauma wird das unerträgliche Gefühl verstanden, wenn Men-schen sich einer lebensbedrohlichen Situation völlig schutzlosausgeliefert fühlen und diese Situation den Rahmen der Be-lastungsfähigkeit um ein Vielfaches übersteigt. Es besteht ein„vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situations-faktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten“. DieBetroffenen sind in diesem Moment der Erfahrung von ohn-mächtigem Kontrollverlust, Entsetzen und (Todes-)Angst aus-gesetzt (Expertise Traumatisierungen S. 6).Das Ausmaß der Traumatisierung ist abhängig von der Art,den Umständen und der Dauer des Ereignisses, vom Entwick-lungsstand des Opfers zum Zeitpunkt der Traumatisierungensowie davon, ob schützende Faktoren vorhanden sind odernicht (ebenda, S. 6). Besonders gravierend sind frühe und an-haltende im sozialen Nahraum bzw. von Fürsorgepersonenver ursachte Traumatisierungen und Verlusterfahrungen.(ebenda). Dazu gehören unmittelbar alle Formen von physi-scher, psychischer und sexueller Gewalt, denen viele ehema-lige Heimkinder direkt oder indirekt ausgesetzt waren. In die-sem Zusammenhang muss besonders auf die Unterbringung inSäuglingsheimen und die damit verbundenen Folgen hinge-wiesen werden. Vor allem Säuglinge und Kleinkinder wuchsenin den 50er und 60er Jahren in den Einrichtungen emotionalabsolut unterversorgt auf. Sie erfuhren in der Regel kaum per-sönlichen Zuspruch. Die Zahl der Kinder, für die eine Betreu-ungsperson zuständig war, ließ intensive Zuwendung meistensnicht zu. Diese Form der Unterbringung traf viele elternloseKinder, die gerade wegen des frühen Verlusts ihrer Bezugs -personen besondere Pflege und Hilfe gebraucht hätten. DieFolgen waren Hospitalismus und Deprivation. Viele Säuglingeund Heimkinder waren in den Heimen der 50er und 60er Jahrein ihrer emotionalen Existenz bedroht. Die mangelnde Fürsorge im eigentlichen Sinne in einer Zeit, inder sich das Gehirn in seiner Ausprägung stark entwickelt undin der wichtige Grundlagen zur späteren Entwicklung hinsicht-lich der Intelligenz, der emotionalen und der sozialen Kompe-tenzen gelegt werden, hatte gravierende Folgen für viele, diein derartigen Einrichtungen waren. Aufgrund der Massenpflegeerhielten die Säuglinge und Kleinkinder keine persönliche Be-treuung und Unterstützung. Die Art der Unterbringung führte

36 Die Ausführungen stützen sich auf die Expertise: „Was hilft ehe-maligen Heimkindern bei der Bewältigung ihrer komplexen Trau-matisierung?“.

37 Ausführlichere Schilderungen im Anhang „Folgen der Heimerzie-hung aus Sicht ehemaliger Heimkinder“.

zu nachhaltigen psychomotorischen und sozialen Entwick-lungsrückständen bei zahlreichen Kindern in der Zeit. Es galtdas Prinzip, zu enge körperliche Beziehungen aus hygieni-schen Gründen zu vermeiden. Die Veröffentlichung der skan-dalösen Zustände in den Säuglingsheimen führte dazu, dassdiese Form der Heimerziehung zu Beginn der 70er-Jahre be-endet wurde.Allen Erfahrungen gemeinsam sind Gefühle von Hilflosigkeitund des Ausgeliefert-Seins. Die Bindungsfähigkeit wird durchfrühe Gewalterfahrungen grundlegend erschüttert (ebenda S. 7), die Säuglinge und Kleinkinder können keine positivenBindungserfahrungen aufbauen. Als Folge dieser frühen Erfah-rungen wird immer wieder berichtet, dass es ihnen in ihremgesamten weiteren Leben schwergefallen sei, feste Bindungeneinzugehen, Vertrauen aufzubauen und sich sicher zu fühlen.Das Gefühl ständig auf der Flucht zu sein, Nähe nicht aushal-ten zu können wird lebensbestimmend. „Ich bin zu kalt gewor-den, was Beziehungen angeht, außer wenn es um Kinder geht“,berichtet ein Ehemaliger. „Ich habe bis zu meinem 17. Lebens-jahr keinerlei körperliche Zuwendung erhalten und weiß nicht,wie ich das überlebt habe“, berichtet ein anderer.37

Im weiteren Lebensverlauf treten häufig chronische Symptomewie Angstzustände und Schlafstörungen auf. Die frühen mas-siven körperlichen wie psychischen Verletzungen bewirkenhäufig ein ausgeklügeltes System von vielfältigen somatischenund psychischen Symptomen. Das Verhalten, das zunächst zumZeitpunkt der traumatisierenden Ereignisse als Strategie undFähigkeit im Sinne des Schutzes und des Überlebens hilfreichwar, kann sich im weiteren Lebensverlauf als destruktiv undhinderlich erweisen. Das ‚Mit-Erleben-Müssen‘ von Gewalt-handlungen hat ebenfalls eine traumatisierende Dimension,da diese Erfahrung mit Scham- und Schuldgefühlen einher-geht.Grundsätzlich werden bei der Posttraumatischen Belastungs-störung drei diagnostische Oberkategorien unterschieden: (1)Intrusive Symptome: Die Betroffenen werden in sogenanntenFlashbacks unfreiwillig von einem Wieder-Erleben der trauma- tischen Erfahrung überflutet; (2) konstriktive Symptome: Siesind durch psychische Erstarrung gekennzeichnet. So werdenzum Beispiel alle Reize vermieden, die mit dem Trauma ver-bunden sind. Das kann zu Dissoziationen, Erinnerungsschwie-rigkeiten oder Amnesien (Gedächtnisausfall) führen und (3)das sog. Hyperarousal: unnatürlich erhöhte Erregung (ebendaS. 8). Infolge neuronaler Veränderungen, die durch das Traumabewirkt wurden, nehmen die Traumatisierten Reize anders aufund ordnen sie anders zu als Menschen ohne Traumaerfahrun-gen. Es ist zwischen primärer Traumatisierung (unmittelbarauf das auslösende Ereignis bezogen) und sekundärer Trauma-tisierung, auch Retraumatisierung, zu unterscheiden. Sie er-gibt sich entscheidend aus dem Umgang des sozialen Umfel-des und der Gesellschaft mit der eigentlichen Traumatisierung

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und deren Ursachen. Kennzeichnend ist dabei, dass aufgrundfehlender positiver Bindungserfahrungen das eigene Selbst-wertgefühl nicht entwickelt werden kann und die Selbstwahr-nehmung gestört ist. Als Folge treten Misstrauen, Entfrem-dung, aber auch ein mangelndes Gefühl für Grenzen auf. Inder dritten Kategorie zeigen sich neuronale Veränderungen.Das Selbstschutzsystem ist in ständiger Alarmbereitschaft. Dasführt zu Reizbarkeit, Schlaf- und Konzentrationsstörungen so-wie zu unkontrollierten Übererregungen, z. B. aggressiven undautoaggressiven Verhaltensweisen (ebenda S. 11). Diese Reak-tionen ehemaliger Heimkinder erscheinen mitunter als unver-ständlich und völlig unangemessen, da das aktuell auslösendeEreignis in der Bedeutung für Außenstehende nicht erkennbarist. Sie erklären sich aus ihren frühen Erfahrungen und verste-hen sich als eine Art reflexhaftes Verhalten bei (auch oft un-bewusster) Erinnerung an das ursprüngliche Trauma. Infolgeihrer hohen Verletzlichkeit sind früh traumatisierte Menschenimmer in Gefahr, erneut traumatisiert (retraumatisiert) zuwerden. Ehemalige, die unter einer Posttraumatischen Belas-tungsstörung leiden, mussten oftmals als kleine, hilflose Kin-der erfahren, dass gerade die Personen, von denen sie Schutzund Fürsorge erwarteten und die Verantwortung für sie tru-gen, diese Situation schamlos ausgenutzt haben. Diese Erfah-rungen hinterlassen bei den Kindern einen unlösbaren Bin-dungskonflikt. Sie verfügen somit ggf. nicht über wichtige Er-fahrungen, um sich im Leben zu behaupten: Die Fähigkeit, ansich selber und die eigene Unverletzlichkeit und an das Guteim Menschen zu glauben. Die Auswirkungen auf den Körperund das Gehirn prägen die zukünftige Wahrnehmung der Rea-lität und hinterlassen in diesen Fällen Störungen im Bereichder physischen, psychischen und sozialen Entwicklung. Ehe-malige Heimkinder berichten sehr häufig, dass sie vielfältigenFormen von Gewalt schutzlos ausgeliefert waren und dass ih-nen meist nicht geglaubt wurde, wenn sie versuchten, Hilfeund Unterstützung zu erhalten.Die Folgen früher Traumatisierung sind also zweifach zu ver-stehen: Zum einen als Konsequenz der traumatischen Erfah-rungen selbst, zum anderen als Versuche, mit der traumati-schen Erfahrung zurechtzukommen und sie so gut wie irgend-möglich zu verarbeiten. Sie verraten somit zugleich viel überdie hochkomplexen Bewältigungsformen der Traumatisierten(ebenda S. 22). Es ist möglich, dass Kinder als Opfer von Ge-walt die Verantwortung für das Geschehene in Form vonSchuldgefühlen übernehmen („Es muss etwas mit mir zu tunhaben, dass so mit mir umgegangen wird“). Dieses Verhaltenerklärt sich daraus, dass die Kinder durch die Übernahme derSchuld damals die Möglichkeit hatten, die zu ihrem Überlebennotwendige Bindung zum Täter aufrechtzuerhalten. Auf Dauerverselbstständigen sich solche Überlebensmuster jedoch zudestruktiven Mechanismen, die ursprünglich als Selbsthei-lungs- und Anpassungsversuche zu verstehen sind.

Gleichzeitig verfügen früh Traumatisierte häufig über außer-gewöhnliche Fähigkeiten und entwickeln z. T. sehr kreativeund kraftvolle Überlebensstrategien. Die sehr häufig anzutreffende Entschlossenheit traumatisier-ter Menschen, die Auseinandersetzung mit dem Erlebten zuvermeiden, hilft ihnen zwar, den Alltag zu bewältigen undleistungsfähig zu sein. Sie geht aber auf Dauer mit einem hohen Energieaufwand für den gesamten Organismus einher(ebenda S. 24). Im Übergang vom mittleren ins hohe Lebensal-ter fühlen sie sich – für sie selber auch überraschend – über-fordert und erleben sich als psychisch und physisch erschöpft.Als Spätfolgen treten häufig psychosomatische Beschwerden,Angst- und Panikattacken sowie aggressive und autoaggres-sive Verhaltensweisen und Symptome des „Burnout–Syndroms“auf. Zusammenbrüche werden als sehr heftig und bedrohlicherlebt. Mit zunehmendem Alter werden ehemalige Heimkinderimmer stärker mit den Spätfolgen ihrer Zeit im Heim konfron-tiert. Ihre Berufsbiografie entspricht oftmals nicht ihren ei-gentlichen Fähigkeiten, da ihnen die Möglichkeit zu höherenSchulabschlüssen sehr häufig verwehrt wurde. Aufgrund derlangfristigen psychischen und physischen Folgen ihrer Zeit imHeim müssen viele vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausschei-den und mit dem damit verbundenen Einkommensverlust le-ben. Sie sind somit zumeist im doppelten Sinne als Folge derHeimerziehung für ihr weiteres Leben benachteiligt: Sie erhal-ten heute wegen nicht geleisteter Beitragszahlungen wenigerRente. Durch das frühere Ausscheiden aus dem Berufslebenfällt die Rente zusätzlich geringer aus.Die Mehrzahl der Ehemaligen Heimkinder, die sich in den letz-ten zwei Jahren beim Runden Tisch Heimerziehung gemeldethat, beschäftigt die Suche nach ihren Wurzeln. Die ehemaligenHeimkinder wissen nicht, wo sie genau herkommen, zu wemsie gehören und sie beschreiben, dass sie ihr Leben lang aufder Suche sind, Fragen haben, auf die sie meistens keine Ant-wort mehr bekommen. Es gibt keine Unterlagen oder Men-schen, die Auskunft geben können. Die Beantwortung dieserFragen wird immer dringlicher, die Ungewissheit hat großeUnsicherheiten und Ungeduld zur Folge.Die Bewältigung der frühen prägenden Erlebnisse erfolgt aufsehr unterschiedliche Art. Genauso wie es nicht „das“ Traumagibt, gibt es auch nicht „die“ Art der Bewältigung. Das Erlebenund der Umgang mit dem Trauma werden immer auf individu-elle Weise wahrgenommen und verarbeitet. Der weitere Ver-lauf hängt stark von den weiteren Möglichkeiten, von unter-stützenden Personen oder Institutionen ab – verbunden mitder Gelegenheit, die individuellen Kompetenzen zu entwickelnund zu entfalten. Als Folge der Zeit im Heim wird allerdingssehr häufig berichtet, dass die jungen Erwachsenen sehrplötzlich nach der Entlassung völlig auf sich alleine gestelltwaren und nie auf ein selbstverantwortliches, selbstbestimm-tes Leben vorbereitet wurden. „Ich wusste gar nicht, wie ich

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mich jetzt verhalten soll, wie ich an eine Wohnung, eine Arbeit,(...) komme, wo ich hingehen soll und ich hatte nirgendwo einePerson, die ich fragen konnte“. Stattdessen waren sie beispiels-weise zeitlebens von Armut betroffen, lebten in weiteren Ein-richtungen der Psychiatrie oder Wohnungslosenhilfe, wurdenkriminell, waren von schweren Krankheiten betroffen oder ver- übten Suizid. Anderen gelang es sowohl beruflich als auch so-zial Fuß zu fassen, eine Familie zu gründen, stabile Beziehun-gen einzugehen. Ehemalige Heimkinder mussten in der Regelsehr viel höhere Hindernisse überwinden, um gesellschaftlichin jeder Hinsicht vollwertig dazuzugehören. Aus Angst, wiederund weiter stigmatisiert zu werden, haben viele über diesenAbschnitt ihres Lebens niemandem oder nur ganz wenigenPersonen berichtet. Dieses Verschweigen der eigenen Vergan-genheit übt einen ungeheuren psychischen Druck, verbundenmit starken Angstgefühlen, auf sie aus. Die Folgen sind imspäteren Leben deutlich spürbar und erklären, warum Zusam-menbrüche als sehr heftig und bedrohlich erlebt werden. Der Runde Tisch Heimerziehung bewertet die langfristigenschädlichen Folgen der Heimerziehung in den 50er und 60erJahren auf das Leben vieler ehemaliger Heimkinder als schwereBelastung für das ganze Leben.Er ist zu der Auffassung gelangt, dass das künftige Schicksalehemaliger Heimkinder weitgehend davon abhängt, ob undwie die Gesellschaft das Unrecht und Leid, das die Betroffenenerleben mussten, anerkennt und ihnen die erforderlichen Hilfenzukommen lässt.

1.5. Zusammenfassende Bewertung

Die dargestellten Problemschwerpunkte zeigen, dass es in derHeimerziehung vielfaches Unrecht und Leid gab. Dabei wirddeutlich, dass es in der Heimerziehung der frühen Bundesre-publik zu zahlreichen Rechtsverstößen gekommen ist, die auchnach damaliger Rechtslage und deren Auslegung nicht mitdem Gesetz und auch nicht mit pädagogischen Überzeugun-gen vereinbar waren. Elementare Grundsätze der Verfassungwie das Rechtsstaatsprinzip, die Unantastbarkeit der Men-schenwürde und das Recht auf persönliche Freiheit und kör-perliche Integrität fanden bei weitem zu wenig Beachtungund Anwendung. Sehr eindringlich wurde dem Runden Tisch von den Erfahrun-gen und den erschütternden Folgen der Heimerziehung vonBetroffenen selbst berichtet. Die oben dargelegten Mängel

38 Vgl. Zwischenbericht, S. 25 ff.

und Probleme wurden dabei unverblümt, im Kontext indivi -dueller Erfahrungen und oft unter Tränen benannt. Erst durchdiese persönlichen Berichte entfaltet sich die individuelle undtraumatische Dimension des Geschehenen, die bei einer abs-trakten Betrachtung, wie sie hier vorgenommen werdenmusste, immer verblasst und in den Hintergrund rückt.Das dabei zutage getretene Unrecht und das Leid müssen vomRunden Tisch, von den Nachfolgern der damals verantwortli-chen Institutionen und Einrichtungen und von der Gesellschaftanerkannt werden. Die betroffenen ehemaligen Heimkindersind in ihren Biografien zu rehabilitieren. Auch wenn es zu-nächst banal und selbstverständlich klingt, muss anerkanntwerden: An dem ihnen angetanen Unrecht und Leid tragen sieselbst keine Schuld. Vielmehr waren es die gesellschaftlichenBedingungen, problematische Menschenbilder bei den Han-delnden und ein schlechtes und an vielen Stellen demokra-tisch unreifes System, die das ihnen Angetane bewirkt haben.Die Kindheit und das weitere Leben vieler Heimkinder hättenunter den Bedingungen des heutigen Kindschafts-, Kinder-und Jugendhilferechts und den Sicht- und Handlungsweisenheutiger Sozialpädagogik auch einen ganz anderen, sehr vielpositiveren, Verlauf nehmen können.

Zu der Frage, wer das erlebte Leid und Unrecht zu verantwor-ten hatte bzw. hat, wurde im Zwischenbericht ausführlich be-richtet.38 Es gibt nicht den einen Verantwortlichen, nicht diezentrale Stelle, die alle Schuld auf sich zu nehmen hat. Es gibteine Gesamtverantwortung für die Heimerziehung, die aufviele Schultern verteilt war und die sich in einer Verantwor-tungsgemeinschaft darstellen lässt:

Verantwortlich waren

• Eltern, die oftmals die Heimunterbringung angeregt haben,

• Vormünder und Pfleger, denen die rechtliche Vertretungihrer Mündel oblag und die für das individuelle Wohl -ergehen mitverantwortlich waren,

• Jugendämter, die die Heimunterbringung in kommunalerVerantwortung durchführten und die Freiwillige Erzie-hungshilfe und die Fürsorgeerziehung fachlich begleite-ten. Ihnen kam auch eine Aufsichtsfunktion im Einzelfallzu,

• Landesjugendämter, die als unterbringende Behörde dieMaßnahmen der Freiwilligen Erziehungshilfe und der Für-sorgeerziehung verantworteten. Zugleich kam ihnen dieAufsicht im Einzelfall und ab 1962 die strukturelle Auf-sicht über alle Heime in öffentlicher und freier Träger-schaft zu,

41. Bewertung der Missstände in der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre aus Sicht des Runden Tisches

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• Vormundschaftsgerichte, die Unterbringungen nach §1666 BGB und der Fürsorgeerziehung veranlassten undggf. zu überprüfen hatten,

• Träger der Einrichtungen, die als öffentliche (Länder undKommunen) oder freie – insbesondere kirchliche – Trägerdie Heime betrieben und die Heimpraxis verantworteten,

• Heimleitung und Heimpersonal, die im persönlichen Um-gang mit den Kindern und Jugendlichen für deren kon-krete Erziehung verantwortlich waren,

• Verantwortliche für Rechtsetzung und -anwendung, diedie rechtlichen Rahmenbedingungen und Richtlinien vor-gaben. Hierzu zählen der Bund, die Länder, die Landes -jugendämter, die Jugendämter und die Gerichte,

Schließlich darf die Öffentlichkeit der frühen Bundesrepu-blik Deutschland selbst nicht vergessen werden, die punk -tuell durch skandalisierende Berichterstattung über die Be-dingungen in den Heimen informiert wurde. Offenbar gabes ein latentes Bewusstsein über die Zustände in der Heim-erziehung, das aber nur selten zu nachhaltigen gesellschaft-lichen Protesten führte. Schließlich kam es auch vor, dassVerwandte, Nachbarn, Lehrer und andere, über Anzeigenbeim Jugendamt die Heimerziehung anregten. Neben dergeschilderten Verantwortungskette muss also auch von ei-ner gesamtgesellschaftlichen Verantwortung ausgegangenwerden.

Mit Blick auf eine Anerkennung und Rehabilitation, die ihrenAusdruck nicht nur symbolisch, sondern auch in konkretenmateriellen Leistungen finden sollen, muss die Frage beant-wortet werden, was diese eine Betroffenengruppe aus derFrühzeit der Bundesrepublik so besonders macht, dass mansich für sie in einer besonderen Weise engagiert. Die Antwortwurde im Zwischenbericht und im bisherigen Abschlussberichtvielfach gegeben. Sie soll hier anhand von drei besonderenKomplexen zusammengefasst werden:

Situation der Kinder und Jugendlichen in Heimen

Ein zentrales Problem, das aus den Berichten ehemaligerHeimkinder und der Aufarbeitung immer wieder hervorsticht,ist die faktische Rechtlosigkeit und das Ausgeliefertsein derHeimkinder. Kinder und Jugendliche, die in Heimerziehung ka-men, hatten faktisch kaum eine Möglichkeit, sich (rechtlich)Gehör zu verschaffen: Die Eltern konnten oder wollten sichnicht für sie einsetzen, die Vormünder sahen sich nicht in derPflicht und kannten ihre Mündel in der Regel auch nicht per-sönlich, die Heimaufsicht gab es nicht oder sie kam ihren Auf-gaben nicht nach, Jugendämter und Landesjugendämter bilde- ten mit den Heimen eine Interessengemeinschaft und nahmen

zudem ihre Kontrollfunktion kaum wahr. Die Heime hattenkaum ein Interesse daran, sich kritisch mit den Beschwerdender Heimkinder auseinanderzusetzen. Verschärft wurde dieHilflosigkeit auch dadurch, dass die Kinder und Jugendlichenin der Regel nicht über ihre Rechte oder über Möglichkeitender Beschwerde aufgeklärt wurden. Die weitverbreitete Brief-zensur erschwerte einen Hilfeschrei nach außen erheblich.Selbst wenn Beschwerden der Heimkinder, z. B. über Miss-handlungen, nach außen drangen, stand die Aussage der ver-meintlich „ehrbaren“ Erzieher oder der Heimleitung gegen dieAussage eines als „verwahrlost“ deklarierten Zöglings. DieGlaubwürdigkeit der Beschwerde wurde damit von vornhereindiskreditiert. Im Ergebnis waren die Kinder und Jugendlichendem Erziehungspersonal meist schutz- und hilflos ausgeliefert.Diese Position wurde von den beteiligten öffentlichen undfreien Trägern hingenommen, befördert und über das Erzie-hungsrecht und das „Besondere Gewaltverhältnis“ legitimiert.Erst durch diese Situation des Ausgeliefertseins, die die Be-troffenen ohnmächtig und hilflos machte, konnten die Miss-stände in der Praxis der Heimerziehung zu ihrer vollen prakti-schen und psychisch-traumatisierenden Entfaltung kommen.Allein schon durch diese öffentlich-rechtlich verursachte undvertretene Entrechtung damaliger Heimkinder ist eine beson-dere Anerkennung und Rehabilitierung notwendig.

Entwicklungsprozess des Rechtsstaats

Aus der juristischen Bewertung geht hervor, dass für den Be-reich der Heimerziehung zwar das Grundgesetz Bestand hatteund galt, dass gleichzeitig aber die Rechtsauslegung, die Recht-sprechung und die Rechtspraxis in den 50er und 60er Jahren noch nicht ausreichend in rechtsstaatlichen Verhältnissen an-gekommen waren und sich häufig auf Auslegungen, Erlasseund Gesetze aus der Zeit vor 1949 stützten. Das rechtsstaat-liche Verständnis, wie wir es heute kennen, konnte damals offenbar nicht vorausgesetzt werden und befand sich insbe-sondere im gesellschaftlichen Randbereich der Heimerziehungerst in seiner Ausbildung. Ab Ende der 50er Jahre ist zu erken-nen, dass dieses rechtsstaatliche Verständnis sukzessive an-stieg und sich langsam ausbildete.39 Auch Rechtsstaaten undDemokratien machen eine Entwicklung durch. Das heutigeRecht ist das Ergebnis eines Lernprozesses unseres Rechts-staats – auch und gerade aus dem Schicksal der Heimkinder in den 50er und 60er Jahren.

39 Vgl. Rechtsexpertise.

41. Bewertung der Missstände in der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre aus Sicht des Runden Tisches

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Das System der Heimerziehung wurde damals wie heute vonder Rechtsetzung und -praxis maßgeblich beeinflusst. Insbe-sondere aus der Rechtspraxis resultierte unter anderem dasoben genannte Ausgeliefertsein. Diese Verhältnisse hattenweder die Heimkinder selbst noch ihre Eltern zu verantworten.Daraus ergibt sich eine besondere Verantwortung von allenstaatlichen Instanzen, Gerichten und freien gesellschaftlichenInstitutionen wie Kirchen und Verbänden, die dieses mangel-hafte Rechtsverständnis mitgetragen und mitbeeinflusst haben.Die damaligen Heimkinder hätten nach den Geboten der Ver-fassung und den Regeln des Rechtsstaats niemals unter seinereigenen Unzulänglichkeit leiden dürfen.

Verantwortungsübernahme

„Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Rechtder Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Überihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft“ (Art. 6Abs. 2 Grundgesetz).

Diese o. g. staatlichen Instanzen und freien gesellschaftlichenInstitutionen sind – wie die Aufarbeitung zeigt – ihrer Verant-wortung allzu oft nicht nachgekommen. Kindern und Jugend-lichen wurde nicht nur keine förderliche Erziehung an lohnen-den Lebensorten geboten, vielfach wurden sie alleingelassen,misshandelt, traumatisiert und ihrer Zukunftschancen be-raubt. Die Gesellschaft und die öffentlichen und freien Träger müs-sen sich den Folgen ihres institutionellen Handelns stellen undVerantwortung auch und insbesondere dort übernehmen, wosie folgenreich versagt haben.

Im Zwischenbericht des Runden Tisches wurde von einem„System Heimerziehung“ gesprochen, ohne dass dieses Sys-tem dort abschließend charakterisiert wurde. Festzustellenist nun, dass dieses „System Heimerziehung“ auch im Lichtedes Grundgesetzes im Bezug auf die Wahrung der Rechte derBetroffenen ein mangelhaftes und demokratisch unreifesSystem war. Ein „Unrechtssystem“ war es nach Bewertungdes Runden Tisches jedoch nicht.40 Das erfahrene Unrechtwar vermeidbar, war von Menschen gemacht. Offenbar war

40 Vgl. Rechtsexpertise S. 85 f.41 Darauf weist auch der Forschungsbericht von Prof. Dr. Schrapper

„Erfahrungen und Anliegen ehemaliger Heimkinder im Überblick.Eine zusammenfassende Auswertung von Informationen und Mit-teilungen aus Kontakt- und Informationsstellen“ hin.

eine andere, den Bedürfnissen und Interessen der Betroffe-nen gerecht werdende Heimerziehung auch damals möglich– es gibt auch Berichte von positiven, angemessenen undhilfreichen Erfahrungen –, aber nicht allgemeine Praxis.Eine gesicherte Schätzung der Zahl der von Unrecht Betrof-fenen ist jedoch nicht möglich.41

Die Aufarbeitung der letzten zwei Jahre zeigt aber unab-weisbar, dass im „System Heimerziehung“ Unrecht und Leidvielfach zugefügt, begünstigt, zugelassen und nur unzurei-chend unterbunden wurden. Aus der Aufarbeitung der Heimerziehung der 50er und 60erJahre folgt die Notwendigkeit der Verantwortungsübernah -me, der Anerkennung, der Rehabilitierung und der Unter-stützung ehemaliger Heimkinder in Lebenslagen, die durchdie Heimerziehung (mit-)verursacht wurden.

41. Bewertung der Missstände in der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre aus Sicht des Runden Tisches

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2. Forderungen der ehemaligen Heimkinder

In der 8. Sitzung des Runden Tisches haben die am RundenTisch vertretenen ehemaligen Heimkinder differenzierte Lö-sungsvorschläge und Forderungen vorgestellt und diese in der9. Sitzung des RTH ergänzt und präzisiert. Sie werden hier zusammengefasst:

Rehabilitierung

1. Das Unrecht, das Geschädigten der ehemaligen Heimerzie-hung angetan wurde, wird von hoher Stelle in Staat undKirche öffentlich als Unrecht anerkannt. Von denselben Stel- len wird öffentlich eine Bitte um Verzeihung ausgesprochen.

2. Die in der damaligen Heimerziehung geschehenen Grund-rechtsverletzungen werden ausdrücklich als Menschen-rechtsverletzungen anerkannt.

3. Zu Unrecht gefassten Unterbringungs- bzw. Verlegungsbe-schlüssen wird, sofern sie in Akten noch auffindbar sind,eine Erklärung beigefügt, dass sie als unrechtmäßig anzuse-hen sind. Eine Kopie dieser Erklärung wird dem Betroffenenausgehändigt.

4. In verschiedener Weise wird öffentlich an die grundrechts-und menschenrechtsverletzende Heimerziehung in der Zeitvon 1949 bis 1975 erinnert, zum Beispiel durch: Monogra-fien über einzelne Heime; Kunstwerke von Geschädigtenehemaliger Heimerziehung, sofern sie in Beziehung zu ihrerHeimerfahrung stehen; Gedenktafeln an ehemaligen Heimenoder, sofern sie nicht mehr bestehen, an deren Orten; einezentrale Gedenkstätte; Ausstellungen; Fortsetzung der wis-senschaftlichen Aufarbeitung der Heimerziehung der 50erund 60er Jahre.

Stützpunkte für Geschädigte ehemaliger Heimerziehung

1. In der Bundesrepublik werden „Stützpunkte für Geschädigteehemaliger Heimerziehung“ eingerichtet.

2. In diesen Stützpunkten arbeiten auch Betroffene mit. 3. Die Zentrale wird im Zentrum der Bundesrepublik angesie-

delt. Sie koordiniert die Arbeit der Stützpunkte und hältKontakt zu den am Runden Tisch Heimerziehung beteiligtenStellen.

4. Die Stützpunkte helfen Betroffenen bei der Aufarbeitungihrer Heimerfahrungen; zum Beispiel: • bei der Suche nach ihren Akten, bei der Aktensicherung

und bei der Akteneinsicht,

• bei der Suche nach Anverwandten, • bei der Suche nach Menschen, die mit ihnen in Heimen

waren, • bei der Organisation von Begegnungen mit andern

Geschädigten ehemaliger Heimerziehung, • bei der der Vermittlung von Traumatherapien, • bei der Bildung von therapeutisch begleiteten Selbsthilfe-

gruppen, • bei der Schaffung von Möglichkeiten, sich vor einer er-

neuten Traumatisierung im Alter zu schützen, • als Schiedsstelle, wenn Geschädigte Ausgleichszahlungen

für Folgeschäden der Heimerziehung fordern, • bei Anträgen nach dem OEG, • bei der Dokumentation und Erinnerung.

Ferner helfen die Stützpunkte Betroffenen: • bei der Vorsprache bei Ämtern, • beim Stellen von Anträgen, z. B. Rentenanträgen und An -

trägen auf einen Schwerbehindertenausweis, • bei der Suche nach geeigneten Wohnungen bei Behinde -

rungen, • sofern erforderlich, bei der Suche nach Arbeit.

Materielle Anerkennung

1. Für seinerzeit unentgeltlich erbrachte Arbeitsleistungenwerden Lohnersatzzahlungen geleistet.

2. Für erlittene schwerwiegende Schädigungen körperlicher,seelischer und/oder geistiger Art werden Ausgleichszahlun-gen (Schmerzensgeld) geleistet. Zu den schweren Schädi-gungen zählen: • Unterbringung in einem Säuglingsheim und/oder einem

Erziehungsheim,• körperliche und/oder seelische Misshandlung, • Zwangsarbeit im Sinne des Art. 12 Abs. 2 und 3 GG

(einschl. Kinderarbeit), • Vorenthaltung von Bildung und Ausbildung, • jede Form freiheitsberaubender Unterbringung, • sexueller Missbrauch.

Sofern einem Betroffenen Nachweise fehlen, soll Glaubhaft-machung möglich sein, und zwar durch eine eigene eides-stattliche Erklärung oder durch eidesstattliche Erklärungenvon Zeugen oder durch eine bereits vorhandene Dokumenta-tion über die Einrichtung, in der der Betroffene war. Im Zwei-felsfall gilt Umkehr der Beweislast. Die Ausgleichszahlungen sollen in einem angemessenen Ver-hältnis zu dem stehen, was Geschädigte ehemaliger Heimer-ziehung in anderen europäischen und in außereuropäischen

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Ländern bisher erhalten haben oder voraussichtlich erhaltenwerden. In diesem Sinne wird vorgeschlagen: Vorschlag I zur Ausgleichszahlung: Pauschale Lösung: JederGeschädigte der Heimerziehung erhält, unabhängig von derAnzahl der erlittenen Schädigungen, lebenslang eine monat -liche Rente von 300 Euro oder wahlweise nach der üblichenBemessungsgrundlage eine einmalige Ausgleichszahlung. Vor-schlag II (Alternativvorschlag): Individuell-additive Lösung: Füreine der oben genannten Schädigungen erhält der Betroffenelebenslang eine monatliche Rente von 110 Euro oder wahl-weise nach der üblichen Bemessungsgrundlage eine einmaligeAusgleichszahlung. Wenn man davon ausgeht, dass im Mitteldrei Schädigungen geltend gemacht werden, ergibt sich einemonatliche Rente von 330 Euro oder wahlweise eine dement-sprechende einmalige Ausgleichszahlung. Alle Ausgleichszahlungen werden ohne Anrechnung auf dieGrundsicherung oder sonstige Transferleistungen (Arbeitslosen -geld, Eingliederungshilfe, Pflegegelder nach dem SGB usw.)gewährt. Sie sind nicht pfändbar.

Finanzierung

Durch Gesetz oder durch Vereinbarung wird ein Fonds gebildet.Der Fonds wird gespeist aus Beiträgen von:• Bund, • Bundesländern, • Kirchen, • Ordensgemeinschaften, • Öffentlichen Jugendhilfeträgern (Kommunen, Landkreise), • Heimträgern und Trägerverbänden, z. B. Diakonie und Caritas.

An der Verwaltung des Fonds werden Betroffene beteiligt.

Prävention in der Heimerziehung und gesetzgeberische Maß-nahmen 1) Die bereits am Runden Tisch thematisierten Vorschläge zu

(1.) der Entwicklung von Mindeststandards in der Heimauf-sicht, (2.) der Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbe-griffs „geeignete Fachkraft“ in § 45 Abs. 2 SGB VIII, (3.) derStärkung von Partizipations- und Beschwerdemöglichkeitenvon Kindern und Jugendlichen in Heimerziehung, (4.) derBeteiligung von Kindern und Jugendlichen an der Einrich-tungsaufsicht, (5.) der Schaffung unabhängiger Beschwer-deinstanzen („Ombudsstellen“), (6.) der Wiedereinführungvon Regelbesuchen der Heimaufsicht, (7.) dem Einsatz vonspeziellen Fachkräften für die Auswahl von Heimeinrich-tungen und (8.) der Einführung von Meldepflichten des Ju-gendamtes gegenüber dem Landesjugendamt werden ak-zeptiert und durch vier Vorschläge ergänzt:

• Die Ombudsstellen sind unabhängig. • Als Ombudsfrauen oder Ombudsmänner können auch

ehemalige Heimkinder mitwirken. • Die Regelbesuche der Landesjugendämter/Aufsichtsstel-

len in Heimen geschehen grundsätzlich unangemeldet. An ihnen nehmen auch Mitglieder des Heimbeirates teil.

• Auf geschlossene Unterbringung wird grundsätzlich ver-zichtet.

2) Dem Gesetzgeber wird empfohlen, den Begriff „Verwahrlo-sung“ in Art. 6 Abs. 3 GG durch folgende Neuformulierungvon Absatz 3 Art. 6 GG zu ersetzen: „Gegen den Willen derErziehungsberechtigten dürfen Kinder nur dann aufgrundeines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn dieErziehungsberechtigten in der Weise versagen, dass dieGrundrechte und damit das Wohl des Kindes erheblich verletzt werden.“

Die folgenden Lösungsvorschläge greifen wesentliche Teile derForderungen auf.

42. Forderungen der ehemaligen Heimkinder

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3. Systematische Prüfungvon Lösungswegen undLösungsvorschläge

Ausgangslage

In der Bewertung des Runden Tisches kommt klar zum Aus-druck, dass (1.) Unrecht und Leid in der Heimerziehung der50er und 60er Jahre vielfach zugefügt und zugelassen wurdenund dass (2.) dieses Unrecht und Leid eine besondere Aner-kennung und Rehabilitierung – auch durch den Einsatz finan-zieller Ressourcen – erfordern.

Für die Lösungsvorschläge des Runden Tisches wurden fol-gende systematische Abwägungen vorgenommen:

Immaterielle Anerkennung

Immaterielle Anerkennung, hier verstanden als Anerkennung,Rehabilitierung der Betroffenen und der Bitte um Entschuldi-gung, beurteilt der Runde Tisch als möglich, notwendig undangemessen.

Materielle Anerkennung

Materielle Anerkennung ist zunächst durch die Finanzierungvon Maßnahmen zur Aufarbeitung der Geschichte der Heim-erziehung, die Rehabilitierung der Betroffenen oder durch direkte individuelle finanzielle Leistungen denkbar.

• Überindividuelle AufarbeitungUnter einer überindividuellen Aufarbeitung sind hier Maßnah-men zu verstehen, die die Heimerziehung als Ganzes oder inTeilen aufarbeiten, sich dabei aber nicht auf konkrete Personenkonzentrieren. Es kann sich dabei um wissenschaftliche Arbei-ten, Dokumentationen und Archivierungen, um Wanderaus-stellungen oder Fachveranstaltungen zur Aufarbeitung derVergangenheit, auch zur Prävention für die Zukunft, handeln.Weite Teile der o. g. Forderungen der ehemaligen Heimkinderzielen auf diese Formen der Aufarbeitung ab. Der Runde Tischhält diese Maßnahmen zur weiteren Aufarbeitung für drin-gend geboten und ihre Umsetzung ohne Weiteres für möglich.

• Individuelle LeistungenIndividuelle Leistungen können Leistungen sein, die die indivi-duelle Aufarbeitung unterstützen, etwa Therapiekosten, Kostenfür die Verwandtensuche oder Unterstützung in besonderenLebenslagen, die durch die Heimerziehung mitverursacht wur-den. Es kann sich aber auch um direkte Leistungen handeln.

„Im juristischen System kann eine Rechtsverletzung zivilrecht-lich zu Ansprüchen auf Schadensersatz oder Schmerzensgeldführen. Nachgewiesen werden muss dann sowohl die Rechts-verletzung selbst als auch ein Schaden, der auf sie zurückzu-führen ist. Wenn über individuelle Leistungen außerhalb desjuristischen Systems nachgedacht wird, wird man auf die bei-den Voraussetzungen ‚Rechtsverletzung‘ und ‚Schaden‘ eben-falls nicht verzichten können. Es sind aber unterschiedlicheModelle denkbar, je nachdem, auf welche dieser Vorausset-zungen der Schwerpunkt gelegt wird“ (Rechtsexpertise, S. 85).

Der Runde Tisch musste für die weitere Klärung die grund-sätzliche Abwägung vornehmen, ob er seine Lösungsvor-schläge am Ausgangspunkt der „Rechtsverletzung“ oder am Ausgangspunkt des „Folgeschadens“ orientiert:

Ausgangspunkt „Rechtsverletzung“

Würde man am begangenen Unrecht als Ausgangspunkt an-setzen, wären individuelle Leistungen denkbar, die aber zwin-gend an bestimmte nachzuweisende und zu belegende Un-rechtstatbestände anknüpfen müssten.

In der öffentlichen Debatte wurde in diesem Zusammenhanggelegentlich eine pauschale Entschädigung für alle Heimkin-der gefordert. Betroffene müssten dabei nur nachweisen oderglaubhaft machen, dass sie in einem Heim untergebracht wa-ren. Eine solche pauschale Lösung wäre aber nur dann denk-bar, wenn auch eine pauschale Bewertung der damaligen Heim-erziehung generell als Unrechtstatbestand vorliegen würde.Die Heimerziehung an sich müsste dabei als grundsätzlichesUnrecht verstanden werden. Der Runde Tisch kommt in seinerBewertung jedoch zu der Einschätzung, dass eine solche pau-schale Qualifizierung der Heimerziehung als generelles Un-recht nicht angemessen und möglich ist (vgl. oben). Damitsind pauschale Entschädigungsleistungen allein aufgrund derTatsache, dass ein Heimaufenthalt stattgefunden hat, nichtrealisierbar.

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Eine weitere Möglichkeit wären individuell festzusetzendeEntschädigungen, die sich an Rechtsverletzungen im Einzelfallorientieren. Im Zwischenbericht hat sich der Runde Tisch hier -zu die Prüfaufgabe gegeben, Möglichkeiten etwa nach demVorbild des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) zu prüfen.42

Es müsste eine Gesetzesgrundlage geschaffen werden, auf derdann im Einzelfall Prozesse oder prozessähnliche Feststellungs-verfahren gründen würden.

Gemeinsam ist diesen Verfahren, die am begangenen Unrechtansetzen und zwingend einen Beweis oder zumindest eine be-legbare Glaubhaftmachung der Geschädigten erfordern, dasssie gerade im Fall der Heimerziehung der 50er und 60er Jahreerhebliche Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten mit sich brin- gen: Ansprüche könnten sich nach dem Verursacherprinzip nurgegen die jeweils rechtlich Verpflichteten oder ihre Rechtsnach-folger richten, was in der Praxis so gut wie nie durchsetz barwäre. In den Prozessen bzw. Feststellungsverfahren müsstedurch die Betroffenen das an ihnen begangene Unrecht – etwaeine Körperverletzung, eine Demütigung oder sexuelle Gewalt –nachgewiesen oder zumindest glaubhaft gemacht werden. Eingroßer Teil der Betroffenen könnte diesen Nachweis gar nichtoder nur sehr schwer erbringen. Einige ehemalige Heimkinderhaben Zugang zu ihren Akten erhalten, anderen war dies nichtmöglich – viele Akten wurden bereits vernichtet. Zudem findensich in den Akten in der Regel keine ausreichenden Vermerkeüber begangene Rechtsbrüche. Zeugen sind nur selten auffind-bar. Die Beweislage ist in vielen Fällen also äußerst schlecht. Folgen dieser Art der Prozessführung wären langwierige Ver-fahren zur Erstellung von Gutachten und Gegengutachten.Diese Lösungswege bergen die große Gefahr der Retraumati-sierung. Falls die Anerkennung des Unrechts verwehrt wird,führt das Verfahren wiederum zu Ohnmachtsgefühlen und zueinem Wiederaufleben alter Traumata. Aus Verfahren des OEGist bekannt, wie belastend und wie unbefriedigend ein solcherProzess für die Betroffenen sein kann – insbesondere wenn erohne Erfolg bleibt. Ein neuerliches zweites Unrecht würde beimBeschreiten dieses Weges also dadurch entstehen, dass einLeistungsanspruch allein davon abhängt, ob das Unrecht do-kumentiert und nachweisbar und nicht verjährt ist. Der Runde Tisch kommt daher zu der Einschätzung, dass eineLösung, die am individuellen Unrecht im Einzelfall ansetzt,nicht angemessen erscheint und aus den dargelegten Gründennicht zielführend für eine Lösung ist.

42 Zwischenbericht, S. 43 f.

Ausgangspunkt „Folgeschaden“

Der Ausgangspunkt an den Folgeschäden orientiert sich nichtan der zurückliegenden Schadensursache, sondern an heutebestehenden Beeinträchtigungen, die die Heimerziehung(wahrscheinlich) verursacht hat. Dabei handelt es sich bei-spielsweise um Folgen von Traumatisierungen, die zu Beein-trächtigungen im Alltag führen oder um bedrückende Lebens-umstände und geringe Renten. Dabei ist die Ursache desSchadens nicht dezidiert nachzuweisen. Maßgeblich sind dieheute festzustellenden Beeinträchtigungen, die jedoch mit einiger Wahrscheinlichkeit auf Erfahrungen in der Heimerzie-hung zurückzuführen sind. Demnach würde es beispielsweisegenügen, wenn eine Posttraumatische Belastungsstörungdurch die Bestätigung einer entsprechenden Fachkraft auf Er-fahrungen in der Heimerziehung mit zurückgeführt werdenkann, um eine Therapie oder individuelle Unterstützungsmaß-nahmen zu finanzieren. Der konkrete auslösende Unrechtstat-bestand – z. B. eine Misshandlung – müsste nicht individuellnachgewiesen werden. Im Vergleich zum Anknüpfungspunktam „Unrecht“ birgt eine solche Lösung nur minimale Gefahrender Retraumatisierung; Hilfe kann vergleichsweise schnell undunbürokratisch erbracht werden und die Schaffung neuen Un-rechts wird vermieden. Der Runde Tisch erachtet den Ausgangspunkt des „Folgescha-dens“ als sinnvoll, zielführend und praktikabel, um eine ge-rechte und wirkungsvolle Aufarbeitung, Anerkennung und Rehabilitierung zu ermöglichen. Der folgende Lösungsvorschlag orientiert sich daher maßgeb-lich am Ausgangspunkt des Folgeschadens.

Lösungsvorschläge

Nach eingehenden Beratungen kommt der Runde Tisch zu sei-nen Lösungsvorschlägen, die sich in vier Bereiche unterglie-dern: I. Rehabilitative Maßnahmen für die gesamte Betroffenen-

gruppeII. Finanzielle Maßnahmen zugunsten einzelner BetroffenerIII. Finanzielle Maßnahmen für überindividuelle AufarbeitungIV. Prävention und ZukunftsgestaltungV. Gesetzgeberische InitiativenVI. Übergangsregelungen

43. Systematische Prüfung von Lösungswegen und Lösungsvorschläge

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Zu den Vorschlägen im Einzelnen:

I. Rehabilitative Maßnahmen für die gesamteBetroffenengruppe

1. Anerkenntnis von Unrecht

Der Runde Tisch erkennt an, dass in der Heimerziehung in den50er und 60er Jahren Unrecht geschehen und Leid verursachtworden ist. Er hält es auch für geboten, dass heutige Reprä-sentanten der seinerzeit verantwortlichen Träger und der da-mals politisch Verantwortlichen eine solche Anerkennung aussprechen.

2. Bitte um Verzeihung

Der Runde Tisch bedauert zutiefst das Unrecht und Leid, dasKindern und Jugendlichen in Heimen zugefügt wurde. Er hältes für notwendig, dass die heutigen Repräsentanten der damalsverantwortlichen Institutionen öffentlich um Verzeihung bitten.

3. Einrichtung von regionalen Anlauf- und Beratungsstellen

In der Arbeit des Runden Tisches hat es sich für die betroffe-nen ehemaligen Heimkinder als besonders bedeutsam heraus-gestellt, dass es Anlaufstellen für sie gibt, an die sie sich ver-trauensvoll wenden können und von denen sie Unterstützungbei der individuellen Aufarbeitung erhalten. Allerdings beste-hen hierfür bislang kaum spezifische Strukturen. Der RundeTisch schlägt daher vor, entsprechende Anlaufstellen einzu-richten.

a. Dabei sollen folgende Anforderungen berücksichtigt werden:• Die Anlauf- und Beratungsstellen sollen sowohl physisch

wie psychisch „leicht zu erreichen“ sein (niedrigschwel-lig). Für die Erreichbarkeit ist eine entsprechende Anzahlan Anlauf- und Beratungsstellen, verteilt über das west -liche Bundesgebiet, sicherzustellen.

• Die Anlauf- und Beratungsstellen sollen partizipativ undaktivierend tätig sein; Betroffene sollen sich nicht als„Objekt“ einer Beratung fühlen, sondern durch die Arbeitder Anlauf- und Beratungsstellen in die Lage versetztwerden, aktiv an der Aufarbeitung der eigenen Biografiemitzuwirken.

• Die Anlauf- und Beratungsstellen sollen zielgruppenspe-zifisch ausgerichtet sein, insofern muss auch die dortigeFachkompetenz entsprechend ausgerichtet sein.

• Die Anlauf- und Beratungsstellen müssen als besondereAngebote an ehemalige Heimkinder öffentlich wahr-nehmbar sein und als solche kommuniziert werden.

b. Die Anlauf- und Beratungsstellen sollen eine Lotsenfunk-tion erfüllen und dabei folgende Aufgaben wahrnehmen:• Hilfe und Begleitung bei der Einsicht in Akten und andere

Dokumente; ggf. Überprüfung des ausgeübten Daten-schutzes durch die Datenschutzbeauftragten der Länder(§ 83 Abs. 6 SGB X);

• Ermittlung von eventuellen sozial- oder zivilrechtlichenAnsprüchen und Unterstützung bei deren Durchsetzung(z. B. Rente, OEG, Sozialleistungen);

• Hilfe bei der Realisierung und Umsetzung eines eventuel-len Berichtigungsanspruchs nach § 84 SGB X43;

• Hilfe bei der Suche nach therapeutischen Einrichtungenund Unterstützung bei Kontakten zu zuständigen Leis-tungsträgern (Finanzierung);

• (ggf. Beratung und Vermittlung zu Leistungen des unterII. vorgeschlagenen Hilfsfonds);

• Beratung über und Vermittlung von sonstigen sozialenHilfsangeboten;

• Hilfe bei der Suche nach Familienangehörigen, anderenehemaligen Heimkindern und/oder sonstigen damaligenBezugspersonen;

43 Von ehemaligen Heimkindern wird immer wieder im Zusammen-hang mit der Akteneinsicht gefordert, dass die Inhalte der Aktenhäufig nicht die Anordnung der Fürsorgeerziehung und insbeson-dere die Einweisung in ein geschlossenes Heim rechtfertigen wür-den. Auch der Runde Tisch hat festgestellt, dass, auch nach dama-ligen Maßstäben, die Wege in ein Heim, aber auch Maßnahmen inden Heimen, oft nicht zu rechtfertigen waren. Insofern wird vonden Ehemaligen eine Korrektur der Feststellungen gewünscht. § 84SGB X eröffnet eine solche Möglichkeit. Es heiß dort:„Sozialdaten sind zu berichtigen, wenn sie unrichtig sind. Wird dieRichtigkeit von Sozialdaten von dem Betroffenen bestritten undlässt sich weder die Richtigkeit noch die Unrichtigkeit der Datenfeststellen, bewirkt dies keine Sperrung, soweit es um die Erfüllungsozialer Aufgaben geht; die ungeklärte Sachlage ist in geeigneterWeise festzuhalten. Die bestrittenen Daten dürfen nur mit einemHinweis hierauf genutzt und übermittelt werden.“Insofern könnte, unter Verweis auf diese Vorschrift, von den Be-troffenen ein Berichtigungswunsch vorgebracht werden. Dieserwäre anhand der Akten zu prüfen. Über das Ergebnis der Prüfungist dann ein Schreiben zu fertigen, welches den Ehemaligen ausge-händigt und den Akten als ein nachträglich gefertigtes Dokumentbeigefügt werden könnte.

43. Systematische Prüfung von Lösungswegen und Lösungsvorschläge

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• Unterstützung und ggf. Initiierung von Gesprächsgruppenehemaliger Heimkinder (Selbsthilfegruppen);

• aktive Kooperation in der Region mit anderen sozialen Institutionen.

c. Die Anlauf- und Beratungsstellen sollen folgende besondereMerkmale aufweisen:• Bei den Anlauf- und Beratungsstellen sollen Beiräte ge-

schaffen werden, an denen Ehemalige beteiligt sind, umdie Arbeit der Stellen zu unterstützen und aus ihremWissen heraus zu begleiten;

• Die Anlauf- und Beratungsstellen sollen weisungsfrei arbeiten können;

• Sie sollen nachfrageorientiert aufgebaut werden – derAufbau soll über die nachgefragten Inhalte erfolgen;

• die Anlauf- und Beratungsstellen sollen damit ressour-censchonend geschaffen werden;

• sie sollen somit einem dynamischen Aufbau folgen: DieNachfrage bestimmt die Entwicklung.

d. Die Anlauf- und Beratungsstellen sollen bundesweit ver-netzt arbeiten. Diese Vernetzung soll durch eine bundes-zentrale Stelle, die durch den unten genannten „Fonds fürehemalige Heimkinder“ finanziert wird, sichergestellt sein.Diese Stelle sollte folgende Aufgaben wahrnehmen:• Wissenstransfer zwischen den lokalen Anlauf- und Bera-

tungsstellen;• Erfahrungsaustausch organisieren;• gemeinsame Standards erarbeiten;• Fachveranstaltungen durchführen; • Zusammenarbeit mit der Wissenschaft;• Kommunikation zur Bundesebene und ggf. zum Gesetz-

geber sicherstellen;• Beratung der regionalen Anlaufstellen im Interesse einer

einheitlichen Regelung der Hilfsmaßnahmen.

e. Aufbau und StrukturDie Anlauf- und Beratungsstellen werden unter der Feder-führung des jeweiligen Bundeslandes – ggf. unter Beteili-gung der Kommunen und der Freien Wohlfahrtspflege (Kir-chen) – initiiert, aufgebaut und finanziert.

Die Laufzeit der Anlauf- und Beratungsstellen sollte zunächstfür fünf Jahre gesichert sein und ist bei Bedarf zu verlängern.

II. Finanzielle Maßnahmen zugunsten einzelner Betroffener

Zu den Kernpunkten der Maßnahmen für Betroffene gehörendie finanziellen Maßnahmen. Durch sie soll es ermöglichtwerden, dass Ehemalige heute noch vorhandene Folgen ausder Zeit der Heimunterbringung zwischen 1949 und 1975 auf-arbeiten und/ oder behandeln lassen können. Der Runde Tischhält die Forderung der ehemaligen Heimkinder nach angemes-senen finanziellen Leistungen nach Maßgabe der nachfolgen-den Ausführungen für begründet. Es soll dabei geholfen wer-den, die eingetretenen und heute noch vorhandenen Folgen inihren Auswirkungen auf den Alltag der Ehemaligen zu min-dern oder gar auszugleichen.

Vor diesem Hintergrund schlägt der Runde Tisch vor, wienachfolgend beschrieben zu verfahren:

a. Ausgangspunkt und Umfang der Maßnahmen

Finanzielle Maßnahmen sollen immer individuell, anknüpfendan heute noch vorhandenen Folgeschäden, gewährt werden.Als Ausgangspunkte von Leistungen kommen in Betracht:

(1) Minderung von Rentenansprüchen aufgrund nicht gezahl-ter Sozialversicherungsbeiträge („Rentenersatzfonds“). Da-raus resultierende Leistungen sind nach den Regeln derSozialversicherung zu klären und ggf. – eventuell durchEinmalzahlungen – zu erbringen. Maßgebend dabei ist, ob die damalige Arbeit nach heutigem Verständnis sozial-versicherungspflichtig gewesen wäre.

(2) Folgeschäden und besonderer Hilfebedarf aufgrund von Erfahrungen und Schädigungen durch Heimerziehung(„Fonds für Folgeschäden aus Heimerziehung“):

Als finanzielle Maßnahmen zugunsten einzelner Betroffe-ner aufgrund von Traumatisierungen und besonderem Hilfebedarf werden im Einzelnen genannt:• therapeutische Hilfen, beispielsweise Sicherstellung von

Therapien, wenn die primär verpflichteten Leistungsträgereine Kostenübernahme verweigern;

• Übernahme von Kosten bei der Aufarbeitung, beispiels-weise Kosten von Verwandtensuche, Akteneinsicht, Fahrt-kosten zur damaligen Einrichtung, Veröffentlichung vonBiografien;

43. Systematische Prüfung von Lösungswegen und Lösungsvorschläge

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• Unterstützung bei besonderer Hilfsbedürftigkeit, bei-spielsweise Hilfe bei; der Beschaffung von (medizini-schen, orthopädischen, technischen etc.) Hilfsmitteln;

• Beratungs- und Betreuungskosten (zum Beispiel Rechts-anwälte), beispielsweise Unterstützung bei Ämtergängenund -kontakten;

• Qualifizierungsmaßnahmen, beispielsweise Hilfe bei derVermittlung und Finanzierung von Nachqualifikationenoder Unterstützung bei Umschulungen;

• Unterstützung für ein selbstbestimmtes Leben im Alter(zum Beispiel zur Vermeidung von Heimaufenthalten);

• Unterstützung für Menschen in besonderen sozialenNotlagen.

b. Voraussetzungen der Maßnahmen

• AntragstellungDarlegung von (1) der Zeit des Heimaufenthalts sowie (2)der schädigenden Wirkung der Heimerziehung und/oder (3)– für den Bereich des „Rentenersatzfonds“ – der Art und desUmfangs der Arbeitsleistungen während des Heimaufent-halts, für die keine Sozialversicherungsbeiträge abgeführtwurden. Soweit eine Hilfe des „Rentenersatzfonds“ oder des „Folge-schadenfonds“ in Anspruch genommen werden soll, kannggf. eine Stellungnahme Externer zum Antrag (Stellung-nahme eines fachkundigen Dritten, dass ein Folgeschadenvorliegt) eingeholt werden.

Hierbei gilt:· keine zu hohen Anforderungen an Darlegungspflichten;· Glaubhaftmachung mit pauschalierter Betrachtung dereinzelnen Merkmale;

· bei der Bewertung befriedende Genugtuungsfunktion undBilligkeitserwägungen in die Entscheidung einfließen las-sen;

· Die Darlegungen können zur Glaubhaftmachung auch mitErgebnissen wissenschaftlicher Forschung zu den jeweiligenHeimen bzw. den Unterbringungsbedingungen abgeglichenwerden, sofern entsprechende Forschungsergebnisse vor-liegen.

• Eine Unterstützung zur Aufarbeitung (Akteneinsicht, Ver-wandtensuche, Besuche der Einrichtung) soll auch dann si-chergestellt werden, wenn kein Folgeschaden vorliegt, dieHeimunterbringung aber glaubhaft gemacht werden kann.

c. Es ist darauf zu achten, dass finanzielle Leistungen

• nicht auf andere Sozialleistungen anzurechnen sind,• nicht pfändbar sind,• auch bei Wohnsitz im Ausland bezogen werden können.

III. Finanzielle Maßnahmen für über -individuelle Aufarbeitung

a. Wissenschaftliche Aufarbeitung: Die Heimerziehung der50er und 60er Jahre ist historisch, pädagogisch und juris-tisch bislang nur teilweise aufgearbeitet worden. Die weite-ren wissenschaftlichen Aufarbeitungen können durch denFonds unterstützt werden.

b. Ausstellungen und Dokumentationen: Die Geschichte derHeimerziehung ist auch in Form von Ausstellungen und Do-kumentationen aufzuarbeiten und einem breiten Publikumzugänglich zu machen. Entsprechende Maßnahmen könnenfinanziell unterstützt werden.

c. Gedenken: Symbole des Gedenkens beispielsweise durch Fi-nanzierung von Gedenktafeln können finanziell unterstütztwerden.

43. Systematische Prüfung von Lösungswegen und Lösungsvorschläge

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Finanzierung der Maßnahmen aus II. und III.

Fonds für ehemalige Heimkinder

In einem gemeinsamen Verfahren aller Beteiligter wird einbundesweiter Fonds oder eine bundesweite Stiftung gegrün-det, in den/die Bund, Länder, Kommunen, Kirchen und ggf. betroffene Wohlfahrtsverbände einzahlen. Über die Zentrale desFonds/der Stiftung werden entsprechende Anträge auf Leis-tungen bearbeitet und beschieden. Die Klärung der Leistungsvoraussetzungen erfolgt in den regionalen Anlauf- und Bera-tungsstellen, die einen entsprechenden Antrag mit den dortgetroffenen Feststellungen an die zentrale Anlauf- und Bera-tungsstelle senden. Für die ehemaligen Heimkinder überneh-men die regionalen Anlauf- und Beratungsstellen eine ent-sprechende „Lotsenfunktion“.

Der Runde Tisch hält eine Summe von 120 Millionen Eurofür die Ausstattung des Fonds / der Stiftung für erforder-lich, die sich aufteilt in 20 Millionen Euro für den „Rentenersatzfonds“ und 100 Millionen Euro für den „Fonds fürFolgeschäden der Heimerziehung“.Getragen werden soll der Fonds/die Stiftung jeweils zu einem Drittel von• Bund,• Ländern und Kommunen,• Katholischer Kirche und Evangelischer Kirche und deren

Wohlfahrtsverbände und Ordensgemeinschaften.

Zuwendungen und Spenden zu dem Fonds sind über die genannte Summe hinaus jederzeit möglich und erwünscht.44

44 Die ehemaligen Heimkinder am Runden Tisch fordern nachdrück-lich, dass auch beteiligte Betriebe aus Wirtschaft und Landwirt-schaft in den Fonds/die Stiftung einzahlen.

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IV. Prävention und Zukunftsgestaltung

Zweifelsohne sind die Bedingungen in der Kinder- und Ju-gendhilfe heute deutlich besser als in den 50er und 60er Jah-ren. Durch die Aufarbeitung am Runden Tisch wurde punktuellaber immer wieder deutlich, dass einige Bereiche in der Kin-der- und Jugendhilfe noch immer nicht die Entwicklung ge-nommen haben, die vor dem Hintergrund der historischen Er-fahrung notwendig und sinnvoll erscheint. Sowohl aus Sichtder am Runden Tisch beteiligten ehemaligen Heimkinder alsauch aus Sicht der vertretenen Fachleute und Experten ausder heutigen Jugendhilfe bedarf es daher eines kritischen undpräventiven Blickes auf die aktuellen und zukünftigen Ent-wicklungen. Der Runde Tisch spricht im Weiteren die wesent-lichen Problemkreise an und fordert dazu auf, sich mit diesenThemen zu befassen, sie in den Blick zu nehmen und zu bear-beiten.

1. Heimaufsicht und Schutz der Kinder und Jugendlichen inEinrichtungen

• Um der präventiven Schutzfunktion der Betriebserlaubnis-erteilung nach §§ 45 ff. SGB VIII gerecht zu werden, sind füreine Prüfung im Vorfeld klare Kriterien i. S. v. Mindeststan-dards (z. B. Betreuungsschlüssel, Trägereignung, Personaleig-nung, Betreuungskonzept etc.) erforderlich. Der unbestimmteRechtsbegriff „Einrichtung“ bedarf hier – vergleichbar derSozialhilfe – einer gesetzlichen jugendhilferechtlichen Defi-nition (z. B. hinsichtlich Mindestgröße bei Platzzahl oder desErfordernisses von Fremdpersonal).

• Ebenfalls im SGB VIII ist eine Konkretisierung des unbe-stimmten Rechtsbegriffs „geeignete Kräfte“ im § 45 Abs. 2SGB VIII durch die Benennung des ausschließlichen Fach-kräftegebotes für betriebserlaubnispflichtige Einrichtungender Erziehungshilfe erforderlich, verbunden mit der Verpflich-tung der Fachkräfte zu regelhafter Fort-/Weiterbildung so-wie zu externer Supervision. In der Praxis ist eine bundes-weit einheitliche Handhabung der Prüfung des Personalshinsichtlich seiner fachlichen und persönlichen Eignung er-forderlich. Ohne positiven Abschluss dieser Eignungsprüfunggilt nach der Rechtsprechung ein Beschäftigungsverbot(OVG NRW).

43. Systematische Prüfung von Lösungswegen und Lösungsvorschläge

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• Kinder und Jugendliche sind „Experten in eigener Sache“und damit in besonderem Maße geeignet, mögliche Fehlent-wicklungen zu erfassen. Deshalb sind ihnen zwingend Par -tizipationsmöglichkeiten in den Einrichtungen in allen siebetreffenden Angelegenheiten einzuräumen (Entwicklungeines Rechtekataloges, Beschwerdemöglichkeiten, Beteili-gungsgremien). Eine wirkungsvolle Beteiligung der Kinderund Jugendlichen bei allen sie betreffenden Angelegenhei-ten ist im Übrigen auch einer der wesentlichen Erfolgsfakto-ren bei der Gewährung erzieherischer Hilfen. Empfehlenswertwäre hier im § 45 Abs. 2 SGB VIII eine verpflichtende Ein-führung von Beteiligungs- und Beschwerdeverfahren, ver-bunden mit der Aufklärung der Betreuten über ihre Rechte.

• Kinder und Jugendliche sind auch im Rahmen der Aufgaben-erfüllung der Einrichtungsaufsicht – insbesondere bei derBeratung und Aufsicht während der Betriebsführung – zubeteiligen. Neben Einrichtungsleitungen, Trägern und örtli-chen Jugendämtern sind die Landesjugendämter auch eineBeschwerde- und Beratungsinstanz für Kinder und Jugend -liche. Den Betreuten ist Gelegenheit zu geben, sich mit denMitarbeitenden der Aufsicht in Verbindung zu setzen (z. B.Visitenkarten am „Schwarzen Brett“).

• Die ergänzende Errichtung unabhängiger Beschwerdeinstan-zen („Ombudsstellen“) für die Kinder und Jugendlichen ist zu befürworten. Erfahrungsgemäß sind einrichtungsinterneBeschwerdemöglichkeiten nicht flächendeckend vorhandenoder die Betreuten nutzen diese nicht. Auch für vorhandeneBerührungsängste wie z. B. zur Institution Landesjugendamtkann hierdurch eine wirkungsvolle zusätzliche Instanz ge-schaffen werden.

• Das Erfordernis des Einzelfalls als Voraussetzung für eine ört-liche Prüfung ist anhand festzulegender Risikofaktoren (s. o.)neu zu definieren. Abgestuft nach dem institutionellen „Ge-fährdungsgrad“ einer Einrichtung muss die Notwendigkeitder Wiedereinführung von Regelbesuchen und deren Frequenzneu überdacht werden. Ein regelhafter erster Besuch nachder Erstinbetriebnahme einer Einrichtung (z. B. innerhalbdes ersten Jahres) sollte in jedem Fall vorgegeben werden.

• Heimunterbringungen des Jugendamtes mit den Aufgabender Auswahl von Einrichtungen und Begleitung von Heim-kindern in der Erziehungshilfe sollten nur speziell weiterge-bildeten und erfahrenen Fachkräften in den Sozialen Dienstenübertragen werden. Zu deren Unterstützung sollte – da eineBetriebserlaubnis nur Mindestanforderungen festlegt – ähn-lich wie in den Bereichen Krankenhaus oder Pflegeheim dieEinführung eines Systems zur qualitativen Bewertung (Zerti-fizierung, „Einrichtungs-TÜV“) in Erwägung gezogen werden.

• Durch den regelmäßigen Kontakt mit Einrichtungen sowohlüber die Belegungspraxis und die regelmäßigen Hilfeplange-spräche vor Ort als auch im Rahmen der örtlichen Zuständig-keit durch den Abschluss von Leistungs-, Entgelt- und Qua-litätsentwicklungsvereinbarungen verfügen die Fachkräfteim Jugendamt vielfach über Erkenntnisse, die den Landes -jugendämtern nicht vorliegen. Hier ist die Einführung einerMeldeverpflichtung für Sachverhalte erforderlich, die dieGewährleistung des Kindeswohls in Einrichtungen tangieren.

2. Vormundschaft

• Für den Bereich der Vormundschaft wurde festgestellt, dassin den 50er und 60er Jahren das Recht nicht vorsah, dassVormünder sich persönlich um ihre Mündel sorgten, z. B. regelmäßigen persönlichen Kontakt zu ihnen hatten. DieRechtslage hat sich diesbezüglich bis heute nicht geändert.Angesichts der hohen Fallzahlen, mit denen Vormünder be-lastet werden, besteht dieses Amt nach wie vor weitgehendaus verwaltender und organisatorischer Tätigkeit ohne per-sönlichen Kontakt zum Kind. Die aktuellen gesetzgeberischenInitiativen, die an dieser Situation etwas ändern sollen, wer-den daher ausdrücklich begrüßt. Vormünder sollten sichrechtlich wie moralisch in der Verantwortung sehen, sichum das Wohlergehen ihrer Mündel zu sorgen, regelmäßigKontakt zu halten und gegenüber Dritten, wie etwa Heim-einrichtungen, kritisch und ggf. kontrollierend aufzutreten.Dies wird nur zu erreichen sein, wenn man die Vormünderentlastet, indem man die Fallzahlen senkt und eine Höchst-grenze für die Anzahl der Vormundschaften je Vormund imGesetz festschreibt.

3. Ausbildung und Qualifikation

• Die Geschichte der Heimerziehung der 50er und 60er Jahresollte in die Curricula der einschlägigen Ausbildungs- undStudiengänge im Bereich der Sozialen Arbeit eingehen. DieFehlentwicklungen, Probleme und Fehler der damaligen Heim-erziehung sollten den zukünftigen Fachkräften bewusst ge-macht werden, um eine Wiederholung zu vermeiden.

43. Systematische Prüfung von Lösungswegen und Lösungsvorschläge

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V. Gesetzgeberische Initiativen

1. Begriff „Verwahrlosung“ in Art. 6 Abs. 3 GG

„(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur aufgrund eines Gesetzes von der Familie getrenntwerden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenndie Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.“

Wie aus der Aufarbeitung und der obigen Bewertung des Run-den Tisches hervorgeht, hat der Begriff der „Verwahrlosung“eine hochproblematische Auslegung und Anwendung erfah-ren. Der Begriff wird heute assoziiert mit einer abwertenden,vorverurteilenden und erniedrigenden Haltung gegenüberAdressaten sozialer Leistungen. In der pädagogischen undpsychosozialen Praxis sowie im heutigen BGB und SGB VIIIfindet er deswegen keine Verwendung mehr und wird als vor-belastet und stigmatisierend abgelehnt. In Art. 6 Abs. 3 GGbesteht der Begriff der „Verwahrlosung“ jedoch weiterhin. DerRunde Tisch empfiehlt zu prüfen, ob der Begriff durch eineangemessenere Formulierung, in der sich eine moderne undwertfreie Haltung ausdrückt, zu ersetzen ist. Dabei ist danachzu fragen:g Wofür stand der Begriff in der Vergangenheit?g Stimmt der Begriff mit der heutigen Realitätsvorstellung

überein?g Folgt daraus eine Notwendigkeit/Gebot diesen Begriff

durch eine bessere Formulierung zu ersetzen?

2. Datenschutz/Erleichterung der Einsichtnahme in Akten/Dokumente der Kinder- und Jugendhilfe bzw. Vormund-schaft

Ehemalige Heimkinder beklagen immer wieder, dass ihnen derZugang zu den sie betreffenden Akten/Dokumenten – sofernsolche noch existieren – verwehrt wird, und zwar unter Beru-fung auf datenschutzrechtliche Bestimmungen. Die Beratungenam Runden Tisch haben ergeben, dass die Berufung auf solcheBestimmungen oftmals auf Missverständnissen oder falschenInterpretationen der einschlägigen Gesetze beruht.45 Es wurdeaber auch deutlich, dass zur Vermeidung solcher Fehleinschät-zungen und allgemein zur Förderung von Transparenz des Ver-waltungshandelns im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe ge-setzgeberische Initiativen wünschenswert wären.

45 Dazu ausführlicher siehe Anhang „Empfehlung: Akteneinsichtdurch ehemalige Heimkinder“.

Der Runde Tisch empfiehlt in diesem Sinne die Entwicklungneuer gesetzlicher Vorgaben mit drei nachfolgend beschriebe-nen Regelungselementen:

• Differenzierung der datenschutzrechtlichen Löschungs-pflichten im SGB; Konkretisierung „schutzwürdiger Inte-ressen des Betroffenen“: Gem. § 84 Abs. 2 SGB X sind Sozi-aldaten zu löschen, wenn ihre Speicherung unzulässig ist(Satz 1) oder „wenn ihre Kenntnis für die verantwortlicheStelle zur rechtmäßigen Erfüllung der in ihrer Zuständigkeitliegenden Aufgaben nicht mehr erforderlich ist und keinGrund zu der Annahme besteht, dass durch die Löschungschutzwürdige Interessen des Betroffenen beeinträchtigtwerden“ (Satz 2). Rechtsprechung und Literatur orientieren sich in der Aus -legung dieser Regelung am Interesse für einzelne Verwal-tungsverfahren, gehen im Übrigen davon aus, dass Betrof-fene vom Prinzip her darauf bedacht sind, dass Informatio-nen nach Beendigung des jeweiligen Verfahrens gelöscht,die Dokumente also vernichtet werden. Diese Annahme gilterst recht für die Fälle unzulässiger Speicherung, z. B. beigespeicherten Fehlinformationen. Nicht berücksichtigt wird bei diesen Vorgaben ein möglichesInteresse Betroffener, zu einem späteren Zeitpunkt ausführ-liche Informationen darüber zu bekommen, wie sich die In-stitutionen der Kinder- und Jugendhilfe ihnen gegenüberverhalten bzw. erklärt haben, möglicherweise ja auch un-rechtmäßig. Wurden Informationen unbefugterweise erho-ben oder stellen sie sich als falsch heraus, so müssen sienach derzeit geltendem Recht i.d.R. gem. § 84 gelöscht (dieDokumente vernichtet) werden. Damit aber ist den Betroffe-nen keine Gelegenheit gegeben, ihre eigene Geschichte (inder Perspektive des Jugendamtes) besser beschreiben, erklä-ren oder aber auch aufarbeiten zu können. Für die Jugend-ämter, entsprechend für die freien Träger, sollte deshalb –zumindest für Fälle der Fremdplatzierung – als Pflicht ein-geführt werden, bestimmte Akten / Aktenteile nach Ablaufder jeweils gültigen Aufbewahrungsfristen zu sperren, stattsie zu löschen bzw. zu vernichten. Sie sollten allerdings (nur)auf Antrag des jeweils Betroffenen zur Einsicht bzw. Kennt-nisnahme zur Verfügung gestellt werden dürfen; der Betrof-fene sollte umgekehrt (wie bisher) die Löschung bewirkendürfen, soweit dem keine schutzwürdigen Belange Dritterentgegenstehen.Es ist auch zu erwägen, ob nicht nach Ablauf bestimmterFristen Leistungsempfängern der Kinder- und Jugendhilfeausdrücklich angeboten werden sollte, Akteneinsicht zunehmen, und zwar soweit praktisch möglich in individuellerAnsprache.

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43. Systematische Prüfung von Lösungswegen und Lösungsvorschläge

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• Per Gesetz Schaffung von zur Verschwiegenheit verpflich-teten Stellen, die aus Akten die für den jeweils Betroffe-nen relevanten Informationen heraussuchen und daten-schutzrechtlich korrekt zur Kenntnis bringenBegehrt ein Betroffener Einsicht in „seine“ Akten bzw. Kennt-nis von dort gespeicherten Informationen, ist nach den da-tenschutzrechtlichen Vorgaben sicher zu stellen, dass beidiesem Vorgang nicht etwa schutzwürdige Belange Dritterbeeinträchtigt werden. Zwar ist nach den Hinweisen der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder dasInteresse des Personals am Schutz seiner Informationen alsgeringer einzustufen als das Interesse der Betroffenen ander Kenntnis der für ihn relevanten Informationen.46 Oftmalssind aber Akten so geführt, dass bei einer Einsichtnahme dieKenntnis von Daten ähnlich Betroffener (also z. B. andererHeimkinder oder über deren Familien) bekannt würden. Deshalb sollte eine Möglichkeit geschaffen werden, die ver-trauenswürdig und unabhängig zusammenfassend über Ak-tenteile Auskunft geben kann und darf (ombudsschaftlich).Sie sollte ähnliche Zugangsrechte wie Verschwiegenheits-pflichten haben wie die Datenschutzbeauftragten des Bun-des und der Länder.

• Vormundschaften über Minderjährige: Mit Beendigungder gesetzlichen Vertretung sind die für ihn relevantenUnterlagen an das Mündel herauszugebenIn der Praxis ist es noch nicht selbstverständlich, dass demMündel nach Beendigung der gesetzlichen Vertretungskom-petenz angeboten wird, ihm die ihn betreffenden Aktenun-terlagen zu übergeben. Dies sollte durch eine klare gesetzli-che Vorgabe zur Selbstverständlichkeit werden; notwendigeAusnahmen von dieser Regel sollten ebenda definiert sein.

3. Weitere gesetzgeberische Initiativen werden ggf. durchdie unter IV. genannten Themenkomplexe

• Heimaufsicht (Änderung §§ 45 ff. SGB VIII) und• Vormundschaftsrecht (Änderung § 55 SGB VIII) erforder-

lich.

VI. Übergangsregelungen

1. Anlaufstelle

Die Arbeit der Geschäfts- und Infostelle des Runden TischesHeimerziehung wird im Februar 2011 enden.

Bis über die Vorschläge des Runden Tisches beraten und ent-schieden sein wird, wird einige Zeit vergehen. Der Runde Tischspricht sich dringend dafür aus, für diese Übergangszeit eineStelle einzurichten, die als Anlaufstelle für ehemalige Heim-kinder dient und sonstige interessierte Personen über die Ent-wicklungen informiert.

Bund und Länder werden gebeten, eine entsprechende Finan-zierung zu sichern und die Einrichtung der Stelle zu initiieren.

Die Anlaufstelle wird gebeten, spätestens in einem halben Jahrdie Mitglieder des Runden Tisches einzuladen, um über denFortgang der Umsetzung seiner Lösungsvorschläge zu beraten.

2. Aktenverbleib

Wegen der Besonderheit des Runden Tisches Heimerziehungund der historischen Bedeutung des Themas spricht sich derRunde Tisch für den Verbleib der Akten des Runden Tisches aneinem besonderen Ort aus. Er empfiehlt, die Akten dem Bun-desarchiv anzubieten.

46 Vgl. Anhang „Empfehlung: Akteneinsicht durch ehemalige Heim-kinder“.

43. Systematische Prüfung von Lösungswegen und Lösungsvorschläge

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Abstimmungsprotokoll /Protokollnotizen

Abstimmung:

Der vorliegende Abschlussbericht wurde am 09. und 10. De- zember 2010 von den Mitgliedern des Runden Tisches aus-führlich beraten, in der hier dokumentierten Form ange-nommen und einstimmig verabschiedet.

Zur Abstimmung über den Abschlussbericht wurden folgendeNotizen zu Protokoll gegeben:

Protokollnotiz der BundesregierungNach Auffassung der Bunderegierung richten sich die Empfeh-lungen und Überlegungen zur immateriellen und materiellenAnerkennung des Unrechts und des Leids in der Heimerziehungder 50er und 60er Jahre an die bereits im Zwischenbericht ge-nannten verantwortlichen Institutionen.Der Bund wird sich an einer gemeinsamen Lösung beteiligen,wenn die anderen öffentlichen und freien Träger ihrer Verant-wortung gerecht werden.Mit der Übergabe des Berichtes an den Deutschen Bundestagobliegt es diesem, die vorliegenden Vorschläge zu bewertenund darüber zu entscheiden.

Protokollnotiz der Vertreter der Länder am Runden TischDie Vertreter der Länder am Runden Tisch weisen zu ihremAbstimmungsverhalten auf Folgendes hin:Die Länder sind in der föderalen Struktur Deutschlands eigeneverfassungsrechtliche Rechtspersönlichkeiten. Für sie handelndie in den jeweiligen Landesverfassungen bestimmten Organe,nämlich die Landesregierungen, bzw. die Landesparlamente.Nur diese können Verpflichtungen für die Länder, insbesonderein einer Dimension, wie im vorliegenden Fall, verbindlich be-schließen. Die Vertreter der Länder bei dem Runden Tisch ha-ben insoweit kein Mandat zum Abschluss. Ihre Aufgabe war,daran mitzuwirken, wie Lösungen aussehen können. Genaudiese Aufgabe haben die Vertreter der Länder wahrgenommen. Mit Vorlage des Abschlussberichtes an die Länder obliegt esdiesen, die vorliegenden Vorschläge zu bewerten und darüberzu entscheiden.

43. Systematische Prüfung von Lösungswegen und Lösungsvorschläge

Protokollnotiz der LandesjugendämterHerr Meyer erklärt, dass er als Vertreter der Landesjugend -ämter hinsichtlich der Lösungvorschläge des Runden TischesHeimerziehung verbindlich keine Erklärung für alle Landesju-gendämter abgeben könne. Diese seien zum überwiegendenTeil Landesbehörden, so dass insoweit das jeweilige Land ent-scheiden müsse. Im Übrigen gebe es drei kommunale Landes-jugendämter: Für Baden-Württemberg könne er keine Erklä-rung abgeben. Für die beiden Landschaftsverbände aus Nord-rhein-Westfalen könne er feststellen, dass dort im GrundsatzBereitschaft signalisiert worden sei, die Vorschläge des Run-den Tisches Heimerziehung – soweit möglich – aufzugreifen.

Protokollnotiz der Kommunalen SpitzenverbändeDie kommunalen Spitzenverbände halten eine Vielzahl der unter IV formulierten Vorschläge zu Prävention und Zukunfts-gestaltung für nicht zielführend bzw. für nicht überzeugend.Die Vorschläge unter IV werden daher nicht unterstützt.

Protokollnotiz der ehemaligen HeimkinderDie ehemaligen Heimkinder am Runden Tisch binden ihre Zu-stimmung daran, dass im Interesse der Gleichbehandlung allerBetroffenen – unabhängig vom Zeitpunkt der Antragstellung– sichergestellt ist, dass Leistungen des Fonds an alle Antrag-stellenden erbracht werden können.

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Schlusswort der Moderatorin

Der Runde Tisch hatte in den letzten zwei Jahren die Aufgabe,die Heimerziehung der 50er und 60er Jahre aufzuarbeiten undfür den Deutschen Bundestag Lösungsvorschläge und ein Kon-zept für den weiteren Umgang mit der Thematik zu erarbeiten.Die daraus resultierende Bewertung und die daraus folgendenLösungsvorschläge legen wir hiermit der Öffentlichkeit vor. Mit diesem Bericht endet eine bislang einmalige Form der Auf-arbeitung. Erstmalig hatte der Deutsche Bundestag mit demRunden Tisch Heimerziehung ein besonderes außerparlamen-tarisches Gremium angeregt, dessen Basis allein der guteWille, die Fachkompetenz, die Bereitschaft zu einem enormenZeit- und Arbeitseinsatz und die Entschlossenheit aller Betei-ligten war, eine Lösung zu erreichen.Für eine solche Arbeit gab es bislang in der Bundesrepublikkeine historischen Vorläufer, an denen sich der Runde Tischhätte orientieren können. Mit dem Thema Heimerziehung in den 50er und 60er Jahrewar aber auch der Gegenstand der Beratungen des Runden Tisches ein besonderer. Es ging um Missstände in der jungenBundesrepublik, in der bereits das Grundgesetz galt und diesich als Rechtsstaat begriff. Juristisch war diese Aufgabe durch-aus schwieriger zu lösen als die Frage der Entschädigung vonOpfern aus vergangenen Unrechtssystemen. Expertisen vonHistorikern, Pädagogen und Rechtsphilosophen haben am run-den Tisch belegt, dass diese formale Rechtsstaatlichkeit in derjungen Bundesrepublik nicht überall Lebenspraxis war, dass eszumindest einen Bereich gab – nämlich den der Heimerzie-hung – in dem Grundrechte von Kindern und Jugendlichenvielfach verletzt wurden. Zugleich konzentrierten sich die Beratungen auf die Erarbei-tung von Lösungsvorschlägen, die heute überhaupt noch um-setzbar sind und den ehemaligen Heimkindern und ihren be-sonderen, aus der Heimerziehung resultierenden, Forderungenund Problemlagen annähernd gerecht werden könnten. DieAnsprüche aus Geschehnissen in der Heimerziehung der 50erund 60er Jahre waren zu Beginn des Runden Tisches generellverjährt. Eine Lösung, die auf geltendem Recht fußt, war da-her von vornherein nicht denkbar. Diese Situation bildete dieAusgangslage für die Arbeit des Runden Tisches und prägteseine wachsende Bereitschaft, eine fast unmöglich scheinendeLösung doch noch möglich zu machen.

Die zweijährige, zeitraubende und von hoher Intensität getragene Arbeit stellte höchste Anforderungen an alle BeteiligteBesonders hervorzuheben ist dabei die Rolle aller ehemaligeHeimkinder, derjenigen, die am Runden Tisch mitarbeitetenund den Prozess maßgeblich mit beeinflussten und derjenigedie direkt am Runden Tisch oder indirekt über die Infostelleihre Erfahrungen berichtet haben. Die Beratungen zur Aufarbeitung durch den Petitionsausschueinerseits und durch den Runden Tisch Heimerziehung anderseits haben insgesamt über vier Jahre gedauert. Diejenigen,die diesen Prozess angestoßen haben, erwarten – u. a. auchaufgrund ihres Alters – zu Recht, dass die erarbeiteten Lösungvorschläge zeitnah umgesetzt werden, um die Betrof fenenbald zu erreichen. Das Anerkenntnis des begangenen Unrechts durch alle Veranwortlichen und die Bitte um Verzeihung, sowie eine generellAuseinandersetzung mit ehemaligen Heimkindern, Hilfe beidem Auffinden ihrer Akten und bei dringenden aktuellen Notlagen können sofort und unmittelbar stattfinden. Vielerortswurde in den letzten Jahren bereits damit begonnen.Aber auch die finanzrelevanten Vorschläge, die Initiierung deFonds für ehemalige Heimkinder und die Errichtung der reginalen Anlaufstellen dulden keinen langen Aufschub.Der Runde Tisch hat sich zu einem einstimmigen Lösungsvorschlag durchgerungen. Er geht von einer Bindewirkung desvorgelegten Konzeptes für die Umsetzung durch alle am Runden Tisch beteiligten öffentlichen und freien Institutionen aBundestag und Landesparlamente werden dringend gebeten,diese Umsetzung zügig anzugehen und so auch durch baldigEntscheidungen das Signal an die ehemaligen Heimkinder zuverstärken, dass ihre Anliegen gehört und das Menschenmögliche getan wurde, ihnen gerecht zu werden.

Dr. Antje Vollmer10. Dezember 2010

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I

Anhänge

Anhang:

Auswertung der Arbeit der Infostelle desRunden Tisches

Die Infostelle des Runden Tisches wurde eingerichtet, um ehe-maligen Heimkindern die Gelegenheit zu geben, ihre Erfahrun-gen zu berichten und ihre Anliegen vorzubringen.Von Beginn an wurde die Stelle stark nachgefragt. Viele derBetroffenen nahmen schriftlich Kontakt auf und schildertenausführlich ihre Erlebnisse. Die telefonischen Sprechzeitenwurden zusätzlich von zahlreichen ehemaligen Heimkinderngenutzt. Einigen war es möglich, nach Berlin zu kommen undihre Erfahrungen und Anliegen persönlich bei der Infostellevorzubringen.Gesprächsdauer der Kontakte variierte von 30 Minuten bis zu3 Stunden. Circa 30 % der ehemaligen Heimkinder nahmenwiederholt Kontakt auf.Da die Art der Berichterstattung sehr unterschiedlich war –Meldungen zwischen einer Seite und mehreren hundert Seitengingen ein – wurde ein Fragebogen entwickelt, um vergleich-bare Daten zu erhalten und auswerten zu können. Auf Wunschwurde dieser Fragebogen zusätzlich zu den persönlichen odertelefonischen Gesprächen an Ehemalige versandt. Dabei standdie strukturierte Erfassung der Daten im Vordergrund. Die Itemswurden aus dem zu Beginn der Infostelle vorliegenden Mate-rial entwickelt. Die Erhebung entspricht keiner repräsentativenUntersuchung und kann somit keine Aussagekraft für alle vonHeimerziehung Betroffenen in der fraglichen Zeit entfalten.Sie gibt die Erfahrungen derjenigen wieder, die sich von sichaus an die Infostelle gewandt haben.

Im November 2009 wurde der Fragebogen dahingehend ver-ändert, dass bei der Frage Umgang mit Essen differenziertwurde: Es wurde zum einen gefragt, ob Zwang zum Essen all-gemein ausgeübt wurde, und zum anderen, ob die Heimkindergezwungen wurden, das Erbrochene wieder zu essen. In derneuen Version des Fragebogens wurde zusätzlich nach posi -tiven Erlebnissen gefragt.Die Auswertung der Daten der Infostelle erfolgte in zwei Stu-fen. Die erste Auswertung erfasste alle vorliegenden Daten bisEnde Februar 2010. Sie diente als Grundlage der Berichterstat- tung der Infostelle am Runden Tisch in seiner 7. Sitzung am15. April 2010. Die zweite Auswertung fand im Oktober 2010auf der Grundlage aller bis dahin erfassten Meldungen an dieInfostelle statt.

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II

Gesamtauswertung:Während der gesamten Laufzeit bis Ende September 2010haben sich 619 Ehemalige, 35 Angehörige, 14 ehemalige Be-treuungspersonen sowie 105 Sonstige (Rechtsanwälte, Thera-peuten oder andere Personen) an die Infostelle des Runden Tisches gewandt.Es wurden 551 Fragebögen versandt, 360 davon wurden zu-rückgesandt. Von den Rückläufen der Fragebögen waren 336auswertbar.In den folgenden Tabellen variieren die Gesamtzahlen, die dieGrundlage für die jeweilige Tabelle bilden (N), da nicht in allenFragebögen Angaben zu allen Kategorien und Fragestellungengemacht wurden. Beispielsweise haben nicht alle ihr Geburts-jahr oder die Trägerschaft der Heime angegeben.

Am stärksten vertreten unter den ehemaligen Heimkindern,die berichten wollen, sind die heute 56- bis 71-Jährigen (Jahr-gänge 1939 – 1954).

Etwa zwei Drittel der Kontakte wurden von Frauen aufgenom-men.

Bei 48 % der ehemaligen Heimkinder haben die Eltern derHeimeinweisung zugestimmt.Insgesamt knapp ein Viertel der Befragten kann aus unter-schiedlichen Gründen zu diesem Punkt keine Angaben machen.

56 % geben an, dass eine Vormundschaft für sie eingerichtetwar.Sicher, dass das auf sie nicht zutraf, waren sich 13 %.Es wird oft die Erfahrung berichtet, dass sich die Vormündernicht gekümmert haben und selten bis nie in Erscheinung getreten sind.

4Anhänge

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III

Nach folgenden Anliegen wurde gefragt:

Knapp zwei Drittel der ehemaligen Heimkinder melden An-sprüche auf Entschädigung an.Insgesamt zeigt sich, dass die wichtigsten Anliegen Entschä-digung, Entschuldigung und die eigene Erfahrung berichtendarstellen.Im Vergleich zur Zwischenerhebung im April 2010 ist die rela-tive Anzahl derer, die eine Entschädigung erwarten, etwas an-gestiegen.Die Auswertung der Meldungen zu den Anliegen folgt hiernoch einmal im Einzelnen:

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IV

Anzahl der Heime, in denen die Betroffenengelebt haben, über alle ausgewerteten Frage-bögen

Die große Mehrzahl, 59 %, besuchte nur ein Heim. 19 %besuchten mehr als zwei Heime.

Trägerschaft der Heime

Die Meldungen entsprechen ungefähr der bisher bekanntenVerteilung der Trägerschaft in der Gesamtheit der Heime:Etwa drei Viertel der Heime befanden sich in konfessionel-ler Trägerschaft.

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V

Erfahrungen in der Heimerziehung

Ein Teil des Fragebogens erhob bestimmte Erfahrungen derBetroffenen in der Heimerziehung. Zu den einzelnen Katego-rien konnten folgende Bewertungen vorgenommen werden:nie/selten/manchmal/häufig/sehr häufig.In der Auswertung entspricht die Ziffer 1 der Bewertung nie,die Ziffer 5 der Bewertung sehr häufig.

Demütigung

Alte Fragebögen bis 5.11.2009:

Neue Fragebögen ab 6.11.2009:

Sowohl in der Zwischenerhebung als auch in der Endauswer-tung geben 50 % bis 54 % der Befragten an, sehr häufig Demütigung erlebt zu haben.

Gewalt/Prügel

Alte Fragebögen bis 5.11.2009:

Neue Fragebögen ab 6.11.2009:

Formen von Gewalt und Prügel erlebten circa 40 % der Befragten sehr häufig.

4Anhänge

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VI

Schlafentzug

Alte Fragebögen bis 5.11.2009:

Neue Fragebögen ab 6.11.2009:

Schlafentzug erlebten nur circa 30 % häufig bis sehr häufig.Diejenigen jedoch, die dazu Angaben machen, erlebten dieseForm von Bestrafung als besonders hart. Häufig war diese Er-fahrung daran gekoppelt, dass sie Bettnässer waren.

Sexuelle Gewalt

Alte Fragebögen bis 5.11.2009:

Neue Fragebögen ab 6.11.2009:

Sexuelle Gewalt wurde von circa 50% der Befragten nie er-lebt. Etwa 20 % geben an, sexuelle Gewalt häufig bis sehrhäufig erlebt zu haben. Korrelationen mit dem Geschlecht er-gaben, dass vor allem Jungen von sexueller Gewalt betroffenwaren.

4Anhänge

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VII

Arbeitseinsätze außerhalb des Heimes

Alte Fragebögen bis 5.11.2009:

Neue Fragebögen ab 6.11.2009:

Bei diesem Item fiel auf, dass viele nicht mehr differenzierenkonnten, ob die von ihnen geleistete Arbeit für das Heim oderfür Arbeitgeber extern stattfand. Es wurde auch immer wiedervon Arbeitseinsätzen für Fremdfirmen berichtet.

Schulbesuch

Alte Fragebögen bis 5.11.2009:

Neue Fragebögen ab 6.11.2009:

Die Einordnung des Items Schulbesuch ist uneindeutig. EinGrund dafür könnte in der unterschiedlichen Interpretationdurch die Betroffenen liegen, da es das einzige positive Itemim Fragebogen darstellt.Möglicherweise haben hier einige der ehemaligen Heimkinderim Sinne von „Problemen mit Schulbesuch“ geantwortet. Dieswürde die hohe Anzahl derer erklären, die bei Schulbesuch nieoder selten geantwortet haben: circa 30 %.

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VIII

Einsperren

Alte Fragebögen bis 5.11.2009:

Neue Fragebögen ab 6.11.2009:

Einsperren wird von vielen als eine übliche Strafmethodeberichtet, wofür in vielen Einrichtungen spezielle Räume zurVerfügung standen. Es zeigen sich kaum Unterschiede bezüg-lich der Geburtsjahrgänge.

Unterversorgung mit Essen

Alte Fragebögen bis 5.11.2009:

Neue Fragebögen ab 6.11.2009:

Das Item Unterversorgung mit Essen ergibt ein sehr uneindeu-tiges Antwortbild. Die Ursache hierfür könnte die hohe Vari-anz in den Geburtsjahrgängen sein.War es in der Nachkriegszeit noch an der Tagesordnung, zuwenig zu essen zu haben, so traf dies auf Heime in den 60erJahren nicht mehr in dem Umfang zu.

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Zwang zum Essen/Essen von Erbrochenem

Alte Fragebögen bis 5.11.2009:

Neue Fragebögen ab 6.11.2009:

Zwang zum Essen

Zwang, Erbrochenes wieder aufzuessen

Bei der Trennung der Items in der zweiten Version des Fra-gebogens zeigt sich, dass diese Kategorie in der alten Versionuneindeutig beantwortet wurde und somit aufgrund der altenFragebögen keine valide Aussage zu treffen ist.

Beim neuen Fragebogen, der nur abfragt, in welchem Maßedazu gezwungen wurde, Erbrochenes wieder aufzuessen,zeigt sich, dass diese Erfahrung 66 % der Befragten nie bisselten betraf.Über 50 % geben an, dass sie häufig bis sehr häufig zum Essen gezwungen wurden.

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Medizinische Unterversorgung

Alte Fragebögen bis 5.11.2009:

Neue Fragebögen ab 6.11.2009:

Auch hier könnte die Erklärung für das uneindeutige Antwort-verhalten bei den unterschiedlichen Geburtsjahrgänge liegen,da davon ausgegangen werden kann, dass sich die medizini-sche Versorgung in den 50er und 60er Jahren schrittweisegrundlegend gebessert hat.

Unzureichende Hygienebedingungen

Alte Fragebögen bis 5.11.2009:

Neue Fragebögen ab 6.11.2009:

Auch bezüglich der Hygienebedingungen könnten die unter-schiedlichen Geburtsjahrgänge Einfluss auf die Ergebnisse haben.

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XI

Positive Erfahrungen

Von positiven Erfahrungen wurde nur sehr selten berichtet.Insgesamt machten 29 Personen Angaben hierzu. Häufig wurdedas frei zu beschriftende Feld jedoch dazu genutzt, um darzu-stellen, dass es keine positiven Erfahrungen gegeben habe.

Beispiele für positive Erfahrungen:

• „Ostern, Pfingsten, Weihnachten, Namenstage waren für unsruhige Tage. Aber nur, weil es christliche Feiertage warenund der Orden die kirchlichen Rituale zelebrieren konnte.“

• „Wir haben sehr oft gebastelt. Diese Erfahrung konnte ich inmeiner eigenen Familie positiv weitergeben. Auch hatten wirin den späten 60er Jahren einen Kinder-Chor, in dem wirviele neue Lieder gelernt haben.“

• „Keine, da fällt mir ein: Eine Nonne, die für Zahnschmerzenzuständig war, war menschlich. Und in der Schule (außer-halb) war es schön.“

• „Es gab zwischendurch ‚motivierte‘ Schwestern, doch es fandein häufiger Wechsel statt. Hilfskräfte von außen waren nettund es gab positive Erfahrungen mit Lehrern.“

• „Kinderchor, viel musikalische Bildung, einmal im Jahr in Urlaub gefahren.“

• „Das Spielen im Wald.“• „Die Kameradschaft unter uns Jungs.“• „Weihnachten bei den amerikanischen Soldaten.“• „Es war schön, mit so vielen anderen Kindern zusammen

zu sein.“• „Manchmal gab es schöne Sonntage.“• „Die einzige positive Erfahrung war die jährliche Nikolaus-

feier durch die in Bad Tölz stationierten GI-Soldaten! Sonstwar es unmenschlich, grausam, ja lieblos und brutal.“

• „Weihnachten war schön.“• „Es gab auch nette Schwestern, die Feiern der kirchlichen

Feste sind positiv in Erinnerung.“• „Der externe Schulbesuch.“• „Alle Feste, die von Amerikanern organisiert wurden, waren

immer sehr schön.“

Sehr viele der ehemaligen Heimkinder haben ein starkes Be-dürfnis, ihre Erfahrungen (endlich) zu erzählen und die Erwar-tung, dass ihnen dafür genügend Zeit und Raum gegeben wird.Die wiederholten Kontaktaufnahmen vieler Betroffener habendeutlich gemacht, dass eine psychosoziale Unterstützung undBegleitung vorübergehend notwendig und hilfreich sind. DieInfostelle wurde häufig mit dem Anliegen Unterstützung beider Suche nach Akten angefragt. Dieser Teil der Arbeit warsehr häufig frustrierend und oftmals waren Anfragen vergeb-lich. Auffallend waren die unterschiedlichen Kenntnisstände

und Umgangsweisen verantwortlicher Institutionen bei diesenAnfragen. Der in der zweiten Sitzung beschlossene Aufruf desRunden Tisches, vorhandenes Material nicht weiter zu vernich-ten, ist möglicherweise nicht zu allen Stellen durchgedrungen.In vielen Fällen sind die Akten aber schon vor der Arbeit desRunden Tisches vernichtet worden, was einer ordnungsgemä-ßen Aktenverwaltung entspricht. Die Suche nach Unterlagenbleibt daher erfolglos. Es wird bei einigen dieser Fälle zukünf-tig möglicherweise darum gehen, ob und wie diese Betroffe-nen mit diesem Nichtwissen umgehen werden und welcheFormen von Bewältigung ihrer Erfahrungen sie finden.

Ergänzende Erhebung bei ehemaligen Heim-kindern zu erlebten Demütigungen und derVerarbeitungsstrategien bis heute

Da es uns besonders wichtig erschien, nicht ausschließlich nurnach vergangenen Erfahrungen zu fragen, sondern auch da-nach, wie heute mit den Erlebnissen von damals umgegangenwird, befragten wir zwölf zufällig ausgewählte Personen aus-führlicher. Sie alle hatten angegeben, dass sie während ihrerHeimzeit sehr starken Demütigungen ausgesetzt waren.Ziel der Befragung war es herauszufinden, wie heute mit denbelastenden Erinnerungen umgegangen wird, wie oft dieseüberhaupt auftauchen und welche Strategien individuell ent-wickelt wurden, um damit umzugehen.Keinesfalls erheben wir den Anspruch, mit diesen Ergebnisseneine repräsentative Aussage über Copingstrategien (Überle-bensstrategien) machen zu können. Es ist uns vielmehr ein besonderes Anliegen darauf hinzuwei-sen, wie lebensnah und persönlich ungemein relevant es ist,über Bewältigungsstrategien zu verfügen oder sie zu lernenund diese dann anwenden zu können. Die zusätzliche Befra-gung gibt einen kleinen Einblick in die Reichweite dieser Er-lebnisse, die bei vielen Betroffenen immer noch, teilweisenach über 50 Jahren, in Form von Flashbacks oder Träumenwiederkehren.

Den ausgewählten ehemaligen Heimkindern wurden folgendeFragen gestellt:

Sie haben im Fragebogen einen hohen Wert unter dem AspektDemütigung angegeben, deshalb würden wir Sie gerne dazubefragen, wie Sie persönlich mit diesen belastenden Erinnerun-gen umgehen.Wir haben einige Fragen zusammengestellt, die Ihr Erleben vondemütigenden Situationen damals und heute betreffen.

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XII

Wie war es damals?

Was taten/dachten Sie damals, nachdem Sie demütigende Situationen erlebt hatten?

Gab es damals etwas/jemanden, der ihnen Kraft/Trost spen-dete?

Hatten Sie jemanden, mit dem Sie über die Ereignisse sprechenkonnten?

Wie oft kommt die Erinnerung an bestimmte Ereignisse?

Gibt es bestimmte Auslöser für die Erinnerungen (Gerüche, Geräusche, Orte ...)?

Was machen Sie, wenn die Erinnerungen heute auftauchen:

Ich vertraue mich jemandem an ................................................ _

Ich lenke mich mit irgendetwas ab ........................................... _

Ich ignoriere die aufkommenden Gefühle ............................... _

Ich tue irgendetwas Kreatives .................................................... _

Ich spreche mit mir selbst, um mich zu beruhigen ................ _

Ich gehe zum Psychotherapeuten ............................................. _

Ich esse ............................................................................................. _

Ich nehme Beruhigungsmittel oder Alkohol ein .................... _

Ich bete ............................................................................................. _

Ich ziehe mich zurück ................................................................... _

Ich werde aggressiv ....................................................................... _

Ich finde mich damit ab, weil es nicht mehr zu ändern ist .. _

Ich wünsche mir, ich könnte das Geschehene verändern/rückgängig machen ...................................................................... _

Ich mache Sport ............................................................................. _

Ich male mir aus, um wie viel schlimmer alles noch hätte sein können .......................................................................... _

Ich wünsche mir, ich wäre eine stärkere Person – optimistischer und durchsetzungsfähiger .............................. _

Sonstiges .......................................................................................... _

Haben Sie jemals in Ihrem Leben eine Psychotherapie gemacht(wenn bekannt, welche?)

Wenn ja, inwiefern hat diese Ihnen geholfen?

Sehr eindeutig gaben die Befragten an, zum damaligen Zeit-punkt niemanden gehabt zu haben, dem sie sich anvertrauenkonnten oder mit dem sie sprechen konnten. Es gab keine Per-son, die ihnen Trost spendete.Äußerungen zu der Frage waren beispielsweise: „Die Pförtnerin hat mich manchmal getröstet, … konnte abernicht viel machen.“„Nein, wenn ich versucht habe, mit jemandem zu sprechen,wurde mir nicht geglaubt.“„Nein, fast gar nicht … eine Praktikantin war die Erste, dieWärme ausstrahlte, als ich fünf Jahre alt war.“„Nein, mit uns wurde nicht gesprochen.“

Bei der Frage, wie oft die Erinnerungen an die Erlebnisse wie-derkehren gaben sieben von zwölf Personen an: täglich bismindestens zwei- bis dreimal im Monat.Bei den meisten waren die Erinnerungen jeweils gekoppelt anbestimmte Auslöser.Diese waren z. B. „Kommandoton, alles, was mit dem ThemaKirche zu tun hat, Kirchenmusik, Kellergerüche, Amtsflure, dasGeräusch eines dicken Schlüsselbundes, Berichte über Miss-brauch, ...“

Bei der Frage nach den spezifischen Strategien, die angewen-det werden, wenn die Erinnerungen heute auftauchen, gabendie meisten an, mit Rückzug, Ablenkung und Aggression zureagieren.Einige gaben aber auch an, viel zu essen, Drogen oder Alkoholzu sich zu nehmen, zu beten oder exzessiv Sport zu betreiben.

Bei der Frage, ob bereits eine psychotherapeutische Behand-lung stattgefunden hat, gaben sieben von zwölf an, entwederschon irgendeine Form von Psychotherapie gemacht zu habenoder sich momentan in psychotherapeutischer Behandlung zubefinden.

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XIII

Anhang:

Beispiele gelungener Aufarbeitungsprozesse

Die Arbeit des Runden Tisches

Die Arbeit des Runden Tisches Heimerziehung war begleitetvon entsprechender Medienresonanz mit zahlreichen Berich-ten und Veröffentlichungen zu dem Thema. Die interessierteÖffentlichkeit und insbesondere die unmittelbar Betroffenenkonfrontierten die Heimerziehungseinrichtungen und Träger-organisationen mit den konkreten Anliegen zur aktiven Ausei-nandersetzung mit dem Thema. Ehemalige Heimkinder suchenden Kontakt zu den heutigen Leitern oder Betreuungspersonen.Sie wollen Zugang zu ihren Unterlagen. Sie wollen die Orteihres Erwachsenwerdens wieder aufsuchen und ihre Erinne-rungen überprüfen, sich mitteilen und austauschen. DieserSchritt kann für jedes einzelne Schicksal ein bedeutender undhäufig mit Schmerz und Erlösung verbundener Schritt sein. Erlöst aber auch in der Einrichtung eine Reflexion über die eige -ne Geschichte und die Verantwortung und schicksalsbestim-mende Bedeutung der Arbeit aus.

Betroffene und die Einrichtungen heute

Aus den Einrichtungen der betreffenden Zeit – aber auch dort,wo Einrichtungen nicht mehr existieren, die Trägerorganisationaber noch vorhanden ist – stellen sich die heute Verantwortli-chen der Geschichte und den Anliegen ehemaliger Heimkinder.Sie bieten Begegnung als Treffen mit anderen Ehemaligen, alsBesuch der Einrichtung oder Einblick in noch vorhandene Un-terlagen an. Sie bewahren die vorhandenen Dokumente vor derVernichtung, um die Aufarbeitung der Geschichte zu ermögli-chen und insbesondere dem individuellen Bedürfnis der Betrof-fenen nach persönlicher Aufarbeitung zu entsprechen.An dieser Stelle sollen beispielhaft einige dieser gelungenenAufarbeitungsprozesse gezeigt werden. Diese Beschreibungenerheben keinesfalls den Anspruch auf Vollständigkeit. Aber siezeigen, wie sich die Arbeit des Runden Tisches auswirkt undwas in der täglichen praktischen Arbeit der Einrichtungen heu -te aus der dunklen Geschichte der Heimerziehung an Themen-stellungen herantritt. Das hier Beschriebene will anregen, sichdiesen Anforderungen uneingeschränkt zu stellen und geradediese Angebote aufrechtzuerhalten und fest in die Auseinan-dersetzung mit der Geschichte und der heutigen Arbeit zu in-tegrieren.

Als ein Beispiel für bereits begonnene und zum Teil schon ab-geschlossene Aufarbeitungsprozesse auf der Ebene der Bundes-länder sei hier Schleswig-Holstein genannt. Dort wurde u. a.auf Drängen von ehemaligen Fürsorgezöglingen des Landes-fürsorgeheims Glückstadt schon 2008 vonseiten der Landes -regierung ein Runder Tisch zur Aufarbeitung eingerichtet undein fester Ansprechpartner für die Anliegen der Ehemaligenbenannt. Die Geschichte des Landesfürsorgeheims Glückstadtist mittlerweile durch ein Forschungsprojekt wissenschaftlichaufgearbeitet und in Form einer Wanderausstellung dokumen-tiert. Der Landeswohlfahrtsverband Hessen in seiner Verantwortungals ehemaliger Träger mehrerer Kinder- und Jugendheime hatsich bereits vor Jahren der Aufarbeitung der Thematik gestelltund seitdem mehrere Veröffentlichungen von Untersuchungensowie mehrere Veranstaltungen durchgeführt. Seit März 2004stehen Mitarbeiter des LWV Kassel in Kontakt zu ehemaligenHeimkindern. Gut besuchte Veranstaltungen waren:• 2004: Ehemalige Bewohner des Kalmenhofs wurden vom

LWV Hessen in den Kalmenhof eingeladen. • 2006: Zusammen mit der Internationalen Gesellschaft für

erzieherische Hilfen (IGFH) und dem Spiegel-Buchverlag • 2009: „40 Jahre Heimrevolte – was haben wir daraus ge-

lernt?“. • Aktuell ist eine Wanderausstellung mit Katalog zur Heim -

erziehung in den 50er und 60er Jahren in Hessen geplant.

In einigen Landesparlamenten gab es Anhörungen ehemaligerHeimkinder oder andere Formen der parlamentarischen Aus -einandersetzung. Die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers unddas Diakonische Werk der Evangelisch-lutherischen Landes-kirche Hannovers e. V. luden im Oktober 2009 ehemaligeHeimkinder und Betreuungspersonen nach Hannover ein. Andiesem Tag wurde die Broschüre Verantwortung für das Schick-sal früherer Heimkinder übernehmen sowie die gemeinsameErklärung Uns beschämt öffentlich vorgestellt.

Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-LippeFür Ehemalige wurden verbindlich zuständige Personen be-nannt, die bei der Suche nach Akten behilflich sind. Der vor-handene Aktenbestand wurde gesichert und der Zugang zunoch vorhandenen Unterlagen wird aktiv unterstützt. Die Re-cherche nach Unterlagen gestaltet sich für Ehemalige leichterals in der Vergangenheit.Zusätzlich wurden von beiden Landschaftsverbänden in Nord-rhein-Westfalen jeweils Studien über die öffentliche Erziehungin Auftrag gegeben. Mit seiner Heimkinderstudie hat das LVR-Landesjugendamt Rheinland die Vorgänge in seinen Jugend-hilfeeinrichtungen und die Rolle des Landesjugendamtes alsHeimaufsicht im Zeitraum von 1945 bis in die 1970er Jahre

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XIV

untersucht. Das LWL-Landesjugendamt Westfalen hat einewissenschaftliche Dokumentation über die gesamte Heimerzie-hung in Westfalen von 1945 bis 1980 erstellen lassen. In die-sen Studien wurde erstmals die Geschichte der Heimerziehungin der Zuständigkeit von bundesdeutschen Landesjugendämternin den Fokus genommen.

Diakonie Rheinland-Westfalen-LippeFür Verantwortliche im Zuständigkeitsbereich wird regelmäßigzu Fachgesprächen eingeladen. Dabei werden sowohl histori-sche Themen als auch Hintergründe, z. B. zu Folgen von frühenTraumatisierungen, behandelt. Zusätzlich erhalten Mitgliederregelmäßig Rundschreiben mit wichtigen Informationen zudem Thema Umgang mit Ehemaligen, die aktuell bei heutenoch existierenden Einrichtungen nachfragen.Die heutigen Erwartungen an das leitende Heimerziehungs-personal wurden unterschiedlich an sie herangetragen. Die Erfahrungen zeigen, dass diese Arbeit für alle sehr wichtig istund letztendlich auch eine heilsame Wirkung für alle Beteilig-ten entfalten kann.

Diakonie FreistattDer heutige Leiter des Bereiches der stationären Jugendhilfe,Herr Rüdiger Scholz, übernahm diese Funktion etwa zeitgleichmit der Veröffentlichung des Buches von Peter WensierskiSchläge im Namen des Herrn. Er berichtet, dass er seit Beginnseiner Tätigkeit mit der Thematik beschäftigt ist, da Freistatt,das zur Diakonie Bethel gehört, immer besonders im Mittel-punkt der Berichterstattung stand.In dem Zusammenhang entstand auch der Auftrag zur wissen-schaftlichen Aufarbeitung der Geschichte von Freistatt mitder Veröffentlichung des Buches Endstation Freistatt.Herr Scholz hat sich den Anliegen und Anfragen der Ehemali-gen von Beginn an angenommen und gestellt. Er versteht die-ses als Leitungsaufgabe und betont, dass für ihn selber dieseTreffen immer sehr lehrreich sind, weil „ich immer wieder sel-ber dazulerne“. Nach seiner Erfahrung ist es für viele hilfreich,wenn sie überhaupt erst einmal über ihre Erfahrungen spre-chen können und dabei auch die Möglichkeit haben, die Orte,an denen sie gelitten haben, wieder zu besuchen und die Erin-nerungen mitzuteilen. Derzeit wird versucht, das Haus, in demzwei riesige Schlafsäle und die sogenannten Besinnungsstu-ben noch vorhanden sind, als Ort der Erinnerung herzurichtenund zu erhalten.Von Freistatt aus werden regelmäßig Treffen für Ehemaligeangeboten. Sie finden inzwischen einmal pro Quartal statt. Eshaben sich dort insgesamt etwa 200 Personen gemeldet, dieauch regelmäßig eingeladen werden. Die Erfahrung hat gezeigt,dass die Einladung zunächst von vielen der Ehemaligen ange-nommen wurde, inzwischen aber, nach mehreren Treffen, eini -ge signalisieren, dass ihnen das bisherige Angebot ausgereicht

hat und sie keinen weiteren Bedarf an Begegnung und Aus -einandersetzung mit diesem Teil ihrer Vergangenheit haben,son dern dass die Begegnung für die Integration in ihr Lebenzwar sehr hilfreich war, sie aber jetzt ihr zukünftiges Leben alleine meistern möchten. Ein fester Kern von Ehemaligennimmt das Angebot der Treffen gerne regelmäßig weiter wahr.Sobald sich Ehemalige in Freistatt melden, erhalten Sie dasAngebot zu einem persönlichen Gespräch, verbunden mit derMöglichkeit, die noch vorhandenen Akten einzusehen. HerrScholz konnte eine Studentin dazu gewinnen, die Aufarbeitungund Archivierung im Rahmen eines Projekts mitzubegleiten.Sie übernimmt auf Wunsch auch das Kopieren der Unterlagen.Das Archiv in Freistatt ist recht umfangreich und bleibt auchso erhalten, da dort keine Akten mehr vernichtet wurden. Herr Scholz empfiehlt aufgrund seiner Erfahrungen, sich zumAuftakt derartiger Aufarbeitungsprozesse eine moderierendeprofessionelle Unterstützung von außen dazuzuholen. Es kannsein, dass so eine Veranstaltung sehr emotional geprägt ist,wenn Teilnehmende von ihren Erinnerungen überwältigt undeventuell aus dem Grund vorwurfsvoll den heutigen Verant-wortlichen gegenüber werden. Er sieht es als notwendig an,dass das jetzige Fachpersonal in den Prozess miteingebundenist und an den Treffen zur Unterstützung teilnimmt.Als eine Besonderheit zeichnet Freistatt aus, dass ein Ehemali-ger als Ombudsmann für Kinder und Jugendliche fungiert, dieheute in der Einrichtung leben. Das Angebot hat sich bewährtund wird immer wieder nachgefragt. Dieses Angebot ist aucheine Konsequenz aus den vielen Berichten, dass es zur damali-gen Zeit keine unabhängigen Ansprechpersonen und Anlauf-stellen für die Jugendlichen gab, um auf die problematischenZustände aufmerksam zu machen.

Katholische OrdenAus dem Bereich der katholischen Orden ist ein Beitrag derOrdensschwester Sara Böhmer, Generalpriorin der Dominika-nerinnen von Bethanien, für die Zeitschrift Neue Caritas alsbeispielhaft zu erwähnen. In diesem Beitrag (Die Wahrheit su-chen, auch wenn es schmerzt) wird dazu eingeladen, sich denAnliegen und Anschuldigungen zu stellen und diese nicht vonvornherein abzuwehren und damit ehemaligen Heimkindernzu unterstellen, dass ihre schlimmen Erfahrungen nicht zu-treffen.Sie weist darauf hin, dass ein mutmaßliches Opfer zunächstdas Recht hat, gehört und ernst genommen zu werden. Dassetzt die Bereitschaft zu einem sehr offenen, nicht gleich allesabwehrenden Dialog voraus. Daraus spricht die Erkenntnis,dass ansonsten die Gefahr bestehe, dass Ehemaligen erneutUnrecht angetan wird.Aus ihrer Sicht „darf im Fall von Anschuldigungen nicht anerster Stelle der Schutz des guten Rufes stehen“, sondern eskann „nur das Bestreben, der Wahrheit ans Licht zu helfen,

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eine Einrichtung in christlicher Trägerschaft (wieder) glaub-würdig machen“.Dazu gehören auch die Sicherung der Akten und die Möglich-keit des Zuganges der Ehemaligen. Dazu haben z. B. die Betha-nien Kinder- und Jugenddörfer Richtlinien über den Zugangsowie einen Leitfaden zur Arbeit mit Ehemaligen erstellt.In diesem Zusammenhang wird auch darauf hingewiesen, dasses sich bereits vor dem Vorbringen von Vorwürfen lohnt, sichmit der dann notwendigen Krisenkommunikation zu befassen.Als hilfreich erwiesen hat sich für den gesamten Aufarbeitungs-prozess auch, feste Ansprechpartner für beschuldigte Ordens-schwestern zu benennen.„Die Wahrheit kann schmerzlich und hässlich sein, aber wirdürfen ihr nicht ausweichen“, schreibt Schwester Sara Böhmerund warnt gleichzeitig davor, dass das Thema ausschließlichals ein quantitatives im Sinne von „So viele waren es doch garnicht“ wahrgenommen werde und somit vereinzelt zu betrach-ten sei. Oftmals wird betont, dass „jeder Fall einer zu viel ist“.Die Verantwortlichen sollten sich aus ihrer Sicht davor hüten,diesen Satz zu einer Floskel verkümmern zu lassen.Ergänzend wird in dem Beitrag in der Neuen Caritas auf diederzeitigen Forschungsprojekte, z. B. an der Ruhr-UniversitätBochum, hingewiesen.

Waisenstift VarelEine weitere Form der Aufarbeitung praktiziert der WaisenstiftVarel, eine Einrichtung, die auf eine 350-jährige Geschichtezurückblicken kann.Die örtliche Presse griff das Thema auf. Daraufhin meldetensich aus der Region rund um Varel Ehemalige des Waisenstiftsbei der Zeitung und berichteten dort von ihren traumatischenErlebnissen. Die Presse wandte sich an den Einrichtungsleiter,Herrn Feldmeyer, der sich der Sache von Beginn an sehr enga-giert annahm.Alle, die sich gemeldet hatten, wurden dazu eingeladen, dieEinrichtung zu besuchen und vor Ort über die Erlebnisse zuberichten.Aufgrund dieser Begegnungen entstand die Idee, ein Ehemali-gentreffen in größerem Rahmen zu organisieren. Dieses Tref-fen bedurfte viel Vorbereitung. Aus Sicht von Herrn Feldmeyerist es notwendig, dass derartige Treffen professionell, z. B.durch die jetzigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, begleitetwerden. Es bedarf einer anerkennenden und annehmenden in-neren Haltung der heute Verantwortlichen den Ehemaligen ge-genüber. Sie sind auf der Suche nach Spuren ihrer Biografieund haben dadurch auch die Möglichkeit, vorhandene Lückenzu schließen. Ihnen sollte der Eindruck vermittelt werden, dasssie willkommen sind, dass man Interesse an ihnen und ihrenErlebnissen hat.Eingeladen wurden alle Ehemaligen, deren Daten vorhandenwaren. Das Treffen wurde von 90 Personen aus den Jahrgängen

seit den 1930er Jahren wahrgenommen und wurde liebevollvorbereitet. Aus Sicht des heutigen Einrichtungsleiters sollteein derartiges Treffen in einem willkommenen Rahmen bei guter Bewirtung stattfinden und den Ehemaligen alles gezeigtwerden, was an Unterlagen (Fotos, Zeitungsausschnitte) nochgefunden wurde. Es bestand großes Interesse am Austauschuntereinander, aber auch großer Bedarf, öffentlich von den ei-genen Erfahrungen zu berichten. Eine der Ehemaligen aus demWaisenstift erinnerte an die Zeit in den 1950er Jahren und dieErfahrungen mit gewalttätigen Übergriffen durch die Heimlei-tung sowie an die Arbeitseinsätze in der Landwirtschaft. Dieörtliche Presse und regionale Radio- und Fernsehsender be-richteten über die Veranstaltung ausführlich.Während seiner Ansprache benannte der Einrichtungsleiter die Unrechtserfahrungen und bat öffentlich um Verzeihungfür das, was vor seiner Zeit in der Einrichtung passiert ist. Erwies zusätzlich auf die Notwendigkeit hin, dass sich die heu-tige Bevölkerung der Stadt mit diesem Teil der Geschichteebenso auseinandersetzen sollte. Es kam im Vorfeld des Ehe-maligentreffens von einigen Seiten zu Anschuldigungen, manwolle mit der Aufarbeitung die Stadt Varel in den Dreck zie-hen. Für die Aufarbeitung der Geschehnisse einer Einrichtungist eine breite Plattform notwendig. Dazu gehört die Unter-stützung und vor allem das Interesse der jetzigen Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter, aber auch die Akzeptanz und Unter-stützung durch die politische Öffentlichkeit. An dem erstenTreffen dieser Art nahm auch der jetzige Bürgermeister derStadt teil und hielt eine kurze Ansprache.Das erste Treffen ist erfolgreich verlaufen. Viele der Ehemali-gen äußerten den Wunsch nach Wiederholung; es besteht derEindruck, dass einige mehrere Treffen und erst einmal Ver-trauen benötigen, um über die eigenen Erfahrungen zu be-richten.

Caritas BonnAufgrund einer Anfrage an die Caritas Bonn bzgl. einer Ordens-gemeinschaft, die in Bonn von Mitte der 50er bis Mitte der70er Jahre ein Säuglingsheim betrieb, wurde mit Nachfor-schungen und Aufarbeitung dazu begonnen. Vor Ort selbstwar kein Material mehr vorhanden, es bestand von Beginn anInteresse, sich des Themas anzunehmen und selber Recherchenanzustreben, was damals vorgefallen ist. Die Mitarbeiter derCaritas stellten fest, dass es bereits in einem Blog ehemaligerHeimkinder regen Austausch zu diesem Säuglingsheim gab. ImMärz 2010 wurde die Öffentlichkeit informiert und eine Hot-line sowohl für ehemalige Heimkinder als auch für ehemaligeBetreuungspersonen eingerichtet. Gleichzeitig wurde ein Histo-riker beauftragt, eine Dokumentation zu erstellen. Über Archiv-recherchen konnten die Namen von vielen ehemaligen Be-treuungspersonen und Heimkindern ausfindig gemacht wer-den. Zwischenzeitlich entstanden 35 Kontakte, aus denen

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erschütternde Berichte hervorgingen. Es sind aber überwie-gend positive Kontakte in dieser Zeit entstanden. Der Leiterder Caritas Bonn, Herr Schneider, sagt: „Wir wissen jetzt mehrüber das, was damals geschehen ist. Diese Erfahrungen sensi-bilisieren uns für heute. Wir können Opfern von damals heutemehr Unterstützung geben, z. B. für eine Therapie, und verfü-gen über Informationen, die wir vorher nicht geben konnten.“

Erzbischöfliches Kinder- und Jugendheim St. Kilian, WalldürnDer heutigen Leitung des Kinderheims St. Kilian, Herrn Hauk,wurden von verschiedenen ehemaligen Bewohnerinnen undBewohnern sehr problematische Vorkommnisse aus der Ver-gangenheit geschildert. Der Heimleiter hat sich von Beginn anmit diesen Vorwürfen auseinandergesetzt und viele Gesprächemit Ehemaligen geführt sowie Unterstützung bei der Aufklä-rung dieser Vorkommnisse angeboten. Anlässlich des 150-jäh-rigen Jubiläums der Einrichtung wurde ein Journalist beauf-tragt, die Geschichte des Heimes aufzuarbeiten. Für Ende Sep-tember 2010 wurden alle Ehemaligen zu einem Treffen in derEinrichtung eingeladen. 50 Personen nahmen diese Einladungan und davon meldeten sich 35 Personen, um am Forum Ge-schichte teilzunehmen. Die Zusammenkunft in dem Forumsollte ein erster Schritt sein, um Gelegenheit zu geben, von eigenen Erfahrungen zu berichten und Kontakt mit früherenund heutigen Verantwortlichen herzustellen. Das Forum wurdevon der Referentin der Infostelle Runder Tisch Heimerziehungmoderiert. Der Heimleiter und die zuständige Ordensschwesterder Mallersdorfer Schwestern, Schwester Godehard, trugen ihrBedauern für die Geschehnisse und ihre Bitte um Entschuldi-gung vor; viele ehemalige Heimkinder und einige der ehema -ligen Betreuungspersonen nutzten die Veranstaltung, um vonihren Erfahrungen zu berichten, die z. T. von erheblicher psy-chischer, physischer und sexueller Gewalt geprägt waren. Ins-gesamt entstand eine Atmosphäre, in der es möglich war, sichgegenseitig zuzuhören und wahrzunehmen.Die Beispiele zeigen, dass Aufarbeitungsprozesse sehr unter-schiedlich gestaltet werden können. Ehemalige erwarten, dassihnen zugehört und geglaubt wird und sie bei der Suche nachihrer Herkunft unterstützt werden. Dieser Erwartung muss aufallen verantwortlichen Ebenen entsprochen werden.

Anhang:

Folgen der Heimerziehung aus Sicht ehemaliger Heimkinder

Zur traumatisierenden Gewalt gegen ehemalige Heimkindergehört auch die psychische Gewalt. Diese kommt oft eherleise daher, ist nicht so deutlich sichtbar wie die körperlicheGewalt und daher auch schwieriger beschreibbar. Und den-noch ist sie verheerend.Sie fängt bei jenen Menschen an, die schon als Säuglinge inHeimen waren. Der Anstaltsbetrieb musste reibungslos funk-tionieren und bei der personellen Unterbesetzung spielten dieBedürfnisse – wohlgemerkt es handelt sich hier um Grundbe-dürfnisse von Säuglingen – keine Rolle. „Satt und sauber“ –das war der Anspruch, gerade so viel Anspruch, dass das Über-leben gesichert war. Was ein Säugling braucht, um sich soentwickeln zu können, dass er für sein späteres gute Voraus-setzungen hat, wurde nicht beachtet. Der Säugling musstesich dem straffen Zeitplan der Betreuerinnen anpassen undhatte keine sonstigen Bedürfnisse zu haben. Wer da „aus derReihe tanzte“ und allzu lebhaft reagierte, wurde unter Um-ständen mit Medikamenten“ ruhig gestellt“ oder auch ange-bunden und hatte oft nichts als die karge Wand, die den gan-zen Tag angestarrt wurde. Die unvermeidlichen Störungen undVerzögerungen der Entwicklung führten dann zu Diagnosen,die weitere schlimme Folgen für die Säuglinge hatten. Sie wa-ren nicht mehr in Pflegefamilien oder in Adoptionen vermit-telbar. Eine weitere „Heimkarriere“ war vorgezeichnet.

Auch in den Kinderheimen galt es, „keine besonderen Bedürf-nisse zu haben“. Sich in den alltäglichen Heimbetrieb einzu -fügen, war oberstes Gebot. Bei der vergeblichen Suche nacheinem Erwachsenen, der ein wenig Mutter oder Vater hättesein können, blieb eine Sehnsucht zurück, die lediglich inWünschen und Träumen Erfüllung fand. In dem Wort Sehn-sucht steckt auch das Wort Sucht und sicherlich ist eine derFolgeschäden dieser tiefen Entbehrung die Sucht als Krank-heit, also Drogensucht, Alkoholismus u. a.; denn die bleibendeinnere Leere musste anderswie ausgefüllt werden.

Hatten die Heimkinder schon keine liebevolle Zuwendung vonSeiten der Erzieher, so mussten sie oft auch untereinander eineinsames Leben führen und waren auch untereinander geprägtvon Misstrauen und Angst. Das ständige Leben im Kollektiv,das dennoch Auf-sich-allein-Gestellt-Sein und das undurch-schaubare Ausgeliefertsein führten zu emotionaler Auszehrungund innerer Einsamkeit, zu übergroßer Wachsamkeit und ge-nerellem Misstrauen.

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Traurigkeit und Schmerz, aber auch Ärger und Zorn konntennicht gelebt werden, äußerlich nicht, und infolgedessen auchinnerlich nicht. Denn weil diese Gefühle äußerlich nicht kom-muniziert werden konnten, konnten sie auch innerlich nichtmehr kommuniziert werden. Sie wurden ausgeblendet, warennicht mehr da. Die Kinder lebten ohne zu leben. Wer aber Ent-täuschung, Hass und Wut auslebte, dem erging es auf eineandere Art schlimm. Viele Menschen, die als Jugendliche in Erziehungsheimen un-tergebracht worden waren, leiden noch heute unter den Stig-matisierungen „verwahrlost“, „nichts wert“, „aus der Gosse“.Und oft sind sie später von Menschen, die von ihrer damaligenUnterbringung im Erziehungsheim wussten, dementsprechendbehandelt worden. Daher leben viele von ihnen bis heute inder Angst, dass jemand von ihrer damaligen Unterbringung ineinem Erziehungsheim erfahren und dass dadurch die Achtungund Sympathie, die sie sich durch Arbeit, Hilfsbereitschaft, Ehr-lichkeit usw. erworben haben, verloren gehen könnte.Infolge der ständigen Demütigungen und des daraus resultie-renden Gefühls, nichts wert zu sein, haben sich viele Betroffe -ne auch im späteren Leben nicht zur Wehr gesetzt und lieberUngerechtigkeiten hingenommen.Vielfältig, anhaltend und schlimm sind die Folgen der für zu-meist geringfügige Vergehen verhängten unmenschlichen Be-strafungen, wie z. B. tagelanges Einsperren in eine Zelle oderin den Keller. Bis heute leiden die Betroffenen bei Anlässen,die an diese Situationen erinnern, unter Panikattacken, zumBeispiel unter panischer Angst in kleinen Räumen, panischerAngst vor Ungeziefer und panischer Angst bei Dunkelheit. Leider haben viele ehemalige Heimkinder die Gewalt, die sieerlitten haben, an ihre Partner und Kinder weitergegeben. Dasist eine der schlimmsten Folgen dieser brutalen und lieblosenErziehung.

Anhang:

Empfehlung des Runden Tisches Heim -erziehung zur Akteneinsicht durch ehemaligeHeimkinder

I. Ausgangslage und HintergründeII. Zu einzelnen datenschutzrechtlichen Fragen III. Praktische Hinweise zur Akteneinsicht durch ehemalige

Heimkinder

I. Ausgangslage und Hintergründe

Der Runde Tisch „Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ist auf Anregung des Deutschen Bundestages im Februar 2009zusammengekommen1, um bis Ende 2010 die bundesrepubli-kanische Heimerziehung der 50er und 60er Jahre aufzuarbei-ten. Neben Vorschlägen an den Deutschen Bundestag und dieGesellschaft für den weiteren Umgang mit der Thematik2, hatder Runde Tisch die Aufgabe, die individuelle Aufarbeitung derBetroffenen im Rahmen seiner Möglichkeiten zu unterstützenund zu fördern.Es hat sich gezeigt, dass hierfür insbesondere die Einsicht derBetroffenen in ihre damaligen personenbezogenen Akten sehrhilfreich sein kann.

1 Mitglieder des Runden Tisches sind neben Vertretern ehemaligerHeimkinder der Petitions-ausschuss des Deutschen Bundestages,das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Vertreter der (al-ten) Bundesländer, die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesju-gendämter, die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenver-bände, die Deutsche Bischofskonferenz, die Evangelischen Kirchein Deutschland, der Deutsche Caritasverband, das DiakonischeWerk der Evangelischen Kirche in Deutschland, die Bundesarbeits-gemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, der AFET-Bundesver-band für Erziehungshilfe, der Deutsche Verein für öffentliche undprivate Fürsorge, das Deutsche Institut für Jugendhilfe und Famili-enrecht, die Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugend-gerichtshilfen sowie Vertreter der Wissenschaft. Anlassbezogenwird das Bundesministerium der Justiz beteiligt. Vorsitzende desRunden Tisches ist die Bundestagsvizepräsidentin a. D. Dr. AntjeVollmer.

2 Ausführliche Darstellung auf der Homepage des Runden TischesHUwww.rundertisch–heimerziehung.deUH und im Zwischenberichtdes Runden Tisches HUhttp://www.rundertisch-heimerziehung.de/documents/RTH_Zwischenbericht_000.pdfUH

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Viele ehemalige Heimkinder sind sehr früh in ihrer Kindheit inHeimerziehung oder andere Formen der Erziehungshilfe ge-kommen. Oft brach der Kontakt zu ihrer Familie früh ab. Es gabund gibt daher oft keine Angehörigen, die ihnen ihre Fami lien-geschichte, ihre Herkunft und die Entwicklung ihrer Kindheithätten vermitteln können. Stammbäume, Fotoalben und Über-mittlungen aus der Kindheit existieren nicht. Oft bestehen nurlückenhafte Erinnerungen an die ersten Lebensjahre und auchaus ihrer Jugend sind den ehemaligen Heimkindern nicht alleZusammenhänge bekannt. Fragen zu ihrer Identität bliebendaher bislang ungeklärt oder konnten nur vage beantwortetwerden: Wer sind meine Eltern? Habe ich noch Geschwisteroder andere Verwandte? In welche Verhältnisse wurde ich ge-boren? Wieso kam ich ins Heim? Wer wusste von meiner Heim-unterbringung und wer war daran beteiligt? Auch Fragen zuEntwicklungen in Kindheit und Jugend können nicht beant-wortet werden: Wieso musste ich das Heim wechseln? Warumkonnte ich keine bessere Schule besuchen? Weshalb mussteich eine bestimmte Lehre anfangen? Was haben die Erziehervon mir gehalten? Welche Probleme wurden mir eventuell un-terstellt oder vorgeworfen? Auch rechtlich relevante Informa-tionen, wie etwa Ausbildungsverträge und Ähnliches, fehlenoft.Es wird deutlich, dass diese ehemaligen Heimkinder keineAntworten auf identitätsstiftende Fragen erhalten haben, deren Klärung für Menschen, die nicht im Heim aufwuchsen,eine Selbstverständlichkeit darstellt. Insbesondere in fortge-schrittenem Alter – in dem sich die damaligen Heimkindernun befinden – werden diese Fragen drängender und gewin-nen an Bedeutung. Die Akten aus damaliger Zeit, etwa vonJugendämtern oder Heimen, können – wenn auch nicht alle,so doch einige – diese drängenden Fragen klären und damitwesentlich zu einer persönlichen Aufarbeitung beitragen.

Der Runde Tisch Heimerziehung möchte die Betroffenen beider Aktensuche und der Akteneinsicht unterstützen und rich-tet daher einen dringenden Appell an alle betroffenen Einrich-tungen und Institutionen, eine solche Akteneinsicht zu er-möglichen.

Bei der Aktensuche und Akteneinsicht ergeben sich allerdingsoftmals Schwierigkeiten, tauchen praktische Probleme undrechtliche Fragen auf. Dazu werden im Folgenden Hinweisegegeben:

1. Zunächst stellt sich die Frage, ob die entsprechenden Do-kumente/Akten überhaupt noch existieren. In Konsequenzder – wenn auch von Institution zu Institution unterschied-lichen – Aufbewahrungsfristen bzw. Löschungsvorgabensind zahlreiche Dokumente bereits vernichtet worden. Nach

der bisherigen Rechtslage ist das auch nicht zu kritisieren,soweit nicht auch Dokumente vernichtet worden sind, dienach den Archivgesetzen des Bundes, der Länder und derKirchen den öffentlichen Archiven zur Verfügung hättengestellt werden müssen.Für Dokumente bei Vormündern gilt, dass sie nach demEnde der Mündelvertretung eigentlich den gesetzlich Ver-tretenen hätten ausgehändigt werden müssen bzw. zu die-sem Zweck aufbewahrt und nicht hätten vernichtet werdendürfen. Das war (und ist) aber bis heute nur vereinzelt Pra-xis, sodass auch diesbezüglich viele Dokumente tatsächlichnicht mehr existieren.

Allerdings finden sich auch viele Behörden und Einrichtun-gen, insbesondere auch Archive, in denen Aktenbeständeaus der betreffenden Zeit noch vorliegen. Eine Stichprobedes Diakonie Bundesverbandes hat beispielsweise ergeben,dass in etwa der Hälfte der Diakonischen Einrichtungennoch Heimakten vorhanden sind. Um eine Vernichtungnoch bestehender Akten zu stoppen, hat der Runde Tischbereits in seiner zweiten Sitzung am 2./3. April 2009 fol-genden Aufruf zur Aktensicherung beschlossen:

Wir fordern die zuständigen Stellen der Länder (Daten-schutzbeauftragte/Ministerien) und Kommunen auf – soweitnoch nicht geschehen –, die ihnen nachgeordneten Stellen(Landesjugendämter/Jugendämter, Vormundschaftsämter,Archive u. a.) anzuweisen, sämtliche Akten über die ehe -maligen Heimkinder/ Jugendlichen sowie sämtliche aus damaliger Zeit noch vorhandenen Unterlagen über die Kin-der- und Jugendheime, mit denen sie zusammengearbeitethaben, zu sichern. Dieses Anliegen gilt auch für die Justiz-ministerien und die Vormundschaftsgerichte, ebenso fürkirchliche Einrichtungen und andere freie Träger, die da-mals Kinder- und Jugendheime unterhielten.“3

2. Es ergeben sich indes bei der Gewährung von Akteneinsicht,aber auch bei der häufig gewünschten Aushändigung vonKopien der „eigenen Akte“ einige datenschutzrechtliche Fra-gen. Anlass dazu ist gegeben, soweit es um datenschutz-rechtliche Belange Dritter geht. Hier bedarf es einer diffe-renzierenden Betrachtung.

Einen Hinderungsgrund könnten Aufbewahrungsfristen dar-stellen. Grundsätzlich sind personenbezogene Daten nachAblauf der Aufbewahrungspflicht zu löschen. Dies ergibt

3 Auszug aus dem Protokoll der 2. Sitzung des Runden Tisches Heimerziehung.

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sich nicht zuletzt aus den Regelungen zur Datenvermeidungund Datensparsamkeit (vgl. § 3a BDSG) sowie zum Anspruchauf Löschung nach den einschlägigen Regelungen der Da-tenschutzgesetze (vgl. nur § 20 Abs. 2 Nr. 2 BDSG sowie dieentsprechenden Regelungen in den Landesdatenschutzge-setzen sowie § 84 Abs. 2 Satz 2 SGB X).

Für die Akten der Heimkinder ist zusätzlich § 84 Abs. 2 Satz 2 SGB X zu beachten. Danach ist entgegen dem daten-schutzrechtlichen Grundsatz der Löschung von personen-bezogenen Daten nach Ablauf der Aufbewahrungsfristen zu beachten, ob es ein entgegenstehendes schutzwürdigesInteresse des Betroffenen an der weiteren Aufbewahrungder personenbezogenen Unterlage gibt. Ein solches schutz-würdiges Interesse an der weiteren Aufbewahrung liegthier vor, da die betroffenen Heimkinder ein verfassungs-rechtlich geschütztes Recht an der Kenntnis über ihre Vergangenheit haben.

Schließlich gibt es immer wieder Berichte, nach denen dieAkteneinsicht an ganz praktischen Dingen scheitert oderproblematisch verläuft.

Der Runde Tisch Heimerziehung nimmt diese Fragen undProbleme zum Anlass, die folgenden Empfehlungen an be-troffene Stellen zu formulieren. Es soll erreicht werden, dasseine Akteneinsicht unter Wahrung der datenschutzrechtli-chen Bestimmungen flächendeckend Praxis wird und dassdie Akteneinsicht für die Betroffenen produktiv und in derSache so angemessen wie möglich verläuft. In Abschnitt II. dieser Empfehlung werden datenschutz-rechtliche Fragen beantwortet. In Abschnitt III. gibt derRunde Tisch praktische Hinweise und Empfehlungen fürden konkreten Vorgang der Akteneinsicht.Adressaten sind alle öffentlichen und freien Träger und Institutionen, die in der damaligen Heimerziehung Aktenführten – also neben Jugendämtern, Landesjugendämternund Einrichtungen auch Vormundschaftsgerichte oder Vormundschaftsämter und deren Nachfolger.

4 Zu den Ergebnissen der Anhörung siehe Zwischenbericht des Runden Tisches, S. 38 f.

5 „Stellungnahme der Datenschutzbeauftragten des Bundes und derLänder zu der daten-schutzrechtlichen Problematik hinsichtlichder Heimerziehung in den 50iger und 60iger Jahren“; vgl. auch § 19 Bundesdatenschutzgesetz und § 83 SGB X sowie die entspre-chenden Regelungen in den Datenschutzgesetzen der Länder.

II. Zu einzelnen datenschutzrechtlichen Fragen

Für die Klärung der datenschutzrechtlichen Fragen wurde derBundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar in die 3. Sitzungdes Runden Tisches am 15./16. Juni 2009 eingeladen4. In ei-nem weiteren Schritt wurde eine Stellungnahme des Arbeits-kreises „Gesundheit und Soziales" der Datenschutzbeauftrag-ten des Bundes und der Länder erbeten, die dann in seiner 53.Sitzung beschlossen und im Mai 2010 an den Runden Tischübermittelt wurde. An entsprechenden Stellen wird im Weite-ren aus dieser Stellungnahme zitiert.

Nach der Klärung der datenschutzrechtlichen Fragen kommtder Runde Tisch zu folgenden Ergebnissen:

1. Grundsätzliches Einsichtsrecht der BetroffenenZentrales Anliegen der ehemaligen Heimkinder ist, in die sieselbst betreffenden Akten Einsicht zu nehmen, hieraus Aus-kunft oder „ihre Akten“ in Kopie zu erhalten. Dies bezieht sichz. B. auf die sie betreffenden Heim- oder Krankenakten, aberauch die allgemeinen oder sie betreffenden Unterlagen derHeimleitung, der zuständigen Jugendämter oder der sonst zuständigen öffentlichen Stellen.In dem für das heutige Verständnis von Persönlichkeits- undDatenschutz grundlegenden Volkszählungsurteil hat das Bun-desverfassungsgericht ausgeführt, dass eine Gesellschafts-und Rechtsordnung, in der Bürger nicht mehr wissen können,wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß, mitdem Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht ver-einbar sei. In verschiedenen Gesetzen sind Akteneinsichts-und Auskunftsrechte für die Betroffenen normiert, denen beider Aufarbeitung der Heimerziehung in den 50iger und 60igerJahren eine grundlegende Bedeutung zukommt. Grundsätzlich ist den Betroffenen nach diesen RegelungenAuskunft zu erteilen über• die zu seiner Person gespeicherten Daten, auch soweit sie

sich auf die Herkunft dieser Daten beziehen,• die Empfänger oder Kategorien von Empfängern, an die die

Daten weitergegeben werden und,• den Zweck der Speicherung.5

2. Schutz der Rechte DritterDas Sozialgesetzbuch, das auf Sozialleistungsträger (u. a. Ju-gendämter) direkte Anwendung findet, gewährt den Betroffe-nen das Akteneinsichts- und das Auskunftsrecht nicht unein-geschränkt. Sowohl das Akteneinsichtsrecht nach § 25 SGB Xals auch das Auskunftsrecht nach § 83 SGB X berücksichtigenschutzwürdige Interessen Dritter. Bei der Akteneinsicht bzw.Auskunft aus Akten über die frühere Heimerziehung kommeninsbesondere der Schutz personenbezogener Daten Dritter wiebeispielsweise anderer ehemaliger Heimkinder in Betracht.

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Des Weiteren ist auch der Schutz von Betriebs- und Ge-schäftsgeheimnissen zu berücksichtigen, die nach der Rege-lung des § 35 Abs. 4 SGB I personenbezogenen Daten gleich-gestellt sind.Bei der Abwägung datenschutzrechtlicher Belange Dritter istzu beachten, dass ehemalige Erzieher oder Angestellte vonKinderheimen, deren Name in Ausübung ihrer Funktion in dieAkte aufgenommen wurde, grundsätzlich kein Recht haben,dass ihre Namen unkenntlich gemacht werden. Diese für dasDatenschutzrecht schon seit Langem von den Datenschutzbe-auftragten des Bundes und der Länder vertretene Auffassungwurde auch durch die entsprechende Wertung des Gesetzge-bers in § 5 Abs. 4 des Informationsfreiheitsgesetzes des Bun-des übernommen. Das Interesse der Funktionsträger an einerGeheimhaltung tritt insoweit hinter das Informationsinteressedes Betroffenen zurück.Anders dagegen verhält es sich mit den personenbezogenenDaten der ebenfalls betroffenen anderen Heimkinder. Diesesind in allen Unterlagen – regelmäßig durch Schwärzung –unkenntlich zu machen. Die Art und Weise der Auskunftsgewährung liegt zwar grund-sätzlich im Ermessen der jeweiligen Organisation, bei der dieInformation liegt. Ermessen bedeutet hier allerdings nicht,dass die Stelle nach freiem Belieben entscheiden kann. DasGesetz spricht ausdrücklich von „pflichtgemäßem Ermessen“(§ 83 Abs. 1 Satz 4 SGB X). Dies bedeutet, dass soweit der An-tragsteller Wünsche hinsichtlich der Form der Auskunft geäu-ßert hat – etwa in Form einer Akteneinsicht – hiervon nur beiVorliegen gewichtiger Gründe abgewichen werden kann. Ge-wichtige Gründe wären etwa dann anzunehmen, wenn mit derAkteneinsicht die Offenbarung personenbezogener Daten Drit-ter, etwa anderer Heimkinder, verbunden wäre.6

3. RechtsnachfolgeDiese Grundsätze sind in der Regel auch anwendbar, wennhinsichtlich der Trägerschaft eines Heims eine Rechtsnach-folge stattgefunden hat. Unter Rechtsnachfolge ist der Über-gang von Rechten und Pflichten einer – auch juristischen –Person auf eine andere zu verstehen. In den Fällen, in denenes für den Übergang der Trägerschaft keine gesetzlichen odervertraglichen Regelungen gibt, gelten für den Rechtsnachfol-ger eines früheren Trägers eines Kinderheims die Rechte undPflichten, die für den Rechtsvorgänger gegolten haben.7

4. Aufbewahrung von Akten, deren Aufbewahrungsfrist abgelaufen ist Die gemeinsame Haltung der Datenschutzbeauftragten desBundes und der Länder hinsichtlich der Akten, deren Aufbe-wahrungsfristen zwar abgelaufen sind, die aber noch nichtden jeweiligen Archiven angeboten wurden, geht dahin, dass

die Akten nicht vernichtet werden sollen. Hier ist zumindestder Rechtsgedanke des § 84 Abs. 3 Nr. 2 SGB X oder § 61 Abs.3 SGB VIII heranzuziehen.Für die weitere Aufbewahrung der Akten spricht die Interessen-abwägung zwischen den Auskunftsbegehren der ehemaligenHeimkinder und der Durchführung von Aufbewahrungsrege-lungen. Diese beruhen auf einer Konkretisierung des Erforder-lichkeitsgrundsatzes und regeln die Durchführung einer ord-nungsgemäßen und zweckmäßigen Verwaltung. Gegenüberdiesem Interesse geht das Interesse der Betroffenen auf Aus-kunft und damit auf den Erhalt der Unterlagen im vorliegen-den Fall grundsätzlich vor.8

5. Akteneinsicht für wissenschaftliche ZweckeBei der Aufarbeitung der Heimerziehung in den 50iger und60iger Jahren kommt neben dem vorrangigen Interesse derBetroffenen auch dem Interesse der Wissenschaft eine ele-mentare Bedeutung zu. Die Einrichtung des Runden Tischeswar vom Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages mitder Zielsetzung empfohlen worden, die Geschehnisse in derHeimerziehung im westlichen Nachkriegsdeutschland unterden damaligen rechtlichen, pädagogischen und sozialen Be-dingungen aufzuarbeiten. Notwendigerweise setzt dies vo-raus, dass Informationen an die mit der Aufarbeitung befass-ten Wissenschaftler auch anhand konkreter Unterlagen über-mittelt werden. Rechtliche Grundlage für die Übermittlungpersonenbezogener Daten für wissenschaftliche Zwecke ist §75 SGB X, soweit es sich um Unterlagen von Sozialleistungs-trägern handelt. Bei Jugendämtern und öffentlich-rechtlichenTrägern der Kinderheime ist diese gesetzliche Vorschrift un-mittelbar anwendbar. Dabei ist zu beachten, dass für freie undkirchliche Träger teilweise abweichende Bestimmungen gel-ten, sodass eine Prüfung des Einzelfalls zu erfolgen hat.9

III. Praktische Hinweise zur Akteneinsicht durch ehemaligeHeimkinder

Die Suche nach Akten gestaltet sich sowohl für die ehemali-gen Heimkinder als auch für die Behörden und Einrichtungenhäufig schwierig und mühsam. Oft wird schnell beschieden,dass alle Akten vernichtet wurden oder nicht mehr auffindbar

6 „Stellungnahme der Datenschutzbeauftragten des Bundes und derLänder zu der datenschutzrechtlichen Problematik hinsichtlich derHeimerziehung in den 50iger und 60iger Jahren“

7 Ebenda.8 Ebenda.9 Ebenda.

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sind. Es gibt allerdings auch immer wieder Berichte, dasslängst verloren geglaubte Akten nach einigen Anstrengungenund manchmal auch durch Zufall wieder aufgefunden wurdenInsbesondere wenn die ursprüngliche Einrichtung oder Be-hörde nicht mehr besteht, Umstrukturierungen, Umzüge oderSanierungen stattgefunden haben, wurden die Akten man-cherorts nicht (wie vermutet) vernichtet, sondern in Kellern,auf Dachböden oder anderen Gebäuden aus- oder zwischen-gelagert. Dort sind sie in Vergessenheit geraten und werdenheute nicht mehr erinnert. Es lohnt sich also immer, Nachfor-schungen anzustellen und dabei nicht nur die aktuelle Regis-tratur zu berücksichtigen. Auch ehemalige Mitarbeiter könnenoft wichtige Hinweise auf den Verbleib von alten Akten geben

Sind Akten einmal gefunden, geht es um die praktische Ge-staltung der Akteneinsicht. In einigen Fällen wurden die Aktenkopiert, schützenswerte Daten geschwärzt und an die Betrof-fenen per Post verschickt. Eine solche Art der Übermittlung istnicht für alle Ehemaligen geeignet. Für viele Betroffene stellt die Einsicht in die Akte, durch diesich bislang unbekannte Zusammenhänge der eigenen Biogra-fie erschließen, eine erhebliche psychische Herausforderungdar. Viele Hintergründe, wie etwa Anlässe der Heimeinweisungwerden bekannt; unerwartet gibt es Hinweise auf Geschwisteroder Verwandte, von deren Existenz man vorher nichts wussteBeurteilungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Ju-gendämter, von Erzieherinnen und Erziehern oder Heimleitun-gen werden bekannt: Viele dieser Berichte wurden abwertend,stigmatisierend und verachtend verfasst; gleichzeitig wird denEhemaligen anhand der Akten deutlich, wie stark ihr gesamtesweiteres Leben durch diese Personen beeinflusst wurde. Esfinden sich in den Akten auch Berichte über traumatisierendeEreignisse wie Strafaktionen, die dann heute zu Retraumati-sierungen führen können.Akteneinsicht kann also dazu führen, dass ehemalige Heim-kinder erfahren, dass ihr bisheriges Verständnis der eigenenVergangenheit nicht zutrifft, dass für sie neue Wahrheitenentstehen und Teile der eigenen Geschichte umgeschriebenwerden müssen. Nicht alle Schriftstücke einer Akte sind fürLaien verständlich, sodass Akteninhalte gar nicht oder falsch

10 In § 25 SGB X Abs. 2, Satz 3 („Akteneinsicht durch Beteiligte“)heißt es dazu: „Soweit die Akten Angaben enthalten, die die Entwicklung undEntfaltung der Persönlichkeit des Beteiligten beeinträchtigen kön-nen, gelten die Sätze 1 und 2 mit der Maßgabe entsprechend, dassder Inhalt der Akten auch durch einen Bediensteten der Behördevermittelt werden kann, der durch Vorbildung sowie Lebens- undBerufserfahrung dazu geeignet und befähigt ist.“

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verstanden werden und zu neuen Verwirrungen und Missver-ständnissen führen können. Bei allen positiven Möglichkeiten,die eine Akteneinsicht für die Betroffenen eröffnet, ist daraufzu achten, dass die Akteneinsicht auch ein besonders sensiblerund aufwühlender Moment sein kann, der ehemalige Heim-kinder stark herausfordert.Es hat sich daher aus Sicht der Betroffenen als hilfreich er-wiesen, wenn eine persönliche Begleitung und ggf. Erläute-rung der Akteninhalte angeboten wird.10

Eine solche Begleitung und Vermittlung muss bereits unmit-telbar bei der Aktenübergabe bzw. -einsicht angeboten wer-den. Die persönliche Begleitung muss fachlich gut vorbereitetsein und ohne Zeitdruck stattfinden. Das Angebot der Mög-lichkeit einer weiteren späteren Kontaktaufnahme – etwa fürNachfragen – ist notwendig.Es kann auch angebracht sein, die Akteneinsicht durch eineunabhängige externe Fachkraft begleiten zu lassen. Insbeson-dere dann, wenn noch Vorbehalte des ehemaligen Heimkindesgegenüber der Einrichtung bestehen, kann eine solche neutra -le Begleitung bzw. Mediation angezeigt sein und gewünschtwerden.

Für die Form der Akteneinsicht lassen sich bisher zwei wesent- liche Vorgehensweisen unterscheiden:• Die Einsicht in die Akte findet vor Ort statt, ohne dass dabei

die Akte oder Bestandteile der Akte ausgehändigt werden. • Die Akte wird zum Verbleib beim Betroffenen als Kopie aus-

gehändigt.

Im Sinne einer angemessenen Aufarbeitung muss für dieÜbergabe einer Kopie plädiert werden. Innerhalb der zur Ver-fügung stehenden Zeit vor Ort lässt sich eine entsprechendeAkte nicht lesen, begreifen und verarbeiten, da diese Situationbereits durch das Wiedersehen der Einrichtung und den damitverbundenen Erinnerungen besonders belastet sein kann. Umeine intensive und ausreichende Auseinandersetzung mit derAkte zu ermöglichen, sollte die Akte den Betroffenen ausge-händigt werden. Sie können dann selbstbestimmt entscheiden,wann und mit wem sie sich über welche Teile der Akte ausei-nandersetzen möchten. Viele Zusammenhänge erschließen sichzudem erst beim zweiten, dritten oder vierten Lesen der Akte.Ehemalige Heimkinder benötigen die Erfahrung, dass sie selberbestimmen können, wie sie mit ihrer Vergangenheit umgehenund dass ihnen das nicht von anderen abgenommen wird. Einsolches Vorgehen erinnert sie oftmals an die Zeit der Heimun-terbringung. Einige der Betroffenen möchten ihre Akte imRahmen einer Therapie bearbeiten oder benötigen Teile derAkte als Nachweise (z. B. für Rentenansprüche). Hierfürmüsste ihnen die Akte vorliegen.

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In der Praxis erweisen sich immer wieder die Finanzierung unddie Bereitstellung von Ressourcen als Problem. Die Aktenein-sicht erfordert aufseiten der Institutionen einen erhöhtenAufwand: Die Aktensuche, das Kopieren und ggf. Schwärzender Akten und die Begleitung der Akteneinsicht bedeuten Personaleinsatz und Sachkosten. Viele ehemalige Heimkinderleben heute von ALG II, Grundsicherung oder sehr niedrigenRenten. Immer wieder wird berichtet, dass Behörden und Ein-richtungen für die Akteneinsicht zum Teil erhebliche Bearbei-tungsgebühren erheben und keine Kosten übernehmen. Auchdie Reisekosten zur Übergabe der Akte werden oft nicht er-stattet. Die niedrigen Einkommen vieler ehemaliger Heimkin-der ermöglichen derartige Zahlungen jedoch nicht. MancheStellen lehnen die Akteneinsicht generell ab und begründendies damit, dass keine personellen Ressourcen bereitstünden,um nach Akten zu suchen.

In diesem Zusammenhang ist aus Sicht des Runden Tischesauf die besondere Verantwortung der mit der Heimunterbrin-gung befassten Institutionen und Einrichtungen hinzuweisen.Die Akteneinsicht steht in unmittelbarem Zusammenhang mitden Aufgaben und Pflichten der jeweiligen Institutionen undEinrichtungen – auch wenn die Unterbringungen bereits vieleJahre zurückliegen und auch wenn „nur“ die Rechtsnachfolgebesteht.

In seinem Schlussbericht empfiehlt der Runde Tisch die Ein-richtung von Anlauf- und Beratungsstellen. Diese Stellen kön-nen in besonderer Weise geeignet sein, die Akteneinsicht, dasKopieren der Akten und die Übergabe zu organisieren.

a. Wie die Akteneinsicht, aber auch das Fertigen von Kopienaus den Akten organisiert werden kann, regelt für nochnicht abgeschlossene Verwaltungsverfahren § 25 SGB X.Zwar kommt diese Vorschrift hier nicht unmittelbar zur An-wendung. Der Rechtsgedanke der Regelung kann und solltejedoch auf die Akteneinsicht im hier erörterten Zusammen-hang übertragen werden. Insofern sind diese Kriterien fürdie hier zu bewältigenden Probleme zu einer Anwendung„in entsprechender Weise“ geeignet. So sollte entsprechendAbs. 3 dieser Vorschrift die „Akteneinsicht bei der Behördezu erfolgen, die die Akten führt. Im Einzelfall kann die Einsichtauch bei einer anderen Behörde (...) erfolgen; weitere Aus-nahmen kann die Behörde, die die Akten führt, gestatten.“ Eine entsprechende Anwendung empfiehlt sich auch i. S.der Regelung in § 25 Abs. 2 SGB X. Dort ist geregelt: „So-weit die Akten Angaben enthalten, die die Entwicklung undEntfaltung der Persönlichkeit des Beteiligten beeinträchtigen

können, gelten die Sätze 1 und 2 mit der Maßgabe entspre-chend, dass der Inhalt der Akten auch durch einen Bediens-teten der Behörde vermittelt werden kann, der durch Vorbil-dung sowie Lebens- und Berufserfahrung dazu geeignet undbefähigt ist.“ Aus den Regelungen folgt auch, dass die zuständigen Be-hörden die Akteneinsicht auf eine andere Stelle delegierenkönnen – das können auch Anlauf- und Beratungsstellensein. Auf der Basis entsprechender Verträge können „andereStellen“ i. S. der vorgenannten Regeln des § 25 SGB X sein.Insofern sind dann diese Stellen auch befugt, die Akten ein-zusehen und sie für die Ehemaligen verfügbar zu machen.Sie sind dabei aber auch verpflichtet, die entsprechendenDatenschutzvorschriften zu beachten. Es gelten allerdingsfür die einzelnen Sachverhalte je unterschiedliche Rechts-grundlagen. So sind Vormundschaftsakten anders zu behan-deln als Jugendamtsakten. Welche Inhalte weitergegebenwerden dürfen und welche nicht, ist im Einzelfall zu prüfenund entsprechend von den beauftragten Stellen umzusetzen.

b. Wie bereits dargelegt, bestehen, abseits der rechtlichen Fragen, ganz konkrete praktische Fragen, wie ein Aktenein-sichtsrecht unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben um-gesetzt werden kann. Die ehemals aktenführenden Stellensind häufig gar nicht mehr im Besitz der Akte und wenndoch, haben sie keine Kapazitäten, die notwendigen Vor-kehrungen zu einer rechtmäßigen Akteneinsicht oder garKopie der Akte zu gewährleisten. Das Gleiche gilt für die Archive, die auch in aller Regel nicht in der Lage sind, ent-sprechende Anfragen zeitgerecht und kostenneutral für dieEhemaligen durchzuführen. Anlauf- und Beratungsstellenauf einer rechtlich fundierten Basis können helfen, dieseSchwierigkeiten zu lösen. Als von den zuständigen Ministe-rien beauftragte Stellen können sie die Akten suchen, aufübermittlungshindernde Inhalte überprüfen, die Akte kopie-ren und sie dann in einer dem oben beschriebenen Prozedereentsprechenden Form an den Ehemaligen aushändigen. Ineinem solchen Zusammenhang kann auch erreicht werden,dass die Akteneinsicht für anfragende ehemalige Heimkinderkostenneutral ermöglicht wird. Der Runde Tisch empfiehltdaher, für die Anlauf- und Beratungsstellen u. a. entspre-chende Personalressourcen einzusetzen und Reise- undSachkosten zu übernehmen.

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