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RUDOLF STEINER GESAMTAUSGABE

RUDOLF STEINER Wahrheiten Und Irrtümer Der Geistesforschung

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RUDOLF STEINER Wahrheiten Und Irrtümer Der Geistesforschung

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  • RUDOLF STEINER GESAMTAUSGABE

  • RUDOLF STEINER GESAMTAUSGABE Abteilung B: Vortrge I. ffentliche Vortrge Herausgegeben von der Rudolf Steiner Nachlassverwaltung Band GA 69a

  • RUDOLF STEINER Wahrheiten und Irrtmer der Geistesforschung Geisteswissenschaft und Menschenzukunft Zehn ffentliche Vortrge, gehalten in Zrich, Prag, Mnchen, Stuttgart, Tbingen, Karlsruhe und Frankfurt/M. 24. Februar 1911 bis 17. Mai 1913 RUDOLF STEINER VERLAG

  • Die Herausgabe der 1. Auflage besorgte Ulla Trapp Bibliographischer Nachweis bisheriger Verffentlichungen Seite 327 Band GA 69a 1. Auflage 2007 2007 by Rudolf Steiner Verlag, Dornach 2007 by Rudolf Steiner Nachlassverwaltung, Dornach Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen und elektronischen Wiedergabe, vorbehalten. Satz: Rudolf Steiner Verlag / Bindung: Grobuchbinderei Spinner, Printed in Germany by Druckhaus Nomos, Sinzheim ISBN 978-3-7274-0691-1

  • Zu den Verffentlichungen aus dem Vortragswerk von Rudolf Steiner Rudolf Steiner hat seine Vortrge stets frei, also ohne Manuskript, gehalten. Viele seiner Vorberlegungen hielt er lediglich in Stichworten, manchmal auch in kurzen Stzen, Schemata oder Skizzen in seinen Notizbchern fest, ohne da er sie weiter schriftlich ausgearbeitet htte. Nur in ganz wenigen Fllen liegen vorbereitete schriftliche Zusammenfassungen vor, die fr bersetzer bestimmt waren. Er hat jedoch der Verffentlichung seiner Vortrge zugestimmt, auch wenn er selbst nur einige wenige fr den Druck vorbereiten konnte. Die in der Rudolf Steiner Gesamtausgabe verffentlichten Vortrge basieren in der Regel auf bertragungen stenographischer Aufzeichnungen, die whrend des Vortrages von Zuhrern oder hinzugezogenen Fachstenographen angefertigt wurden. Verschiedentlich - und dies gilt fr die Anfangsjahre seiner Vortragsttigkeit, etwa bis 1905 - dienen auch schriftliche Ausarbeitungen durch Zuhrer als Textgrundlage. Fr die Drucklegung werden die bertragungen in Langschrift oder Zuhrernotizen von den Bearbeitern (Herausgebern) einer eingehenden Prfung unterzogen, insbesondere hinsichtlich Sinn, Satzbau und Genauigkeit der Wiedergabe von Zitaten, Eigennamen oder Fachbegriffen. Bei auftretenden Komplikationen, wie zum Beispiel nicht entschlsselbaren Satz- und Wortgebilden oder Lcken im Text, werden, soweit vorhanden, die Originalstenogramme zur Abklrung hinzugezogen. Weitere Angaben, die Besonderheiten der Textgrundlagen, der Bearbeitung sowie die Entstehungsgeschichte der im vorliegenden Band verffentlichten Vortrge betreffend, befinden sich am Schlu des Bandes. Die Herausgeber

  • INHALT Geisteswissenschaft und Menschenzukunft 11 Zrich, 24. Februar 1911 Vorurteile gegenber der Geisteswissenschaft. Was sagt Geisteswissenschaft ber die groen Daseinsfragen und welche Bedeutung hat sie fr die Zukunft der Menschheitskultur? Entwicklung des Erkenntnisvermgens durch Seelenbungen. Bewutseinszustnde der Menschen in frherer Zeit und heute. Die Bedeutung von Mythen und Legenden. Im Mittelalter Zurcktreten der hellseherischen Fhigkeiten und Entwicklung des intellektuellen Bewutseins. Mutlosigkeit durch einseitige intellektuelle Erkenntnis. Zwei Formen der Resignation. Spruch: Es sprechen zu den Menschensinnen. Wie widerlegt man Theosophie?.....36 Prag, 19. Mrz 1911 Gefhrlichkeit von Fanatismus. Was ist ernstzunehmende Theosophie? Mglichkeit der Entwicklung geistiger Sinne zur berwindung der Erkenntnisgrenzen; die Wesensglieder des Menschen; wiederholte Erdenleben und Karmagesetz. Beispiele fr mgliche Einwnde gegen die Theosophie (Geisteswissenschaft) von Gesichtspunkten des modernen Zeitbewutseins. ben echter Toleranz. Wie verteidigt man Theosophie?.....72 Prag, 25. Mrz 1911 Wecken von Erkenntniskrften durch Seelenbungen; Beispiel fr eine Empfindungsmeditation. Anschauendes Erleben des eigenen Ich. Objektive Erkenntnis durch berwindung subjektiver berzeugungen; Beispiel: Mathematik. Ausprgung des menschlichen Gehirns in den frhen Kindheitsjahren. bung der Gelassenheit. Karmalehre und Ethik. Beeintrchtigt die Theosophie religise Empfindungen? Spruch:

  • Wahrheiten der Geistesforschung .... 100 Mnchen, 25. November 1912 Gesundes Seelenleben als Voraussetzung fr die Geistesforschung. bungen des Vorstellens und Empfindens. Unterscheidung zwischen Imaginationen und Halluzinationen oder Visionen. Mediumismus. Inspirierte Erkenntnis und Wahrheitsgefhl; Erkennen von Wesenheiten, die Naturerscheinungen bewirken. Intuition; Miterleben der schpferischen Mchte. Unterschied von Wirklichkeit und Wahrheit. Notwendigkeit von Wahrheitssinn und logischem Denken. Von den Schwierigkeiten, das geistig Geschaute in logischen Begriffen zu formulieren. Fragenbeantwortungen. Irrtmer der Geistesforschung.....135 Mnchen, 27. November 1912 Imaginative Erkenntnis und ihr Gegenbild, das mediale Wesen. Irrtumsquellen des Mediumismus und Irrtumsquellen bei imaginativem Schauen. Welchen Wahrheitswert haben Standpunkte? Selbsterkenntnis auf dem Wege zur Geistesforschung. Begegnung mit dem Hter der Schwelle. Notwendige moralische Qualitten des Geistesschlers. Irrtumsquellen bei der Verbreitung der Geisteswissenschaft. Gesundes Urteil oder Autorittswahn. Schopenhauer ber die Wahrheit. Fragenbeantwortungen. Irrtmer der Geistesforschung.....172 Stuttgart, 19. Februar 1913 Voraussetzungen fr eine gesunde Entwicklung geistiger Organe: Gesunder Menschenverstand und gesunde Urteilskraft. Warum werden Menschen Materialisten? Irrtmer in der physischen Welt und Irrtmer auf geistigem Gebiet. Unterbewutes Seelenleben. Verwandtschaft von Furcht, Ha und Bequemlichkeit. Ursachen falscher Mystik. Die zerstrende Kraft des Irrtums. Wahre Erkenntnis des Menschenwesens und der Welt.

  • Ergebnisse der Geistesforschung fr Lebensfragen und das Todesrtsel .... 200 Tbingen, 16. Februar 1913 Zwei groe Daseinsrtsel: Menschliches Schicksal und menschliche Unsterblichkeit. Erkenntnismglichkeiten der Geistesforschung. Schlafzustand und Bewutsein. Gefahr der Verwechslung von Imaginationen mit Halluzinationen. Notwendige Besiegung der Selbstliebe. Was bedeuten Tod und Unsterblichkeit? Vorurteile gegenber der Geisteswissenschaft. Ergebnisse der Geistesforschung fr Lebensfragen und das Todesrtsel .... 220 Stuttgart, 17. Mai 1913 ber zwei Broschren, die Unrichtiges ber die Geisteswissenschaft verbreiten. Schicksal und Tod, die groen Lebensfragen. Fruchtbarkeit und Grenzen der naturwissenschaftlichen Denkweise. Methoden zur Erforschung des Geistigen. Umwandlung der Denkkraft. Meditation . Umwandlung der Sprachkraft und Umwandlung der Kraft, die in der Bewegung zum Ausdruck kommt. Erleben des geistigen Wesenskerns des Menschen. Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft in ihrem Verhltnis zu den Lebensrtseln 246 Karlsruhe, 1. Mrz 1913 uere und innere Betrachtung der Natur. Selbsterkenntnis und Selbsterziehung der Seele. Sommer- und Winterzeit in der Natur; Seelenwinter- und Seelensommerzeit beim Menschen. Meditationsbung. Die Folgen von krankem Seelenleben. Besiegen der Selbstsucht. Forschen in der Natur und Forschen auf geistigem Gebiet.

  • Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft in ihrem Verhltnis zu den Lebensrtseln 278 Frankfurt, 3. Mrz 1913 Forschungsmethoden der Geist-Erkenntnis und der Naturwissenschaft. Vernderung des alltglichen Seelenlebens durch Meditation, Konzentration, Kontemplation. Schlafen und Wachen. Erleben des leibfreien Zustandes der Seele. Notwendige Vorbereitung durch berwindung von Selbstsinn und Furcht vor der geistigen Welt. Wahre Selbsterkenntnis. Warum wird man Materialist? Wahrung des Gleichgewichtes zwischen nchterner Lebenspraxis und Darinnenstehen im Geistigen. Die Lehre von der Reinkarnation. Anhang 2 dieser Ausgabe............ 313 Textgrundlagen............ 313 Hinweise zum Text.......... 315 Namenregister............ 325 Literatur zum Thema.......... 326 Bibliographischer Nachweis........ 327 Verzeichnis der Vortrge ber Wahrheiten und Irrtmer der Geistesforschung.....328 Zum Werk Rudolf Steiners........330 10

  • GEISTESWISSENSCHAFT UND MENSCHENZUKUNFT Zrich, 24. Februar 1911 Meine sehr verehrten Anwesenden! Geisteswissenschaft, oder wie man in den letzten Jahrzehnten gewohnt worden ist, sie zu nennen, Theosophie, ist in den weitesten Kreisen entweder unbeliebt, oder man kann wohl auch sagen unbekannt. Mit Ausnahme eines kleinen Kreises unserer Zeitgenossen - und klein mu dieser Kreis heute genannt werden, der sich intensiv mit dieser Geisteswissenschaft beschftigt - kann man wohl mancherlei Urteile, mancherlei Kritik ber diese Geisteswissenschaft hren, aber im Grunde genommen wenig von einem wahrhaften und ernsten Eindringen in dieselbe. Man wei in den Kreisen unserer Gebildeten der Gegenwart recht wenig davon, da dieser kleine Kreis sich in ernstester Art und in ganz wissenschaftlichem Sinne mit den Fragen des geistigen Lebens befat, mit Fragen, die sozusagen von den elementarsten Erscheinungen dieses Geisteslebens ausgehen und dann hinaufgehen bis zu den hchsten Fragen, welche die Menschenseele sich stellen kann, den Fragen nach Tod und Leben, nach der Entwicklung der gesamten Menschheit, Fragen selbst nach der Entwicklung unseres Planeten oder des Planetensystems. Und schon, wenn man in unserer Gegenwart von einer Beschftigung mit solchen Fragen hrt, dann fat man in weitesten Kreisen ein Vorurteil gegenber diesen Bestrebungen, ein Vorurteil, durch das man sich sogar berechtigt glaubt, 11

  • sich nicht weiter einzulassen auf solche Zeitstrmungen. Denn was, so meint man, kann man dahinter schon vermuten? Irgendeine doch grtenteils auf dilettantischen Vorstellungen fuende Sekte. - Davon wei man eben wenig, da die Menschen, die zu dieser angeblichen Sekte gehren, das heit zu den genannten Kreisen gehren, mit wissenschaftlichem Ernst und mit wissenschaftlicher Grndlichkeit die ungeheuren Fragen studieren nach Methoden und Quellen, die eben den weitesten Kreisen unserer gegenwrtigen Gebildeten ganz unbekannt sind. Und man ahnt nicht, da es ungefhr ebensoviel Sinn hat, von Theosophie oder Geisteswissenschaft als von etwas Sektiererischem zu reden, wie wenn man die Chemie oder die Botanik der Gegenwart etwas Sektiererisches nennen wrde. Denn man glaubt ja freilich, echte wissenschaftliche Methoden seien diesen Fragen gegenber berhaupt nicht mglich, man glaubt aber auch, solche Bestrebungen leichthin aburteilen zu knnen, sozusagen aus einem populren Wissen heraus. Man gibt heute zwar zu, da man, sagen wir in der Chemie oder Botanik Vorstudien machen mu, zu den Quellen gehen mu, [um etwas davon zu verstehen], aber man gibt nicht zu, da es notwendig oder auch nur mglich sei, in bezug auf die hchsten Fragen des Geisteslebens der Menschheit es ebenso zu machen. Allerdings ist man im Falle der Geisteswissenschaft noch in einer anderen Lage als gegenber der Chemie oder Botanik. Diese Wissenschaften behandeln Dinge und Fragen, welche Spezialitten des Lebens betreffen, und man kann mit dem, was sie einem geben, innerhalb dieser speziellen Verhltnisse des Lebens Gebrauch machen. Von dem aber, was aus wissenschaftlicher Grndlichkeit heraus 12

  • auf dem Gebiete der Geisteswissenschaft heute getrieben wird und wovon diejenigen, welche es treiben, nicht nur die Hoffnung, sondern auch die Zuversicht haben, da sie fr die Menschenzukunft groe Bedeutung haben, von dem mu man sagen, da es eine einschneidende Wichtigkeit hat fr unsere gesamte Lebenspraxis, fr die Sicherheit, Festigkeit und die Zuversicht unseres ganzen Lebens. Wenn man nun die Frage nach der Bedeutung dieser Geisteswissenschaft fr die Zukunft ins Auge fat, so ist es natrlich notwendig, zunchst mit einigen Worten hinzuweisen auf das ganze Wesen dieser Geisteswissenschaft. Es ist das notwendig, obschon ich schon mehrmals die Ehre hatte, auch in dieser Stadt gerade ber diese Fragen und ber die Methode der Geisteswissenschaft zu sprechen. Wenn heute von Wissenschaft die Rede ist, dann hat man doch im Grunde genommen die Wissenschaft im Auge, welche aufgebaut ist auf der Beobachtung unserer Sinne und auf all dem, was mit Hilfe des Verstandes, der an das uere Instrument des Gehirns gebunden ist, gewonnen werden kann. Und es entsteht immer die Frage in bezug auf die hchsten Gebiete des Daseins, inwieweit man mit einer solchen Wissenschaft eindringen kann in diese Gebiete, die uns etwas sagen ber die Fragen: Wie ist das Wesen des Lebens? Wie ist das Wesen des Todes? Welches ist das Wesen der Menschheit berhaupt und ihrer Entwicklung? Geisteswissenschaft macht nun geltend - und zwar nicht dadurch, da sie das einfach behauptet, sondern dadurch, da sie sorgfltig betriebene Einzeluntersuchungen gibt, die sich dann zusammensetzen zu einem umfassenden Wissen -, sie macht geltend, da es nicht 13

  • nur eine uere Wissenschaft gibt, die gebunden ist an eine ganz bestimmte Stufe des menschlichen Erkenntnisvermgens, sondern da dieses Erkenntnisvermgen des Menschen selber entwicklungsfhig ist, so da wir, wenn wir nur wollen, ein hheres Erkenntnisvermgen entfalten knnen als dasjenige, was in der sinnlich-physischen Welt mit den Sinnen beobachtet und durch den an das Gehirn gebundenen Verstand begreift. So wie die Wissenschaft der Gegenwart auf das Experiment hinweist, auf Versuche mit ueren, mechanischen Mitteln, so weist die Geisteswissenschaft hin auf einen Versuch, der einzig und allein mit den Mitteln unserer Seele selbst angestellt werden kann. Unsere Seele verhlt sich im normalen Leben in der Welt in einer ganz bestimmten Art. Aber diese Art kann verndert werden, und diese Vernderung ruft die Mglichkeit hervor, da wir an die Geistesweit ebenso Fragen stellen knnen, wie wir an die Naturerscheinungen und ihren Verlauf Fragen stellen durch das Experiment. Nicht mit ueren Versuchen und Werkzeugen knnen wir eindringen in die Geisteswelt, wohl aber dadurch, da wir in unserer Seele Krfte erwecken, die sonst schlummern, die sonst in dieser Seele, wenn wir wissenschaftlich sprechen wollen, latent sind. Es gibt ganz bestimmte Seelenbungen - sie knnen hier nur angedeutet werden und sind ausfhrlich besprochen in meiner Schrift Wie erlangt man Erkenntnisse der hheren Welten? -, intime Verrichtungen unserer Seele, die geeignet sind, unseren inneren Willen in hohem Mae zu strken, so da wir in den Stand gesetzt werden, einen Inhalt in unserer Seele oder durch unsere Seele wahrzunehmen, wo wir im sogenannten normalen Leben sonst keinen Inhalt wahrnehmen. Wir erleben dann durch solche 14

  • Seelenbungen Momente, welche sich zwar vergleichen lassen mit dem Einschlafen des Menschen, aber die doch im Grunde genommen etwas durchaus anderes sind. Was erleben wir zunchst - blo fr die Beobachtung -, wenn der Mensch vom wachen Zustand in den Zustand des Schlafes bergeht? Da erleben wir, wenn wir nur die uere Beobachtung zu Rate ziehen, das Verdunkeln der ueren Eindrcke; die ueren Eindrcke hren endlich ganz auf, sie schwchen sich immer mehr und mehr ab, und endlich, nachdem alle Lust und alles Leid, alle Leidenschaften, Triebe und Begierden zum Schweigen gebracht sind, breitet sich in der Seele das aus, was wir gewhnlich Bewutlosigkeit nennen. Da zeigt jene Methodik, auf die sich die Geisteswissenschaft beruft, da wir in diesem Falle des Einschlafens nur aus dem Grunde von Bewutlosigkeit reden mssen, weil wir beim Aufhren aller ueren Eindrcke nicht mehr imstande sind, im Innern unserer Seele so starke Krfte zu entwickeln, da diese Seele ihre eigene Wesenheit fhlt und somit auch sich in ein Verhltnis setzen kann zu ihrer Umwelt, in der sie sich dann befindet und die geistig ist. Wenn nun der Mensch einen ganz bestimmten Gedankeninhalt, eine ganz bestimmte Empfindungswelt auf seine Seele wirken lt, dann wird er fhig, auch dann noch in seiner Seele sich als ein Wesen zu fhlen, wenn alle ueren Eindrcke schweigen. Er ist dann in der Lage wie der Einschlafende und doch wieder radikal davon verschieden. Er ist dann fhig, bewut und durch den Willen alle ueren Eindrcke auszuschlieen und auch alles, was sonst in wachem Zustande zu uns spricht durch Sinne und Verstand, und dennoch nicht bewutlos zu sein, sondern aufleuchten zu lassen in der Seele den vollen Inhalt des Seelenlebens. 15

  • Die Seelenbungen knnen hier nur angedeutet werden. Mit dem, was wir als gewhnliche Vorstellungen im Alltag haben, erreichen wir niemals irgendeine Mglichkeit, solche starken Krfte zu entwickeln. Alle Vorstellungen, die wir im Wachzustand ber unsere Welt, sei es des gewhnlichen Lebens, sei es auch der sublimsten Wissenschaft, haben, sind ungeeignet, die in der Seele schlummernden Krfte zu erwecken. Eine ganz andere Art von Vorstellungen ist notwendig, um jene Krfte in unserer Seele in Bewegung, in Lebendigkeit zu bringen; wir knnen sie symbolische Vorstellungen nennen, wir knnen, sagen wir, ein Bild so auf uns wirken lassen, da wir keine ueren Eindrcke in unsere Seele hereinlassen, unsere Erinnerung zum Schweigen bringen, die Seele gleichsam losmachen und an eine Rose oder irgend etwas anderes denken, und dieses Sinnbild lasse ich in meiner Seele lebendig werden als einzige Vorstellung, der ich mich hingebe. Das ist nicht geeignet, uns gewhnliche, physische Wahrheiten zu berliefern, auf welche die Mehrzahl der heutigen Menschen den meisten Wert legt, wohl aber ist es geeignet, wie ein Keim in unserer Seele zu wirken. Wie ein Pflanzenkeim, der in die Erde gesenkt wird, seine Wurzeln nach allen Seiten sendet, so sendet diese Bildvorstellung ihre verschiedenen Verzweigungen in das ganze Leben unserer Seele hinein, und diese Vorstellung wchst in uns. Allerdings, wenn wir solche intime Seelenbungen machen wollen, mu unser Seelenleben einen festen Halt haben; wir drfen keine trumerischen, phantastischen, konfusen Naturen sein. Wir mssen ganz genau wissen, was wir tun und uns Rechenschaft geben, da wir eine solche Bildvorstellung in unserer Seele haben. 16

  • Versuchen wir uns zum Beispiel drei Flle vorzustellen von solchen Taten, die im Leben bezeichnet werden als Taten des Mitleids, und suchen wir aus dem Vergleich [dieser Taten] uns nicht eine Gesamtvorstellung, sondern eine Gesamtempfindung zu bilden ber das Mitleid; suchen wir jetzt alles zu vergessen, was Taten des Mitleids in unserer Welt sind, und lediglich diesen Impuls in unserer Seele ttig sein zu lassen - dann haben wir eine solche Empfindung, von der wiederum die Wurzeln ausgehen zu einem reichen, vollen Inhalt der Seele. Dadurch kommen wir allmhlich dazu, jenen Moment zu erreichen, der sich vergleichen lt mit dem Einschlummern, und der doch wieder radikal davon verschieden ist. Hinuntersinken mssen die Alltagseindrcke, alle Erlebnisse des Tages, Lust und Leid, Freude und Schmerz, auch alle Gedanken und Ideen des Tages. Derjenige, der ein Geistesforscher werden will, mu imstande sein, dadurch, da er seinen Willen so ausgebildet hat, wie es durch solche rein innerliche Erlebnisse geschieht, auszuschlieen alle ueren Eindrcke und das herzustellen, was die Seele erlebt, wenn der Krper im Zustande der Bewutlosigkeit ist. Dann werden Seelenzustnde geschaffen, in denen ganz andere Bewutseinszustnde vorhanden sind, wo die Seele ganz anders sich zur Auenwelt stellt, wo es fr die Seele wie fr einen Blindgeborenen ist, der bisher keine Farben gesehen hat und dann nach einer Operation Farben und Formen sieht. In diesem hellsichtigen Zustand sieht er etwas anderes als das, was ihn sonst in der physischen Welt umgibt; er empfngt neue Eindrcke, Eindrcke aus der Geisteswelt, die unserer physisch-sinnlichen Welt zugrundeliegt. Dann kommen wir dazu, uns zu sagen: Wenn der Mensch des Abends einschlft, dann ist es nicht so, 17

  • da der gesamte Mensch sich erschpft in dem, was im Bette liegen bleibt, sondern der Wesenskern des Menschen, das Geistig-Seelische, verlt diese uere Hlle, und eben dieser Wesenskern ist es, der im normalen Bewutsein keine Organe hat, der aber durch die vorhin charakterisierten Seelenbungen geistig-seelische Organe erhalten hat, durch die er sich in eine neue Welt versetzt fhlt. Das wirkliche Erleben im Geistig-Seelischen wird dadurch erreicht; eine neue Welt der Beobachtung wird dadurch gegeben, und von diesen elementaren Tatsachen des geistigen Erlebens aus steigen wir dann bis zu den hchsten Tatsachen hinauf. Nun gibt es solche einzelne Menschen, die entsagungsvolle bungen machen, um ihre Seele selber zu einem Werkzeug zu gestalten. Wenn diese dann vor einen kleinen Kreis von Menschen treten, der sich interessiert fr solche Sachen, und ihnen erzhlen, was sie in anderen Bewutseinszustnden erfahren haben, dann glauben diese es. Bei demjenigen, der sich nur oberflchlich bekannt macht mit der Geistesstrmung der Theosophie, ist es durchaus begreiflich, wenn er das glaubt, denn wenn man nur das kennt, was an der Oberflche des Lebens vorhanden ist, ist es auerordentlich schwierig, sich eine Vorstellung zu bilden von der Art, wie diese Geistesstrmung betrieben wird. Daher ist es durchaus begreiflich, wenn sie in den weitesten Kreisen verkannt wird. Das mu betont werden. Begreiflich ist es, da solche Menschen nur den Offenbarungen aus der Geisteswelt glauben, die auf die geschilderte Weise gewonnen sind. Da solche Menschen Phantasten, Trumer, Schwrmer, Sektierer sind, das zu glauben ist etwas ungeheuer Naheliegendes, und man mchte sagen, fr die Mehrzahl der Gebildeten der Gegenwart 18

  • etwas geradezu Selbstverstndliches. Nur verkennt man eine ganz bestimmte Tatsache: Zum Forschen in der Geisteswelt, zum Aufsuchen der geistigen Wahrheiten gehrt die entwickelte Seele, das entwickelte andere Bewutsein. Wenn auch heute noch nur wenige Menschen durch die Entwicklung ihrer Seele, wie ich sie in meinem Buche Wie erlangt man Erkenntnisse der hheren Welten? ausfhrlich geschildert habe, ihre Seele selber zu einem Werkzeug zu machen vermgen, um damit hineinzuschauen in die Geistesweit und dann mitzuteilen, was sie da erfat haben, so gengt dies fr diejenigen, die mit einem gewissen Wahrheitssinn und mit Vorurteilslosigkeit herantreten an die Sache. Zum Forschen, zum Auffinden der Tatsachen gehrt die geschulte Seele des Geistesforschers, zum Ergreifen einer solchen Wahrheit nur eine wirklich unvoreingenommene Logik. Wenn solche Dinge mitgeteilt werden, stimmen sie fr jeden, der nachdenken will, in einem viel hheren Grade mit dem ganzen Leben zusammen als irgendeine andere Philosophie, die etwa heute gegeben wird. Daher ist die Prfung, sozusagen die Untersuchung der Beweiskrftigkeit des vom Geistesforscher Mitgeteilten fr jeden mglich. Nur gengt es nicht, sich so ohne weiteres mit den Ergebnissen bekanntzumachen, denn die Logik und das ganze Begriffssystem der Entwicklung der Seele, um in die hheren Welten hinaufzusteigen, ist subtil und streng. Man kann sagen, es werden an Logik und Begriffsvermgen weit strengere Anforderungen gestellt als in der gewhnlichen Wissenschaft heute auf irgendeinem Gebiet. Aber wenn man nicht im Handumdrehen die Dinge beurteilen will, sondern mit ganzer Seele bestrebt ist, sich einzu- 19

  • gewhnen in die Art dieser neuen Vorstellungswelt, um zu begreifen, was sich ergibt ber die hchsten Fragen des Daseins, dann wirkt dieses Sicheinleben nicht etwa wie Suggestion, sondern die Seele kann es mit vollem Bewutsein verfolgen. Jede Seele kann sich hineinfinden in jene Gebiete, bei denen die hchsten Fragen des menschlichen Daseins, Fragen von Zeit und Ewigkeit, behandelt werden. Hat dieses Verkndigen von Geisteswissenschaft oder Theosophie eine Bedeutung fr die heutige und fr die fortschreitende Menschheitskultur? Diese Frage mu man aufwerfen. Denn es knnte der Einwand gemacht werden, es knne Menschen geben, die sich aus gewissen Sehnschten heraus fr solche Dinge interessieren, aber das seien Eigenbrtler, die lieber in ihren Stuben nachdenken, aber mit den groen Vorgngen in der Menschheitskultur nichts zu tun htten. - Man kann das nicht mehr sagen, wenn man den Gang der Menschheitsentwicklung so mit Verstndnis berblickt, da gerade der Zeitpunkt, in dem wir jetzt leben, seinem Wesen nach vor unsere Seele tritt. Dieser Zeitpunkt, in dem wir leben, hat sich ja herausentwickelt aus dem, was die Menschheit in der Vorzeit durchlebt hat bis in unsere Tage hinein. Und aus der gegenwrtigen Entwicklungstufe werden sich wiederum die Erlebnisse der Menschen der Zukunft herausentwickeln. Blicken wir zurck in die vorzeitliche menschliche Entwicklung, so zeigt sich, da man einem gewaltigen Vorurteil unterliegt, wenn man glaubt, da die ganze menschliche Seelenverfassung, die Art, wie der Mensch denkt, wie er sich Ideen und Begriffe macht ber die Umwelt, die ganzen menschlichen Bewutseinszustnde in allen Zeiten ungefhr die gleichen seien. Davon kann nicht 20

  • die Rede sein. Das Wort Entwicklung wendet man zwar auf die Umgestaltung der ueren Formen an, aber selten auf das, was das menschliche Seelenleben selber ist, und gerade in bezug auf das menschliche Seelenleben ist der Entwicklungsbegriff etwas, was uns tief hinweist auf die wichtigsten Fragen der Menschheit. Da zeigt uns die Untersuchung der Menschenseele durch den Blick des Geistesforschers und die Schlsse, die man daraus ziehen kann, da das menschliche Bewutsein in alten Zeiten der Menschheitsentwicklung, die weit hinter dem historisch Erreichbaren zurckliegen, anders war als heute, da wir sprechen drfen von Zeiten der Menschheitsentwicklung, in denen die menschliche Seele selbst in einer Art hellseherischem Bewutseinszustand gelebt hat, allerdings nicht so, wie es beim heutigen geschulten Geistesforscher ist. Der hellseherische Zustand, der vom geschulten Geistesforscher heute erreicht wird, ist ein solcher, der sich mit vollem Bewutsein abspielt, mit dem vollen, wachen Bei-sich-Sein, das man im normalen Leben auch hat. So war es nicht bei dem alten Hellseher der vorzeitlichen Menschheit. Er hatte ein mehr trumerisches Hellsehen, ein traumhaftes Daseinsbewutsein. Es ist so, da wir sagen drfen: Das, was der Mensch heute in seinen Trumen erlebt, was sich so chaotisch in sein Schlafleben hineinmischt, das ist ein alter atavistischer Rest, eine Art Erbschaft des alten Bewutseinszustandes. Whrend heute Traumvorstellungen in der Mehrzahl nichts besonderes zu besagen haben ber die Realitt der Auenwelt, waren jene alten Bewutseinszustnde Bildvorstellungen, die sich zwar mit unseren Traumvorstellungen vergleichen lassen, aber doch davon sehr verschieden waren. Bild- 21

  • Vorstellungen, die vielfach symbolisch "waren, waren der Inhalt eines alten hellseherischen Bewutseins, das noch nicht durchzogen war von jener Intellektualitt, die wir heute im normalen Tagesbewutsein haben. In der Seele der Menschen der Vorzeit wogten diese Bilder auf und ab. Ein solches Bilderbewutsein hatten die Menschen der Vorzeit nicht etwa immer; es wechselten auch bei ihnen wache Zustnde und Schlafzustnde, aber whrend diese bei uns ineinander bergehen und einen im wesentlichen bedeutungslosen Traumzustand zwischen sich haben, war in den alten Zeiten ein dritter Bewutseinszustand vorhanden, der Zustand eines solchen Bilderbewutseins, in dem nicht unsere sinnlichen Vorstellungen auf- und abwogten in der Seele, sondern Sinnbilder, wie sie ja in abgeschwchtem Zustande hchstens heute noch die Kunst hat. Diese Sinnbilder schwebten mit voller Lebendigkeit in diesen drei Bewutseinszustnden auf und ab, und sie waren nicht etwa so wie unsere Traumvorstellungen, da wir sie nicht beziehen drfen auf eine Realitt, sondern sie waren in deutlicher Weise auf eine Wirklichkeit gerichtet, so da durch sie die uere Wirklichkeit erkannt wurde, wenn auch nur in Sinnbildern. Man erlebte eine Geistesweit, die hinter der Sinneswelt stand. So hatten die Menschen der Vorzeit ein Bilderbewutsein, das ihnen entbehrlich machte unsere heutige Intellektualitt und unsere heutige Weisheit des wachen Bewutsein. Dafr sahen sie in eine Geisteswelt hinein, aber in eine Geisteswelt, anzuschauen in den Bildern eines traumhaften Hellsehens. Man kann nun fragen: Gibt es denn in der ueren Welt gar nichts, das uns einigermaen belegt, was ihr Geistesforscher da seht, wenn ihr zurckschaut in die 22

  • Vorzeit? Gibt es denn gar nichts, was einen Beleg dafr liefern kann, da einstmals die Menschheit hineingeschaut hat in die geistigen Welten? - O, so etwas gibt es! Nur mssen die Menschen dieses Etwas in richtiger Weise deuten lernen. Was ist uns erhalten aus der grauen Vorzeit der Menschheit von Versuchen, in das innere Wesen der Dinge einzudringen? Bei der vorzeitlichen Menschheit suchen wir vergeblich nach einer Wissenschaft, wie wir sie heute haben, aber es sind uns erhalten die Legenden und die Mythen. Nun, der aufgeklrte Mensch der Gegenwart sagt: das entspricht den kindlichen Phantasien der Vormenschheit; jetzt sind wir eingetreten in das Mannesalter der Wissenschaft. - Wer sich aber in die Mythen der verschiedenen Vlker vertieft, der erlebt da etwas ganz anderes als solch ein oberflchlicher Beurteiler, er erlebt da, da diese Bildervorstellungen in wunderbarer Weise berall zusammenhngen [mit dem geistigen Leben der Menschheit]. Und wenn man eindringt in diese Vorstellungen, so erffnen sich uns die Hinweise auf die tiefen Zusammenhnge mit diesem geistigen Leben der Menschheit und ihrer Kultur, und man bekommt immer mehr Respekt, immer mehr Hochachtung fr die wunderbare Ausgestaltung der Bilder in den alten Mythen und Legenden, so groen Respekt, da man sich oftmals sagt: Was sind alle Philosophien der Gegenwart gegenber den wunderbaren Bildern, die uns in den Mythen erhalten sind. Sie stimmen so ber die ganze Erde hin zusammen und sie stimmen so mit dem berein, was der Geistesforscher durch seine Methode in der Geisteswelt finden kann, da wir uns fragen mssen: Ja, woher kommen denn diese alten Vorstellungen, die ber das ganze Erdenrund zu finden sind, woher sind sie? 23

  • Eine wirklich gewissenhafte Forschung findet die Erklrung nur, wenn sie sich sagen kann, da diese Dinge berreste eines alten Hellsehens sind. Und es ist ein durchaus falsches Urteil, unsachlich gefllt, wenn man sagt, die Mythen der alten Vlker seien kindlicher Phantasie entsprossen. Nein, verstehen knnen wir sie nur, wenn wir uns sagen, da haben unsere Vorfahren hineingeschaut mit ihrem hellseherischen Bilderbewutsein [in die Geisteswelt]. Noch um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert hat es zahlreiche Menschen gegeben, die ein Bewutsein davon gehabt haben, da es eine solche bilderhafte Urweisheit gab und da die wunderbaren Geistesstimmen aus den Mythen aus dem grauesten Altertum der verschiedenen Vlker Zeugnis von einer Urweisheit der Menschheit ablegen. Damals war man sich noch klar darber, da die Vlker, die man heute als einzelne Kulturvlker mit dekadenten Vorstellungen anspricht, nur heruntergekommen sind von einem hheren Standpunkt, da aber alles, was die Menschheit heute an Kultur hat, zurckfhrt auf graue Urzeiten, wo noch das Wissen von der Geisteswelt lebendig war, da es Urweisheit war und nicht kindliche Unvernunft, die am Ausgangspunkt der Menschheit steht. Da gab es durchaus ernstzunehmende Forscher, die von dieser Tatsache durchdrungen waren. Fragen wir die groen Philosophen Aristoteles und Plato, fragen wir die anderen Philosophen, die der altgriechischen Kultur angehrten und ihre Philosophien zu uns herbergeschickt haben, so finden wir zahlreiche Stellen, wo diese Philosophen davon sprechen, da alle Wissenschaft zurckfhrt zur Urweisheit, die von den Gttern selber den Menschen berliefert worden ist. Plato spricht 24

  • von Menschen des Kronos-Reiches, die unmittelbar aus der Geisteswelt die Urweisheit bernommen haben. Die Geistesforscher sagen uns nicht blo, da dies so war, sondern auch, warum dieses alte Hellsehen allmhlich verschwunden ist aus der Menschheit, das die Menschen hineingefhrt hatte in die Geisteswelt. Da kommen wir zu dem groen Gesetz, das auch in der Natur zu beobachten ist, das aber im Geistesleben der Menschheit besonders augenfllig ist: da fr die Ausbildung einer bestimmten Kraft zunchst eine andere zurcktreten mu. Diese alten Menschen, die in gewissen Zustnden ihres Bewutseins die Mglichkeit hatten, hineinzuschauen in eine Geisteswelt, die hatten noch nicht unseren heutigen intellektuellen Verstand; sie htten keine Wissenschaft, keine Kultur in unserem heutigen Sinn begrnden knnen. Alles Intellektuelle mute sich erst entwickeln. Entwicklung ist etwas, was uns in bezug auf das Seelenleben zu den tiefsten Fragen fhrt. Unsere Intelligenz, unsere verstandesmige Erfassung der Welt, die Seelenverfassung, die wir heute haben, wo wir total auf unsere Sinne bauen und die sinnliche Wahrnehmung mit dem an das Gehirn gebundenen Verstand kombinieren, alles das, was wir im Alltagsleben uns vorstellen und was wir in der Wissenschaft treiben, das konnte in das allgemeine menschliche Bewutsein nur dadurch hineinkommen, da fr eine Weile das alte Heilsehen zurcktrat, bertnt wurde vom intellektuellen Bewutsein. Das alte hellseherische Bewutsein mute zurcktreten, damit die intellektuelle Kultur innerhalb der Menschheit sich entwickeln konnte. Wer nur ein wenig den Grundcharakter des Mittelalters zu beachten versteht, der wei, da die eigentmliche Erscheinung der Geistesentwick- 25

  • lung des Mittelalters zu erklren ist, wenn man wei, da dieses Mittelalter die Zeit ist, in welcher nach und nach die Mglichkeit des alten Hellsehens verschwindet. Der grte Impuls in der Menschheitsentwicklung, der Christus-Impuls, der einmal die Menschheit zum vollen Hellsehen hinauffhren wird, hatte die Aufgabe, das alte Hellsehen zurcktreten zu lassen. Und so sehen wir, da mit dem Heranbrechen der neuen Zeit sich eine eigenartige Erscheinung zeigt: das alte Hellsehen tritt zurck, nur die berlieferung an jene Wahrheiten, die man durch das alte Hellsehen gewonnen hatte, bleibt. So pflanzten sich im Mittelalter die Wissenszweige fort, welche gewonnen waren auf der Grundlage eines alten Hellsehens, aber man wute das gar nicht mehr, man hatte nur die Ideen begriffen, die in der Urzeit gefunden waren, ja, man wandte sie sogar gegen den Ausgang des Mittelalters ganz falsch an. Ein Beispiel: Aristoteles, der alte griechische Philosoph der vorchristlichen Zeit, stand schon am Wendepunkt zu dem Zeitalter, in dem die intellektuelle Bildung der Menschheit begonnen hatte, aber er sah noch zurck, obwohl fast nur noch in dunkler Ahnung an die Zeit, in der die menschliche Natur nur durch das Hellsehen etwas gewut hat, zurck auf die Vorgnge der menschlichen Begriffsvorstellung und Empfindungen, berhaupt in die menschliche Entstehung, und diese schildert er. Er konnte es nicht mehr sehen, da er nicht mehr dem Zeitalter angehrte, wo man durch das alte Hellsehen einzudringen vermochte in die Geisteswelt, er hatte nur die berlieferung. Da sagte er: Wenn der Mensch in seiner seelischen Ttigkeit, in seinem wachen Zustande ist, dann haben wir es im Menschen zunchst mit dem zu tun, was man physischen Leib nennen kann, und 26

  • dieser hat seine Organe. Aber Aristoteles wre noch durchaus abgeneigt gewesen, in materieller Weise in diesem physischen Leib das einzige zu sehen, was die menschliche Wesenheit ausmacht. Er wies hin auf ein nchsthheres Glied, das seinen Mittelpunkt da habe, wo etwa das menschliche Herz ist, und von diesem bersinnlichen Glied gehen gewisse Strmungen aus, die besonders zum Gehirn hinaufgehen und sich als bersinnliche Strmungen im Menschenleibe verbreiten. Diese Strmungen wurden noch im Mittelalter kaltes Licht genannt, das namentlich in das Gehirn hinein sich ergiee, um da die physischen Organe des Gehirns zu beleben. Noch im Mittelalter sprachen die Menschen von diesem kalten Licht, das sich von da ausbreitet, wo das physische Herz liegt. Aristoteles kann man nur verstehen, wenn man wei, da das, was er vom Herzen ausgehen lt, bersinnlich gemeint ist, da er nicht physische Strnge, Organe oder dergleichen meint. Nun kam das Mittelalter. Die Leute verloren das Verstndnis fr das Hineinschauen in die alte Welt. Sie lasen Aristoteles, und das ganze Mittelalter hindurch war der Glaube an Aristoteles wie ein Glaube an die Bibel. Aristoteles war die Grundlage fr die Naturwissenschaft, fr die Medizin, fr alles. Alles wurde auf die Grundlagen des Aristoteles aufgebaut. Aber der Mensch hatte keine Vorstellung mehr von dem, was eigentlich Aristoteles meinte. So konnte eine eigenartige Vorstellung sich gerade bei den Aristoteles-Glubigsten entwickeln, bei denen, die wacker an ihn glaubten, aber ihn nicht mehr verstanden. Denn bekanntlich ist es ja nicht notwendig, da alles verstanden wird, woran man glaubt. Es konnten sich Vorstellungen entwickeln, da mit dem, was 27

  • vom Herzen ausgeht, nicht bersinnliche Strmungen, sondern sinnliche Strnge gemeint seien. Und so glaubten die Aristoteles-Glubigen, vom Herzen gingen die Nerven aus. Nun kamen am Ausgang des Mittelalters die groen Forscher und Denker, ein Giordano Bruno, ein Galilei, die auf der Grundlage der neugestalteten Weltanschauung des Kopernikus ein neues Weltbild entwarfen. Die Aristoteles-Glubigen waren aber nicht geneigt, dieses neue Weltbild einfach anzunehmen. Galilei und Giordano Bruno wiesen hinaus in die wirkliche Welt der Sinne, weil jetzt die Zeit begann, in welcher die Menschen ihr Wissen durch Sinnesbeobachtung und Intellekt entwickeln sollten. Da ist es vorgekommen, da Galilei einen Freund, der ein guter Aristoteles-Glubiger war, vor eine Leiche fhrte und ihm zeigte, wie die Nerven nicht vom Herzen ausgehen, sondern vom Gehirn. Der schaute sich das an und sagte: Ja, es sieht fast so aus, als ob die Nerven vom Gehirn ausgingen, aber bei Aristoteles steht es anders, und wenn ein Widerspruch besteht, dann glaube ich dem Aristoteles! - Diese Antwort hat Galilei erhalten. Diese Zeit war reif, das abzutun, was aus dem alten Hellsehen noch als berlieferung herbergekommen war, denn es war vllig dem Miverstehen verfallen. Damals gab es einen besonderen Aufschwung der intellektuellen Bildung, die wir insbesondere gerade bei Galilei so gro und gewaltig hervortreten sehen. Einen groen Teil der physikalischen Begriffe, mit denen wir heute arbeiten, fhren zurck auf die Denkweise Galileis. Sein materielles, mechanisches Denken war unmittelbar auf die uere Sinneswelt gerichtet und auf ihre Erfassung mit dem Verstande. Die Morgenrte fr das 28

  • Zeitalter der Intelligenz war auch auf wissenschaftlichem Gebiet angebrochen, und wir knnen nun von jener Zeit an bis in unsere Tage hinein immer wieder beobachten, wie sich der Mensch dieses Gebiet des menschlichen Seelenlebens erobern will, dessen wichtigster Teil die intellektuelle Eroberung der ueren Wirklichkeit durch den Verstand war. Ein besonders drastischer Ausdruck, wie man im Mittelalter sozusagen nur mehr imstande war, materiell zu denken, aber noch die alte berlieferung hatte, bietet sich uns in folgendem. Keinem der alten hellseherischen Weisen wre es eingefallen zu sagen, die Geisteswelt sei oben, da sei ein blaues Himmeszelt, das schliee unsere Welt ein. So haben die alten Hellseher nicht gedacht, so wurden sie erst miverstanden in der spteren Zeit. Da wies man hinauf auf den Fixsternhimmel als eine Art Schale, die unsere Welt umgibt. Es war ein groer Augenblick, als Kopernikus den Menschen die Erde gleichsam unter den Fen wegzog. Ein groer Augenblick war es, als Giordano Bruno diese Schale in die Unendlichkeit des physischen Raumes hinaus verwies. Aber Giordano Bruno setzte neben das sinnliche Bild noch etwas anderes. Wir brauchen uns nur ein paar Worte des Giordano Bruno vor die Seele zu rufen und wir werden sehen, da er die groe Tat vollbrachte, neben dieses sinnliche Bild ein geistiges Bild hinzustellen. Er sprach aus, da alles, was uns umgibt in der sinnlichen Welt, wurzelt in den Gedanken des Geistes der Welt, und das, was in den Gedanken des Geistes der Welt wurzelt, das offenbart sich in der ueren Form, in dem, was wir mit den Sinnen anschauen. Wenn also Giordano Bruno in den unendlichen Weltenraum hinausweist und das Wesen 29

  • der Dinge sinnenfllig aufsucht, so war dies fr ihn doch nichts anderes als die Verleiblichung der Gedanken des Weltengeistes. Die Vorstellungen des Menschen nennt Giordano Bruno Schatten der Gttergedanken, nicht etwa Schatten der ueren Dinge. Wenn also Giordano Bruno den physischen Blick auf die uere Welt richtet, dann geht geheimnisvoll in seine Seele ein der Gedanke des Weltengeistes, und die menschlichen Begriffe sind nicht Schatten der ueren sinnlichen Dinge, sondern der Gedanken des Weltengeistes. Das ist von unendlicher Wichtigkeit, da wir in Giordano Bruno einen groen Geist vor uns haben, welcher hinausweist in die Raumesfernen, aber ebenso krftig auf das, was die menschliche Seele verbindet mit dem Urgeist des Weltendaseins. Prfen wir, was dem zugrundeliegt in der Seele des Giordano Bruno, so tritt deutlich hervor, da ihm eine Intelligenz, eine Gesinnung zugrundehegt, die sich durchaus schon vergleichen lt mit der Intelligenz und der Gesinnung der heutigen Wissenschaft, die aber noch befruchtet war von den berlieferungen des alten Hellsehens. Man darf sagen, ein Schatten selbst des alten Hellsehens und des Sich-verwandt-Fhlens mit der gttlich-geistigen Welt lebte noch in der Seele des Giordano Bruno. Aber es blieb uns blo das Bild, das er von der ueren sinnlichen Welt entwarf, und nicht mehr, was in ihm damals noch lebendig war. Das Bild des alten Hellsehens, das in ihm lebte, verschwand. Man braucht die Entwicklung blo vorurteilslos bis in unsere Gegenwart hinein zu verfolgen, dann wird man sehen, da immer mehr und mehr der bloe Intellekt, dieses blo uere Anschauen der sinnlichen Welt Verbreitung gefunden hat im allgemeinen normalen Bewutsein der Menschheit. 30

  • Was ist von unserem Zeitalter deshalb zu sagen? Da ist zu sagen, da wir so recht im Zeitalter des Intellekts, des Verstandes und dessen Anwendung auf die Sinneswelt leben. Nun mu man im Sinne der Geisteswissenschaft die eigenartige Wirkung des Intellekts selber untersuchen, der bloen Vernunfterkenntnis der menschlichen Seele gegenber der hellseherischen Erkenntnis. Diese unterscheidet sich wesentlich von einer Erkenntnis aus Intellekt oder sinnlicher Beobachtung. Der Unterschied besteht darin, da alle hellseherische Erkenntnis, die irgendwie die Verbindung des Menschen mit der Geisteswelt herstellt, hineinwirkt in unser Gemt, und da sich daraus ein Gefhl, eine Empfindung ergibt von der Stellung und Lage des Menschen im gesamten Weltall. Kraftvoll ist die hellseherische Erkenntnis, sie giet hinein in unsere Seele Empfindung und Gefhl, sie befriedigt unsere Sehnschte, strkt unsere Hoffnung, entzndet unsere Liebe. Es ist undenkbar, da der Mensch an der bersinnlichen Erkenntnis teil hat, ohne da sie sich umsetzt in Gefhl und Empfindung. Daher sehen wir, wie die bildhaften Legenden und Mythen in den Vorstellungen der Alten nicht gleichgltig aufgenommen wurden, sondern so, da die ganze Seele entweder entzckt sein konnte und hingegeben an eine bersinnliche Welt oder aber zerknirscht ber ihre eigene Kleinheit. Das gehrt auch zum Wesen der Intelligenz, da sie in gewisser Weise verdunkelnd wirkt auf all das, was als bersinnliche Erkenntnis da ist. Wir knnen das in unserem gewhnlichen Seelenleben beobachten. In dem Augenblick, wo irgendeine bildhafte Vorstellung, die, wie man sagt, intuitiv oder auf dem Wege der Inspiration auftaucht, eingefat wird in abstrakte Begriffe, verschwindet der tiefe Empfindungsgehalt, den sie fr 31

  • die gesamte Persnlichkeit und das gesamte Seelenleben gibt. Intellekt ist in hohem Grade verstndnisbringend, aber auslschend fr alle unmittelbare seelische Wirkung der bersinnlichen Erkenntnis. Ich fhre Ihnen nichts Ausgedachtes an, nichts, was Sie nicht in zahlreichen Bchern lesen knnen. Da weisen die Vertreter der Intelligenz hin auf Buddha, auf Christus, auf Zarathustra, auf Pythagoras und so weiter und sagen: Da steht die menschliche Seele der groen Welt gegenber, sie erfat in verschiedener Weise die Welt. Das Hineinreichen der bersinnlichen Erkenntnis in die Seele war verbunden mit starkem Mut zum Dasein, der aus der Seele heraus bewirkt hat das Bewutsein unseres Zusammenhanges mit dem Geistigen der Welt. Die Intelligenz fhrt zwar an der Oberflche der Dinge zum Verstndnis, ist aber nicht geeignet, ein Gefhl des inneren, seelischen Mutes hervorzurufen. So sehen wir Mutlosigkeit, Kraftlosigkeit gegenber dem Eindringen der Erkenntnis als ein Charakteristikum unserer Zeit. Unsere Zeit lobt und hebt dasjenige hervor, was die Wissenschaft leisten kann. Das tut sie mit Recht. Aber berall, wo die Leute glauben, tiefer zu denken, da sagen sie, dort hinein, wo das Warum der Dinge spricht, kommt der Mensch nicht. Weder Pythagoras, noch Christus, noch Zarathustra htten irgend etwas zu sagen gewut von diesem Warum. Dies beweise doch zur Genge, da anstelle der alten Erkenntnis und Zuversicht getreten ist eine Erkenntnis der Mutlosigkeit. Es gibt fr das menschliche Gefhl im Grunde zwei Formen der Resignation. Der alte Hellseher konnte sagen: So wie in meinen Verhltnissen, in meinem Zeitalter die menschlichen Fhigkeiten sich entwickelt haben, so reichen sie noch nicht dahin, in die Urgrnde 32

  • der Dinge hineinzusehen - man mu resignieren. - Das war eine andere Resignation als die, die wir heute rinden. Warum resigniert der alte Hellseher? Weil er sieht: So wie ich dastehe, bin ich noch nicht geeignet, zu Erkenntnissen zu kommen. - Er resigniert aus Bescheidenheit, aus dem Bewutsein, da in ihm zwar die hchsten Krfte sind, da er sie aber vermge seiner Unvollkommenheit nicht zu entfalten vermag. Das ist eine heldenhafte Resignation, voller Zuversicht, das ist der Mensch, dem die Pforten der Weltrtsel nicht verschlossen sind. Heute hingegen wird gesagt: Der Mensch kann berhaupt nicht eindringen [in die Erkenntnis hherer Welten]; so wie er beschaffen ist, kann sein Erkenntnisvermgen niemals so hoch entwickelt werden. - Das ist eine prinzipielle Resignation - sie unterscheidet sich ganz wesentlich von der heroischen Resignation -, sie hat etwas Hochmtiges, indem sie den jeweiligen Erkenntnisstandpunkt fr absolut erklrt. Was dieser nicht erkennen kann, liegt berhaupt auerhalb der menschlichen Erkenntnis. Das Zeitalter der Intelligenz wird von anderen Empfindungen erfllt, Empfindungen negativer Art, weil es selber nicht produktiv sein kann, im Gegensatz zu den Zeiten des alten Hellsehens. Dahin mute die Menschheit kommen, wenn sie alle alten Vorstellungen, auch jene des Glaubens verlieren sollte, und dazu bedurfte es dieser Kultur der Intelligenz. Das innere Leben wrde aber verden, wenn nur die Intelligenz berufen sein sollte, in das innere Leben des Menschen hineinzuleuchten. Daher tritt in der Gegenwart die Geisteswissenschaft oder Theosophie auf und zeigt, da es wieder mglich ist, aus den Tiefen der menschlichen Seele Krfte her- 33

  • vorzuholen, die die Intelligenz durchdringen mit einer hheren Erkenntniskraft, welche die Menschen wiederum in die geistigen Welten hineinfhren wird. So will die neue hellseherische Erkenntnis ein Anreiz sein und eine Hilfe fr die intellektuelle Erkenntnis, und sie gibt der Menschheit wieder das, was sie braucht, um nicht blo das Licht der Intelligenz zu besitzen, das die Seele leer lt, sondern sie gibt ihr die Mglichkeit, eine solche Erkenntnis zu besitzen, die wieder Kraft und Zuversicht und Hoffnung in unser Leben bringt. Zahlreiche Menschen lechzen danach, eine solche Erkenntnis zu erlangen, die sich in Mut und Kraft umsetzen lt in unserer Seele. Wer den ganzen Geist der neuen Entwicklung von der Morgenrte des intellektuellen Zeitalters bis zu ihrem heutigen Hhepunkt begreift, der wird auch erfassen, da fr die Zukunft der Menschheit die Erfllung der Seele mit einem Inhalt notwendig ist. Denn Intelligenz allein wrde die Seele auslschen knnen, aber nicht dazu fhren, einen neuen seelischen Inhalt zu liefern. Die alten Vorstellungen werden von den fortgeschrittenen Kreisen der Gegenwart kritisiert oder hchstens als Geschichte registriert. Man taucht sozusagen zurck, um die alten Vorstellungen zu registrieren. Geisteswissenschaft wird aber, trotzdem sie echte Wissenschaft ist, immer eine solche Wissenschaft sein, die in unsere Seele das Gefhl der Kraft giet fr den Zusammenhang mit den geistigen Welten. Sie will einen Seeleninhalt geben und mit Seeleninhalt die Menschenseelen befruchten. Damit weist die Geisteswissenschaft auf ihre Mission in der Zukunft hin. Sie ist eine solche Wissenschaft, welche wieder Empfindung und Gefhl auf die natrlichste Weise der Weh gewhren wird. Intelligenz wird zwar die Brcke bauen von den alten Zeiten zu den Zei- 34

  • ten der Zukunft, aber die Mission der Geisteswissenschaft ist es, diese Intelligenz zu durchdringen mit dem lebendigen Wert des geistigen Lebens als Nahrung fr die Seele. Weil in unserer Zeit die Intelligenz in gewissem Grade ihre grte Entwicklung erreicht hat, so ist gerade dieser Zeitpunkt erkoren worden von denen, die den Geist der Zeit zu deuten wissen, um den Versuch zu machen, durch die Geisteswissenschaft einzugreifen, um nach und nach [wieder lebendige Seeleninhalte fr] die Seele zu erobern. So stellt sich die Geisteswissenschaft nicht als etwas Willkrliches oder etwas beliebig Ersonnenes in unser Zeitalter hinein, sondern als etwas, was den eigentlichen Sinn, die tiefsten Aufgaben und Rtsel unseres Zeitalters kennenzulernen versucht. Und wenn die menschliche Seele in voller Vorurteilslosigkeit diese Geisteswissenschaft auf sich wirken lt, dann wird sie empfinden, da diese Geisteswissenschaft in bezug auf Logik und Intellekt jeder ueren Wissenschaft gewachsen ist, da sie aber die Logik in einer solchen Weise aufbaut, da sie als Kraft der Liebe, des Mitleids, der Lebenssicherheit in unsere Seele einzieht. Und es wird eine jegliche Seele den hohen Sinn der Geisteswissenschaft fhlen und verstehen, deren Kern wir zusammenfassen wollen in den Worten: Es sprechen zu den Menschensinnen Die Dinge in den Raumesweiten Sie wandeln sich im Zeitenlauf Erkennend lebt die Menschenseele Von Raumesweiten unbegrenzt Und unbeirrt vom Zeitenlauf Im Reich der Geistes-Ewigkeit. 35

  • WIE WIDERLEGT MAN THEOSOPHIE? Prag, 19. Mrz 1911 Sehr verehrte Anwesende! Vielleicht hat der Titel des heutigen Vortrages manchem eine berraschung gebracht, da es doch sonderbar scheinen knnte, da fr die diesmalige Einladung unserer Prager Freunde als erstes Vortragsthema von mir die Frage gewhlt worden ist: Wie widerlegt man Theosophie? - Dennoch scheint es mir, da es eine gute Einleitung sein kann fr das Begreifen und das Sichhineinfinden in die theosophische oder geisteswissenschaftliche Weltanschauung, auch einmal gerade ber dieses Thema seine Gedanken schweifen zu lassen. Wenn Theosophie oder Geisteswissenschaft das Herz einer groen Anzahl unserer Zeitgenossen gewinnen will, so ist es fr sie von ganz besonderer Notwendigkeit, da sie nicht nur eine Weltanschauung, eine Lebensauffassung werde, sondern da von dieser Weltanschauung und Lebensauffassung ausgehend Lebensimpulse sich ergeben, Impulse, die uns Kraft, Sicherheit und Hoffnung fr das Leben geben, Impulse aber auch, welche die innere Harmonie unserer Seele frdern. Nun gibt es fr eine Weltanschauung nichts Gefhrlicheres und nichts, was fr das Leben sozusagen weniger geeignete Impulse geben knnte, als alles das, was man mit dem Worte Fanatismus bezeichnet. Und wie macht sich Fanatismus nicht nur auf den brigen Gebieten des Lebens, sondern gerade auf den Gebieten der verschiedenen Weltanschauungen geltend - das wei ja ein jeder. 36

  • Soll Theosophie oder Geisteswissenschaft gerade nach dieser Richtung hin einen Impuls geben, so ist es fr sie von einer ganz besonderen Notwendigkeit, da sie lerne, als Weltanschauung vllig unfanatisch zu sein, das heit, in ihre Lebensfhrung alles hineintragen zu knnen, was man nennen mag: volles Verstndnis fr ihre Gegner und volles Entgegenkommen fr die mglichen Einwnde der Gegner. Wie hren wir es doch auf den brigen Gebieten des Lebens und der Weltanschauungen so leicht, da man einfach den Gegner abtut als einen unlogischen, vielleicht sogar als einen mehr oder weniger schlechten Menschen. Theosophie oder Geisteswissenschaft sollte sich darauf einlassen, den Gegner und namentlich seine Grnde voll zu verstehen. Sie selbst hat ja dazu, man darf sagen, allen Grund. Denn so sehr sie auch zunchst zu manchen Herzen spricht, so sehr sie manche Sehnschte des Lebens befriedigen kann, so mu man auf der anderen Seite doch sagen: Der Weg in die Tiefen, um die Beweiskraft ihrer Behauptungen und ihrer Lehren zu erkennen, dieser Weg ist ein recht weiter. Die Schwierigkeiten, welche sich dem entgegentrmen, der aus dem heutigen zeitgenssischen Leben heraus in ehrlicher, gewissenhafter Weise den Weg in die Theosophie hinein finden will, sind gerade die denkbar grten. Daher darf der Vortrag, den ich am 25. Mrz hier halten werde und der dann in positiver Weise hineinfhren soll in den Grundnerv der Theosophie, eingeleitet und vorbereitet werden durch eine Betrachtung der mglichen und, man darf sagen, der bis zu einem gewissen Grade in unserer Zeit berechtigten Einwnde. Um aber ber solche Einwnde sprechen zu knnen, mssen wir uns erst verstndigen, was Theosophie sein 37

  • will, namentlich was hier als Theosophie gemeint ist. Denn sicher ist es ja, da keineswegs mit allem, was sich als theosophische Literatur in der Welt ausgibt, immer Staat zu machen ist. Hier soll vor allen Dingen von Theosophie insofern gesprochen werden, als sie Anspruch darauf machen will, wissenschaftlich ernst genommen zu werden. Was ist nun Theosophie, wenn wir absehen von allem, was sich in dilettantischer Weise an ihre Fersen heftet? Theosophie will eine Weltanschauung sein, die hinauffhrt in die geistige Welt, sie will eine wissenschaftliche Begrndung jener Anschauung geben, die da sagt: Hinter alledem, was unsere Sinne uns ber die Auenwelt sagen, was unser an das Gehirn gebundener Verstand ber die Auenwelt erkennen kann, hinter alledem liegt eine hhere, eine geistige Welt, und in dieser geistigen Welt liegen erst die Grnde fr alles, was in der Sinneswelt, was in der Verstandeswelt vor sich geht. Damit allerdings wrden wir uns als Theosophen nicht sehr unterscheiden von manchen Bekennern dieser oder jener anderen Weltanschauung der Gegenwart. Denn es wird ja heute nachgerade in immer weiteren Kreisen auch der ueren Wissenschaft zu einer berzeugung, da hinter allem, was diese uere Wissenschaft selbst erforschen kann, was Welt des Verstandes ist, etwas anderes sich verbirgt, das zunchst ein Unbekanntes ist. Wesentlich fr die Theosophie oder Geisteswissenschaft ist nun nicht nur die Anerkennung, da hinter einem Sinnlichen ein bersinnliches, hinter allem Physischen ein Geistiges steht, sondern das Wesentliche ist, da dem Menschen bis zu einem gewissen Grade erkennbar ist und in immer hherem 38

  • und hherem Grade erkennbar wird - wenn er seine eigene Seele dazu geeignet macht -, was es hinter der physischen Welt gibt. Und nicht mit denjenigen kann Theosophie oder Geisteswissenschaft bereinstimmen, welche da sagen: Es gibt Grenzen der menschlichen Erkenntnis. - Wir mssen uns allerdings als Menschen auf das beschrnken, was die Sinne erkennen, was methodische Wissenschaft erforschen kann. Aber wir knnen voraussetzen, da diese Grenzen der menschlichen Erkenntnis immer mehr und mehr zu erweitern sind, so da der Mensch durch die Entwicklung seiner Erkenntniskrfte sich hinaufarbeiten kann zu der Erkenntnis von Welten, die anders sind als die Welt, in der er zunchst mit seinem normalen Bewutsein steht. Von diesem Gesichtspunkte aus ist Theosophie untrennbar von der Voraussetzung, da der Mensch in einer gewissen Weise fhig ist, das zu entwickeln, was - nennen wir es mit dem Goetheschen Wort: geistige Sinne, Geistesaugen, Geistesohren sind. Es ist fr den Menschen also mglich, da er hhere Organe entwickelt, allerdings nicht physische hhere Organe, sondern geistig-seelische hhere Organe, so da fr ihn in einem gewissen Zeitpunkt der groe, gewaltige Augenblick eintritt, der auf einer hheren Stufe zu vergleichen ist mit dem gewhnlichen Augenblick, welchen derjenige erleben kann, der als Blinder geboren ist und dann das Glck hat, durch eine Operation der Augen sehend zu werden. Whrend er vorher Dunkelheit, Farblosigkeit um sich herum hatte, mischt sich nun durch das ffnen des Sehvermgens in die Finsternis hinein die Welt der bunten Farben. Wie bei dem Blindgeborenen ein solches Aufwachen in einer fr ihn hheren oder wenigstens anderen Welt eintritt, so ist es fr eine jede Seele mg- 39

  • lieh, den Moment des Aufwachens in einer anderen Welt zu erleben, das heit, anders zu sehen als in der Welt, in der zunchst das normale Bewutsein lebt. In keinem anderen Sinne ist die Welt durch die Theosophie als eine andere, als eine hhere, bersinnliche anzusehen, als in dem eben charakterisierten Sinne. Dann aber zeigt die Theosophie natrlich auch, worin die Mittel liegen, um einen solchen Moment des Aufwachens fr den Menschen herbeizufhren. Von diesen Mitteln soll im nchsten Vortrage besonders gesprochen werden. Heute handelt es sich nur darum, eine Skizze der theosophischen Weltanschauung zu entwerfen. Fassen wir, um uns zu verstndigen, wie es eigentlich mit diesem Moment des Aufwachens bestellt ist, einen Moment ins Auge, den jeder Mensch an jedem Tage erlebt, den Moment des Einschlafens, wo der Mensch alles, was uere Eindrcke auf seine Sinne macht, gleichsam erlschen sieht, und wo der Verstand, der sich wie ein Netz ausbreitet ber die Wahrnehmungen der Sinne, aufhrt zu funktionieren. Wir knnen sagen, in einem solchen Falle ist der Mensch in einer ganz anderen Seinslage; er befindet sich dann in der Unmglichkeit, irgend etwas um sich herum wahrzunehmen, wenn die Eindrcke der Sinneswelt und die Arbeit des Verstandes aufhren. Nun kann natrlich nur die wirkliche Erfahrung darber entscheiden, ob es unbedingt ntig ist, da der Mensch immer dann, wenn er keine Eindrcke der Sinneswelt erhlt, in einen Zustand verfallen mu, der dem Schlaf hnlich ist, oder ob es auch einen anderen Zustand geben kann. Das kann nur die Erfahrung derjenigen entscheiden, welche die intime Arbeit der Seele durchgemacht haben, die 40

  • sie dazu gefhrt hat, solche starken Seelenimpulse zu entwickeln, da etwas fr sie eintreten kann, was hnlich ist dem Moment des Einschlafens und doch wieder radikal davon verschieden. hnlich ist es dem Einschlafen darin, da alle ueren Sinneseindrcke und alle Verstandesarbeit aufhren. Verschieden davon ist es dadurch, da derjenige, der Geistesforscher werden will, seine Seele durch bungen in eine solche innere Regsamkeit bringt und aus ihrer Tiefe solche Krfte heraufholt, da er dann, wenn er selber willkrlich das Aufhren aller ueren Sinneseindrcke und aller Verstandesttigkeit herbeifhrt, nicht Bewutlosigkeit als Horizont um sich herum hat, sondern auch dann ein inneres bewutes Leben fhrt. Dieses innere bewute Leben ist ein Sichorientieren der Seele, ein Heraufholen von Fhigkeiten und Krften aus den Tiefen der Seele, wovon das normale Bewutsein keine Ahnung hat. Es lt sich das vergleichen mit dem Heraufholen des Sehvermgens bei dem Blindgeborenen, wenn er operiert worden ist. Aus den Tiefen der Seele knnen wir Krfte heraufholen, die dann wirken, wenn sonst Bewutlosigkeit eintreten mte, und die nun so wirken, da sie die Seele in Verbindung bringen mit einer geistigen Welt, die fr den Menschen ebenso wahrhaft vorhanden ist, wie unsere Sinneswelt uerlich vorhanden ist. So ist das, was den Geistesforscher zu seiner Wissenschaft fhrt, zunchst allerdings etwas Subjektives, etwas, was sozusagen aus der eigenen Seele hervorgerufen wird, dennoch aber ergeben die Beobachtungen derer, die ihre Seele zu einem solchen Aufwachen gebracht haben, bereinstimmende Resultate. Zunchst wollen wir nur das beschreiben, was sich auf den Menschen bezieht, wie er unmittelbar vor uns steht. 41

  • Der Mensch, so wie er vor uns steht, erscheint dem unmittelbaren Bewutsein zunchst als physischer Leib, mit alledem, was man von ihm mit Hnden greifen, mit den Augen sehen kann. Die Theosophie aber zeigt uns, da sich des Menschen Wesenhaftigkeit nicht erschpft in dem, was wir durch die Sinne wahrnehmen, sondern da das, was wir als physischen Leib bezeichnen, eingebettet ist in bersinnliche, hhere Glieder der Menschennatur, die nur auf dem eben gekennzeichneten Wege zu erforschen sind. Da sprechen wir dann davon, da alles das, was am Menschen die Lebenserscheinungen hervorruft, von einem besonderen bersinnlichen Ghede des Menschen herrhrt, von dem sogenannten therleib oder Lebensleib. Von diesem therleib sprechen wir so, da er vor das geistige Auge treten kann, wie die Farbe vor das physische Auge tritt, da er eine uerliche, allerdings nur bersinnlich wahrnehmbare, geistige Realitt ist. Wir sprechen weiter davon, da auer diesem therleibe ein weiteres bersinnliches Glied der Menschennatur vorhanden ist - stoen Sie sich nicht an dem Namen, er soll nur ein terminus technicus sein -, der astralische Leib. Wir nennen Astralleib den bersinnlich erkennbaren Trger dessen, was wir sonst nur in unserem Innern erleben als unsere Leidenschaften, als Lust und Leid, als Schmerzen und Freuden, aber auch als das ganze auf-und abwogende Vorstellungsleben. Wir unterscheiden dann neben dem therleib und dem Astralleib noch ein nchstes bersinnliches Glied der Menschennatur; denn wie der Mensch einen physischen Leib gemeinsam hat mit der ganzen mineralischen Welt, so hat er den therleib gemeinsam mit der ganzen lebendigen, und den Astralleib mit der ganzen tierischen Welt. Aber der 42

  • Mensch hat fr sich noch ein viertes Glied, wodurch er die Krone der Erdenschpfung ist, das wir bezeichnen als den Ich-Leib oder die Ich-Wesenheit, die wir nicht antreffen bei den anderen irdischen Wesen. So sagt die Theosophie, da wir den Menschen erst vllig verstehen, wenn wir uns ihn zusammengefgt denken aus diesen vier Gliedern der menschlichen Wesenheit. Weiter zeigt sie, da beim Menschen, wenn er in Schlaf versinkt, eine Spaltung seiner Glieder stattfindet, indem im Bette liegenbleiben der physische Leib und der therleib, und sich von diesen trennen und in eine hhere Welt aufsteigen der astralische Leib und das Ich. Solange der astralische Leib und das Ich vom physischen und therleib getrennt sind, ist der Mensch so organisiert, da der Bewutseinshorizont dunkel bleibt. Daher die Bewutlosigkeit des Schlafes. Wir sprechen in der Geisteswissenschaft davon, da dem zeitlichen Verfall nur der Teil der menschlichen Wesenheit unterliegt, welcher nach den sinnlicheren Gliedern hingeneigt ist, das heit der physische Leib und das Dichtere des therleibes, da es dagegen einen menschlichen Wesenskern gibt, der aus dem Ich und dem Astralleib und einem Teil des therleibes besteht; dieser Wesenskern wirft mit dem Tode die uere Hlle des physischen Leibes und einen Teil des therleibes ab und macht in der geistigen Welt ein Leben unter anderen Bedingungen durch. Ferner sprechen wir in der Theosophie davon, da das Leben des Menschen nicht nur zwischen der Geburt und dem Tode verluft, sondern da der geistige Wesenskern des Menschen wiederholte Erdenleben in einem physischen Leibe durchluft, indem die Krfte, die der menschlichen Wesenheit angehren, von dem 43

  • einen Leben in das andere hinberreichen. Alles, was wir in unserem Leben zwischen Geburt und Tod an Erfahrungen dadurch in uns aufnehmen, da wir lernen, alles, was wir uns erarbeiten, alles, was wir dadurch vollbringen, da wir Schuld oder Verdienst auf unsere Seele laden, das alles bildet Krfte in unserem inneren Seelenleben; es lscht nicht aus, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes geht, sondern es bleibt vereinigt mit dem menschlichen Wesenskern. Und nachdem der menschliche Wesenskern diese Krfte in einem geistigen Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt verarbeitet hat, wird ein neues Dasein fr den Menschen leiblich und dem Schicksale nach aufgebaut, so da wir in dem Leben, welches wir jetzt fhren, die Ergebnisse und Wirkungen unserer frheren Leben innerhalb des Erdenseins zu sehen haben. Wir haben uns durch unseren Wesenskern unseren physischen Leib so zurechtgezimmert, da er jetzt diese oder jene Fhigkeit hat, dieses oder jenes verrichten kann. Dieses Gesetz, das uns an diesen oder jenen Ort, in diese oder jene Verhltnisse hineinstellt, das unser Schicksal nach den frheren Leben gestaltet, dieses Gesetz von Ursache und Wirkung, das von einem Leben hinberreicht in das nchste Leben, das nennen wir in der Geisteswissenschaft mit einem aus der orientalischen Literatur bernommenen Namen - weil wir keinen guten Ausdruck in der abendlndischen Literatur dafr haben - das Karmagesetz. Mit einem dem normalen Bewutsein allerdings zunchst nicht bekannten Wesenskern haben wir uns unser Schicksal selber zubereitet. Wir sprechen also davon, da der Mensch in den aufeinanderfolgenden Erdenleben durchmacht, man knnte sagen die Kette eines ber 44

  • das Zeitliche hinberreichenden und die Ewigkeit des Menschen beweisenden Lebens. Damit habe ich heute allerdings ganz abgesehen von jeglichen Beweisen fr diese Dinge und habe nur skizzenhaft die Erkenntnisse angefhrt, die die elementarste Stufe der theosophischen Weltanschauung bilden. Was an Belegen, an Beweisen fr Reinkarnation und Karma beizubringen ist, soll im nchsten Vortrage behandelt werden. Heute soll nur darauf hingewiesen werden, da der Mensch der Gegenwart, besonders wenn er eine gute wissenschaftliche Bildung hat, es recht schwierig hat, schon zu den eben charakterisierten Wahrheiten der Theosophie den Zugang zu gewinnen. Nun wollen wir einige der mglichen ernstzunehmenden Einwnde besprechen, die fr alle diejenigen Menschen bestehen knnen, welche sich ihre Weltanschauung und ihre Lebensauffassung nur herausgebildet haben aus den Begriffen und Vorstellungen der Gegenwart. Fr diese Menschen ist es zunchst auerordentlich schwierig, berhaupt in den Gedanken sich hineinzufinden, da die menschliche Seele durch bungen zu der Mglichkeit der Erringung geistiger Sinne, wenn man dieses widersprchliche Wort gebrauchen darf, heraufgefhrt werden knne. Nehmen wir an, eines Menschen Seele habe innere bungen durchgemacht, habe versucht, die Willenskrfte so zu trainieren, da sie imstande wird, auch dann etwas vorzustellen, "wenn keine ueren Eindrcke da sind; sie habe es in der Verinnerlichung so weit gebracht, da sie in dem Glauben lebt, auch wenn sie nichts durch Augen und Ohren wahrnimmt, doch etwas zu sehen und zu hren. Welcher Grund liegt dann vor - so knnte jemand sagen - dies berhaupt 45

  • als etwas Berechtigtes gelten zu lassen? - Man braucht gar nichts dagegen einzuwenden, da ein Mensch durch gewisse innere bungen zu solchen inneren Erlebnissen der Seele kommen kann, die eine gewisse Lebendigkeit, vielleicht sogar eine hhere Lebendigkeit haben als die ueren Sinneseindrcke und als alles, was der Verstand erreichen kann. Aber - so knnte ein Gegner sagen - kennt man nicht auch alles das, was man Illusionen, Halluzinationen nennt? Kennt man nicht auch Selbsttuschungen der Seele? Schwren nicht diejenigen, welche solchen Selbsttuschungen der Seele unterliegen und bei denen man von nichts anderem als von Seelenerkrankungen sprechen kann, da sie alles, was sie hren, als wirkliche Stimmen hren und das, was sie schauen, als Wirklichkeit sehen? Welcher Grund liegt vor, da die Schauungen, die Visionen desjenigen, der knstlich durch Seelenbungen seine Seele zu einem anderen Erleben fhrt, einen anderen objektiven Wert haben? - Das ist es, was wir zunchst beantworten mssen. Was hier von der Geisteswissenschaft gemeint ist, das sind nicht krankhafte Zustnde, sondern etwas, das durch knstliche Seelenbungen erreicht wird. Was ich jetzt gesagt habe, ist eigentlich trivial. Aber es kommt ja nicht darauf an, da eine solche Aussage mehr oder weniger trivial oder geistvoll ist, sondern es kommt darauf an, was sie in unserer Seele auslst, wie wir uns mit unserem Glauben und unseren berzeugungen dazu stellen. Und da mu man sagen: Der gewissenhafte Wahrheitsforscher der Gegenwart hat viele Grnde, so ber Seelenerlebnisse zu sprechen, und wir begreifen, da ernste Forschung solches abweist. Wir brauchen uns nur vorzuhalten, wie einleuchtend 46

  • es fr den Menschen der Gegenwart ist, da ernste wissenschaftliche Forschung erst dann ihre segensreiche Wirkung ausben konnte, als sozusagen zurckgedrngt worden waren alle hnlichen Tendenzen wie diejenige, die auch in der Geisteswissenschaft da zu sein scheinen. Da brauchen wir ja nur zurckverweisen in ltere Zeiten der Menschheitsentwicklung, ja, bis hinauf ins Mittelalter knnen wir gehen, wir wrden nachweisen knnen, wie berall in das, was der Mensch mit seinen Sinnen gesehen hat, was er mit den Methoden seines Verstandes erforschen konnte, hineingemischt wurde etwas, was der Mensch glaubte, durch innere mystische Erkenntnis in sich zu erleben; und wie durchwirkt, durchwoben wurden die Sinneseindrcke mit dem, was die Seele innerlich erlebte. Schlielich braucht man nur einmal mit dem geschulten Blick, den man sich erworben hat in der heutigen Naturwissenschaft, in irgendein naturgeschichtliches Buch des Mittelalters hineinzublicken, so wird man da fr den heutigen Menschen ganz sonderbare phantastische Tiere sehen, und man wird als Mensch der Gegenwart bald erkennen, wie alle damaligen Erkenntnisse und Anschauungen darauf beruhten, da die Menschen das, was sie gesehen haben, ungenau gesehen haben und es sich dann weiter ausgemalt haben mit dem, was sie in ihrer Seele erlebten. Wodurch - so knnte ein heutiger Mensch fragen - sind denn die alten Standpunkte der Tuschung berwunden worden? - Durch die exakte Wissenschaft, die so segensreich gewirkt hat einzig und allein dadurch, da sie sich immer mehr und mehr sttzte auf die Erfahrungen der ueren Sinne und auf das, was diese durch Beobachtung und durch Experiment unseren Verstand lehren. Sichere Ergebnisse der Wissenschaft haben wir 47

  • erst, seit wir eine solche Forschung haben, durch die die Ergebnisse zu jeder Stunde von jedem Menschen der Gegenwart geprft werden knnen. So hat der Mensch der Gegenwart recht, wenn er alles prfen will. Dagegen kann nur der, welcher auf dem Boden der Geisteswissenschaft oder Theosophie steht, einiges einwenden. Blicken wir zurck in die Zeiten der Morgenrte unserer heute mit Recht so gepriesenen Naturwissenschaft, auf einen Menschen wie Kepler, so werden wir uns klar, da in Keplers Geist allerdings nicht nur jene ueren Gesetze der Himmelsmechanik lebten, die wir heute als die Keplerschen Gesetze der mechanischen Himmelsordnung studieren knnen, sondern in Keplers Geist lebte ein ?wirklicher geistesforscherischer Blick fr die Harmonie der Welt; aus dem geistigen Durchwogtsein und Durchlebtsein der Welt wurden bei ihm seine Gesetze der mechanischen Himmelsordnung erst herausgeboren. Da kann jemand, der auf dem Boden der Geisteswissenschaft steht, sagen: Seht einmal, wie fruchtbar es ist, wenn wir den geistesforschenschen Blick auf Kepler richten. Die Keplerschen Gesetze beweisen doch geradezu eine geistige Welt, sie zeugen von ihr. Also Kepler kann uns doch berzeugen von einer geistigen Welt! Nun knnte der Gegner sagen, gerade bei einem solchen Geiste wie Kepler knne man sehen, da er doch manche Schwche gehabt habe; bei ihm knne man sich gerade davon berzeugen, wie schlimm es fr die wissenschaftliche Sicherheit ist, wenn in seiner Seele so etwas lebt wie eine gewisse mystische Versenkung in die Weltenbeziehungen; denn da komme man ja wieder in die mittelalterliche Mystik hinein und damit in die Nhe von recht bedenklichen Geistesoperationen, 48

  • wie es zum Beispiel die Astrologie ist mit allen ihren Auswchsen. Das ergab sich eben dadurch, da man in abstrakter Weise den Gedanken der allgemeinen Weltenharmonie ausbaute und sagte, es msse doch ein Zusammenhang bestehen zwischen der groen Welt des Makrokosmos und dem, was im einzelnen Menschen geschieht. Daraus ergab sich dann das, was man als die mittelalterliche Astrologie kennt. Nun hat die Astrologie allerdings eine recht bedenkliche Seite. Nichts stachelt so sehr den menschlichen Egoismus auf wie gerade die Astrologie, wenn dem Menschen aus dem Verlauf der Sterne vorausgesagt werden soll, was an glcklichen oder unglcklichen Zufllen eintreten kann. Will er diese Zuflle im voraus wissen, so hat das immer einen selbstschtigen Grund, und es findet ganz besonders bei denjenigen, die das Horoskop gestellt haben wollen, geradezu eine Pflege des Egoismus statt. Kepler hat das gewut und es hat ihm groen Schmerz bereitet, da er manchem hohen Herrn das Horoskop hat stellen mssen auf Befehl seines Frsten. In einem Brief an einen Freund teilt Kepler diesem einmal seinen Schmerz mit, als er einer hohen Persnlichkeit ganz bestimmte Dinge voraussagen mute. In diesem Falle, so sagte er, wre es schlimm, der betreffenden Persnlichkeit so etwas mitzuteilen, und es wre besser, wenn es diese Persnlichkeit nicht wte, weil sie sonst gar keine Sorgfalt und gar keine Tatkraft entwickeln wrde. - In einem anderen Falle sagte er, man msse eine Persnlichkeit darauf aufmerksam machen, da ein Unglck bevorstnde. Dazu knnte ein Gegner sagen, bei diesem einzig groen Geiste sei doch auch ein wenig die Tendenz 49

  • zu einer bedenklichen Moral vorhanden, wenn er sagt, man msse, wenn man das Schicksal der Menschen aus der geistigen Welt heraus bestimmen kann, in einer gewissen Weise nachhelfen, man drfe nicht berall blo die Wahrheit sagen, man msse Rcksicht darauf nehmen, ob die Wahrheit gut oder schdlich sei. Kurz, man knne bei Kepler selbst sehen, wie ein Nachbargebiet der Geisteswissenschaft, die Astrologie, gerade den Weg auf die schiefe Ebene hinunterfhrt. Tragisch knne gerade bei Kepler erlebt werden, wie ein Weg, der auf der einen Seite in die reinsten, hehrsten Gebiete des geistigen Lebens hinauffhrt, auf der anderen Seite in den tollsten Aberglauben hineinfhren kann. Kepler selbst mute ja mit dem krassesten Aberglauben des Mittelalters kmpfen, um seine Mutter vor dem Verbranntwerden zu retten, weil sie von dem Aberglauben der damaligen Zeit als Hexe angeklagt war. Hier stehen wir an einem Punkte, wo wir die Kette restlos schlieen knnen zwischen dem, was Hineinblicken in die geistige Welt ist, und dem krassesten Aberglauben, dem die Menschen des Mittelalters leicht zugnglich waren. Wer wte nicht, wie leicht die Menschen, welche ein Bedrfnis haben, mit der geistigen Welt Bekanntschaft zu machen, dies auch heute auf eine bequeme Art tun wollen und lieber die Geister auf eine bedenkliche spiritistische Art herunterrufen und zur Manifestation bringen wollen, als sich durch seelische Entwicklung hinaufzuerheben in die geistige Welt. So knnte ein Gegner sagen: Wir sehen bei Kepler einen Beweis dafr, wie die theosophische Denkweise geradeso wie die astrologische in bedenkliche Gebiete fhren kann. Wir knnten viele derartige Beispiele anfhren. Aber auch, wenn wir ein gar nicht so weit entlegenes Gebiet 50

  • wie die Astrologie betreten, kann man zeigen, wie die ganze Art und Weise, unabhngig von aller ueren Erfahrung in die geistige Welt einzutreten, fr die Gegner der Theosophie etwas Groteskes haben kann. Wir wollen nur auf ein Beispiel hinweisen, das typisch fr andere sein kann. Wer, gleich mir, Hegel in so grndlicher Weise studiert hat, darf auch das folgende sagen: Hegel hat ja unausgesetzt nach einer Weltanschauung gestrebt, die unabhngig ist von aller sinnlichen Anschauung. Solange man im Allgemeinen bleibt, in einer Art von verschwommenem Pantheismus, lt sich diskutieren ber die Berechtigung des einzelnen. Wenn man aber vorgibt, etwas zu wissen ber die besondere Gestaltung dessen, was sich ergibt aus der bersinnlichen Welt heraus, dann ist man darauf angewiesen, sich kontrollieren zu lassen von den Tatsachen. Nun ist ja eines der Gebiete, die von der Geistesforschung zuerst betreten werden, das Gebiet der Zahlen und ihrer Harmoniegesetze. Solche Gesetze haben manche Philosophen angenommen, so auch Hegel. Hegel hat versucht nachzuweisen, da ein gewisses Zahlengesetz unserem Planetensystem zugrundeliegt, und da nach diesem Zahlengesetz wir selbst wissen knnen, da unser Sonnensystem soundso viele Planeten haben mu, und da diese sich in bestimmten Abstnden bewegen. Also Hegel meinte, aus innerem Nachsinnen heraus msse man das Planetensystem kontrollieren knnen. Er hat daher nachgewiesen, da nach den Zahlengesetzen nur soundso viele Planeten mglich sind und auer diesen keine anderen existieren knnten. Auf diese Weise hat Hegel aus der unbedingten Notwendigkeit der Zahlengesetze heraus den Nachweis gefhrt, da es keine weiteren Planeten 51

  • gibt - damals war der Planet Neptun noch nicht entdeckt -, und trotzdem ist nachher der Planet Neptun gefunden worden. Solche Dinge knnten wir aus allen Zeiten anfhren, denn sie sind nach dem eben charakterisierten Muster. Gerade daran sieht man, da nicht nur die Erfahrungen fr die heutige Wissenschaft eine Quelle des Beweises sind, sondern da auch eine gesunde Kontrolle [durch die Tatsachen] da sein mu. Auch wo die Wissenschaft Hypothesen annimmt, lt sie nur dann etwas gelten, wenn die Erfahrung die Theorien besttigt. Nun knnten die Gegner der Theosophie sagen: Da hat sich nun die Wissenschaft auf einen gesunden Boden gestellt; und nun kommt die theosophische Geisteswissenschaft und will in diese auf Erfahrung sich sttzende Wissenschaft etwas hineinmischen, was aus ganz anderen Quellen kommt, aus einem hheren Schauen, aus Karmagesetzen und dergleichen. Der Geistesforscher wird dazu vielleicht sagen: Ja, aber du knntest mir doch so weit entgegenkommen, da du das, was ich behaupte, zum Beispiel die Lehre vom Karma und von den wiederholten Erdenleben, als etwas zugibst, was man im wissenschaftlichen Leben eine brauchbare Arbeitshypothese nennt. - Kein Mensch hat damals, als die sogenannte Schwingungstheorie des Lichtes entstand, darin etwas anderes gesehen wie etwa so zu nennende therschwingungen. Dagegen ist vieles einzuwenden; die ganze Theorie war ein ausgedachtes System. Man sagte sich bei der Zugrundelegung dieses Systems: Nehmen wir an, da alle materiellen Vorgnge ein Weltenther durchdringt, da alles in Bewegung ist, dann mssen diese Schwingungen nach mathematisch berechenbaren Gesetzen so 52

  • verlaufen, da sich dies und jenes ergibt. - Und nun zeigte sich, da sich [die Berechnungen] auch wirklich in der Erfahrung als richtig erwiesen, so zum Beispiel bei Licht, Wrme und so weiter. Das nennt man eine brauchbare Arbeitshypothese, wenn man sagt: Es nutzt uns diese Hypothese sogar, um neue Tatsachen aufzufinden; mag die Hypothese an sich falsch sein, sie hat uns doch gerade auf das Wahre gefhrt. Lat doch - knnte der Geistesforscher zu den Gegnern der Theosophie sagen - die Idee von Karma und Wiederverkrperung als eine Arbeitshypothese gelten! Dagegen knnte nun eingewendet werden: Wo es sich um so wesentliche und wichtige Dinge handelt, die so tief ins Leben eingreifen, da knne man sich nicht blo auf die Mglichkeit einlassen, da das uere Leben erklrt werden kann, wenn man gewisse hypothetische Voraussetzungen macht. Wer sich etwas grndlicher in der Logik umgetan hat, der wei, da man richtige Schlufolgerungen sogar aus falschen Voraussetzungen ziehen kann. Die Theosophie knnte also ganz falsch sein, selbst wenn man annimmt, da die Idee vom Karma und den wiederholten Erdenleben richtig ist. Es knnten die Schlufolgerungen in bezug auf das uere Leben richtig sein - auch wenn die Voraussetzungen falsch wren. - So allerdings knnte eine strikte, bndige Logik sagen; damit aber wre zurckgewiesen, die theosophischen Ideen auch nur als brauchbare Arbeitshypothesen anzuerkennen. Und erkenntnistheoretisch liegt es noch schlimmer. Da knnte ein Gegner der Theosophie sagen: In der Erkenntnis kommt es vor allem darauf an, die objektive Gltigkeit zu erforschen. Nun besteht bei Illusionen, Halluzinationen und bei allem inneren Seelenleben 53

  • berhaupt keine andere Mglichkeit, Wahres und Falsches zu unterscheiden, als die Kontrolle an der Erfahrung. Wenn die Erfahrung ausgeschlossen wird und das Seelenleben verlaufen soll ohne die [Kontrolle durch die] Erfahrung, so kommt man in das Gebiet der absoluten Willkr, des Unkontrollierbaren hinein. Das heit, eine Wissenschaft, die das Prinzip der Kontrollierbarkeit sucht, mu die ganze Methode des hheren Schauens als unberechtigt ansehen, und sie mu der heutigen Wissenschaft zustimmen, die da sagt: Was wissenschaftlich gelten soll, mu unabhngig von allen inneren, subjektiven Erlebnissen gefat sein, es mu sich so abspielen, da wir, indem wir es beschreiben, alles ausschlieen knnen, was unserem Seelenleben angehrt. Du aber sagst - so knnte der moderne Erkenntnistheoretiker zum Geisteswissenschaftler sagen -, da du gerade innerhalb deines inneren Seelenlebens bleiben willst und es isolieren willst; das heit, du begibst dich in das Gebiet hinein, das die Wissenschaft gerade ausgeschlossen hat. Die neuere Wissenschaft hat ja gezeigt, da sie ihre sicheren Ergebnisse gerade dadurch gefunden hat, da sie so verfahren ist, da sie alle subjektiven Erlebnisse ausgeschlossen hat. Also mu man zu den Theosophen sagen: Bringt uns nur nicht das in die Wissenschaft hinein, was aufgewrmte ltere Methoden sind, die seit dem Beginn der neueren Forschungen des 15., 16., 17. Jahrhunderts berwunden sind. So knnte das Gemt, die Empfindung eines Menschen sprechen, der aus der Gesinnung der heutigen Zeit heraus sich zur Geisteswissenschaft stellt. Aber man kann noch tiefer dringen und fragen: Gibt es berhaupt irgendeine Mglichkeit zu behaupten, da das, was ein Mensch sieht, der es zu einem hheren 54

  • Schauen gebracht hat, eine Bedeutung habe auch fr andere Menschen? - Da allerdings sagt die Geisteswissenschaft: Zum Aufsuchen der bersinnlichen Welt und zum Erforschen ihrer Wahrheiten gehrt dieses hhere Schauen; aber wenn die Wahrheiten der bersinnlichen Welt gefunden worden sind und dann erzhlt und mitgeteilt werden, so knnen sie von jeder unbefangenen Logik und von jedem natrlichen Wahrheitssinn aufgefat werden. So wie auch nicht jeder Mensch in der Lage ist, ins Laboratorium zu gehen, um sich ber die Methoden der Biologie und Zoologie und so weiter zu unterrichten und dennoch die Ergebnisse dieser Forschungen entgegennehmen kann, ebenso kann auch entgegengenommen und verstanden werden - so sagt die Geisteswissenschaft -, was auf dem Gebiet der bersinnlichen Welt erforscht wird. Man knnte nun fragen: Ist eine solche Behauptung der Geistesforschung berechtigt? Sie wre nur dann berechtigt, wenn das, was der Geistesforscher zu sagen hat, von uns nach dem Muster begriffen werden knnte, das wir uns gebildet haben fr das Begreifen in der sinnlichen, in der gewhnlichen wissenschaftlichen Welt. Da sagt also der Geistesforscher zum Beispiel: Unser jetziges Leben zwischen Geburt und Tod baut sich auf als eine Wirkung, die sich ergibt aus den Ursachen der frheren Leben; die frheren Leben reichen herein in unser jetziges Leben. Was ich jetzt als Glck oder Unglck, als meine Fhigkeiten, als meine Krfte, meine Hoffnungen und meine Lebenssicherheit erlebe, das erlebe ich so, weil ich die Ursachen dazu in frheren Leben gelegt habe. Ich mu lernen, das gegenwrtige Leben als Wirkung derjenigen Ursachen anzusehen, die in frheren Leben gelegt worden sind. 55

  • Dagegen knnte der Gegner sagen: Solche Dinge haben wir auch in der ueren Welt, da wir Wirkungen zurckfhren auf Ursachen und da wir erkennen, wie ein Frheres fortlebt als Wirkung in einem Spteren. Nehmen wir ein Beispiel, das eine groe Rolle spielt in der modernen Naturwissenschaft. Da haben wir das Gesetz, da der Mensch in seiner Keimesentwicklung vor der Geburt kurz durchmacht alle diejenigen Formen, welche gewisse Tiere im Laufe ihrer Entwicklung durchmachten von unvollkommenen Stufen zu vollkommeneren. Wir wissen, da der Mensch whrend seiner Keimesentwicklung - etwa vom achtzehnten Tage nach der Empfngnis ab - ein Stadium durchmacht, das in der ueren Form geradezu die Fischgestalt nachahmt; spter macht er dann andere Formen durch, so da er allmhlich heranwchst zu den Formen, in denen er geboren wird. Daraus schliet die Naturwissenschaft, da das, was der uere, physische Mensch ist, abstamme von den unvollkommeneren Lebewesen, und da die Gestalt der unvollkommeneren Lebewesen fortwirke, nachwirke in dem, was der Mensch vor der Geburt ist. Da sehen wir also hereinwirken diejenigen Formen, die wir in der Abstammungslinie sehen. Du, Geistesforscher, mut uns also zeigen, da tatschlich in dem Leben des Menschen, wie es sich abspielt zwischen Geburt und Tod, in dem Seelisch-Geistigen und in dem menschlichen Schicksal etwas lebt, woran man erkennen kann die Herkunft der frheren Ursachen, so wie man eben an der vorgeburtlichen Entwicklung des Menschen die Abstammungslinie erkennt, in der er die tierischen Formen annimmt. Nun kann allerdings die Geistesforschung kommen und zeigen, wie gewisse innere Seelenvorgnge, 56

  • die sich fr jeden Menschen individuell gestalten, gar nicht erklrt werden knnen als Produkt der Vererbung von Vater und Mutter, Grovater und Gromutter, wie also durchaus sein innerster Wesenskern dem Menschen etwas anderes gibt als das, was die Vererbungslinie ist. Und wenn man dann verfolgt, wie das menschliche Leben sich entwickelt von der Stunde der Geburt an, Stunde fr Stunde, Tag fr Tag, Woche fr Woche, Jahr fr Jahr, wie der Mensch allmhlich heranwchst, dann sieht man, wie Kraft um Kraft auftritt, Fhigkeit um Fhigkeit sich herauskristallisiert; und wenn man ein aufmerksames Auge hat, kann man schon durch uere Mittel erkennen: Dies hat zunchst nicht blo die Vererbung, auch nicht blo die Erziehung dem Menschen gegeben, sondern das hat sich herausgearbeitet aus dem inneren Individuellen, das bei jedem einzelnen Menschen vorhanden ist; das kommt dazu zu dem Vererbten, und das mu, wenn es sich nicht in lauter Wunder auflsen soll, aus anderen Ursachen kommen, welche man nur zurckfhren kann auf ein geistig-seelisches Leben, das der Mensch bereits frher durchgemacht hat. Die Ursachen dafr kann man weder in der Vererbung noch in der Erziehung finden. Eine solche Schlufolgerung ist mglich. Und der Geistesforscher kann sagen: Was ich wei aus dem geistigen Schauen, das kann ich begreiflich machen durch eine solche Logik, wie ich sie jetzt charakterisiert habe. Darauf knnte nun der Gegner sagen: Es drngt sich manches herein in das Leben zwischen Geburt und Tod, "was nicht wunderbar wre, wenn man nur die gewhnlichen Verhltnisse alle zu Rate ziehen wrde. Wer an der Hand wissenschaftlicher Methoden tiefer 57

  • in das Leben hineinsieht, der wei, welchen immensen Einflu gerade die allerersten Kindheitserlebnisse auf eine Seele haben, wie irgend etwas, was wir im ersten Jahre noch mit halbem Bewutsein erlebt haben, damals einen gewissen Eindruck auf unsere Seele gemacht und sich in sie hineingebohrt hat. Da ist es dann drinnen verborgen, aber bei dem ntigen Anla kommt es hervor, und wir knnten leicht glauben, wenn wir es spter hervortreten sehen und nichts davon auf die Erziehung, auch nichts auf die Vererbung zurckfhren knnen, das msse sich aus einem frheren Leben erklren lassen. Aber das tun wir blo aus dem Grunde, "weil wir nicht achtgeben, wie sich die ersten Jugenderlebnisse in die Seele festsetzen und wie diese gerade eine viel grere Bedeutung haben als alles Sptere. Daher knnte die uere Wissenschaft sagen: Wir sind noch nicht so weit, um das kindliche Leben genug zu erforschen, um sagen zu knnen, wie sich fr die Seele des Kindes die Erlebnisse der ersten Jahre gestalten; wir mssen warten, bis wir immer tiefer und tiefer hineinkommen in dieses Gebiet, dann wird manches, von dem ihr Geistesforscher behaupten wollt, da es aus frheren Leben zu erklren sei, sich erklren lassen aus Dingen, die sich auf ganz natrliche Weise abspielen in dem Leben zwischen der Geburt und dem Tode. Ja, der Gegner kann noch viel weiter gehen. Er knnte zum Beispiel sagen: Selbst jene Menschen, die durch innere Seelenbungen zu einem geistigen Schauen, zu einer hheren Einsicht kommen, sie mssen ja das, was sie in einer hheren Welt wahrnehmen - schon um verstanden zu werden -, ausdrcken in den Formen, in den Sinnbildern der ueren, physischen Wirklichkeit. Und was sehr merkwrdig ist: Diejenigen Menschen, 58

  • die sozusagen hellsichtig geworden sind, sie drcken sich - so knnte der Gegner sagen - jeweilig ganz anders aus! Um die Wende des 18., 19. Jahrhunderts hat niemand in der geistigen Welt etwas gesehen, was zum Beispiel auf Elektrizitt oder auf Eisenbahnen Bezug hatte; jetzt sehen die Menschen in den geistigen Welten Dinge, die auf Elektrizitt oder Eisenbahnen Bezug haben. Wer "wrde also nicht daran zweifeln, da es sich dabei handelt um ein unbewutes Hereinspielen von Dingen in die Seele, die so umgeformt werden, da diese illusorischen geistigen Erlebnisse auftreten! Und nichts ist da, was vor einem wissenschaftlichen Gewissen rechtfertigen knnte die Prtentionen derer, die da sprechen von einem Heraufdringen in geistige, in bersinnliche Welten. Je genauer man hinsieht, desto mehr brckeln ab die Ideen von einem frheren Leben, vom Karma und so weiter. Gerade auf so etwas wie die ersten Kindheitserlebnisse sollte immer wieder hingewiesen "werden, wenn so etwas vo