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Räuber-Beute-Modelle, Auslese/Schwellensatz

Mareike Franz und Brigitte Steinhauser

Ausarbeitung zum Vortrag im Seminar �Mathematische Modellierung�(Wintersemester 2008/09, Leitung PD Dr. Gudrun Thäter)

Zusammenfassung: In unserer Ausarbeitung haben wir uns ausführlich mit den drei The-men �Räuber-Beute-Modelle�, �Prinzip der Auslese durch Wettbewerb� und dem �Schwel-lensatz der Epidemiologie� beschäftigt. Im Allgemeinen ist es nicht unproblematisch, solcherealen Prozesse durch ein mathematisches Konzept angemessen zu modellieren. Oftmals istdies überhaupt nicht möglich, da es zahlreiche Faktoren gibt, die mit mathematischen Mittelnnicht fassbar bzw. berechenbar sind (dies werden wir auch noch an einigen anschaulichen Bei-spielen verdeutlichen). In der Erarbeitungsphase gab es oft Momente der Überraschung, dadie mathematisch bewiesenen Erkenntnisse nicht selten der intuitiven Meinung widersprachen.Doch gerade dies macht unser Thema so interessant, da bereits bekannte Naturphänomeneaus einem komplett neuen Blickwinkel betrachtet werden.

Inhaltsverzeichnis

1 Räuber-Beute-Modelle 31.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31.2 Das Mathematische Modell nach Volterra . . . . . . . . . . . . . . . . . 31.3 Di�erentialgleichungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41.4 Betrachtung der Lösungsbahnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41.5 Kurveneigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51.6 Berücksichtigung des Fischfangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71.7 Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81.8 Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81.9 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

2 Prinzip der Auslese durch Wettbewerb 92.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92.2 Mathematisches Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

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3 Schwellensatz der Epidemiologie 143.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143.2 Annahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143.3 Qualitative Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163.4 Probleme bei der Modellierung realer Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . 18

3.4.1 Beispiel (Bombay) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

4 Résumé 20

Abbildungsverzeichnis

1.1 Haibestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31.2 Ellipse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62.1 Sektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123.1 Epidemiekurven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163.2 Glockenkurve . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193.3 Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

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1 Räuber-Beute-Modelle

1.1 Einleitung

Zunächst wollen wir uns das Diagramm in Abbildung 1.1 anschauen, welches den pro-zentualen Anteil an Haien am Gesamt�schfang in den Jahren 1914-1923 wiedergibt.Ermittelt wurden diese Daten von dem italienschen Biologen Umberto D'Ancona inden Zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts.

Abbildung 1.1: Haibestand

Man mag sich nun wundern, warum die Haipopulation während des ersten Weltkriegs(1914-1918) einen solchen Zuwachs erfuhr. Dieses auÿergewöhnliche Phänomen berei-tete auch D'Ancona schla�ose Nächte, woraufhin er sich an seinen Kollegen, den Ma-thematiker Vito Volterra, wandte um mit Hilfe mathematischer Modellierungen eineplausible Erklärung für die Befunde zu �nden.

1.2 Das Mathematische Modell nach Volterra

Zunächst betrachten wir den vereinfachten Fall ohne Fischfang

• Die Beutepopulation (Speise�sche) sei x(t)

• Die Räuberpopulation (Haie) sei y(t)

• Auÿerdem nehmen wir an, dass ausreichend Platz und Nahrung für alle vorhandenist (keine Konkurrenz unter den Fischen) ⇒ Population der Speise�sche ohneHaie verhält sich nach dem Malthusianischen Gesetz für Bevölkerungswachstum(nach dem britischen Ökonom Thomas Robert Malthus, 1766-1834)

dx(t)dt

= αx; α > 0

• Die Anzahl der Kontakte zwischen Haien und Fischen pro Zeiteinheit sei βxy(alle Kontakte führen zum Tod)

• Die natürliche Sterberate der Haie sei γy und die Wachstumsrate δxy (wobei xder Futtervorrat und y die Anzahl der Haie sei)

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1.3 Di�erentialgleichungssystem

Mit Hilfe dieser Annahmen ergeben sich die folgenden Di�erentialgleichungen (DGL)

dx(t)

dt= αx− βxy

dy(t)

dt= −γy + δxy

(1.1)

Wir versuchen im Folgenden nicht dieses System explizit zu lösen. Vielmehr interessiertuns der qualitative Verlauf der Lösungsbahnen dieser Funktionen.

1.4 Betrachtung der Lösungsbahnen

Nun betrachten wir den Fall, dass sich die Räuber- und Beutepopulation im Gleichge-wicht be�nden (sich also zahlenmäÿig nicht verändern).

dx

dt=

dy

dt= 0

Daraus ergeben sich die beiden Gleichgewichtslösungen

x(t) = 0 und y(t) = 0

x(t) =γ

δund y(t) =

α

β

Nun wollen wir die Lösungsbahnen, welche sich aus diesen beiden Bedingungen ergeben,genauer analysieren: Die erste der beiden Bedingungen ist für uns nicht weiter vonBedeutung. Wir sehen sofort, dass die Lösungsfamilie durch

x(t) = x0 exp (αt), y(t) = 0

x(t) = 0, y(t) = y0 exp (−γt)

mit x0 := x(t0); y0 := y(t0) und t0 als Startzeitpunkt

gegeben ist. Das heiÿt, mit dieser Bedingung sind die Bahnen von (1.1) die x− undy−Achse. Es ist dann auch klar, dass die Lösungskurve den ersten Quadranten für allet ≥ t0 nicht verlässt.

Wenden wir uns jetzt also dem zweiten, spannenderen Fall zu, bei dem keine der beidenFunktionen x und y identisch verschwinden und betrachten die DGL 1. Ordnung

dy

dx=−γy + δxy

αx− βxy=

y(−γ + δx)

x(α− βy)(1.2)

Bei genauem Hinschauen erkennen wir, dass es sich um eine DGL mit getrenntenVariablen handelt. Deshalb können wir sie wie gewohnt auf eine geeignete Form bringenund lösen: ∫ y0

y

α− βξ

ξdξ =

∫ x0

x

−γ + δτ

τdτ

α(ln y − ln y0)− βy + βy0 = −γ ln x + γ ln x0 + δx− δx0

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α ln y − βy + γ ln x− δx = α ln y0 − βy0 + γ ln x0 − δx0 =: k1 (1.3)

Das qualitative Verhalten der Lösungsbahnen von (1.1) wird durch Gleichung (1.3)beschrieben. An dieser Form wird jedoch der Verlauf noch nicht ganz o�ensichtlich.Deshalb werden wir mit Hilfe einiger Umformungen versuchen, eine anschaulichereDarstellung der Gleichung (1.3) zu �nden.

1.5 Kurveneigenschaften

Proposition 1.1 Die Bahnen bilden eine Ellipse (also geschlossene Kurve) um denGleichgewichtspunkt (γ

δ, α

β).

Beweis:Hierzu ersetzen wir die Konstanten p := γ

δund q := α

βund wählen neue Variablen

u := x− p und v := y − q.Das heiÿt, wir verschieben die Lösungsbahnen in den Nullpunkt der u, v− Ebene.Somit wird aus ln x = ln (p + u) = ln p(1 + u

p) = ln p + ln(1 + u

p). Analog gilt für

ln y = ln q + ln (1 + vq).

Die logarithmischen Ausdrücke approximieren wir nun durch die logarithmische Reihe

ln (1 + r) =∞∑

n=1

(−1)n+1 rn

n

⇒ ln x = ln p +u

p− u2

2p2bzw. ln y = ln q +

v

q− v2

2q2

Wir lassen die logarithmische Reihe hier nach dem zweiten Glied abbrechen, da fürhinreichend kleine u

pund v

qdie folgenden Glieder verschwindend klein werden.

Verwenden wir dies nun in Gleichung (1.3) folgt:

α(lnα

β+

β

αv − β2

2α2v2)− β(v +

α

β) + γ(ln

γ

δ+

δ

γu− δ2

2γ2u2)− δ(u +

γ

δ) = k1

⇔ −β2

2αv2 − δ2

2γu2 + α ln αβ − α + γ ln γδ − γ = k1

⇔ β2

αv2 +

δ2

γu2 = k1 + 2[α ln αβ + γ ln γδ − α− γ] =: K

Wir sehen, dass für K > 0 eine Ellipsengleichung in der u, v−Ebene mit dem Null-punkt als Mittelpunkt gegeben ist. Wir erkennen auch, dass ihre Halbachsen auf den

Koordinatenachsen liegen und die Längen√

γKδ

und√

αKβ

haben.

Da wir aber durch unsere anfängliche Transformation die Lösungsbahn verschoben ha-ben, fällt der Mittelpunkt in der x, y−Ebene auf (p, q). Erinnern wir uns nun noch,dass (p, q) gerade die Gleichgewichtslösung unseres Di�erentialgleichungssystems (1.1)war, kommen wir zu folgender Lösungsbahn.

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Abbildung 1.2: Ellipse

Aus den Eigenschaften der Ellipse ergibt sich, dass alle Lösungen x(t), y(t) (mit x, y >0) von (1.1) periodische Funktionen der Zeit mit der Periodenlänge T > 0 sind (d.h.x(t + T ) = x(t) und y(t + T ) = y(t))Schauen wir uns das doch einmal genauer an: Beginnen wir in dem Punkt der Ellipsemit der minimalen Beutepopulation x(t). Wandern wir auf unserer Ellipse gegen denUhrzeigersinn weiter, sehen wir, dass x(t) ansteigt. Interpretieren wir das und wendenes auf den realen Fall an, heiÿt dies, dass die Räuberpopulation aufgrund des geringenNahrungsangebotes reduziert wird. Kommt man am �Schwellenwert� γ

δan, steigt die

Population der Räuber y(t) wieder an. Interpretation: ab hier ist der Beutebestandgroÿ genug, um die Vermehrung der Räuber zu ermöglichen. Nun erreichen wir denPunkt der Ellipse, an welchem die maximale Beutepopulation vorliegt und somit denzweiten �Schwellenwert� α

β. Schreiten wir weiter gegen den Uhrzeigersinn auf der Ellipse

fort, nimmt die Beutepopulation x(t) ab, während die Räuberpopulation y(t) ansteigt.Interpretativ gesagt also: die Räuber werden übermächtig und beginnen die Anzahlder Beutetiere einzudämmen. Unterschreiten wir den �Schwellenwert� γ

δ, geht das Spiel

wieder von vorne los und die Räuberpopulation schrumpft (vermutlich aufgrund vonNahrungsmangel) zusammen.

Wenden wir uns nun noch einmal den Daten von D'Ancona zu, ist klar, dass diesenur das arithmetische Mittel des Räuberanteils am Gesamtfang eines Jahr darstellen.Damit wir diese Daten mit unserer Formel (1.1) in Beziehung setzen können, müssenwir also die �Mittelwerte� von x(t) und y(t) berechnen.Erstaunlicherweise besagt das folgende Lemma, dass wir diese �nden können, auchwenn wir die exakte Lösung x(t) und y(t) nicht kennen.

Lemma 1.2 Es sei x(t), y(t) eine periodische Lösung von (1.1) mit der Periode T>0.De�niert man die Mittelwerte x und y von x und y durch

x =1

T

∫ T

0

x(t)dt

y =1

T

∫ T

0

y(t)dt

(1.4)

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dann gilt:

x = γδ

y = αβ.

Mit anderen Worten, Mittelwerte und Gleichgewichtswerte sind identisch.

Beweis: Erinnern wir uns an dieser Stelle noch einmal an Gleichung (1.1), dividierenbeide Seiten durch x und setzen dies in (1.3) ein, folgt

1

T

∫ T

0

x(t)

x(t)dt =

1

T

∫ T

0

α− βy(t)dt

Lösen wir das Integral auf der linken Seite ergibt sich

1

T

∫ T

0

x(t)

x(t)dt = ln x(T )− ln x(0) = 0

Dies gilt wegen der Periodizität von x(t) (d.h. x(T ) = x(0)).Somit folgt:

1

T

∫ T

0

βy(t)dt︸ ︷︷ ︸by

=1

T

∫ T

0

αdt =1

T(αT − α0) = α

Also ist gezeigt, dass y = αβgilt. Analog für x = γ

δ

q.e.d.

1.6 Berücksichtigung des Fischfangs

Nachdem wir nun die Lösungen unseres Di�erentialgleichungssystem näher betrachtethaben, stellt sich die Frage:Was passiert, wenn der Mensch in die Natur eingreift und anfängt zu �schen?Etwas mathematischer formuliert: Wie müssen wir das System modi�zieren um diesenneuen Faktor miteinzubeziehen?Hierzu nehmen wir an, dass durch das Fischen, die Beutepoputation mit einer Rateεx(t), sowie die Räuberpopulation mit einer Rate εy(t) dezimiert.ε modelliert hierbei die Stärke des Fischfangs (wieviele Boote? Anzahl der Netze?)

Also gilt in der Realität vielmehr die überarbeitete Version von (1.1)

dx(t)

dt= αx− βxy − εx = (α− ε)x− βxy

dy(t)

dt= −γy + δxy − εy = −(γ + ε)y + δxy

Natürlich ändern sich damit auch unsere Mittelwerte. O�ensichtlich gilt:

x =γ + ε

δ

y =α− ε

β

(1.5)

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Bemerkung 1.3 An dieser Stelle wollen wir uns an unsere anfängliche Verwunderungüber den Anstieg der Haipopulation während den Zeiten des Krieges (verminderterFischfang) erinnern. Mit Hilfe unseres modi�zierten Systems können wir dieses Phäno-men nun mathematisch erklären.Schlieÿlich sieht man, dass für einen normalen Fischereibetrieb, also ε < α durch-schnittlich die Speise�schanzahl erhöht und die Haianzahl vermindert wird.Ein verminderter Fischfang (wie in unserem Diagramm) ist somit den Haien zuträglich.Wer hätte das gedacht?Da dieses Resultat nicht nur uns verblü�t hat, ist es heute als sogenanntes �VolterraPrinzip� bekannt.

1.7 Anwendungen

Weg von den Meeresbewohnern kommen wir nun zu den etwas kleineren, aber trotzdemnicht zu vernachlässigenden Räubern, den Marienkäfern. Ja, ganz richtig auch Marien-käfer sind Räuber.Ihre Lieblingsspeise sind kleinere Insekten wie Läuse oder in unserem Beispiel dasBaumwollschuppen-Insekt (Icerya Purchasi), welches im letzten Jahrhundert von Aus-tralien nach Amerika �importiert� wurde und dort beinahe die komplette Zitrusfrüchte-industrie lahmgelegt hätte. Glücklicherweise konnten mit Hilfe des natürlichen Feindesdie Bestände gerettet werden, doch als später �bessere� Insektenvernichtungsmittel aufden Markt kamen, wurden die Obstbauern schwer enttäuscht. Gemäÿ dem Volterra-Prinzip erfreuten sich die Insekten bester Gesundheit und vermehrten sich prächtig -besser als jemals zuvor.

1.8 Kritik

Das hinderte jedoch viele Biologen und Ökologen nicht daran, dieses Prinzip zu igno-rieren und die Ansicht zu vertreten, dass anstatt des von Volterra prognostiziertenSchwankens im System �Räuber-Beute� ein Gleichgewichtszustand angestrebt wird.Allerdings vergessen diese Kritiker hier, dass Volterra sein Prinzip nicht als allgemein-gültigen Fall aufgestellt hat, da er ja die Konkurrenz um Futterplätze innerhalb derjeweiligen Spezies total vernachlässigt.

Wie würde solch ein allgemeineres Modell dann aussehen? Eine Möglichkeit hierfürstellt beispielsweise das Di�erentialgleichungssystem

dx

dt= αx− βxy − ex2

dy

dt= −γy + δxy − fy2

dar.

Mit dem Term ex2 werden die internen Kämpfe zwischen den Beutetieren und mitfy2 die Rivalitäten der Räuber untereinander aufgrund begrenzter Opfer berücksich-tigt.Das wirft die Frage auf: sind die Lösungen dieses Systems immer noch periodisch? Die

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Antwort hierauf ist nicht ganz einfach zu �nden. Nach genauerer Betrachtung fandman jedoch heraus, dass sie �nein� lautet, denn die Lösungen nähern sich vielmehr derGleichgewichtslösung x = α

e, y = 0 , falls γ

δgröÿer ist als α

e. Das heiÿt im Klartext:

Die Räuber sterben aus, weil sie nichts mehr zu fressen �nden!

Doch auch dieses allgemeinere Modell �ndet genügend Kritiker. Allerdings beziehendiese Personen sich auf spezielle Einzelfälle, in denen das System nicht anwendbar ist.Betrachten wir hierzu beispielhaft das Didinium, einen Einzeller. Dieses gefräÿige Kerl-chen scha�t es, seine vorhandene Nahrung (Panto�eltierchen) innerhalb kürzester Zeitrestlos zu vertilgen, woraufhin es aufgrund von Nahrungsmangel verendet. Selbstver-ständlich ist hier das Volterra-Prinzip nicht anwendbar, da der Spezialfall, dass diePopulation von Räuber/Beute komplett ausgelöscht wird, hier nicht betrachtet wird.

Natürlich gibt es auch Räuber-Beute-Beziehungen, die sich mit mathematischen Me-thoden nicht zufriedenstellend erfassen lassen. Wann ist das der Fall? - Zum Beispiel,wenn das Opfer ein Versteck hat, zu welchem der Räuber keinen Zugang hat, da esnicht möglich ist, die �Dummheit� bzw. Unvorsichtigkeit der Tiere zu modellieren, diezur falschen Zeit die sichere Höhle verlassen.

1.9 Fazit

Allgemein kann man sagen, dass wo immer der Mensch in das System Räuber-Beuteeingreift, die Folgen immens und nicht kalkulierbar sind. Wie Friedrich Engels sagte:�Schmeicheln wir uns nicht so sehr mit unseren menschlichen Siegen über die Natur.Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns� (siehe Insektenplage)Unsere heute so zivilisierte Welt hat nicht nur Vorteile: Antibiotika machen Bakteri-en resistent, fehlende Fressfeinde (Kaninchen in Australien; Waschbär in Deutschland)erlauben die Ausbreitung von �Schädlingen�. Unsere Umwelt ist ein vernetztes System.Sie ist so kompliziert, dass wir die Konsequenzen unseres Tuns nie vollkommen über-sehen können. Gutgemeinte Taten können fürchterliche Rückschläge zur Folge haben.

2 Prinzip der Auslese durch Wettbewerb

2.1 Einführung

�Die natürliche Auslese sorgt dafür, dass immer die Stärksten oder die am besten An-gepassten überleben� oder anders: �Die Säugetiere haben die Dinosaurier verdrängt,weil sie schneller, kleiner und aggressiver waren.� (Charles Darwin)Mit diesen Aussagen hat Darwin sehr gut auf den Punkt gebracht, was passiert, wennzwei (oder mehrere) ähnliche Spezies denselben Lebensraum besiedeln. Verständlicher-weise wird jede Spezies mit aller Macht versuchen, sich einen Vorteil gegenüber denKonkurrenten zu verscha�en. Gelingt ihr das und gehören die verschiedenen Arten zuderselben �Nische� (gleicher Lebensraum, Nahrung, Gewohnheiten), so zeigt die Erfah-rung, dass es über kurz oder lang zur Auslöschung der schwächeren Partei kommenwird.

Hierzu ein brisantes Beispiel von der kleinen Insel Jorilgatch im Schwarzen Meer. Auf

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dieser Insel leben vier verschiedene Arten von Seeschwalben (gemeine Seeschwalbe,Zwergschwalbe, Brandseeschwalbe, Flussseeschwalbe) friedlich nebeneinander. Obwohlsie sich in Lebensraum, Nahrung und ihren Gewohnheiten sehr ähnlich sind, hat es jedeArt durch eine unterschiedliche Jagdtechnik gescha�t, sich ihren Platz in der Nischezu sichern. Zum Beispiel nimmt die Brandseeschwalbe den weiten Weg auf das o�eneMeer auf sich, um ihre Beute zu fangen, wohingegen die Flussseeschwalbe ihr Futterausschlieÿlich an Land sucht. Die Zwergschwalbe bevorzugt sump�ge Stellen, währenddie gemeine Seeschwalbe sich auf Gebiete, welche sich weiter vom Ufer entfernt be�n-den, spezialisiert hat.So leben diese vier fast identischen Spezies auf kleinstem Raum harmonisch zusammen.

2.2 Mathematisches Modell

Als Ausgangspunkt rufen wir uns nochmals das logistische Gesetz des Bevölkerungs-wachstums in Erinnerung.

dN

dt= aN − bN2 (2.1)

mit N(t) := Populationsgröÿe einer Spezies und den Konstanten a, b

Es beschreibt das Wachstum einer einzigen Spezies, wobei die Mitglieder um Nahrungund Lebensraum konkurrieren. Aus einem vorangegangen Vortrag wissen wir bereits,dass sich N(t) für groÿe t dem Grenzwert K := a

bannährt. Schreiben wir Gleichung

(2.1) unter Verwendung von K um, erhalten wir

dN

dt= aN(1− b

aN) = aN(1− N

K) = aN(

K −N

K) (2.2)

Für kleine N sehen wir an dieser Form sehr schön, dass die Population näherungsweisegemäÿ dem Malthusianischen Gesetz dN

dt= aN wächst.

In Gleichung (2.2) ist aN das Fortp�anzungspotential der Spezies (wobei ideale Be-dingungen angenommen werden), (K−N

K) der Umweltwiderstand gegen das Wachstum

(er gibt die relative Anzahl noch freier Plätze im betrachteten Teil der Natur an undreduziert für eine wachsende Bevölkerung das Fortp�anzungspotential aN).

Erweitern wir das Modell (2.2) nun auf zwei Spezies und machen dazu folgende An-nahmen:

• N1(t) und N2(t) modellieren die jeweilige Gröÿe der beiden Populationen zumZeitpunkt t

• Mit K1,K2 wollen wir die Maxima der Populationen bezeichnen

• m1 sei die Anzahl an Plätzen der zweiten Spezies, die allerdings durch Spezies 1besetzt werden (analog für m2).

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Daraus ergibt sich analog zu Gleichung (2.2)

dN1

dt= a1N1(

K1 −N1 −m2

K1

)

dN2

dt= a2N2(

K2 −N2 −m1

K2

)

(2.3)

Man überlegt sich leicht, dass man Konstanten 0 ≤ α, β ≤ 1 �nden kann, so dassm1 = βN1 und m2 = αN2.Wir können sagen, dass die Konstanten α, β die Ein�ussstärke angeben, die eine Speziesauf die andere hat.Wir möchten im Folgenden nur den Extremfall betrachten, dass die beiden Spezies fastidentisch sind, das heiÿt α = β = 1.Hier folgt aus (2.3)

dN1

dt= a1N1(

K1 −N1 −N2

K1

)

dN2

dt= a2N2(

K2 −N2 −N1

K2

)

(2.4)

Es ist naheliegend, dass bei nahezu identischem Lebensraum, das Kon�iktpotentialhoch ist und beide Spezies alles daran setzen werden, ihre Art zu erhalten bzw. dieandere zu eliminieren. Im Folgenden wollen wir zeigen, dass es zur Auslöschung einerSpezies kommt.

Satz 2.1 (Prinzip der Auslese durch Wettbewerb):Sei K1 > K2. Dann konvergiert jede Lösung N1(t), N2(t) von (2.4) für t→∞ gegen dieGleichgewichtslösung N1 = K1 und N2 = 0. Das bedeutet in der harten Realtität, dasswenn beide Spezies nahezu identisch sind und Spezies 1 mehr Plätze im Mikroskosmos(abgeschlossenes System) einnehmen kann, wird Spezies 2 aussterben.

Beweis:Wie wir aus einem vorangegangenen Vortrag über Populationsmodelle bereitswissen, stellt

N1(t) =K1N1(0)

N1(0) + (K1 −N1(0)) exp (−a1t), N2(t) = 0 (2.5)

für jedes mögliche N1(0) eine Lösung von (2.4) dar.Nun betrachten wir die Lösungsbahnen von N1(t) und N2(t) in der N1 − N2−Ebeneund zeigen, dass die Werte von N1 und N2 nie negativ werden:

• Für N1(0) = 0 entspricht die Bahn gerade dem Nullpunkt

• Für 0 < N1(0) < K1 ist sie durch den Geradenabschnitt 0 < N1 < K1 , N2 = 0gegeben

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• Für N1(0) = K1 ist sie durch den Punkt (K1, 0) gegeben

• Für N1(0) > K1 erhalten wir den Geradenabschnitt K1 < N1 <∞ , N2 = 0

Wir können die N1−Achse mit N1 ≥ 0 als Vereinigung der vier oben genannten Bahnendarstellen. Analog können wir so auch mit N2 verfahren

N2(t) =K2N2(0)

N2(0) + (K2 −N2(0)) exp (−a2t), N1(t) = 0 (2.6)

und wie vorher die N2−Achse mit N2 ≥ 0 in vier verschiedene Bahnen einteilen. Alsokönnen wir sagen, dass alle Lösungen N1(t), N2(t), die im ersten Quadranten startenauch in allen weiteren Zeitpunkten t dort bleiben.

Nun wollen wir den Verlauf der Lösung im ersten Quadranten genauer betrachten undteilen ihn dazu in verschiedene Sektionen ein. Wir wählen die Sektionen so, dass dN1

t,dN2

t

innerhalb einer Sektion feste Vorzeichen haben. Daraus ergeben sich drei verschiedeneBereiche, welche durch die Geraden l1 := N2 = −N1 + K1 und l1 := N2 = −N1 + K2

voneinander getrennt werden (siehe Abb. 2.1).Stellen wir jetzt die Geradengleichungen etwas um, erhalten wir l1 := K1−N1−N2 = 0und l2 := K2 −N1 −N2 = 0.An dieser Form sieht man leicht, dass dN1

t< 0 wenn (N1, N2) oberhalb von l1 liegt und

umgekehrt ist die Ableitung positiv wenn (N1, N2) unterhalb von l1 liegt.Die gleiche Betrachtung führen wir für dN2

tdurch und kommen zu dem Schluss, dass

oberhalb von l2 die Ableitung positiv und unterhalb von l2 negativ ist.Fassen wir das nun noch einmal zusammen:

• Sektion I: N1,N2 monoton wachsend

• Sektion II: N1 monoton wachsend und N2 monton fallend

• Sektion III: N1,N2 monoton fallend

Abbildung 2.1: Sektionen

Um unseren Satz zu beweisen, benötigen wir noch drei kleine Lemmata.

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Lemma 2.2 Jede zur Zeit t = t0 in Sektion I startende Lösung N1(t),N2(t) von (2.4)verlässt dieses Gebiet zu einem späteren Zeitpunkt.

Beweis: Diesen wollen wir mittels Widerspruch führen.Nehmen wir an, die Lösung N1(t),N2(t) von (2.4) bleibt für t ≥ t0 in Sektion I. Dasheiÿt, nach obiger Einteilung, dass N2(t) und N1(t) für alle t ≥ t0 monoton wachsenund den Wert K2 nie erreichen. Also konvergieren die Lösung N1(t),N2(t) für t → ∞gegen die Grenzwerte ξ bzw. ν, wobei (ξ, ν) ein Gleichgewichtspunkt von (2.4) ist (derausführliche Beweis hierzu ist für uns im Moment nicht weiter relevant, kann aber inLemma 1 des Abschnitts 4.8 aus Quelle [1] nachgelesen werden).Schauen wir uns also die Gleichgewichtspunkte von (2.4) an. Diese sind (0, 0), (K1, 0)und (0, K2). Jetzt sehen wir aber, dass keiner dieser drei Punkte identisch mit demGrenzwert (ξ, ν) sein kann (dies kann man auch sehr schön an Abb. 2.1 erkennen).Somit haben wir die Aussage zu einem Widerspruch geführt und das Lemma bewiesen.

q.e.d

Im nächsten Lemma betrachten wir den Lösungsverlauf in Sektion II genauer.

Lemma 2.3 Jede zur Zeit t = t0 in Sektion II startende Lösung N1(t),N2(t) von (2.4)bleibt für alle t ≥ t0 in dieser Sektion und konvergiert gegen die GleichgewichtslösungN1 = K1, N2 = 0.

Beweis: Wieder gehen wir mittels Widerspruch vor:Angenommen eine Lösung N1(t),N2(t) von (2.4) verlässt Sektion II zu einem bestimm-ten t = t. Logischerweise muss sie dann entweder l1 oder l2 schneiden, wodurch es einenVorzeichenwechsel in einer der beiden Ableitungen gibt bzw. dN1(t)

dt= 0 oder dN2(t)

dt= 0

Betrachten wir den ersten Fall dN1(t)dt

= 0.Das heiÿt, wir haben bei t einen Extrempunkt von N1(t) vorliegen und schauen unsdeshalb die zweite Ableitung an. Wir berücksichtigen hierbei die Produktregel und,dass dN1(t)

dt= 0 gilt. Somit erhalten wir:

d2N1(t)

dt2=−a1N1(t)dN2(t)

K1dt

Da wir in diesem Fall l1 schneiden ist dN2(t)dt

< 0 und somit die zweite Ableitung positiv.Das heiÿt N1(t) hat in t = t ein Minimum. Hier ergibt sich aber der Widerspruch zuder Tatsache, dass N1(t) monoton wachsend ist. (Siehe Skizze Sektion II).Analog führen wir dies für dN2(t)

dt= 0 durch und erhalten ein Maximum von N2(t)

in t = t, was wiederum der Tatsache widerspricht, dass N2(t) in Sektion II monotonfallend ist.Ingesamt haben wir also gezeigt, dass jede Lösung, die in Sektion II startet, immerin diesem Bereich bleibt. Das heiÿt, dass N1(t) für t ≥ t0 monoton wachsend ist undimmer kleiner als K1. Ähnlich gilt für N2(t), dass diese Lösung immer gröÿer als K2 istund für t ≥ t0 monoton fällt. Wie im Beweis von Lemma 1 ergeben sich nun wieder dieGrenzwerte ξ,ν ((ξ, ν) Gleichgewichtspunkt). Von unserern drei Gleichgewichtspunkten(siehe Beweis zu Lemma 1) kommt nur der Punkt (K1, 0) für (ξ, ν) in Frage.

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q.e.d.

Kommen wir nun zum letzten Lemma, welches die Sektion III betri�t.

Lemma 2.4 Jede zur Zeit t = t0 in Sektion III startende Lösung N1(t),N2(t) von(2.4) bleibt für alle t ≥ t0 in dieser Sektion und konvergiert für t → ∞ gegen dieGleichgewichtslösung N1(t) = K1, N2(t) = 0

Beweis:Wenn eine Lösung N1(t), N2(t) von (2.4) für t ≥ t0 immer in Sektion III bleibt,heiÿt dies, dass N1(t),N2(t) monoton abnehmende Funktionen sind. Auÿerdem sind siebeschränkt und besitzen somit für t→∞ die Grenzwerte ξ,ν. Der Gleichgewichtspunkt(ξ, ν) kann nur identisch mit (K1, 0) sein (siehe Abb. 2.1), womit auch dieses letzteLemma bewiesen wäre.

q.e.d.

Fassen wir die Aussagen der Lemmata nun zusammen, so sehen wir, dass jede Lösungdie in Sektion I,II oder III startet, gegen die Gleichgewichtslösung (K1, 0) konvergiert.Eine auf l1 oder l2 startende Lösung tritt sofort in Sektion II ein und konvergiert nachLemma 2 auch gegen die Gleichgewichtslösung N1 = K1 und N2 = 0, womit schlieÿlichder Satz über das Prinzip der Auslese durch Wettbewerb bewiesen wäre.

q.e.d

Bemerkung 2.5 Wir haben in diesem Satz den Spezialfall identischer Spezies ange-nommen (α = β = 1). Natürlich kann man den Verlauf des Existenzkampfes auch fürandere Werte analysieren.

3 Schwellensatz der Epidemiologie

3.1 Einführung

Fragen: Was passiert, wenn man eine kleine Gruppe hochansteckender Personen in einegroÿe Bevölkerungsgruppe bringt? Wieviele Leute werden erkranken? Alle? Bricht eineEpidemie aus? Stirbt die Krankheit aus? Wovon hängt das überhaupt ab?Fragen über Fragen. Fragen, mit denen sich auch die Biomathematiker Kermack undMcKendrick 1927 in ihrem berühmten Schwellensatz der Epidemiologie beschäftigthaben, welchen wir später noch genauer analysieren werden.

3.2 Annahmen

Als ersten müssen wir wieder einige Annahmen machen um ein mathematisches Modellformulieren zu können.

• die Krankheit macht jede Person nach ihrer Genesung dauerhaft immun

• die Inkubationszeit ist vernachlässigbar klein (angesteckte Person kann sofortweiter anstecken)

• wir teilen 3 Klassen ein

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1. Die in�zierende (ansteckende) Klasse sei (I)

2. Die gefährdete (anfällige) Klasse sei (G)

3. Die ausgeschiedene Klasse sei (R) (Personen die entweder gestorben, nachGenesung immun sind oder isoliert gehalten wurden)

Wir stellen drei Regeln für die Ausbreitung der Krankheit auf:

1. In dem Zeitraum, den wir betrachten, hat die Bevölkerungsgruppe die Gröÿe N .Geburten, Todesfälle (mit anderen Ursachen als der betrachtete Krankheit), Aus-und Einwanderung werden als nicht relevant eingestuft.

2. Änderungsrate ist proportional zu Produkt von Personen der Klasse (G) und (I)

3. Ausscheidungsrate von Personen der in�zierenden Klasse (I) ist proportional zurGröÿe von (I)

Aus diesen Regeln folgt das Di�erentialgleichungssystem:

dG

dt= −rGI

dI

dt= rGI − γI

dR

dt= γI

(3.1)

wobei G(t), I(t), R(t) die Anzahl der Personen in der jeweiligen Klasse angeben. r > 0nennen wir Infektionsrate und γ > 0 Ausscheidungsrate.

Wir sehen, dass die ersten beiden Gleichungen unabhängig von R sind und könnendas Gleichungssystem somit vereinfacht als

dG

dt= −rGI

dI

dt= rGI − γI

(3.2)

schreiben. Da wir eine konstante Bevölkerungsgröÿe angenommen haben (Regel 1),können wir R(t) aus G(t), I(t) mittels R(t) = N −G(t)− I(t) berechnen.

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3.3 Qualitative Analyse

Betrachten wir nun den qualitativen Verlauf der Lösungsbahnen dieser DGL 1. Ordnung

dI

dG=

rGI − γI

−rGI= −1 +

γ

rG

⇔∫ I

I0

dτ =

∫ G

G0

−dξ +

∫ G

0

γ

rξdξ

⇔ I(G)− I0 = −G + G0 + ρ lnG

G0

⇔ I(G) = I0 + G0 −G + ρ lnG

G0

mit ρ =γ

r

(3.3)

Unabhängig von (3.3) schauen wir uns nun die Ableitung an, da wir das Verhalten derLösungskurven analysieren wollen.

dI

dG= −1 +

ρ

G(3.4)

Es gilt also:Für G > ρ nimmt (3.4) negative Werte an und somit ist I(G) eine wachsende Funkti-on. Für G < ρ nimmt (3.4) positive Werte an und somit ist I(G) eine fallende Funktion.

Folgerung aus (3.3): Schauen wir uns nun das Verhalten von I an, wenn G, alsodie Anzahl der Gefährdeten, gegen 0 geht.Es gilt: limG→0 I(G) = −∞Auÿerdem ist I(G0) = I0 > 0 (das sehen wir durch Einsetzen in (3.3) und I0 ist of-fensichtlich positiv, da es sich hierbei um die Population der in�zierenden Klasse zumZeitpunkt t0 handelt).Nach dem Nullstellensatz gibt es also einen eindeutig bestimmten Punkt G∞ mit0 < G∞ < G0, sodass I(G∞) = 0. Auÿerdem gibt es keine weitere Nullstelle, daI(G) > 0 für alle G∞ < G ≤ G0. Somit ist der Punkt (G∞, 0) ein Gleichgewichtspunktvon (3.1), da die Di�erentiale von G und I für I = 0 verschwinden.

Daraus erhalten wir die Darstellung der Bahnen von (3.1)

Abbildung 3.1: Epidemiekurven

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Nun wollen wir versuchens mittels des Graphen unsere anfänglichen Fragen zu beant-worten.

Mit fortschreitender Zeit (d.h. t läuft von t0 nach∞) verschiebt der Punkt (G(t), I(t))sich in Richtung abnehmender G-Werte. D.h. die Anzahl der gefährdeten Personennimmt ab. Was passiert mit der Anzahl der in�zierenden Personen? Zunächst steigtderen Zahl an, allerdings nur wenn wir einen Anfangswert G0 > ρ annehmen. Unter-schreitet G(t) den Schwellenwert ρ, so nimmt die Anzahl der in�zierenden Gruppe I(t)ab. Wir sehen also, dass nur für ein Anfangswert G0 > ρ eine Epidemie ausbrechenkann. An der Stelle ρ erreicht I seinen Maximalwert. Wählt man allerdings die Anzahlder gefährdeten Personen kleiner als ρ, so stirbt die Krankheit schnell aus.

Bemerkung 3.1 Bemerkenswert ist, dass die Krankheit nicht mangels gefährdeterPersonen, sondern mangels in�zierender Personen ausstirbt. Wie man an Abb. 3.1 gutsieht (I(G∞) = 0 für G∞ 6= 0).Daraus lässt sich folgern, dass in Gebieten mit groÿer Bevölkerungsdichte (z.B. Peking),auch eine gröÿere Anzahl anfälliger Personen vorhanden ist (gröÿer als der Schwellen-wert) und sich somit Epidemien leichter und schneller ausbreiten können. Soziale Fak-toren, wie z.B. Ignoranz, aber auch medizinische Faktoren spielen hierbei eine groÿeRolle.

Nach dieser Betrachtung wollen wir nun zu dem bereits erwähnten berühmten Schwel-lensatz der Epidemiologie zurückkehren.

Satz 3.2 (Schwellensatz der Epidemiologie:)Sei G0 = ρ + ν, wobei ν

ρ<< 1. Ist nun die Zahl I0 der anfangs ansteckenden Personen

sehr klein, werden schlieÿlich 2ν Personen erkranken.Oder anders: Die Zahl der anfälligen Personen wird auf einen Wert reduziert, dergenauso weit unter der Schwelle ρ liegt wie ursprünglich über ihr.

Beweis: Zunächst betrachten wir noch einmal die Gleichung (3.3), lassen t gegen un-endlich laufen und erhalten so

0 = I0 + G0 −G∞ + ρ ln (G∞G0

)

Ist nun I0, wie im Schwellensatz angenommen, verglichen mit G0 sehr klein, könnenwir es in obiger Gleichung vernächlässigen und es gilt:

0 = G0 −G∞ + ρ ln (G∞G0

)

= G0 −G∞ + ρ ln (G0 − (G0 −G∞)

G0

)

= G0 −G∞ + ρ ln (1− (G0 −G∞

G0

))

Aus den Annahmen des Schwellensatzes folgt, dass G0−ρ verglichen mit ρ selbst klein

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ist. Daran sehen wir dann auch sofort, dass G0−G∞ im Vergleich zu G0 klein wird. Nunentwickeln wir den Logarithmus nach Taylor und brechen wegen den eben gemachtenÜberlegungen nach dem zweiten Glied ab. Dann gilt:

0 = G0 −G∞ + ρG0 −G∞

G0

− ρ

2(G0 −G∞

G0

)2

= (G0 −G∞)[1− ρ

G0

− ρ

2G20

(G0 −G∞)]

Lösen wir dies nach G0 −G∞ auf, erhalten wir:

G0 −G∞ = 2G0(G0

ρ− 1) = 2(ρ + ν)[

ρ + ν

ρ− 1] = 2(ρ + ν)

ν

ρ= 2ρ (1 +

ν

ρ)︸ ︷︷ ︸

≈1

ν

ρ∼= 2ν

Somit haben wir mit Hilfe einiger technischer Konstruktionen den Schwellensatz derEpidemiologie bewiesen.

q.e.d

3.4 Probleme bei der Modellierung realer Fälle

Es ist nicht möglich zu erfassen wieviele Personen sich täglich oder wöchentlich an-stecken, da man nur die Personen registieren kann, die einen Arzt aufsuchen. Insofernwird bei Gesundheitsstatistiken vielmehr die Zahl der ausscheidenden Personen gewer-tet. Damit wir unserer Modell mit den Werten realer Epidemiefälle vergleichen können,müssen wir deshalb die Funktion dR

dtaufstellen, also unsere Ursprungsgleichung (3.1)

modi�zieren.dR

dt= γI = γ(N −R−G)

Weiterhin giltdG

dR=−rGI

γI=−G

ρ

Durch Integrieren und Einsetzen in die erste Gleichung folgt

dR

dt= γ(N −R−G0 exp (

−R

ρ))

Diese Gleichung können wir so nicht explizit lösen, deshalb machen wir die Annah-me, dass die Epidemie nicht allzu stark ist (d.h. R

ρist klein) und bedienen uns einmal

wieder der Methode von Taylor:

exp x =∞∑

n=0

xn

n!

d.h. exp (−R

ρ) =

∞∑n=0

(−Rρ

)n

n!

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Auch dieses Mal brechen wir die Taylorreihe mit derselben Begründung wie vorher ab(hier nach dem 3. Glied).Wir erhalten dann nach Einsetzen in obige Gleichung

dR

dt= γ(N −R−G0[1−

R

ρ+

1

2(R

ρ)2])

= γ(N −G0 −R(G0

ρ− 1)− G0

2(R

ρ)2)

Diese Gleichung können wir nun integrieren und erhalten nach mehreren recht kompli-zierten Umformungen folgende Lösung:

R(t) =ρ2

G0

(G0

ρ− 1 + α tanh (

1

2αγt− φ))

mit α = [(G0

ρ− 1)2 +

2G0(N −G0)

ρ2]12 , φ = (

1

α(G0

ρ− 1))

Da der hyperbolische Tangens folgendermaÿen de�niert ist

tanh z =exp (z)− exp (−z)

exp (z) + exp (−z)

gilt weiterhin:

d

dztanh z =

4

(exp (z) + exp (−z))2= sech2(z)

mit sech(z) =2

exp (z) + exp (−z)

Dies führt schlieÿlich zur DGL

dR

dt= ωsech2(

1

2αγt− φ)

Wir sehen, dass es sich hierbei um eine symmetrische Glockenkurve in der t− dR/dt-Ebene handelt. Sie wird Epidemiekurve der Krankheit genannt und visualisiert sehr gut,wie die Anzahl der täglich neu erkrankten Personen bis zu einem Maximum ansteigtund dann wieder geringer wird.

Abbildung 3.2: Glockenkurve

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3.4.1 Beispiel (Bombay)

Die beiden Begründer des Schwellensatzes verglichen ihre mathematischen Ergebnissemit den bekannten Daten einer Seuche die von Juli 1905 bis Juni 1906 in Bombaywütete. Sie setzten

dR

dt= 890sech2(0, 2t− 3, 4) (t in Wochen)

Abbildung 3.3: Beispiel

An dem Schaubild sieht man sehr eindrucksvoll wie genau die vorausgesagten Daten diegenauen Verhältnisse approximieren. Zuträglich hierzu ist, dass fast alle Erkrankungentödlich endeten. Als Fazit können wir also sagen, dass das DGL (3.1) ein zuverlässigesVoraussagemodell für die Ausbreitung einer Krankheit darstellt.

4 Résumé

Im Rückblick auf die Arbeit, im Speziellen zunächst auf den ersten Abschnitt �Räuber-Beute-Modelle�, kann man sagen, dass die Aussage des Volterra-Prinzips für uns imersten Moment sehr überraschend war und der eigenen Intuition widersprach. Wir ha-ben in diesem Zuge auch selbst über andere Modellierungsbeispiele nachgedacht, wobeiuns bewusst wurde, wie schwierig es in Einzelfällen sein kann, alle Faktoren angemessenzu berücksichtigen. Sehr interessant waren auch die Anwendungen dieses Prinzips inpuncto Schädlingsbekämpfung.Wer hätte gedacht, dass man alles nur noch schlimmer macht, wenn man die klei-nen Biester eigentlich ausrotten will? Bei diesem Phänomen wurde uns einmal wiederbewusst, wie folgenschwer es sein kann, wenn der Mensch aus reiner Überheblichkeitmeint, die Natur �verbessern� zu können. Wie stark das ökologische System vernetztist und durch welch noch so kleinen Eingri� das Gleichgewicht kippt, ist er sich dabeiwohl kaum im Klaren.Aber auch die anderen beiden Themenblöcke brachten interessante Erkenntnisse zu

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Tage. Bei der natürlichen Auslese wäre es noch interessant gewesen, einen weiterenFall zu betrachten, in welchem die Spezies eine weniger starke Ähnlichkeit aufweisen,da dies oft eher der Realität entpricht.In der dritten und letzten Passage war es verblü�end, dass man tatsächlich mit mathe-matischen Methoden voraussagen kann, wieviele Personen bei einer Epidemie erkrankenwerden (natürlich nur unter bestimmten Voraussetzungen).Nichtsdestotrotz wurde auch hier klar, dass der Mensch nicht alles berechnen kannund der Zufall immer noch seine Finger mit im Spiel hat. Interessant wären hier nochweitere anschauliche Beispiele gewesen, die jedoch den zeitlichen Rahmen gesprengthätten.Abschlieÿend bleibt zu sagen, dass wir uns kein spannenderes Thema für unseren Se-minarsvortrag hätten aussuchen können und es uns angeregt hat, darüber hinaus nochmehr über Anwendungen und Methoden diesbezüglich herauszu�nden.

Literatur

[1] M. Braun: Di�erentialgleichungen und ihre Anwendungen, Springer Verlag

[2] H. Heuser: Lehrbuch der Analysis Teil 1, Teubner Verlag, 2003

Abbildungen: 1.2 Quelle [2], 2.1;3.1-3.3 Quelle [1]

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