Rudolf Steiner - Grundlinien Einer Erkenntnistheorie (1886)

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  • 7/24/2019 Rudolf Steiner - Grundlinien Einer Erkenntnistheorie (1886)

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    RUDOLF STEINER

    GRUNDLINIEN EINER ERKENNTNISTHEORIEDER GOETHESCHEN WELTANSCHAUUNGMIT BESONDERER RCKSICHTAUF SCHILLERzugleich eine Zugabe zu"Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften"in Krschners "Deutsche National-Litteratur"

    1. Auflage (1. Tausend) Berlin und Stuttgart 18862. Auflage (2.-6. Tausend), um eine Vorrede und Schlubemerkungenerweitert, Stuttgart 19243. Auflage (7-11. Tausend) Dornach 19244. Auflage (12.-15. Tausend) Dresden 19365. Auflage (Deutsche Lizenzausgabe) (16.-19. Tausend)Freiburg i. Br. 19496. Auflage (20.-24. Tausend) Gesamtausgabe Dornach 19607. Auflage (25.-28. Tausend) Gesamtausgabe Dornach 1979

    VORREDE ZUR NEUAUFLAGE

    Diese Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung ist von mir in der Mitte derachtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts niedergeschrieben worden. In meiner Seelelebten damals zwei Gedankenttigkeiten. Die eine hatte sich auf das Schaffen Goethesgerichtet und war bestrebt, die Welt- und Lebensanschauung auszugestalten, die sichals die treibende Kraft in diesem Schaffen offenbart. Das Voll-und Reinmenschlicheschien mir in allem zu walten, was Goethe schaffend, betrachtend und lebend der Weltgegeben hat. Nirgends schien mir in der neueren Zeit die innere Sicherheit,

    harmonische Geschlossenheit und der Wirklichkeitssinn im Verhltnis zur Welt so sichdarzustellen wie bei Goethe. Aus diesem Gedanken mute die Anerkennung derTatsache entspringen, da auch die Art, wie Goethe im Erkennen sich verhielt, die ausdem Wesen des Menschen und der Welt hervorgehende ist. - Auf der anderen Seitelebten meine Gedanken in den philosophischen Anschauungen ber das Wesen derErkenntnis, die in dieser Zeit vorhanden waren. In diesen Anschauungen drohte dasErkennen sich in die eigene Wesenheit des Menschen einzuspinnen. Otto Liebmann,der geistreiche Philosoph, hatte den Satz ausgesprochen: das Bewutsein desMenschen knne sich selbst nicht berspringen. Es msse in sich bleiben. Was jenseitsder Welt, die es in sich selbst gestaltet, als die wahre Wirklichkeit liegt, davon knne esnichts wissen. In glanzvollen Schriften hat Otto Liebmann diesen Gedanken fr dieverschiedensten Gebiete der menschlichen Erfahrungswelt durchgefhrt. JohannesVolkelt hatte seine gedankenvollen Bcher ber "Kants Erkenntnistheorie" und ber"Erfahrung und Denken" geschrieben. Er sah in der Welt, die dem Menschen gegeben

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    ist, nur einen Zusammenhang von Vorstellungen, die sich bilden im Verhltnis desMenschen zu einer an sich unbekannten Welt. Zwar gab er zu, da im Erleben desDenkens eine Notwendigkeit sich zeigt, wenn dieses in die Vorstellungswelt eingreift.Man fhle gewissermaen eine Art Durchstoen durch die Vorstellungswelt in dieWirklichkeit hinber, wenn das Denken sich bettigt. Aber, was war damit gewonnen?

    Man konnte sich dadurch berechtigt fhlen, im Denken Urteile zu fllen, die etwas berdie wirkliche Welt sagen; aber man steht mit solchen Urteilen doch ganz im Innern desMenschen drinnen; vom Wesen der Welt dringt nichts in diesen ein.Eduard von Hartmann, dessen Philosophie mir sehr wertvoll war, ohne da ich derenGrundlagen und Ergebnisse anerkennen konnte, stand in erkenntnistheoretischenFragen ganz auf dem Standpunkte, den dann Volkelt ausfhrlich dargestellt hat.berall war das Eingestndnis vorhanden, da der Mensch mit seinem Erkennen angewisse Grenzen stoe, ber die er nicht hinaus in das Gebiet der wahren Wirklichkeitdringen knne.All dem gegenber stand bei mir die innerlich erlebte und im Erleben erkannteTatsache, da der Mensch mit seinem Denken, wenn er dies gengend vertieft, in der

    Weltwirklichkeit als einer geistigen drinnen lebt. Ich vermeinte diese Erkenntnis als einesolche zu besitzen, die mit der gleichen inneren Klarheit im Bewutsein stehen kannwie das, was in mathematischer Erkenntnis sich offenbart.Vor dieser Erkenntnis kann die Meinung nicht bestehen, da es solcheErkenntnisgrenzen gbe, wie die gekennzeichnete Gedankenrichtung sie glaubtefestsetzen zu mssen.In all dies spielte bei mir hinein eine Gedankenneigung zu der damals blhendenEntwickelungstheorie. Sie hatte in Haeckel Formen angenommen, in denen dasselbstndige Sein und Wirken des Geistigen keine Bercksichtigung finden konnte. DasSptere, Vollkommene sollte aus dem Frheren, Unentwickelten im Zeitenlaufehervorgegangen sein. Mir leuchtete das in bezug auf die uere sinnenflligeWirklichkeit ein. Doch kannte ich die vom Sinnenflligen unabhngige, in sichbefestigte, selbstndige Geistigkeit zu gut, um der ueren sinnenflligenErscheinungswelt recht zu geben. Aber es war die Brcke zu schlagen von dieser Weltzu der des Geistes. Im sinnenfllig gedachten Zeiten-laufe scheint das menschlichGeistige sich aus dem vorangehenden Ungeistigen zu entwickeln.Aber das Sinnenfllige, richtig erkannt, zeigt berall, da es Offenbarung des Geistigenist. Dieser richtigen Erkenntnis des Sinnenflligen gegenber war mir klar, da"Grenzen der Erkenntnis", wie sie damals festgestellt wurden, nur der zugeben kann,der auf dieses Sinnenfllige stt und es so behandelt, wie jemand eine vollgedruckteSeite dann behandeln wrde, wenn er die Anschauung nur auf die Buchstabenformen

    richtete und ohne Ahnung vom Lesen sagte, man knne nicht wissen, was hinter diesenFormen stecke.So wurde mein Blick auf den Weg von der Sinnesbeobachtung zu dem Geistigenhingelenkt, das mir im inneren erkennenden Erleben feststand. Ich suchte hinter densinnenflligen Erscheinungen nicht ungeistige Atomwelten, sondern das Geistige, dassich scheinbar im Innern des Menschen offenbart, das aber in Wirklichkeit denSinnendingen und Sinnesvorgngen selbst angehrt. Es entsteht durch das Verhaltendes erkennenden Menschen der Schein, als ob die Gedanken der Dinge im Menschenseien, whrend sie in Wirklichkeit in den Dingen walten. Der Mensch hat ntig, sie ineinem Schein-Erleben von den Dingen abzusondern; im wahren Erkenntnis-Erlebengibt er sie den Dingen wieder zurck.

    Die Entwickelung der Welt ist dann so zu verstehen, da das vorangehende Ungeistige,aus dem sich spter die Geistigkeit des Menschen entfaltet, neben und auer sich einGeistiges hat. Die sptere durchgeistigte Sinnlichkeit, in der der Mensch erscheint, tritt

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    dann dadurch auf, da sich der Geistesvorfahre des Menschen mit denunvollkommenen ungeistigen Formen vereint, und, diese umbildend, dann insinnenflliger Form auftritt.Diese Ideengnge fhrten mich ber die damaligen Erkenntnistheoretiker, derenScharfsinn und wissenschaftliches Verantwortungsgefhl ich voll anerkannte, hinaus.

    Sie fhrten mich zu Goethe hin.Ich mu heute zurckdenken an mein damaliges inneres Ringen. Ich habe es mir nichtleicht gemacht, ber die Gedankengnge der damaligen Philosophienhinwegzukommen. Mein Leuchtstern war aber stets die ganz durch sich selbst bewirkteAnerkennung der Tatsache, da der Mensch sich innerlich als vom Krperunabhngiger Geist, stehend in einer rein geistigen Welt, schauen kann.Vor meinen Arbeiten ber Goethes naturwissenschaftliche Schriften und vor dieserErkenntnistheorie schrieb ich einen kleinen Aufsatz ber Atomismus, der nie gedrucktworden ist. Er war in der angedeuteten Richtung gehalten. Ich mu gedenken, welcheFreude es mir machte, als Friedrich Theodor Vischer, dem ich den Aufsatz zuschickte,mir einige zustimmende Worte schrieb.

    Nun aber wurde mir an meinen Goethe-Studien klar, wie meine Gedanken zu einemAnschauen vom Wesen der Erkenntnis fhren, das in Goethes Schaffen und seinerStellung zur Welt berall hervortritt. Ich fand, da meine Gesichtspunkte mir eineErkenntnistheorie ergaben, die die der Goetheschen Weltanschauung ist.Ich wurde in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts durch Karl Julius Schrer,meinen Lehrer und vterlichen Freund, dem ich viel verdanke, empfohlen, dieEinleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften fr die Krschnersche"National-Literatur" zu schreiben und die Herausgabe dieser Schriften zu besorgen. Indieser Arbeit verfolgte ich das Erkenntnisleben Goethes auf allen Gebieten, auf denener ttig war. Immer klarer im einzelnen wurde mir die Tatsache, da mich meine eigeneAnschauung in eine Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung hineinstellte.Und so schrieb ich denn diese Erkenntnistheorie whrend der genannten Arbeiten.Indem ich sie heute wieder vor mich hinstelle, erscheint sie mir auch als dieerkenntnistheoretische Grundlegung und Rechtfertigung von alle dem, was ich sptergesagt und verffentlicht habe. Sie spricht von einem Wesen des Erkennens, das denWeg freilegt von der sinnenflligen Welt in eine geistige hinein.Es knnte sonderbar erscheinen, da diese Jugendschrift, die nahezu vierzig Jahre altist, heute wieder unverndert, nur durch Anmerkungen erweitert, erscheint. Sie trgt inder Art der Darstellung die Kennzeichen eines Denkens, das sich in die Philosophie derZeit vor vierzig Jahren eingelebt hat. Ich wrde, schriebe ich sie heute, manches anderssagen. Aber ich wrde als Wesen der Erkenntnis nichts anderes angeben knnen.

    Aber, was ich heute schriebe, wrde nicht so treulich die Keime der von mir vertretenengeistgemen Weltanschauung in sich tragen knnen. So keimhaft kann man nurschreiben im Anfange eines Erkenntnislebens. Deshalb darf vielleicht dieseJugendschrift gerade in der unvernderten Form wieder erscheinen. Was in der Zeitihrer Abfassung an Erkenntnistheorien vorhanden war, hat eine Fortsetzung in spterenErkenntnistheorien gefunden. Ich habe, was ich darber zu sagen habe, in meinemBuche "Die Rtsel der Philosophie" gesagt. Dies erscheint gleichzeitig in demselbenVerlage in Neuauflage. - Was ich vor Zeiten als Erkenntnistheorie der GoetheschenWeltanschauung in diesem Schriftchen skizziert habe, scheint mir heute so ntig zusagen wie vor vierzig Jahren.

    Goetheanum zu Dornach bei BaselNovember 1923 Rudolf Steiner

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    VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE

    Als mir durch Herrn Prof. Krschner der ehrenvolle Auftrag wurde, die Herausgabe vonGoethes naturwissenschaftlichen Schriften fr die Deutsche National-Literatur zubesorgen, war ich mir der Schwierigkeiten sehr wohl bewut, die mir bei einem solchenUnternehmen gegenberstehen. Ich mute einer Ansicht, die sich fast allgemeinfestgesetzt hat, entgegentreten.Whrend die berzeugung immer mehr an Verbreitung gewinnt, da GoethesDichtungen die Grundlage unserer ganzen Bildung sind, sehen selbst jene, die amweitesten in der Anerkennung seiner wissenschaftlichen Bestrebungen gehen, in diesennicht mehr als Vorahnungen von Wahrheiten, die im spteren Verlaufe derWissenschaft ihre volle Besttigung gefunden haben. Seinem genialischen Blicke solles hier gelungen sein, Naturgesetzlichkeiten zu ahnen, die dann unabhngig von ihmvon der strengen Wissenschaft wieder gefunden wurden. Was man der brigen

    Ttigkeit Goethes im vollsten Mae zugesteht, da sich jeder Gebildete mit ihrauseinanderzusetzen hat, das wird bei seiner wissenschaftlichen Ansicht abgelehnt.Man wird durchaus nicht zugeben, da man durch ein Eingehen auf des Dichterswissenschaftliche Werke etwas gewinnen knne, was die Wissenschaft nicht auch ohneihn heute bieten wrde.Als ich durch K.J.Schrer, meinen vielgeliebten Lehrer, in die Weltansicht Goetheseingefhrt wurde, hatte mein Denken bereits eine Richtung genommen, die es mirmglich machte, mich ber die bloen Einzelentdeckungen des Dichters hinweg zurHauptsache zu wenden: zu der Art, wie Goethe eine solche Einzeltatsache demGanzen seiner Naturauffassung einfgte, wie er sie verwertete, um zu einer Einsicht inden Zusammenhang der Naturwesen zu gelangen oder wie er sich selbst (in dem

    Aufsatze Anschauende Urteilskraft) so treffend ausdrckt, um an den Produktionender Natur geistig teilzunehmen. Ich erkannte bald, da jene Errungenschaften, dieGoethe von der heutigen Wissenschaft zugestanden werden, das Unwesentliche sind,whrend das Bedeutsame gerade bersehen wird. Jene Einzelentdeckungen wrenwirklich auch ohne Goethes Forschen gemacht worden; seiner groartigenNaturauffassung aber wird die Wissenschaft solange entbehren, als sie sie nicht direktvon ihm selbst schpft. Damit war die Richtung gegeben, die die Einleitungen zu meinerAusgabe zu nehmen haben. Sie mssen zeigen, da jede einzelne von Goetheausgesprochene Ansicht aus der Totalitt seines Genius abzuleiten ist.Die Prinzipien, nach denen dies zu geschehen hat, sind der Gegenstand desvorliegenden Schriftchens. Es soll zeigen, da das, was wir als Goethes

    wissenschaftliche Anschauungen hinstellen, auch einer selbstndigen Begrndungfhig ist.Damit htte ich alles gesagt, was mir den folgenden Abhandlungen voranzuschickenntig schien. Es obliegt mir nur noch, eine angenehme Pflicht zu erfllen, nmlich HerrnProf. Krschner, der in der auerordentlich wohlwollenden Weise, in der er meinenwissenschaftlichen Bemhungen stets entgegengekommen ist, auch diesemSchriftchen seine Frderung freundlichst angedeihen lie, meinen tiefgefhltesten Dankauszusprechen.

    Ende April 1886 Rudolf Steiner

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    A. VORFRAGEN

    1. Ausgangspunkt

    Wenn wir irgendeine der Hauptstrmungen des geistigen Lebens der Gegenwart nachrckwrts bis zu ihren Quellen verfolgen, so treffen wir wohl stets auf einen der Geisterunserer klassischen Epoche. Goethe oder Schiller, Herder oder Lessing haben einenImpuls gegeben; und davon ist diese oder jene geistige Bewegung ausgegangen, dieheute noch fortdauert. Unsere ganze deutsche Bildung fut so sehr auf unserenKlassikern, da wohl mancher, der sich vollkommen originell zu sein dnkt, nichtsweiter vollbringt, als da er ausspricht, was Goethe oder Schiller lngst angedeutethaben. Wir haben uns in die durch sie geschaffene Welt so hineingelebt, da kaumirgend jemand auf unser Verstndnis rechnen darf, der sich auerhalb der von ihnenvorgezeichneten Bahn bewegen wollte. Unsere Art, die Welt und das Leben anzusehen,ist so sehr durch sie bestimmt, da niemand unsere Teilnahme erregen kann, der nicht

    Berhrungspunkte mit dieser Welt sucht.Nur von einem Zweig unserer geistigen Kultur mssen wir gestehen, da er einensolchen Berhrungspunkt noch nicht gefunden hat. Es ist jener Zweig der Wissenschaft,der ber das bloe Sammeln von Beobachtungen, ber die Kenntnisnahme einzelnerErfahrungen hinausgeht, um eine befriedigende Gesamtanschauung von Welt undLeben zu liefern. Es ist das, was man gewhnlich Philosophie nennt. Fr sie scheintunsere klassische Zeit geradezu nicht vorhanden zu sein. Sie sucht ihr Heil in einerknstlichen Abgeschlossenheit und vornehmen Isolierung von allem brigenGeistesleben. Dieser Satz wird dadurch nicht widerlegt, da sich eine stattliche Anzahllterer und neuerer Philosophen und Naturforscher mit Goethe und Schillerauseinandergesetzt hat. Denn diese haben ihren wissenschaftlichen Standpunkt nicht

    dadurch gewonnen, da sie die Keime in den wissenschaftlichen Leistungen jenerGeistesheroen zur Entwicklung gebracht haben. Sie haben ihren wissenschaftlichenStandpunkt auerhalb jener Weltanschauung, die Schiller und Goethe vertreten haben,gewonnen und ihn nachtrglich mit derselben verglichen. Sie haben das auch nicht inder Absicht getan, um aus den wissenschaftlichen Ansichten der Klassiker etwas frihre Richtung zu gewinnen, sondern um dieselben zu prfen, ob sie vor dieser ihrereigenen Richtung bestehen knnen. Wir werden darauf noch nher zurckkommen.Vorerst mchten wir nur auf die Folgen verweisen, die sich aus dieser Haltunggegenber der hchsten Entwickelungsstufe der Kultur der Neuzeit fr das in Betrachtkommende Wissenschaftsgebiet ergeben.Ein groer Teil des gebildeten Lesepublikums wird heute eine literarisch-

    wissenschaftliche Arbeit sogleich ungelesen von sich weisen, wenn sie mit demAnspruche auftritt, eine philosophische zu sein. Kaum in irgendeiner Zeit hat sich diePhilosophie eines geringeren Maes von Beliebtheit erfreut als gegenwrtig. Sieht manvon den Schriften Schopenhauers und Eduard von Hartmanns ab, die Lebens- undWeltprobleme von allgemeinstem Interesse behandeln und deshalb weite Verbreitunggefunden haben, so wird man nicht zu weit gehen, wenn man sagt: philosophischeArbeiten werden heute nur von Fachphilosophen gelesen. Niemand auer diesenkmmert sich darum. Der Gebildete, der nicht Fachmann ist, hat das unbestimmteGefhl: "Diese Literatur enthlt nichts, was einem meiner geistigen Bedrfnisseentsprechen wrde; die Dinge, die da abgehandelt werden, gehen mich nichts an; siehngen in keiner Weise mit dem zusammen, was ich zur Befriedigung meines Geistes

    notwendig habe." An diesem Mangel an Interesse fr alle Philosophie kann nur der vonuns angedeutete Umstand die Schuld tragen, denn es steht jener Interesselosigkeit einstets wachsendes Bedrfnis nach einer befriedigenden Weltund Lebensanschauung

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    gegenber. Was fr so viele lange Zeit ein voller Ersatz war: die religisen Dogmenverlieren immer mehr an berzeugender Kraft. Der Drang nimmt immer zu, das durchdie Arbeit des Denkens zu erringen, was man einst dem Offenbarungsglaubenverdankte: Befriedigung des Geistes. An Teilnahme der Gebildeten knnte es dahernicht fehlen, wenn das in Rede stehende Wissenschaftsgebiet wirklich Hand in Hand

    ginge mit der ganzen Kulturentwickelung, wenn seine Vertreter Stellung nehmenwrden zu den groen Fragen, die die Menschheit bewegen.Man mu sich dabei immer vor Augen halten, da es sich nie darum handeln kann, erstknstlich ein geistiges Bedrfnis zu erzeugen, sondern allein darum, das bestehendeaufzusuchen und ihm Befriedigung zu gewhren. Nicht das Aufwerfen von Fragen istdie Aufgabe der Wissenschaft, sondern das sorgfltige Beobachten derselben, wennsie von der Menschennatur und der jeweiligen Kulturstufe gestellt werden, und ihreBeantwortung. Unsere modernen Philosophen stellen sich Aufgaben, die durchaus keinnatrlicher Ausflu der Bildungsstufe sind, auf der wir stehen, und nach derenBeantwortung daher niemand frgt. An jenen Fragen aber, die unsere Bildung vermgejenes Standortes, auf den sie unsere Klassiker gehoben haben, stellen mu, geht die

    Wissenschaft vorber. So haben wir eine Wissenschaft, nach der niemand sucht, undein wissenschaftliches Bedrfnis, das von niemandem befriedigt wird.Unsere zentrale Wissenschaft, jene Wissenschaft, die uns die eigentlichen Weltrtsellsen soll, darf keine Ausnahme machen gegenber allen anderen Zweigen desGeisteslebens. Sie mu ihre Quellen dort suchen,wo sie die letzteren gefunden haben.Sie mu sich mit unseren Klassikern nicht nur auseinandersetzen; sie mu bei ihnenauch die Keime zu ihrer Entwickelung suchen; es mu sie der gleiche Zug wie unserebrige Kultur durchwehen. Das ist eine in der Natur der Sache liegende Notwendigkeit.Ihr ist es auch zuzuschreiben, da die oben bereits berhrten Auseinandersetzungenmoderner Forscher mit den Klassikern stattgefunden haben. Sie zeigen aber nichtsweiter, als da man ein dunkles Gefhl hat von der Unstatthaftigkeit, ber dieberzeugungen jener Geister einfach zur Tagesordnung berzugehen. Sie zeigen aberauch, da man es zur wirklichen Weiterentwickelung ihrer Ansichten nicht gebracht hat.Dafr spricht die Art, wie man an Lessing, Herder, Goethe, Schiller herangetreten ist.Bei aller Vortrefflichkeit vieler hierher gehriger Schriften mu man doch fast von allem,was ber Goethes und Schillers wissenschaftliche Arbeiten geschrieben worden ist,sagen, da es sich nicht organisch aus deren Anschauungen herausgebildet, sondernsich in ein nachtrgliches Verhltnis zu denselben gesetzt hat. Keine Tatsache kanndas mehr erhrten als die, da die entgegengesetztesten wissenschaftlichenRichtungen in Goethe den Geist gesehen haben, der ihre Ansichten "vorausgeahnt"hat. Weltanschauungen, die gar nichts miteinander gemein haben, weisen mit

    scheinbar gleichem Recht auf Goethe hin, wenn sie das Bedrfnis empfinden, ihrenStandpunkt auf den Hhen der Menschheit anerkannt zu sehen. Man kann sich keineschrferen Gegenstze denken als die Lehre Hegels und Schopenhauers. Dieser nenntHegel einen Scharlatan, seine Philosophie seichten Wortkram, baren Unsinn,barbarische Wortzusammenstellungen. Beide Mnner haben eigentlich gar nichtsmiteinander gemein als eine unbegrenzte Verehrung fr Goethe und den Glauben, dader letztere sich zu ihrer Weltansicht bekannt habe.Mit neueren wissenschaftlichen Richtungen ist es nicht anders. Haeckel, der miteiserner Konsequenz und in genialischer Weise den Darwinismus ausgebaut hat, denwir als den weitaus bedeutendsten Anhnger des englischen Forschers ansehenmssen, sieht in der Goetheschen Ansicht die seinige vorgebildet. Ein anderer

    Naturforscher der Gegenwart, C. F. W. Jessen, schreibt von der Theorie Darwins: "DasAufsehen, welches diese frher schon oft vorgebrachte und von grndlicher Forschungebenso oft widerlegte, jetzt aber mit vielen Scheingrnden untersttzte Theorie bei

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    manchen Spezialforschern und vielen Laien gefunden hat, zeigt, wie wenig leider nochimmer die Ergebnisse der Naturforschung von den Vlkern erkannt und begriffen sind."Von Goethe sagt derselbe Forscher, da er sich "zu umfassenden Forschungen in derleblosen wie in der belebten Natur aufgeschwungen" habe, indem er "in sinniger,tiefdringender Naturbetrachtung das Grundgesetz aller Pflanzenbildung" fand. Jeder der

    genannten Forscher wei in schier erdrckender Zahl Belege fr die bereinstimmungseiner wissenschaftlichen Richtung mit den "sinnigen Beobachtungen Goethes" zuerbringen. Es mte denn doch wohl ein bedenkliches Licht auf die EinheitlichkeitGoetheschen Denkens werfen, wenn sich jeder dieser Standpunkte mit Recht aufdasselbe berufen knnte. Der Grund dieser Erscheinung liegt aber eben darinnen, dadoch keine dieser Ansichten wirklich aus der Goetheschen Weltanschauungherausgewachsen ist, sondern da jede ihre Wurzeln auerhalb derselben hat. Er liegtdarinnen, da man zwar nach uerer bereinstimmung mit Einzelheiten, die, aus demganzen Goetheschen Denken herausgerissen, ihren Sinn verlieren, sucht, da manaber diesem Ganzen selbst nicht die innere Gediegenheit zugestehen will, einewissenschaftliche Richtung zu begrnden. Goethes Ansichten waren nie

    Ausgangspunkt wissenschaftlicher Untersuchungen, sondern stets nurVergleichungsobjekt. Die sich mit ihm beschftigten, waren selten Schler, die sichunbefangenen Sinnes seinen Ideen hingaben, sondern zumeist Kritiker, die ber ihn zuGericht saen.Man sagt eben, Goethe habe viel zu wenig wissenschaftlichen Sinn gehabt; er war einum so schlechterer Philosoph, als er besserer Dichter war. Deshalb wre es unmglich,einen wissenschaftlichen Standpunkt auf ihn zu sttzen. Das ist eine vollstndigeVerkennung der Natur Goethes. Goethe war allerdings kein Philosoph im gewhnlichenSinne des Wortes; aber es darf nicht vergessen werden, da die wunderbare Harmonieseiner Persnlichkeit Schiller zu dem Ausspruche fhrte: "Der Dichter ist der einzigewahre Mensch." Das, was Schiller hier unter dem "wahren Menschen" versteht, das warGoethe. In seiner Persnlichkeit fehlte kein Element, das zur hchsten Ausprgung desAllgemein-Menschlichen gehrt. Aber alle diese Elemente vereinigten sich in ihm zueiner Totalitt, die als solche wirksam ist. So kommt es, da seinen Ansichten ber dieNatur ein tiefer philosophischer Sinn zugrunde liegt, wenngleich dieser philosophischeSinn nicht in Form bestimmter wissenschaftlicher Stze zu seinem Bewutsein kommt.Wer sich in jene Totalitt vertieft, der wird, wenn er philosophische Anlagen mitbringt,jenen philosophischen Sinn loslsen und ihn als Goethesche Wissenschaft darlegenknnen. Er mu aber von Goethe ausgehen und nicht mit einer fertigen Ansicht an ihnherantreten. Goethes Geisteskrfte sind immer in einer Weise wirksam, wie sie derstrengsten Philosophie gem ist, wenn er auch kein systematisches Ganze derselben

    hinterlassen hat.Goethes Weltansicht ist die denkbar vielseitigste. Sie geht von einem Zentrum aus, dasin der einheitlichen Natur des Dichters gelegen ist, und kehrt immer jene Seite hervor,die der Natur des betrachteten Gegenstandes entspricht. Die Einheitlichkeit derBettigung der Geisteskrfte liegt in der Natur Goethes, die jeweilige Art dieserBettigung wird durch das betreffende Objekt bestimmt. Goethe entlehnt dieBetrachtungsweise der Auenwelt und zwingt sie ihr nicht auf. Nun ist aber das Denkenvieler Menschen nur in einer bestimmten Weise wirksam; es ist nur fr eine Gattung vonObjekten dienlich; es ist nicht wie das Goethesche einheitlich, sondern einfrmig Wirwollen uns genauer ausdrcken: Es gibt Menschen, deren Verstand vornehmlichgeeignet ist, rein mechanische Abhngigkeiten und Wirkungen zu denken; sie stellen

    sich das ganze Universum als einen Mechanismus vor. Andere haben einen Drang, dasgeheimnisvolle, mystische Element der Auenwelt berall wahrzunehmen; sie werdenAnhnger des Mystizismus. Aller Irrtum entsteht dadurch, da eine solche Denkweise,

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    die ja fr eine Gattung von Objekten volle Geltung hat, fr universell erklrt wird. Soerklrt sich der Widerstreit der vielen Weltanschauungen. Tritt nun eine solcheeinseitige Auffassung der Goetheschen gegenber, die unbeschrnkt ist, weil sie dieBetrachtungsweise berhaupt nicht aus dem Geiste des Betrachters, sondern aus derNatur des Betrachteten entnimmt, so ist es begreiflich, da sie sich an jene

    Gedankenelemente derselben anklammert, die ihr gem sind. Goethes Weltansichtschliet eben in dem angedeuteten Sinne viele Denkrichtungen in sich, whrend sievon keiner einseitigen Auffassung je durchdrungen werden kann.Der philosophische Sinn, der ein wesentliches Element in dem Organismus desGoetheschen Genius ist, hat auch fr seine Dichtungen Bedeutung. Wenn es Goetheauch ferne lag, das, was dieser Sinn ihm vermittelte, in begrifflich klarer Form sichvorzulegen, wie dies Schiller imstande war, so ist es doch wie bei Schiller ein Faktor,der bei seinem knstlerischen Schaffen mitwirkt. Goethes und Schillers dichterischeProduktionen sind ohne ihre im Hintergrunde derselben stehende Weltanschauungnicht denkbar. Dabei kommt es bei Schiller mehr auf seine wirklich ausgebildetenGrundstze, bei Goethe auf die Art seines Anschauens an. Da aber die grten

    Dichter unserer Nation auf der Hhe ihres Schaffens jenes philosophischen Elementesnicht entraten konnten, brgt mehr als alles andere dafr, da dasselbe in derEntwickelungsgeschichte der Menschheit ein notwendiges Glied ist. Gerade dieAnlehnung an Goethe und Schiller wird es ermglichen, unsere zentrale Wissenschaftihrer Kathedereinsamkeit zu entreien und der brigen Kulturentwickelungeinzuverleiben. Die wissenschaftlichen berzeugungen unserer Klassiker hngen mittausend Fden an ihren brigen Bestrebungen, sie sind solche,welche von derKulturepoche, die sie geschaffen, gefordert werden.

    2. Die Wissenschaft Goethes nach der Methode Schillers

    Mit dem Bisherigen haben wir die Richtung bestimmt, die die folgendenUntersuchungen nehmen werden. Sie sollen eine Entwicklung dessen sein, was sich inGoethe als wissenschaftlicher Sinn geltend machte, eine Interpretation seiner Art, dieWelt zu betrachten.Dagegen kann man einwenden, das sei nicht die Art, eine Ansicht wissenschaftlich zuvertreten. Eine wissenschaftliche Ansicht drfe unter keinerlei Umstnden auf einerAutoritt, sondern msse stets auf Prinzipien beruhen. Wir wollen diesen Einwandsogleich vorwegnehmen. Uns gilt nicht deshalb eine in der GoetheschenWeltauffassung begrndete Ansicht fr wahr, weil sie sich aus dieser ableiten lt,sondern weil wir glauben, die Goethesche Weltansicht auf haltbare Grundstze sttzen

    und sie als eine in sich begrndete vertreten zu knnen. Da wir unserenAusgangspunkt von Goethe nehmen, soll uns nicht hindern, es mit der Begrndung dervon uns vertretenen Ansichten ebenso ernst zunehmen,wie die Vertreter einerangeblich voraussetzungslosen Wissenschaft. Wir vertreten die GoethescheWeltansicht, aber wir begrnden sie den Forderungen der Wissenschaft gem.Fr den Weg, den solche Untersuchungen einzuschlagen haben, hat Schiller dieRichtung vorgezeichnet. Keiner hat wie er die Gre des Goetheschen Geniusgeschaut. In seinen Briefen an Goethe hat er dem letzteren ein Spiegelbild seinesWesens vorgehalten; in seinen Briefen "ber die sthetische Erziehung des Menschen"leitet er das Ideal des Knstlers ab, wie er es an Goethe erkannt hat; und in seinemAufsatze "ber naive und sentimentalische Dichtung" schildert er das Wesen der

    echten Kunst, wie er es an der Dichtung Goethes gewonnen hat. Damit ist zugleichgerechtfertigt, warum wir unsere Ausfhrungen als auf Grundlage der Goethe-Schillerschen Weltanschauung erbaut bezeichnen. Sie wollen das wissenschaftliche

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    Denken Goethes nach jener Methode betrachten, fr die Schiller das Vorbild gelieferthat. Goethes Blick ist auf die Natur und das Leben gerichtet; und dieBetrachtungsweise, die er dabei befolgt, soll der Vorwurf(der Inhalt) fr unsereAbhandlung sein; Schillers Blick ist auf Goethes Geist gerichtet; und dieBetrachtungsweise, die er dabei befolgt, soll das Ideal unserer Methode sein.

    In dieser Weise denken wir uns Goethes und Schillers wissenschaftliche Bestrebungenfr die Gegenwart fruchtbar gemacht.Nach der blichen wissenschaftlichen Bezeichnungsweise wird unsere Arbeit alsErkenntnistheorie aufgefat werden mssen. Die Fragen, die sie behandelt, werdenfreilich vielfach anderer Natur sein als die, die heute von dieser Wissenschaft fastallgemein gestellt werden. Wir haben gesehen, warum das so ist. Wo hnlicheUntersuchungen heute auftreten, gehen sie fast durchgehends von Kant aus. Man hatin wissenschaftlichen Kreisen durchaus bersehen, da neben der von dem groenKnigsberger Denker begrndeten Erkenntniswissenschaft noch eine andere Richtungwenigstens der Mglichkeit nach gegeben ist, die nicht minder einer sachlichenVertiefung fhig ist als die Kantsche. Otto Liebmann hat am Anfange der sechziger

    Jahre den Ausspruch getan: Es mu auf Kant zurckgegangen werden, wenn wir zueiner widerspruchslosen Weltansicht kommen wollen. Das ist wohl die Veranlassung,da wir heute eine fast unbersehbare Kant-Literatur haben. Aber auch dieser Wegwird der philosophischen Wissenschaft nicht aufhelfen. Sie wird erst wieder eine Rollein dem Kulturleben spielen, wenn sie statt des Zurckgehens auf Kant sich in diewissenschaftliche Auffassung Goethes und Schillers vertieft.Und nun wollen wir an die Grundfragen einer diesen Vorbemerkungen entsprechendenErkenntniswissenschaft herantreten.

    3. Die Aufgabe unserer Wissenschaft

    Von aller Wissenschaft gilt zuletzt das, was Goethe so bezeichnend mit den Wortenausspricht: "Die Theorie an und fr sich ist nichts ntze, als insofern sie uns an denZusammenhang der Erscheinungen glauben macht." Stets bringen wir durch dieWissenschaft getrennte Tatsachen der Erfahrung in einen Zusammenhang. Wir sehenin der unorganischen Natur Ursachen und Wirkungen getrennt und suchen nach derenZusammenhang in den entsprechenden Wissenschaften. Wir nehmen in derorganischen Welt Arten und Gattungen von Organismen wahr und bemhen uns, diegegenseitigen Verhltnisse derselben festzustellen. In der Geschichte treten unseinzelne Kulturepochen der Menschheit gegenber; wir bemhen uns, die innereAbhngigkeit der einen Entwickelungsstufe von der andern zu erkennen. So hat jede

    Wissenschaft in einem bestimmten Erscheinungsgebiete im Sinne des obigenGoetheschen Satzes zu wirken.Jede Wissenschaft hat ihr Gebiet, auf dem sie den Zusammenhang der Erscheinungensucht. Dann bleibt noch immer ein groer Gegensatz in unseren wissenschaftlichenBemhungen bestehen: die durch die Wissenschaften gewonnene ideelle Welteinerseits und die ihr zugrunde liegenden Gegenstnde andererseits. Es mu eineWissenschaft geben, die auch hier die gegenseitigen Beziehungen klarlegt. Die ideelleund reale Welt, der Gegensatz von Idee und Wirklichkeit, sind die Aufgabe einersolchen Wissenschaft. Auch diese Gegenstze mssen in ihrer gegenseitigenBeziehung erkannt werden.Diese Beziehungen zu suchen, ist der Zweck der folgenden Ausfhrungen. Die

    Tatsache der Wissenschaft einerseits und die Natur und Geschichte andererseits sindin ein Verhltnis zu bringen. Was fr eine Bedeutung hat die Spiegelung der Auenwelt

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    in dem menschlichen Bewutsein, welche Beziehung besteht zwischen unseremDenken ber die Gegenstnde der Wirklichkeit und den letzteren selbst?

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    B.DIE ERFAHRUNG

    4. Feststellung des Begriffes der Erfahrung

    Zwei Gebiete stehen also einander gegenber, unser Denken und die Gegenstnde,mit denen sich dasselbe beschftigt. Man bezeichnet die letzteren, insofern sie unsererBeobachtung zugnglich sind, als den Inhalt der Erfahrung. Ob es auer unseremBeobachtungsfelde noch Gegenstnde des Denkens gibt und welcher Natur dieselbensind, wollen wir vorlufig ganz dahingestellt sein lassen. Unsere nchste Aufgabe wirdes sein, jedes von den zwei bezeichneten Gebieten, Erfahrung und Denken, scharf zuumgrenzen. Wir mssen erst die Erfahrung in bestimmter Zeichnung vor uns haben unddann die Natur des Denkens erforschen. Wir treten an die erste Aufgabe heran.Was ist Erfahrung? Jedermann ist sich dessen bewut, da sein Denken im Konfliktemit der Wirklichkeit angefacht wird. Die Gegenstnde im Raume und in der Zeit tretenan uns heran; wir nehmen eine vielfach gegliederte, hchst mannigfaltige Auenwelt

    wahr und durchleben eine mehr oder minder reichlich entwickelte Innenwelt. Die ersteGestalt, in der uns das alles gegenbertritt, steht fertig vor uns. Wir haben an ihremZustandekommen keinen Anteil. Wie aus einem uns unbekannten Jenseitsentspringend, bietet sich zunchst die Wirklichkeit unserer sinnlichen und geistigenAuffassung dar. Zunchst knnen wir nur unseren Blick ber die unsgegenbertretende Mannigfaltigkeit schweifen lassen.Diese unsere erste Ttigkeit ist die sinnliche Auffassung der Wirklichkeit. Was sichdieser darbietet, mssen wir festhalten. Denn nur das knnen wir reine Erfahrungnennen. Wir fhlen sogleich das Bedrfnis, die unendliche Mannigfaltigkeit vonGestalten, Krften, Farben, Tnen usw., die vor uns auftritt, mit dem ordnendenVerstande zu durchdringen. Wir sind bestrebt, die gegenseitigen Abhngigkeiten aller

    uns entgegentretenden Einzelheiten aufzuklren. Wenn uns ein Tier in einerbestimmten Gegend erscheint, so fragen wir nach dem Einflusse der letzteren auf dasLeben des Tieres; wenn wir sehen, wie ein Stein ins Rollen kommt, so suchen wir nachanderen Ereignissen, mit denen dieses zusammenhngt. Was aber auf solche Weisezustande kommt, ist nicht mehr reine Erfahrung. Es hat schon einen doppeltenUrsprung: Erfahrung und Denken.Reine Erfahrung ist die Form der Wirklichkeit, in der diese uns erscheint, wenn wir ihrmit vollstndiger Entuerung unseres Selbstes entgegentreten.Auf diese Form der Wirklichkeit sind die Worte anwendbar, die Goethe in dem Aufsatze"Die Natur" ausgesprochen hat: "Wir sind von ihr umgeben und umschlungen.Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf."

    Bei den Gegenstnden der ueren Sinne springt das so in die Augen, da es wohlkaum jemand leugnen wird. Ein Krper tritt uns zunchst als eine Vielheit von Formen,Farben, von Wrme- und Lichteindrcken entgegen, die pltzlich vor uns sind, wie auseinem uns unbekannten Urquell hervorgegangen.Die psychologische berzeugung, da die Sinnenwelt, wie sie uns vorliegt, nichts ansich selbst ist, sondern bereits ein Produkt der Wechselwirkung einer uns unbekanntenmolekularen Auenwelt und unseres Organismus, widerspricht unserer Behauptungnicht. Wenn es auch wirklich wahr wre, da Farbe, Wrme usw. nichts weiter sind, alsdie Art, wie unser Organismus von der Auenwelt affiziert wird, so liegt doch derProze, der das Geschehen der Auenwelt in Farbe, Wrme usw. umwandelt, gnzlichjenseits des Bewutseins. Unser Organismus mag dabei welche Rolle immer spielen:unserem Denken liegt als fertige, uns aufgedrungene Wirklichkeitsform (Erfahrung)nicht das molekulare Geschehen, sondern jene Farben, Tne usw. vor.Nicht so klar liegt die Sache mit unserem Innenleben. Eine genauere Erwgung wird

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    aber hier jeden Zweifel schwinden lassen, da auch unsere inneren Zustnde inderselben Form in den Horizont unseres Bewutseins eintreten wie die Dinge undTatsachen der Auenwelt. Ein Gefhl drngt sich mir ebenso auf wie ein Lichteindruck.Da ich es in nhere Beziehung zu meiner eigenen Persnlichkeit bringe, ist in dieserHinsicht ohne Belang. Wir mssen noch weiter gehen. ,Auch das Denken selbst

    erscheint uns zunchst als Erfahrungssache. Schon indem wir forschend an unserDenken herantreten, setzen wir es uns gegenber, stellen wir uns seine erste Gestaltals von einem uns Unbekannten kommend vor.Das kann nicht anders sein. Unser Denken ist, besonders wenn man seine Form alsindividuelle Ttigkeit innerhalb unseres Bewutseins ins Auge fat, Betrachtung, dasheit es richtet den Blick nach auen, auf ein Gegenberstehendes. Dabei bleibt eszunchst als Ttigkeit stehen. Es wrde ins Leere, ins Nichts blicken, wenn sich ihmnicht etwas gegenberstellte.Dieser Form des Gegenberstellens mu sich alles fgen, was Gegenstand unseresWissens werden soll. Wir sind unvermgend, uns ber diese Form zu erheben. Sollenwir an dem Denken ein Mittel gewinnen, tiefer in die Welt einzudringen, dann mu es

    selbst zuerst Erfahrung werden. Wir mssen das Denken innerhalb derErfahrungstatsachen selbst als eine solche aufsuchen.Nur so wird unsere Weltanschauung der inneren Einheitlichkeit nicht entbehren. Siewrde es sogleich, wenn wir ein fremdes Element in sie hineintragen wollten. Wir tretender bloen reinen Erfahrung gegenber und suchen Innerhalb ihrer selbst das Element,das ber sich und ber die brige Wirklichkeit Licht verbreitet.

    5. Hinweis auf den Inhalt der Erfahrung

    Sehen wir uns nun die reine Erfahrung einmal an. Was enthlt sie, wie sie an unserem

    Bewutsein vorberzieht, ohne da wir sie denkend bearbeiten? Sie ist bloesNebeneinander im Raume und Nacheinander in der Zeit; ein Aggregat aus lauterzusammenhanglosen Einzelheiten. Keiner der Gegenstnde, die da kommen undgehen, hat mit dem anderen etwas zu tun. Auf dieser Stufe sind die Tatsachen, die wirwahrnehmen, die wir innerlich durchleben, absolut gleichgltig freinander.Die Welt ist da eine Mannigfaltigkeit von ganz gleichwertigen Dingen. Kein Ding, keinEreignis darf den Anspruch erheben, eine grere Rolle in dem Getriebe der Welt zuspielen als ein anderes Glied der Erfahrungswelt. Soll uns klar werden, da diese oderjene Tatsache grere Bedeutung hat als eine andere, so mssen wir die Dinge nichtblo beobachten, sondern schon in gedankliche Beziehung setzen. Das rudimentreOrgan eines Tieres, das vielleicht nicht die geringste Bedeutung fr dessen organische

    Funktionen hat, ist fr die Erfahrung ganz gleichwertig mit dem wichtigsten Organe desTierkrpers. Jene grere oder geringere Wichtigkeit wird uns eben erst klar, wenn wirber die Beziehungen der einzelnen Glieder der Beobachtung nachdenken, das heit,wenn wir die Erfahrung bearbeiten.Fr die Erfahrung ist die auf einer niedrigen Stufe der Organisation stehende Schneckegleichwertig mit dem hchst entwickelten Tiere. Der Unterschied in der Vollkommenheitder Organisation erscheint uns erst, wenn wir die gegebene Mannigfaltigkeit begrifflicherfassen und durcharbeiten. Gleichwertig in dieser Hinsicht sind auch die Kultur desEskimo und jene des gebildeten Europers; Csars Bedeutung fr die geschichtlicheEntwickelung der Menschheit erscheint der bloen Erfahrung nicht grer als die einesseiner Soldaten. In der Literaturgeschichte ragt Goethe nicht ber Gottsched empor,wenn es sich um die bloe erfahrungsmige Tatschlichkeit handelt.Die Welt ist uns auf dieser Stufe der Betrachtung gedanklich eine vollkommen ebeneFlche. Kein Teil dieser Flche ragt ber den anderen empor; keiner zeigt irgendeinen

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    Gehrseindrcke, unter anderen auch einer, da es drauen zu regnen anfange. DasBrieftrgerbild verschwindet aus meinem Bewutsein, und die Vorstellungen, die nuneintreten, haben der Reihe nach zu ihrem Inhalte: Ergreifen der Schere, ffnen desBriefes, Vorwurf unleserlichen Schreibens, Gesichtsbilder mannigfachsterSchriftzeichen, mannigfache sich daran knpfende Phantasiebilder und Gedanken;

    kaum ist diese Reihe vollendet, als wiederum die Vorstellung, fleiig gearbeitet zuhaben, und die mit Mimut begleitete Wahrnehmung des fortfahrenden Regenseintreten; doch beide verschwinden aus meinem Bewutsein, und es taucht eineVorstellung auf mit dem Inhalte, da eine whrend des heutigen Arbeitens gelstgeglaubte Schwierigkeit nicht gelst sei; damit zugleich sind die Vorstellungen:Willensfreiheit, empirische Notwendigkeit, Verantwortlichkeit, Wert der Tugend,absoluter Zufall, Unbegreiflichkeit usw. eingetreten und verbinden sich miteinander inder verschiedenartigsten, kompliziertesten Weise; und hnlich geht es weiter."Da haben wir fr einen gewissen, beschrnkten Zeitabschnitt das geschildert, was wirwirklich erfahren, diejenige Form der Wirklichkeit, an der das Denken gar keinen Anteilhat.

    Man darf nun durchaus nicht glauben, da man zu einem anderen Resultategekommen wre, wenn man statt dieser alltglichen Erfahrung etwa die geschilderthtte, die wir an einem wissenschaftlichen Versuche oder an einem besonderenNaturphnomen machen. Hier wie dort sind es einzelne zusammenhanglose Bilder, dievor unserem Bewutsein vor-berziehen. Erst das Denken stellt den Zusammenhangher. Das Verdienst, in scharfen Konturen gezeigt zu haben, was uns eigentlich die vonallem Gedanklichen entblte Erfahrung gibt, mssen wir auch dem Schriftchen:"Gehirn und Bewutsein" von Dr. Richard Wahle (Wien 1884) zuerkennen; nur mit derEinschrnkung, da, was Wahle als unbedingt gltige Eigenschaften derErscheinungen der Auen- und Innenwelt hinstellt, nur von der ersten Stuft derWeltbetrachtung gilt, die wir charakterisiert haben. Wir wissen nach Wahle nur voneinem Nebeneinander im Raume und einem Nacheinander in der Zeit. Von einemVerhltnisse der neben- oder nacheinander bestehenden Dinge kann nach ihm garkeine Rede sein. Es mag zum Beispiel immerhin irgendwo ein innerer Zusammenhangzwischen dem warmen Sonnenstrahl und dem Erwrmen des Steines bestehen; wirwissen nichts von einem urschlichen Zusammenhange; uns wird allein klar, da aufdie erste Tatsache die zweite folgt. Es mag auch irgendwo, in einer uns unzugnglichenWelt-, ein innerer Zusammenhang zwischen unserem Gehirnmechanismus und unserergeistigen Ttigkeit bestehen; wir wissen nur, da beides parallel verlaufendeVorkommnisse sind; wir sind durchaus nicht berechtigt, zum Beispiel einenKausalzusammenhang beider Erscheinungen anzunehmen.

    Wenn freilich Wahle diese Behauptung zugleich als letzte Wahrheit der Wissenschafthinstellt, so bestreiten wir diese Ausdehnung derselben; sie gilt aber vollkommen fr dieerste Form, in der wir die Wirklichkeit gewahr werden.Nicht nur die Dinge der Auen- und die Vorgnge der Innenwelt stehen auf dieser Stufeunseres Wissens zusammenhanglos da, sondern auch unsere eigene Persnlichkeitist eine isolierte Einzelheit gegenber der brigen Welt. Wir finden uns als eine derunzhligen Wahrnehmungen ohne Beziehung zu den Gegenstnden, die uns umgeben.

    6. Berichtigung einer irrigen Auffassung der Gesamt-Erfahrung

    Hier ist nun der Ort, auf ein seit Kant bestehendes Vorurteil hinzuweisen, das sichbereits in gewissen Kreisen so eingelebt hat, da es als Axiom gilt. Jeder, der esbezweifeln wollte, wrde als ein Dilettant hingestellt, als ein Mensch, der nicht ber dieelementarsten Begriffe moderner Wissenschaft hinausgekommen Ist. Ich meine die

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    Ansicht, als ob es von vornherein feststnde, da die gesamte Wahrnehmungswelt,diese unendliche Mannigfaltigkeit von Farben und Formen, von Tnen undWrmedifferenzen usw. nichts weiter sei als unsere subjektive Vorstellungswelt, die nurBestand habe, solange wir unsere Sinne den Einwirkungen einer uns unbekannten Weltoffen halten. Die ganze Erscheinungswelt wird von dieser Ansicht fr eine Vorstellung

    innerhalb unseres individuellen Bewutseins erklrt, und auf Grundlage dieserVoraussetzung baut man weitere Behauptungen ber die Natur des Erkennens auf.Auch Volkelt hat sich dieser Ansicht angeschlossen und seine in bezug auf diewissenschaftliche Durchfhrung meisterhafte Erkenntnistheorie darauf gegrndet.Dennoch ist das keine Grundwahrheit und am wenigsten dazu berufen, an der Spitzeder Erkenntniswissenschaft zu stehen.Man miverstehe uns nur ja nicht. Wir wollen nicht gegen die physiologischenErrungenschaften der Gegenwart einen gewi ohnmchtigen Protest erheben. Wasaber physiologisch vollkommen gerechtfertigt ist, das ist deshalb noch lange nichtberufen, an die Pforte der Erkenntnistheorie gestellt zu werden. Es mag als eineunumstliche physiologische Wahrheit gelten, da erst durch die Mitwirkung unseres

    Organismus der Komplex von Empfindungen und Anschauungen entsteht, den wirErfahrung nannten. Es bleibt doch sicher, da eine solche Erkenntnis erst das Resultatvieler Erwgungen und Forschungen sein kann. Dieses Charakteristikon, da unsereErscheinungswelt in physiologischem Sinne subjektiver Natur ist, ist schon einegedankliche Bestimmung derselben; hat also ganz und gar nichts zu tun mit ihremersten Auftreten. Es setzt schon die Anwendung des Denkens auf die Erfahrung voraus.Es mu ihm daher die Untersuchung des Zusammenhanges dieser beiden Faktorendes Erkennens vorausgehen.Man glaubt sich mit jener Ansicht erhaben ber die vorkantsche "Naivitt", die die Dingeim Raume und in der Zeit fr Wirklichkeit hielt, wie es der naive Mensch, der keinewissenschaftliche Bildung hat, heute noch tut.Volkelt behauptet: "da alle Akte, die darauf Anspruch machen, ein objektivesErkennen zu sein, unabtrennbar an das erkennende, individuelle Bewutsein gebundensind, da sie sich zunchst und unmittelbar nirgends anderswo als im Bewutsein desIndividuums vollziehen und da sie ber das Gebiet des Individuums hinauszugreifenund das Gebiet des drauenliegenden Wirklichen zu fassen oder zu betreten vlligauerstande sind."Nun ist es aber doch fr ein unbefangenes Denken ganz unerfindlich, was dieunmittelbar an uns herantretende Form der Wirklichkeit (die Erfahrung) an sich trage,das uns irgendwie berechtigen knnte, sie als bloe Vorstellung zu bezeichnen.Schon die einfache Erwgung, da der naive Mensch gar nichts an den Dingen

    bemerkt, was ihn auf diese Ansicht bringen knnte, lehrt uns, da in den Objektenselbst ein zwingender Grund zu dieser Annahme nicht liegt. Was trgt ein Baum, einTisch an sich, was mich dazu veranlassen knnte, ihn als bloes Vorstellungsgebildeanzusehen? Zum mindesten darf das also nicht wie eine selbstverstndliche Wahrheithingestellt werden.Indem Volkelt das letztere tut, verwickelt er sich in einen Widerspruch mit seineneigenen Grundprinzipien. Nach unserer berzeugung mute er der von ihm erkanntenWahrheit, da die Erfahrung nichts enthalte als ein zusammenhangloses Chaos vonBildern ohne jegliche gedankliche Bestimmung, untreu werden, um die subjektive Naturderselben Erfahrung behaupten zu knnen. Er htte sonst einsehen mssen, da dasSubjekt des Erkennens, der Betrachter, ebenso beziehungslos innerhalb der

    Erfahrungswelt da-steht wie ein beliebiger anderer Gegenstand derselben. Legt manaber der wahrgenommenen Welt das Prdikat subjektiv bei, so ist das ebenso einegedankliche Bestimmung, wie wenn man den fallenden Stein fr die Ursache des

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    Eindruckes im Boden ansieht. Volkelt selbst will doch aber keinerlei Zusammenhangder Erfahrungsdinge gelten lassen. Da liegt der Widerspruch seiner Anschauung, dawurde er seinem Prinzipe, das er von der reinen Erfahrung ausspricht, untreu. Erschliet sich dadurch in seine Individualitt ein und ist nicht mehr imstande, ausderselben herauszukommen. Ja, er gibt das rcksichtslos zu. Es bleibt fr ihn alles

    zweifelhaft, was ber die abgerissenen Bilder der Wahrnehmungen hinaus liegt. Zwarbemht sich, nach seiner Ansicht, unser Denken, von dieser Vorstellungswelt aus aufeine objektive Wirklichkeit zu schlieen; allein alles Hinausgehen ber dieselbe kannuns nicht zu wirklich gewissen Wahrheiten fhren. Alles Wissen, das wir durch dasDenken gewinnen, ist nach Volkelt vor dem Zweifel nicht geschtzt. Es kommt in keinerWeise an Gewiheit der unmittelbaren Erfahrung gleich. Diese allein liefert ein nicht zubezweifelndes Wissen. Wir haben gesehen, was fr ein mangelhaftes.Doch das alles kommt nur daher, da Volkelt der sinnen-flligen Wirklichkeit(Erfahrung) eine Eigenschaft beilegt, die ihr in keiner Weise zukommen kann, und dannauf dieser Voraussetzung seine weiteren Annahmen aufbaut.Wir muten auf die Schrift von Volkelt besondere Rcksicht nehmen, weil sie die

    bedeutendste Leistung der Gegenwart auf diesem Gebiete ist, und auch deshalb, weilsie als Typus fr alle erkenntnistheoretischen Bemhungen gelten kann, die der vonuns auf Grundlage der Goetheschen Weltanschauung vertretenen Richtung prinzipiellgegenberstehen.

    7. Berufung auf die Erfahrung jedes einzelnen Lesers

    Wir wollen den Fehler vermeiden, dem unmittelbar Gegebenen, der ersten Form desAuftretens der Auen- und Innenwelt, von vornherein eine Eigenschaft beizulegen undso auf Grund einer Voraussetzung unsere Ausfhrungen zur Geltung zu bringen. Ja, wirbestimmen die Erfahrung geradezu als dasjenige, an dem unser Denken gar keinenAnteil hat. Von einem gedanklichen Irrtum kann also am Anfange unserer Ausfhrungennicht die Rede sein.Gerade darin besteht der Grundfehler vieler wissenschaftlicher Bestrebungen,namentlich der Gegenwart, da sie glauben die reine Erfahrung wiederzugeben,whrend sie nur die von ihnen selbst in dieselbe hineingelegten Begriffe wiederherauslesen. Nun kann man uns ja einwenden, da auch wir der reinen Erfahrung eineMenge von Attributen beigelegt haben. Wir bezeichneten sie als unendlicheMannigfaltigkeit, als ein Aggregat zusammenhangloser Einzelheiten usw. Sind dasdenn nicht auch gedankliche Bestimmungen? In dem Sinne, wie wir sie gebrauchten,gewi nicht. Wir haben uns dieser Begriffe nur bedient, um den Blick des Lesers auf die

    gedankenfreie Wirklichkeit zu lenken. Wir wollen diese Begriffe der Erfahrung nichtbeilegen; wir bedienen uns ihrer nur, um die Aufmerksamkeit auf jene Form derWirklichkeit zu lenken, die jedes Begriffes bar ist.Alle wissenschaftlichen Untersuchungen mssen ja mittels der Sprache vollfhrtwerden, und die kann wieder nur Begriffe ausdrcken. Aber es ist doch etwaswesentlich anderes, ob man gewisse Worte braucht, um diese oder jene Eigenschafteinem Dinge direkt zuzusprechen, oder ob man sich ihrer nur bedient, um den Blick desLesers oder Zuhrers auf einen Gegenstand zu lenken. Wenn wir uns einesVergleiches bedienen drften, so wrden wir etwa sagen: Ein anderes ist es, wenn A zuB sagt: "Betrachte jenen Menschen im Kreise seiner Familie und du wirst ein wesentlichanderes Urteil ber ihn gewinnen, als wenn du ihn nur in seiner Amtsgebarung kennen

    lernst"; ein anderes ist es, wenn er sagt: "Jener Mensch ist ein vortrefflicherFamilienvater." Im ersten Falle wird die Aufmerksamkeit des B in einem gewissen Sinnegelenkt; er wird darauf hingewiesen, eine Persnlichkeit unter gewissen Umstnden zu

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    C. DAS DENKEN

    8. Das Denken als hhere Erfahrung in der Erfahrung

    Wir finden innerhalb des zusammenhanglosen Chaos der Erfahrung, und zwar

    zunchst auch als Erfahrungstatsache, ein Element, das uns ber dieZusammenhanglosigkeit hinausfhrt. Es ist das Denken. Das Denken nimmt schon alseine Erfahrungstatsache innerhalb der Erfahrung eine Ausnahmestellung ein.Bei der brigen Erfahrungswelt komme ich, wenn ich bei dem stehen bleibe, wasmeinen Sinnen unmittelbar vorliegt, nicht ber die Einzelheiten hinaus. Angenommen:Ich habe eine Flssigkeit vor mir, die ich zum Sieden bringe. Dieselbe ist erst ruhig,dann sehe ich Dampfblasen aufsteigen, sie gert in Bewegung, und endlich geht sie inDampfform ber. Das sind die einzelnen aufeinanderfolgenden Wahrnehmungen. Ichmag die Sache drehen und wenden, wie ich will: wenn ich dabei stehen bleibe, was mirdie Sinne liefern, so finde ich keinen Zusammenhang der Tatsachen, Beim Denken istdas nicht der Fall. Wenn ich zum Beispiel den Gedanken der Ursache fasse, so fhrtmich dieser durch seinen eigenen Inhalt zu dem der Wirkung. Ich brauche dieGedanken nur in jener Form festzuhalten, in der sie in unmittelbarer Erfahrungauftreten, und sie erscheinen schon als gesetzmige Bestimmungen.Was bei der brigen Erfahrung erst anderswo hergeholt werden mu, wenn esberhaupt auf sie anwendbar ist, der gesetzliche Zusammenhang, ist im Denken schonin seinem allerersten Auftreten vorhanden. Bei der brigen Erfahrung prgt sich nichtdie ganze Sache schon in dem aus, was als Erscheinung vor meinem Bewutseinauftritt; beim Denken geht die ganze Sache ohne Rckstand in dem mir Gegebenenauf. Dort mu ich erst die Hlle durchdringen, um auf den Kern zu kommen, hier istHlle und Kern eine ungetrennte Einheit. Es ist nur eine allgemein-menschliche

    Befangenheit, wenn uns das Denken zuerst ganz analog der brigen Erfahrungerscheint. Wir brauchen bei ihm blo diese unsere Befangenheit zu berwinden. Bei derbrigen Erfahrung mssen wir eine in der Sache liegende Schwierigkeit lsen.Im Denken ist dasjenige, was wir bei der brigen Erfahrung suchen, selbst unmittelbareErfahrung geworden.Darin ist die Lsung einer Schwierigkeit gegeben, die auf andere Weise wohl kaumgelst werden wird. Bei der Erfahrung stehen zu bleiben, ist eine berechtigtewissenschaftliche Forderung. Nicht weniger aber ist eine solche die Aufsuchung derinneren Gesetzmigkeit der Erfahrung. Es mu also dieses Innere selbst an einerStelle der Erfahrung als solche auftreten. Die Erfahrung wird so mit Hilfe ihrer selbstvertieft. Unsere Erkenntnistheorie erhebt die Forderung der Erfahrung in der hchsten

    Form, sie weist jeden Versuch zurck, etwas von auen in die Erfahrunghineinzutragen. Die Bestimmungen des Denkens findet sie selbst innerhalb derErfahrung. Die Art, wie das Denken in die Erscheinung eintritt, ist dieselbe wie bei derbrigen Erfahrungswelt.Das Prinzip der Erfahrung wird zumeist in seiner Tragweite und eigentlichen Bedeutungverkannt. In seiner schroffsten Form ist es die Forderung, die Gegenstnde derWirklichkeit in der ersten Form ihres Auftretens zu belassen und sie nur so zu Objektender Wissenschaft zu machen. Das ist ein rein methodisches Prinzip. Es sagt ber denInhalt dessen, was erfahren wird, gar nichts aus. Wollte man behaupten, da nur dieWahrnehmungen der Sinne Gegenstand der Wissenschaft sein knnen, wie das derMaterialismus tut, so drfte man sich auf dieses Prinzip nicht sttzen. Ob der Inhalt

    sinnlich oder ideell ist, darber fllt dieses Prinzip kein Urteil. Soll es aber in einembestimmten Falle in der erwhnten schroffsten Form anwendbar sein, dann macht esallerdings eine Voraussetzung. Es fordert nmlich, da die Gegenstnde, wie sie

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    erfahren werden, schon eine Form haben, die dem wissenschaftlichen Streben gengt.Bei der Erfahrung der ueren Sinne ist das, wie wir gesehen haben, nicht der Fall. Esfindet nur beim Denken statt.Nur beim Denken kann das Prinzip der Erfahrung in seiner extremsten Bedeutungangewendet werden.

    Das schliet nicht aus, da das Prinzip auch auf die brige Welt ausgedehnt wird. Eshat ja noch andere Formen als seine extremste. Wenn wir einen Gegenstand behufswissenschaftlicher Erklrung nicht so belassen knnen, wie er unmittelbarwahrgenommen wird, so kann diese Erklrung ja immerhin so geschehen, da dieMittel, die sie beansprucht, aus anderen Gebieten der Erfahrungswelt herbeigezogenwerden. Da haben wir das Gebiet der "Erfahrung berhaupt" ja doch nicht berschritten.Eine im Sinne der Goetheschen Weltanschauung begrndete Erkenntniswissenschaftlegt das Hauptgewicht darauf, da sie dem Prinzipe der Erfahrung durchaus treu bleibt.Niemand hat so wie Goethe die ausschlieliche Geltung dieses Prinzipes erkannt. Ervertrat das Prinzip ganz so strenge, wie wir es oben gefordert haben. Alle hherenAnsichten ber die Natur durften ihm als nichts denn als Erfahrung erscheinen. Sie

    sollten "hhere Natur innerhalb der Natur" sein. In dem Aufsatze: "Die Natur" sagt er,wir seien unvermgend aus der Natur herauszukommen. Wollen wir uns also in diesemseinem Sinne ber dieselbe aufklren, so mssen wir dazu innerhalb derselben dieMittel finden.Wie knnte man aber eine Wissenschaft des Erkennens auf das Erfahrungsprinzipgrnden, wenn wir nicht an irgendeinem Punkte der Erfahrung selbst das Grundelementaller Wissenschaftlichkeit, die ideelle Gesetzmigkeit fnden. Wir brauchen diesesElement, wie wir gesehen haben, nur aufzunehmen; wir brauchen uns nur in dasselbezu vertiefen. Denn es findet sich in der Erfahrung.Tritt nun das Denken wirklich in einer Weise an uns heran, wird es unserer Individualittso bewut, da wir mit vollem Rechte die oben hervorgehobenen Merkmale frdasselbe in Anspruch nehmen drfen ? Jedermann, der seine Aufmerksamkeit aufdiesen Punkt richtet, wird finden, da ein wesentlicher Unterschied zwischen der Artbesteht, wie eine uere Erscheinung der sinnenflligen Wirklichkeit, ja selbst wie einanderer Vorgang unseres Geisteslebens bewut wird, und jener, wie wir unser eigenesDenken gewahr werden. Im ersten Falle sind wir uns bestimmt bewut, da wir einemfertigen Dinge gegenbertreten; fertig nmlich insoweit, als es Erscheinung gewordenist, ohne da wir auf dieses Werden einen bestimmenden Einflu ausgebt haben.Anders ist das beim Denken. Das erscheint nur fr den ersten Augenblick der brigenErfahrung gleich. Wenn wir irgendeinen Gedanken fassen, so wissen wir, bei allerUnmittelbarkeit, mit der er in unser Bewutsein eintritt, da wir mit seiner

    Entstehungsweise innig verknpft sind. Wenn ich irgendeinen Einfall habe, der mir ganzpltzlich gekommen ist und dessen Auftreten daher in gewisser Hinsicht ganz demeines ueren Ereignisses gleichkommt, das mir Augen und Ohren erst vermittelnmssen: so wei ich doch immerhin, da das Feld, auf dem dieser Gedanke zurErscheinung kommt, mein Bewutsein ist; ich wei, da meine Ttigkeit erst inAnspruch genommen werden mu, um den Einfall zur Tatsache werden zu lassen. Beijedem ueren Objekt bin ich gewi, da es meinen Sinnen zunchst nur seineAuenseite zuwendet; beim Gedanken wei ich genau, da das, was er mir zuwendet,zugleich sein Alles ist, da er als in sich vollendete Ganzheit in mein Bewutseineintritt. Die ueren Triebkrfte, die wir bei einem Sinnenobjekte stets voraussetzenmssen, sind beim Gedanken nicht vorhanden. Sie sind es ja, denen wir es

    zuschreiben mssen, da uns die Sinneserscheinung als etwas Fertiges entgegentritt;ihnen mssen wir das Werden derselben zurechnen. Beim Gedanken bin ich mir klar,da jenes Werden ohne meine Ttigkeit nicht mglich ist. Ich mu den Gedanken

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    durcharbeiten, mu seinen Inhalt nachschaffen, mu ihn innerlich durchleben bis inseine kleinsten Teile, wenn er berhaupt irgendwelche Bedeutung fr mich haben soll.Wir haben bisher nun folgende Wahrheiten gewonnen. Auf der ersten Stufe derWeltbetrachtung tritt uns die gesamte Wirklichkeit als zusammenhangloses Aggregatentgegen; das Denken ist innerhalb dieses Chaos eingeschlossen. Durchwandern wir

    diese Mannigfaltigkeit, so finden wir ein Glied in derselben, welches schon in dieserersten Form des Auftretens jenen Charakter hat, den die brigen erst gewinnen sollen.Dieses Glied ist das Denken. Was bei der brigen Erfahrung zu berwinden ist, dieForm des unmittelbaren Auftretens, das gerade ist beim Denken festzuhalten. Diesen inseiner ursprnglichen Gestalt zu belassen-den Faktor der Wirklichkeit finden wir inunserem Bewutsein und sind mit ihm dergestalt verbunden, da die Ttigkeit unseresGeistes zugleich die Erscheinung dieses Faktors ist. Es ist eine und dieselbe Sache vonzwei Seiten betrachtet. Diese Sache ist der Gedankengehalt der Welt. Das eine Malerscheint er als Ttigkeit unseres Bewutseins, das andere Mal als unmittelbareErscheinung einer in sich vollendeten Gesetzmigkeit, ein in sich bestimmter ideellerInhalt. Wir werden alsbald sehen, welche Seite die grere Wichtigkeit hat.

    Deshalb nun, weil wir innerhalb des Gedankeninhaltes stehen, denselben in allenseinen Bestandteilen durchdringen, sind wir imstande, dessen eigenste Natur wirklichzu erkennen. Die Art, wie er an uns herantritt, ist eine Brgschaft dafr, da ihm dieEigenschaften, die wir ihm vorhin beigelegt haben, wirklich zukommen. Er kann alsogewi als Ausgangspunkt fr jede weitere Art der Weltbetrachtung dienen. Seinenwesentlichen Charakter knnen wir aus ihm selbst entnehmen; wollen wir den derbrigen Dinge gewinnen, so mssen wir von ihm aus unsere Untersuchungenbeginnen. Wir wollen uns gleich deutlicher aussprechen. Da wir nur im Denken einewirkliche Gesetzmigkeit, eine ideelle Bestimmtheit erfahren, so mu dieGesetzmigkeit der brigen Welt, die wir nicht an dieser selbst erfahren, auch schonim Denken eingeschlossen liegen. Mit anderen Worten: Erscheinung fr die Sinne undDenken stehen einander in der Erfahrung gegenber. Jene gibt uns aber ber ihreigenes Wesen keinen Aufschlu; dieses gibt uns denselben zugleich ber sich selbstund ber das Wesen jener Erscheinung fr die Sinne.

    9. Denken und Bewutsein

    Nun aber scheint es, als ob wir hier das subjektivistische Element, das wir doch soentschieden von unserer Erkenntnistheorie fernhalten wollten, selbst einfhrten. Wennschon nicht die brige Wahrnehmungswelt - knnte man aus unserenAuseinandersetzungen herauslesen - so trage doch der Gedanke, selbst nach unsererAnsicht, einen subjektiven Charakter.Dieser Einwand beruht auf einer Verwechslung des Schauplatzes unserer Gedanken

    mit jenem Elemente, von dem sie ihre inhaltlichen Bestimmungen, ihre innereGesetzlichkeit erhalten. Wir produzieren einen Gedankeninhalt durchaus nicht so, dawir in dieser Produktion bestimmten, welche Verbindungen unsere Gedankeneinzugehen haben. Wir geben nur die Gelegenheitsursache her, da sich derGedankeninhalt seiner eigenen Natur gem entfalten kann. Wir fassen den Gedankena und den Gedanken b und geben denselben Gelegenheit, in eine gesetzmigeVerbindung einzugehen, indem wir sie miteinander in Wechselwirkung bringen. Nichtunsere subjektive Organisation ist es, die diesen Zusammenhang von a und b in einergewissen Weise bestimmt, sondern der Inhalt von a und b selbst ist das alleinBestimmende. Da sich a zu b gerade in einer bestimmten Weise verhlt und nichtanders, darauf haben wir nicht den mindesten Einflu. Unser Geist vollzieht dieZusammensetzung der Gedankenmassen nur nach Magabe ihres Inhaltes. Wirerfllen also im Denken das Erfahrungsprinzip in seiner schroffsten Form.Damit ist die Ansicht Kants und Schopenhauers und im weiteren Sinne auch Fichtes

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    widerlegt, da die Gesetze, die wir behufs Erklrung der Welt annehmen, nur einResultat unserer eigenen geistigen Organisation seien, da wir sie nur vermgeunserer geistigen Individualitt in die Welt hineinlegen.Man knnte vom subjektivistischen Standpunkte aus noch etwas einwenden. Wennschon der gesetzliche Zusammenhang der Gedankenmassen von uns nicht nach Ma

    gabe unserer Organisation vollzogen wird, sondern von ihrem Inhalt abhngt, so knntedoch eben dieser Inhalt ein rein subjektives Produkt, eine bloe Qualitt unseresGeistes sein; so da wir nur Elemente verbinden wrden, die wir erst selbst erzeugten.Dann wre unsere Gedankenwelt nicht minder ein subjektiver Schein. DiesemEinwande ist aber ganz leicht zu begegnen. Wir wrden nmlich, wenn er begrndetwre, den Inhalt unseres Denkens nach Gesetzen verknpfen, von denen wirwahrhaftig nicht wten, wo sie herkommen. Wenn dieselben nicht aus unsererSubjektivitt entspringen, was wir vorhin doch in Abrede stellten und jetzt als abgetanbetrachten knnen, was soll uns denn Verknpfungsgesetze fr einen Inhalt liefern, denwir selbst erzeugen?Unsere Gedankenwelt ist also eine vllig auf sich selbst gebaute Wesenheit, eine in

    sich selbst geschlossene, in sich vollkommene und vollendete Ganzheit. Wir sehen hier,welche von den zwei Seiten der Gedankenwelt die wesentliche ist: die objektive ihresInhaltes und nicht die subjektive ihres Auftretens.Am klarsten tritt diese Einsicht in die innere Gediegenheit und Vollkommenheit desDenkens in dem wissenschaftlichen Systeme Hegels auf. Keiner hat in dem Grade, wieer, dem Denken eine so vollkommene Macht zugetraut, da es aus sich heraus eineWeltanschauung begrnden knne. Hegel hat ein absolutes Vertrauen auf das Denken,ja es ist der einzige Wirklichkeitsfaktor, dem er im wahren Sinne des Wortes vertraut.So richtig seine Ansicht im allgemeinen auch ist, so ist es aber gerade er, der dasDenken durch die allzuschroffe Form, in der er es verteidigt, um alles Ansehen gebrachthat. Die Art, wie er seine Ansicht vorgebracht hat, ist schuld an der heillosenVerwirrung, die in unser "Denken ber das Denken" gekommen ist. Er hat dieBedeutung des Gedankens, der Idee, so recht anschaulich machen wollen dadurch,da er die Denknotwendigkeit zu gleich als die Notwendigkeit der Tatsachenbezeichnete. Damit hat er den Irrtum hervorgerufen, da die Bestimmungen desDenkens nicht rein ideelle seien, sondern tatschliche. Man fate seine Ansicht bald soauf. als ob er in der Welt der sinnenflligen Wirklichkeit selbst den Gedanken wie eineSache gesucht htte. Er hat das wohl auch nie so ganz klargelegt. Es mu ebenfestgestellt werden, da das Feld des Gedankens einzig das menschliche Bewutseinist. Dann mu gezeigt werden, da durch diesen Umstand die Gedankenwelt nichts anObjektivitt einbt. Hegel kehrte nur die objektive Seite des Gedankens hervor; die

    Mehrheit aber sieht, weil dies leichter ist, nur die subjektive; und es dnkt ihr, da jeneretwas rein Ideelles wie eine Sache behandelt, mystifiziert habe. Selbst viele Gelehrteder Gegenwart sind von diesem Irrtum nicht freizusprechen. Sie verdammen Hegelwegen eines Mangels, den er nicht an sich hat, den man aber freilich in ihn hineinlegenkann, weil er die betreffende Sache zu wenig klargestellt hat.Wir geben zu, da hier fr unser Urteilsvermgen eine Schwierigkeit vorliegt. Wirglauben aber, da dieselbe fr jedes energische Denken zu berwinden ist. Wirmssen uns zweierlei vorstellen: einmal, da wir die ideelle Welt ttig zur Erscheinungbringen, und zugleich, da das, was wir ttig ins Dasein rufen, auf seinen eigenenGesetzen beruht. Wir sind nun freilich gewohnt, uns eine Erscheinung so vorzustellen,da wir ihr nur passiv, beobachtend gegenberzutreten brauchten. Allein das ist kein

    unbedingtes Erfordernis. So ungewohnt uns die Vorstellung sein mag, da wir selbstein Objektives ttig zur Erscheinung bringen, da wir mit anderen Worten eineErscheinung nicht blo wahrnehmen, sondern zugleich produzieren: sie ist keine

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    unstatthafte.Man braucht einfach die gewhnliche Meinung aufzugeben, da es so vieleGedankenwelten gibt als menschliche Individuen. Diese Meinung ist ohnehin nichtsweiter als ein althergebrachtes Vorurteil. Sie wird berall stillschweigend vorausgesetzt,ohne Bewutsein, da eine andere zum mindesten ebensogut mglich ist, und da die

    Grnde der Gltigkeit der einen oder der andern denn doch erst erwogen werdenmssen. Man denke sich an Stelle dieser Meinung einmal die folgende gesetzt: Es gibtberhaupt nur einen einzigen Gedankeninhalt, und unser individuelles Denken seiweiter nichts als ein Hineinarbeiten unseres Selbstes, unserer individuellenPersnlichkeit in das Gedankenzentrum der Welt. Ob diese Ansicht richtig ist oder nicht,das zu untersuchen ist hier nicht der Ort; aber mglich ist sie, und wir haben erreicht,was wir wollten; nmlich gezeigt, da es immerhin ganz gut angeht, die von uns alsnotwendig hingestellte Objektivitt des Denkens auch anderweitig als widerspruchsloserscheinen zu lassen.In Anbetracht der Objektivitt lt sich die Arbeit des Denkers ganz gut mit der desMechanikers vergleichen. Wie dieser die Krfte der Natur in ein Wechselspiel bringt und

    dadurch eine zweckmige Ttigkeit und Kraftuerung herbeifhrt, so lt der Denkerdie Gedankenmassen in lebendige Wechselwirkung treten, und sie entwickeln sich zuden Gedankensystemen, die unsere Wissenschaften ausmachen.Durch nichts wird eine Anschauung besser beleuchtet als durch die Aufdeckung der ihrentgegenstehenden Irrtmer. Wir wollen hier diese von uns schon wiederholt mit Vorteilangewendete Methode wieder anrufen.Man glaubt gewhnlich, wir verbinden gewisse Begriffe deshalb zu grerenKomplexen, oder wir denken berhaupt in einer gewissen Weise deshalb, weil wir einengewissen inneren (logischen) Zwang verspren, dies zu tun. Auch Volkelt hat sichdieser Ansicht angeschlossen. Wie stimmt sie aber zu der durchsichtigen Klarheit, mitder unsere ganze Gedankenwelt in unserem Bewutsein gegenwrtig ist? Wir kennenberhaupt nichts in der Welt genauer als unsere Gedanken. Soll -da nun ein gewisserZusammenhang auf Grund eines inneren Zwanges hergestellt werden, wo alles so klarist? Was brauche ich den Zwang, wenn ich die Natur des zu Verbindenden kenne,durch und durch kenne, und mich also nach ihr richten kann. Alle unsereGedankenoperationen sind Vorgnge, die sich vollziehen auf Grund der Einsicht in dieWesenheiten der Gedanken und nicht nach Magabe eines Zwanges. Ein solcherZwang widerspricht der Natur des Denkens.Es knnte immerhin sein, da es zwar im Wesen des Denkens liege, in seineErscheinung zugleich seinen Inhalt einzuprgen, da wir den letzteren aber trotzdemvermge der Organisation unseres Geistes nicht unmittelbar wahrnehmen knnen. Das

    ist aber nicht der Fall. Die Art, wie der Gedankeninhalt an uns herantritt, ist uns eineBrgschaft dafr, da wir hier das Wesen der Sache vor uns haben. Wir sind uns jabewut, da wir jeden Vorgang innerhalb der Gedankenwelt mit unserem Geistebegleiten. Man kann sich doch nur denken, da die Erscheinungsform von dem Wesender Sache bedingt ist. Wie sollten wir die Erscheinungsform nachschaffen, wenn wir dasWesen der Sache nicht kennten. Man kann sich wohl denken, da uns dieErscheinungsform als fertiges Ganze gegenbertritt und wir dann den Kern derselbensuchen. Man kann aber durchaus nicht der Ansicht sein, da man zur Hervorbringungder Erscheinung mitwirkt, ohne dieses Hervorbringen von dem Kerne heraus zubewirken.

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    D. DIE WISSENSCHAFT

    11. Denken und Wahrnehmung

    Die Wissenschaft durchtrnkt die wahrgenommene Wirklichkeit mit den von unsermDenken erfaten und durchgearbeiteten Begriffen. Sie ergnzt und vertieft das passivAufgenommene durch das, was unser Geist selbst durch seine Ttigkeit aus demDunkel der bloen Mglichkeit in das Licht der Wirklichkeit emporgehoben hat. Dassetzt voraus, da die Wahrnehmung der Ergnzung durch den Geist bedarf, da sieberhaupt kein Endgltiges, Letztes, Abgeschlossenes ist.Es ist der Grundirrtum der modernen Wissenschaft, da sie die Wahrnehmung derSinne schon fr etwas Abgeschlossenes, Fertiges ansieht. Deshalb stellt sie sich dieAufgabe, dieses in sich vollendete Sein einfach zu photographieren. Konsequent ist indieser Hinsicht wohl nur der Positivismus, der jedes Hinausgehen ber dieWahrnehmung einfach ablehnt. Doch sieht man heute fast in allen Wissenschaften das

    Bestreben, diesen Standpunkt als den richtigen anzusehen. Im wahren Sinne desWortes wrde dieser Forderung nur eine solche Wissenschaft gengen, welche einfachdie Dinge, wie sie nebeneinander im Raume vorhanden sind, und die Ereignisse, wiesie zeitlich aufeinander folgen, aufzhlt und beschreibt. Die Naturgeschichte alten Stileskommt dieser Forderung noch am nchsten. Die neuere verlangt zwar dasselbe, stellteine vollstndige Theorie der Erfahrung auf, um sie - sogleich zu bertreten, wenn sieden ersten Schritt in der wirklichen Wissenschaft unternimmt.Wir mten uns unseres Denkens vollkommen entuern, wollten wir an der reinenErfahrung festhalten. Man setzt das Denken herab, wenn man ihm die Mglichkeitentzieht, in sich selbst Wesenheiten wahrzunehmen, die den Sinnen unzugnglich sind.Es mu in der Wirklichkeit auer den Sinnesqualitten noch einen Faktor geben, der

    vom Denken erfat wird. Das Denken ist ein Organ des Menschen, das bestimmt ist,Hheres zu beobachten als die Sinne bieten. Dem Denken ist jene Seite derWirklichkeit zugnglich, von der ein bloes Sinnenwesen nie etwas erfahren wrde.Nicht die Sinnlichkeit wiederzukuen ist es da, sondern das zu durchdringen, wasdieser verborgen ist. Die Wahrnehmung der Sinne liefert nur eine Seite der Wirklichkeit.Die andere Seite ist die denkende Erfassung der Welt. Nun tritt uns aber im erstenAugenblick das Denken als etwas der Wahrnehmung ganz Fremdes entgegen. DieWahrnehmung dringt von auen auf uns ein; das Denken arbeitet sich aus unsermInneren heraus. Der Inhalt dieses Denkens erscheint uns als innerlich vollkommenerOrganismus; alles ist im strengsten Zusammenhange. Die einzelnen Glieder desGedankensystems bestimmen einander; jeder einzelne Begriff hat zuletzt seine Wurzel

    in der Allheit unseres Gedankengebudes.Auf den ersten Blick erscheint es, als ob die innere Widerspruchslosigkeit des Denkens,seine Selbstgengsamkeit jeden bergang zur Wahrnehmung unmglich mache.Wren die Bestimmungen des Denkens solche, da man ihnen nur auf eine Artgengen knnte, dann wre es wirklich in sich selbst abgeschlossen; wir knnten ausdemselben nicht heraus. Das ist aber nicht der Fall. Diese Bestimmungen sind solche,da ihnen auf mannigfache Weise Genge geschehen kann. Nur darf dann dasjenigeElement, welches diese Mannigfaltigkeit bewirkt, nicht selbst innerhalb des Denkensgesucht werden. Nehmen wir die Gedankenbestimmung: Die Erde zieht jeden Krperan, so werden wir alsbald bemerken, da der Gedanke die Mglichkeit offen lt, in derverschiedensten Weise erfllt zu werden. Das sind aber Verschiedenheiten, die mit demDenken nicht mehr erreichbar sind. Da ist Platz fr ein anderes Element. DiesesElement ist die Sinneswahrnehmung. Die Wahrnehmung bietet eine solche Art derSpezialisierung der Gedankenbestimmungen, die von den letzteren selbst offen

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    gelassen ist.Diese Spezialisierung ist es, in der uns die Welt gegenbertritt, wenn wir uns blo derErfahrung bedienen. Psychologisch ist das das erste, was sachlich genommen dasAbgeleitete ist.Bei aller wissenschaftlichen Bearbeitung der Wirklichkeit ist der Vorgang dieser: Wir

    treten der konkreten Wahrnehmung gegenber. Sie steht wie ein Rtsel vor uns. In unsmacht sich der Drang geltend, ihr eigentliches Was, ihr Wesen, das sie nicht selbstausspricht, zu erforschen. Dieser Drang ist nichts anderes als das Emporarbeiten einesBegriffes aus dem Dunkel unseres Bewutseins. Diesen Begriff halten wir dann fest,whrend die sinnenfllige Wahrnehmung mit diesem Denkprozesse parallel geht. Diestumme Wahrnehmung spricht pltzlich eine uns verstndliche Sprache; wir erkennen,da der Begriff, den wir gefat haben, jenes gesuchte Wesen der Wahrnehmung ist.Was sich da vollzogen hat, ist ein Urteil. Es ist verschieden von jener Gestalt desUrteils, die zwei Begriffe verbindet, ohne auf die Wahrnehmung Rcksicht zu nehmen.Wenn ich sage: Die Freiheit ist die Bestimmung eines Wesens aus sich selbst heraus,so habe ich auch ein Urteil gefllt. Die Glieder dieses Urteils sind Begriffe, die ich nicht

    in der Wahrnehmung gegeben habe. Auf solchen Urteilen beruht die innereEinheitlichkeit unseres Denkens, die wir im vorigen Kapitel behandelt haben.Das Urteil, welches hier in Betracht kommt, hat zum Subjekte eine Wahrnehmung, zumPrdikate einen Begriff. Dieses bestimmte Tier, das ich vor mir habe, ist ein Hund. Ineinem solchen Urteile wird eine Wahrnehmung in mein Gedankensystem an einembestimmten Orte eingefgt. Nennen wir ein solches Urteil ein Wahrnehmungsurteil.Durch das Wahrnehmungsurteil wird erkannt, da ein bestimmter sinnenflligerGegenstand seiner Wesenheit nach mit einem bestimmten Begriffe zusammenfllt.Wollen wir also begreifen, was wir wahrnehmen, dann mu die Wahrnehmung alsbestimmter Begriff in uns vorgebildet sein. An einem Gegenstande, bei dem das nichtder Fall wre, gingen wir, ohne da er uns verstndlich wre, vorber.Da das so ist, dafr liefert wohl der Umstand den besten Beweis, da Personen,welche ein reicheres Geistesleben fhren, auch viel tiefer in die Erfahrungswelteindringen, als andere, bei denen das nicht der Fall ist. Vieles, was an den letzterenspurlos vorbergeht, macht auf die ersteren einen tiefen Eindruck. ("Wr' nicht dasAuge sonnenhaft, die Sonne knnt' es nie erblicken.") Ja aber, wird man sagen, tretenwir nicht im Leben unendlich vielen Dingen entgegen, von denen wir uns bisher nichtden leisesten Begriff gemacht haben; und bilden wir uns denn nicht an Ort und Stellesogleich Begriffe von ihnen? Ganz wohl. Aber ist denn die Summe aller mglichenBegriffe mit der Summe derer, die ich mir in meinem bisherigen Leben gebildet habe,identisch? Ist mein Begriffssystem nicht entwicklungsfhig? Kann ich im Angesichte

    einer mir unverstndlichen Wirklichkeit nicht sogleich mein Denken in Wirksamkeitversetzen, auf da es eben auch an Ort und Stelle den Begriff entwickle, den ich einemGegenstande entgegenzuhalten habe? Es ist fr mich nur die Fhigkeit erforderlich,einen bestimmten Begriff aus dem Fonds der Gedankenwelt hervorgehen zu lassen.Nicht darum handelt es sich, da mir ein bestimmter Gedanke im Laufe meines Lebensschon bewut war, sondern darum, da er sich aus der Welt der mir erreichbarenGedanken ableiten lt. Das ist ja fr seinen Inhalt unwesentlich, wo und wann ich ihnerfasse., Ich entnehme ja alle Bestimmungen des Gedankens aus der Gedankenwelt.Von dem Sinnesobjekte fliet in diesen Inhalt ja doch nichts ein. Ich erkenne in demSinnesobjekt den Gedanken, den ich aus meinem Inneren herausgeholt, nur wieder.Dieses Objekt veranlat mich zwar, in einem bestimmten Augenblicke gerade diesen

    Gedankeninhalt aus der Einheit aller mglichen Gedanken herauszutreiben, aber esliefert mir keineswegs die Bausteine zu denselben. Die mu ich aus mir selbstherausholen.

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    genau die Unterschiede der einzelnen Pflanzenindividuen zu suchen, um so diegeringfgigsten Merkmale benutzen zu knnen, neue Arten und Unterartenaufzustellen. Zwei Tier- oder Pflanzenspezies, die sich nur in hchst unwesentlichenDingen unterscheiden, wurden sogleich verschiedenen Arten zugerechnet. Fand manan irgendeinem Lebewesen, das man bisher irgendeiner Art zugerechnet, eine

    unerwartete Abweichung von dem willkrlich aufgestellten Artcharakter, so dachte mannicht nach: wie sich eine solche Abweichung aus diesem Charakter selbst erklrenlasse, sondern man stellte einfach eine neue Art auf.Diese Unterscheidung ist die Sache des Verstandes. Er hat nur zu trennen und dieBegriffe in der Trennung festzuhalten. Er ist eine notwendige Vorstufe jeder hherenWissenschaftlichkeit. Vor allem bedarf es ja festbestimmter, klar umrissener Begriffe,ehe wir nach einer Harmonie derselben suchen knnen. Aber wir drfen bei derTrennung nicht stehen bleiben. Fr den Verstand sind Dinge getrennt, die in einerharmonischen Einheit zu sehen, ein wesentliches Bedrfnis der Menschheit ist. Fr denVerstand sind getrennt: Ursache und Wirkung, Mechanismus und Organismus, Freiheitund Notwendigkeit, Idee und Wirklichkeit, Geist und Natur und so weiter. Alle diese

    Unterscheidungen sind durch den Verstand herbeigefhrt. Sie mssen herbeigefhrtwerden, weil uns sonst die Welt als ein verschwommenes, dunkles Chaos erschiene,das nur deshalb eine Einheit bildete, weil es fr uns vllig unbestimmt wre.Der Verstand selbst ist nicht in der Lage, ber diese Trennung hinauszukommen. Erhlt die getrennten Glieder fest.Dieses Hinauskommen ist Sache der Vernunft. Sie hat die vom Verstandegeschaffenen Begriffe ineinander bergehen zu lassen. Sie hat zu zeigen, da das, wasder Verstand in strenger Trennung festhlt, eigentlich eine innerliche Einheit ist. DieTrennung ist etwas knstlich herbeigefhrtes, ein notwendiger Durchgangspunkt frunser Erkennen, nicht dessen Abschlu. Wer die Wirklichkeit blo verstandesmigerfat, entfernt sich von ihr. Er setzt an ihre Stelle, da sie in Wahrheit eine Einheit ist,eine knstliche Vielheit, eine Mannigfaltigkeit, die mit dem Wesen der Wirklichkeit nichtszu tun hat.Daher rhrt der Zwiespalt, in den die verstandesmig betriebene Wissenschaft mitdem menschlichen Herzen kommt. Viele Menschen, deren Denken nicht so ausgebildetist, da sie es bis zu einer einheitlichen Weltansicht bringen, die sie in vollerbegrifflicher Klarheit erfassen, sind aber sehr wohl imstande, die innere Harmonie desWelt-ganzen mit dem Gefhle zu durchdringen. Ihnen gibt das Herz, was demwissenschaftlich Gebildeten die Vernunft bietet.Tritt an solche Menschen die Verstandesansicht der Welt heran, so weisen sie mitVerachtung die unendliche Vielheit zurck und halten sich an die Einheit, die sie wohl

    nicht erkennen, aber mehr oder minder lebhaft empfinden. Sie sehen sehr wohl, dader Verstand sich von der Natur entfernt, da er das geistige Band aus dem Augeverliert, das die Teile der Wirklichkeit verbindet.Die Vernunft fhrt wieder zur Wirklichkeit zurck. Die Einheitlichkeit alles Seins, diefrher gefhlt oder gar nur dunkel geahnt wurde, wird von der Vernunft vollkommendurchschaut. Die Verstandesansicht mu durch die Vernunftansicht vertieft werden.Wird die erste statt fr einen notwendigen Durchgangspunkt fr Selbstzweckangesehen, dann liefert sie nicht die Wirklichkeit, sondern ein Zerrbild derselben.Es macht bisweilen Schwierigkeiten, die durch den Verstand geschaffenen Gedankenzu verbinden. Die Geschichte der Wissenschaften liefert uns vielfache Beweise dafr.Oft sehen wir den Menschengeist ringen, von dem Verstande geschaffene Differenzen

    zu berbrcken.In der Vernunftansicht von der Welt geht der Mensch in der letzteren in ungetrennterEinheit auf.

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    Kant hat auf den Unterschied von Verstand und Vernunft bereits hingewiesen. Erbezeichnet die Vernunft als das Vermgen, Ideen wahrzunehmen; wogegen derVerstand darauf beschrnkt ist, blo die Welt in ihrer Getrenntheit, Vereinzelung zuschauen.Die Vernunft ist nun in der Tat das Vermgen, Ideen wahrzunehmen. Wir mssen hier

    den Unterschied zwischen Begriff und Idee feststellen, den wir bisher auer achtgelassen haben. Fr unsere bisherigen Zwecke kam es nur darauf an, jene Qualittendes Gedankenmigen, die sich in Begriff und Idee darleben, zu finden. Begriff ist derEinzelgedanke, wie er vom Verstande festgehalten wird. Bringe ich eine Mehrheit vonsolchen Einzelgedanken in lebendigen Flu, so da sie ineinander bergehen, sichverbinden, so entstehen gedankenmige Gebilde, die nur fr die Vernunft da sind, dieder Verstand nicht erreichen kann. Fr die Vernunft geben die Geschpfe desVerstandes ihre gesonderten Existenzen auf und leben nur mehr als ein Teil einerTotalitt weiter. Diese von der Vernunft geschaffenen Gebilde sollen Ideen heien.Da die Idee eine Vielheit von Verstandesbegriffen auf eine Einheit zurckfhrt, das hatauch schon Kant ausgesprochen. Er hat jedoch die Gebilde, die durch die Vernunft zur

    Erscheinung kommen, als bloe Trugbilder hingestellt, als Illusionen, die sich derMenschengeist ewig vorspiegelt, weil er ewig nach einer Einheit der Erfahrung strebt,die ihm nirgend gegeben ist. Die Einheiten, die in den Ideen geschaffen werden,beruhen nach Kant nicht auf objektiven Verhltnissen, sie flieen nicht aus der Sacheselbst, sondern sind blo subjektive Normen, nach denen wir Ordnung in unser Wissenbringen. Kant bezeichnet daher die Ideen nicht als konstitutive Prinzipien, die fr dieSache magebend sein mten, sondern als regulative, die allein fr die Systematikunseres Wissens Sinn und Bedeutung haben.Sieht man aber auf die Art, wie die Ideen zustande kommen, so erweist sich dieseAnsicht sogleich als irrtmlich. Es ist zwar richtig, da die subjektive Vernunft dasBedrfnis nach Einheit hat. Aber dieses Bedrfnis ist ohne allen Inhalt, ein leeresEinheitsbestreben. Tritt ihm etwas entgegen, das absolut jeder einheitlichen Naturentbehrt, so kann es diese Einheit nicht selbst aus sich heraus erzeugen. Tritt ihmhingegen eine Vielheit entgegen, die ein Zurckfhren auf eine innere Harmoniegestattet, dann vollbringt sie das-selbe. Eine solche Vielheit ist die vom Verstandegeschaffene Begriffswelt.Die Vernunft setzt nicht eine bestimmte Einheit voraus, sondern die leere Form derEinheitlichkeit, sie ist das Vermgen, die Harmonie an das Tageslicht zu ziehen, wennsie im Objekte selbst liegt. Die Begriffe setzen sich in der Vernunft selbst zu Ideenzusammen. Die Vernunft bringt die hhere Einheit der Verstandesbgriffe zumVorschein, die der Verstand in seinen Gebilden zwar hat, aber nicht zu sehen vermag.

    Da dies bersehen wird, ist der Grund vieler Miverstndnisse ber die Anwendungder Vernunft in den Wissenschaften.In geringem Grade hat jede Wissenschaft schon in den Anfngen, ja das alltglicheDenken schon Vernunft ntig. Wenn wir in dem Urteile: Jeder Krper ist schwer, denSubjektsbegriff mit dem Prdikatsbegriff verbinden, so liegt darinnen schon eineVereinigung von zwei Begriffen, also die einfachste Ttigkeit der Vernunft.Die Einheit, welche die Vernunft zu ihrem Gegenstande macht, ist vor allem Denken,vor allem Vernunftgebrauche gewi; nur ist sie verborgen, ist nur der Mglichkeit nachvorhanden, nicht als faktische Erscheinung. Dann fhrt der Menschengeist dieTrennung herbei, um im vernunftgemen Vereinigen der getrennten Glieder dieWirklichkeit vollstndig zu durchschauen.

    Wer das nicht voraussetzt, mu entweder alle Gedankenverbindung als eine Willkrdes subjektiven Geistes ansehen, oder er mu annehmen, da die Einheit hinter dervon uns erlebten Welt stehe und uns auf eine uns unbekannte Weise zwinge, die

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    13. Das Erkennen

    Die Wirklichkeit hat sich uns in zwei Gebiete auseinander-gelegt: in die Erfahrung undin das Denken. Die Erfahrung kommt in zweifacher Hinsicht in Betracht. Erstensinsofern, als die gesamte Wirklichkeit auer dem Denken eine Erscheinungsform hat,

    die in der Erfahrungsform auftreten mu. Zweitens insofern, als es in der Natur unseresGeistes liegt, dessen Wesen ja in der Betrachtung besteht (also in einer nach auengerichteten Ttigkeit), da die zu beobachtenden Gegenstnde in sein Gesichtsfeldeinrcken, das heit wieder ihm erfahrungsgem gegeben werden. Es kann nun sein,da diese Form des Gegebenen das Wesen der Sache nicht in sich schliet, dannfordert die Sache selbst, da sie zuerst in der Wahrnehmung (Erfahrung> erscheine,um spter einer ber die Wahrnehmung hinausgehenden Ttigkeit unseres Geistes dasWesen zu zeigen. Eine andere Mglichkeit ist die, da in dem unmittelbar Gegebenenschon das Wesen liege und da es nur dem zweiten Umstande, da unserm Geistealles als Erfahrung vor Augen treten mu, zuzuschreiben ist, wenn wir dieses Wesennicht sogleich gewahr werden. Das letztere ist beim Denken, das erstere bei derbrigen Wirklichkeit der Fall. Beim Denken ist nur erforderlich, da wir unseresubjektive Befangenheit berwinden, um es in seinem Kerne zu begreifen. Was bei derbrigen Wirklichkeit in der objektiven Wahrnehmung sachlich begrndet liegt, da dieunmittelbare Form des Auftretens berwunden werden mu, um sie zu erklren, dasliegt beim Denken nur in einer Eigentmlichkeit unseres Geistes. Dort ist es die Sacheselbst, welche sich die Erfahrungsform gibt, hier ist es die Organisation unseresGeistes. Dort haben wir noch nicht die ganze Sache, wenn wir die Erfahrung auffassen,hier haben wir sie.Darinnen liegt der Dualismus begrndet, den die Wisse