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Rundbrief 2 In dieser Ausgabe: Verband für sozial-kulturelle Arbeit e.V. ISSN 0940-8665 41. Jahrgang / Dezmber 2005 5,00 • Nachbarschaftsheime • Bürgerzentren • Soziale Arbeit • • Erfahrungen • Berichte • Stellungnahmen • 2005 Cafébetrieb im Nachbarschaftshaus Internationale Jugendbegegnungen Familienbildung einmal anders: das “Rucksackprojekt” Die Jüdische Settlementbewegung und das Jüdische Volksheim Berlin

Rundbrief 2-2005

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In dieser Ausgabe: • Cafébetrieb im Nachbarschaftshaus • Internationale Jugendbegegnungen • Familienbildung einmal anders: das "Rucksackprojekt" • Die Jüdische Settlementbewegung und das Jüdische Volksheim Berlin

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Rundbrief 2

In dieser Ausgabe:

Verband für sozial-kulturelle Arbeit e.V.

ISSN 0940-866541. Jahrgang / Dezmber 2005

5,00 €

• Nachbarschaftsheime • Bürgerzentren • Soziale Arbeit •• Erfahrungen • Berichte • Stellungnahmen •

2005

• Cafébetrieb im Nachbarschaftshaus • Internationale Jugendbegegnungen • Familienbildung einmal anders: das “Rucksackprojekt”

• Die Jüdische Settlementbewegung und das Jüdische Volksheim Berlin

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Der Rundbrief wird herausgegeben vomVerband für sozial-kulturelle Arbeit e.V.Tucholskystr. 11, 10117 Berlin

Telefon: 030 280 961 03Fax: 030 862 11 55email: [email protected]: www.vska.de

Redaktion: Herbert SchererGestaltung: newsign Werbeagentur GmbH Druck: Druckerei Alte Feuerwache GbR, Berlin

Der Rundbrief erscheint halbjährlichEinzelheft: 5 Euro inkl. Versand

Titelbild: Der Neubau des Nachbarschaftshauses der Kiezspinne in Berlin- Lichtenberg von der Planung über die Grundsteinlegung bis zur Eröffnung (2003 - 2005)

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Vorwort

Inhalt

Herbert SchererCafébetrieb im NachbarschaftshausEin „Muss“ und doch eine Stolperfalle 4-5

Harald HübnerNachbarschaftszentren, Gastgewerbe, Café Gastfreundschaft 6-7

Renate WilkeningEuropäisches Austauschprogramm des Internationalen Verbandes (IFS) 8

Sebastian Brand Helsinki und Savonlinna, Finnland (März 2005) 8-9

David Wehinger Gdansk, Polen (Oktober 2005) 10

Internationale Begegnung in der TürkeiOnline-Tagebuch einer Outreach-Reisegruppe 11-14

Familienbildung einmal anders: das „Rucksackprojekt“ 15

Cakmak HamdiyeStadtteilmütter in Augsburg-Oberhausen 15-17

Dieter OelschlägelDie Jüdische Settlementbewegung und das Jüdische Volksheim in Berlin 18-29

Verband für sozial-kulturelle ArbeitAufruf 30-31

Nachrichten aus Verband und Umfeld 32-33

Netzwerk Süd-OstEinladung zur Mitspieltagung in Leipzig 34-35

Der aktuelle Rundbrief schlägt erneut einen weiten Bogen von unmittelbaren Praxiserfahrungen, von den großen und kleinen Herausforderungen des Alltags, bis zu Anregungen für neue Konzepte und Arbeitsansä-tze, aber auch ein spannender Blick in die Vergangenheit ist wieder dabei. Dieter Oelschlägel beschäftigt sich in seiner Untersuchung über die Jüdische Settlementbewegung und das Jüdische Volksheim in Berlin mit wenig bekannten Parallelentwicklungen zur eher von einem weltlich ausgerichteten Christentum geprägten inmittelbaren Vorgeschichte unserer Einrichtungen und ihrer engeren Verwandtschaft von „Settlements“, Neighbourhood- und Community-Centres bis zu Sozialen Arbeitsgemeinschaften und Volksheimen. Wir freuen uns über Reaktionen der Leserinnen und Leser des Rundbriefs. Um die Kontaktaufnahme - nicht nur mit der Rundbrief-Redaktion sondern auch mit dem Verband für sozial-kulturelle Arbeit - zu erleichtern, enthält der Rundbrief auf S. 31 ein Formular, das sie als Faxvordruck verwenden können.Ihrer besonderen Beachtung empfehlen wir auch die Mitspieltagung, die von unserem Mitglied Netzwerk Süd-Ost, Erfinder und Verleger der XAGA-Spieleserie (vom Leipziger Messespiel bis zum Dorf- und Stadtspiel), vom 20.-21. Februar 2006 in Leipzig veranstaltet wird.

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Geschäftsbetrieb“ auf Dauer Verluste, weil z.B. Perso-nalkosten anfallen, die über die Umsätze nicht wieder erwirtschaftet werden können, ist die Gemeinnützig-keit in Gefahr! Es ist steuerrechtlich nicht zulässig, Ver-luste aus dem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb mit Mitteln des gemeinnützigen Bereiches auszugleichen!

Lösungsansätze:

a) im Ausnahmefall Café doch als Zweckbetrieb mit verminderter Umsatzsteuerpflicht (7 %) betreiben:Dies ist der Fall, wenn der ZWECK des Betriebes nicht in der Beköstigung liegt sondern in der BESCHÄF-TIGUNG erheblich benachteiligter Menschen (z.B. körperlich oder geistig Behinderter) und wenn diese Aufgabe in der Vereinssatzung enthalten ist

Dass auch im Nachbarschaftscafé die Bekösti-gung kein Selbstzweck ist sondern der zwanglo-sen Förderung von Nachbarschaftsbeziehungen dient, wird (leider) von den Steuerbehörden nicht anerkannt

b) Verpachtung des Cafés:

Wenn das Café verpachtet wird, werden die Einnah-men, die der Verein aus der Verpachtung erzielt, der steuerfreien Vermögensverwaltung zugerechnet. Die Steuerpflicht liegt in diesem Fall beim Pächter.

Das sieht nach „Königsweg“ aus, hat aber u.U. inhaltlich problematische Konsequenzen, wenn eine Aktivität, die eigentlich (nach unserem Ver-ständnis) in ihrer konkreten Ausgestaltung dem Vereinszweck entsprechen muss (z.B. niedrig schwellig, kostengünstig, kein Verzehrzwang etc.) in die Verantwortung Dritter gegeben wird, die ggfs. andere Ziele verfolgen (oder anderen wirt-schaftlichen Zwängen unterliegen).

c) Buchhalterische Trennung von Beköstigungs- und Betreuungsaspekt:

Wenn im Cafébereich z.B. eine bezahlte Kraft mitwirkt, deren Aufgabe nicht in der Beköstigung sondern in der niedrig schwelligen sozialen Beratung liegt, müs-sen deren Personalkosten nicht dem wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb zugerechnet werden sondern ver-bleiben im „ideellen“ steuerfreien Bereich. Mit einer solchen Konstruktion kann zumindest vermieden wer-den, dass die o.g. Verluste anfallen, die die Gemeinnüt-zigkeit gefährden.

Herbert Scherer

Ein „Muss“ und doch eine Stolperfalle:

Das Café im Nachbarschaftshaus

Jedes Nachbarschaftshaus dürfte eines Tages bei der Frage, wie ein offener niedrig schwelliger Bereich in der Einrichtung optimal zu gestalten sei, mit den Risi-ken und Nebenwirkungen eines Café- oder Restaura-tionsbetriebes unter den Bedingungen einer gemein-nützigen Zielsetzung des Trägers konfrontiert sein.

Einige Mitgliedseinrichtungen unseres Verbandes haben in dieser Hinsicht erhebliches Lehrgeld (im wahrsten Sinne des Wortes!) bezahlen müssen, andere haben Lösungen gefunden, die nachahmenswert sind. Der folgende Problembeschreibungs- und Lösungs-aufriss erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Er kann und soll durch „kollegiale Beratung“ für konkrete Einzelfälle ergänzt werden, die unsere Geschäftsstelle bei Bedarf gerne leisten oder vermitteln wird.

Betriebswirtschaftliche und steuerrechtliche Überlegungen

Unter steuerlichen Gesichtspunkten handelt es sich bei der Abgabe von Lebensmitteln gegen Entgelt um einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb, der dem vollen Umsatzsteuersatz (zur Zeit noch 16 %) unter-liegt. Das ist so lange nicht erheblich, wie der jährliche Gesamtumsatz im Vorjahr die sog. Kleinunternehmer-grenze nicht überstiegen hat (17.500 Euro) und im laufenden Jahr voraussichtlich nicht mehr als 50.000 Euro betragen wird. Zu beachten ist dabei allerdings, dass diese Freigrenze sich auf sämtliche steuerpflich-tigen Umsätze des Trägers (mit Ausnahme von dessen ‚Zweckbetrieben’) bezieht. Das Café darf in dieser Hin-sicht also ggfs. nicht isoliert betrachtet werden!Da für den Materialeinsatz in der Regel nur der ver-minderte Steuersatz von 7% anfällt, sind die Möglich-keiten zum „Vorsteuerabzug“ (= die Steuerlast auf die Gesamtumsätze kann um die selbst bezahlten Steuer-anteile gemindert werden) begrenzt.Wenn die Umsätze (incl. Umsatzsteuer) jährlich mehr als 30.678 Euro und die Überschüsse/Gewinne mehr als 3.835, bzw. 3.900 Euro betragen, fällt darüber hinaus Körperschafts- und Gewerbesteuer in erheb-lichem Umfang an (Körperschaftssteuer 40% des Gewinns, Gewerbesteuer entsprechend dem in der Gemeinde geltenden Satz).Nun ist bei einem Nachbarschaftscafé die „Gefahr“, dass solche Überschüsse entstehen, relativ gering, weil in der Regel Preise genommen werden, die ge-rade einmal die Unkosten decken, aber auch hier lauern Gefahren: macht nämlich der „wirtschaftliche

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Hier muss ggfs. gegenüber einem Betriebsprüfer die Frage plausibel beantwortet werden, wer denn für den unmittelbaren Beköstigungsbereich zuständig gewesen ist (Ehrenamtliche, geringfü-gig Beschäftigte o.ä.)

d) Vermeidung zu hoher Überschüsse:

Ein ausschließlich von Ehrenamtlichen ohne bezahlte Kraft betriebenes gut funktionierendes Nachbar-schaftscafé ist durchaus in der Lage, Überschüsse zu erwirtschaften, die über der o.g. Freigrenze liegen, aber wahrscheinlich nur, wenn die (eigentlich) anfal-lenden Gemeinkosten (Betriebskostenanteile, Verwal-tungsaufwand etc.) nicht angemessen berücksichtigt werden.

Die Buchführung sollte auf der Basis nachvoll-ziehbarer Kalkulationen diese Kosten sichtbar machen (Kostenanteile buchen), auch wenn das ein wenig zusätzlichen Verwaltungsaufwand pro-duziert.

Weitere rechtliche Bedingungen

Seit dem 1. Juli 2005 gibt es eine wesentliche Erleich-terung für den Betrieb eines Nachbarschaftscafés oder eines Mittagstisches in einer Nachbarschaftseinrich-tung. Solche Aktivitäten sind nämlich nicht länger an die Erteilung einer Konzession (= gaststättenrechtliche Genehmigung) gebunden. Wer „zubereitete Speisen“ und „nicht alkoholische Getränke“ zum Verzehr vor Ort verkauft, braucht dafür nicht länger eine Genehmi-gung. Eine Konzession ist nur dann notwendig, wenn auch alkoholische Getränke abgegeben werden sollen.Bei der Zubereitung von Speisen sind aber natürlich weiterhin die entsprechenden veterinäramtlichen und Hygienevorschriften zu beachten.

Nach Klärung all dieser Fragen, kommt es zum Eigent-lichen, dem Inhalt, dem Sinn und Zweck des Unterneh-mens, der Atmosphäre und der Kundenorientierung. Mit Einigem, was dabei beachtet werden sollte, be-schäftigt sich der folgende Artikel mit Momentaufnah-men aus einigen solchen Nachbarschaftscafés aus der Sicht eines zufälligen, aber interessierten Besuchers.

Bundesgesetzblatt Jahrgang 2005 Teil 1 Nr. 35, ausgegeben zu Bonn am 24, Juni 2005

Artikel 8Änderung des GaststättengesetzesDas Gaststättengesetz in der Fassung der Bekannt-machung vom 20. November 1998 (BGBl. I S. 3418), zuletzt geändert durch Artikel 112 der Verordnung vom 25. November 2003 (BGBl. IS. 2304), wird wie folgt geändert:1. § 1 Abs. 1 wird wie folgt geändert:a) In Nummer 1 wird das abschließende Komma durch das Wort „oder” ersetzt.b) In Nummer 2 wird das Wort „oder” durch ein Komma ersetzt.c) Nummer 3 wird aufgehoben. 1 a. § 2 wird wie folgt geändert:a) Absatz 2 wird wie folgt gefasst: „(2) Der Erlaubnis bedarf nicht, wer1. alkoholfreie Getränke,2. unentgeltliche Kostproben,3. zubereitete Speisen oder4. in Verbindung mit einem Beherbergungs betrieb Getränke und zubereitete Speisen an Hausgäste verabreicht”b) Die Absätze 3 und 4 werden aufgehoben.

1 b. § 3 Abs. 3 wird aufgehoben.1c. In § 18 Abs. 1 Satz 1 werden die Wörter „ist durch Rechtsverordnung der Landesregierungen eine Sperrzeit allgemein festzusetzen” durch die Wörter „kann durch Rechtsverordnung der Lan-desregierungen eine Sperrzeit allgemein festge-setzt werden” ersetzt.

1d. In § 28 Abs. 1 Nr. 1 werden die Wörter „Ge-tränke oder zubereitete Speisen verabreicht oder Gäste beherbergt” durch die Wörter „ein Gaststät-tengewerbe betreibt” ersetzt.

2. Nach § 31 wird folgender § 32 eingefügt:

„§32 ErprobungsklauselDie Landesregierungen werden ermächtigt, durch Rechtsverordnung zur Erprobung vereinfachender Maßnahmen, insbesondere zur Erleichterung von Existenzgründungen und Betriebsübernahmen, für einen Zeitraum von bis zu fünf Jahren Ausnah-men von Berufsausübungsregeiungen nach die-sem Gesetz und den darauf beruhenden Rechts-verordnungen zuzulassen, soweit diese Berufsaus-übungsregelungen nicht auf bindenden Vorgaben des Europäischen Gemeinschaftsrechts beruhen und sich die Auswirkungen der Ausnahmen auf das Gebiet des jeweiligen Landes beschränken.”

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da drüben. Irgendwann befreite ich mein Fahrrad von dem Baum, an den ich es vor der Villa angekettet hat-te, und fuhr Gedanken verloren nach Hause.

Jetzt wurde ich neugierig. Nun gut, ich gebe zu, schon viele Jahre befreundet zu sein mit einem sehr erfahre-nen Berater des Gastgewerbes. Er hat mich angesteckt mit dem, ja doch wohlwollenden Abgleichen der Kriterien Raum, Ware, Dienstleistung, die ich ergänzt habe um die Atmosphäre. Wartesaal oder Gastraum?Aufgewärmter Wareneinkauf oder schmackhaftes Gericht ? Tellertaxi oder Gastgeber? Herzlich Willkom-men oder wann kann ich endlich weiter aufräumen?Ein anderes Café eines Nachbarschaftshauses - mehr so im prickelnden Norden. Immer die Hausnummer murmelnd und die Erinnerung an den Hinweis, nicht aufzugeben, bis man den dritten Hinterhof erreicht habe, führen zu einem Gastraum in der Mittagszeit am Samstag. Gäste einer Feier erfüllen den einzigen großen Raum vollständig mit ihren ausgelassenen Gesprächen. Die Teilnehmer von Veranstaltungen des Nachbarschaftshauses durchqueren den Raum.

Der Empfang durch den jungen Mann ist sehr freund-lich, er berät gerne bei der Zusammenstellung des Essens, und sehr bald steht das sehr preisgünstige, schmackhafte Mahl (ich mag so dicke Panade) auf dem Tisch. Zugewandt fragt der junge Mann, ob noch etwas fehle. Nun ja, der Salzstreuer. Der Gang geht an der stets offenen, jetzt ausatmenden Küche vorbei zu den Toiletten. Sauber, aber dieser Geruch ??

Beim Bezahlen erzählt der Kollege des jungen Man-nes, dass er nach einem erfolgreichen Drogenentzug hier sei. Das Küchenhandwerk habe er sich von einem Koch angeeignet. Sehr freundliche Verabschiedung. Ich darf einen der Zettel vom Tisch mitnehmen: leider

Das Nachbarschaftszentrum im Süden von Berlin habe ich als erstes kennen gelernt. Aus der Vielzahl der Angebote an soziokulturellen Aktivitäten, bür-gerschaftlichen Engagements, sportlichen Unterwei-sungen habe ich mir einige herausgesucht. An den Seminarabenden hatte ich alle persönlichen Krisen und Chancen, um für meine persönliche Weiterbil-dung und Reifung zu sorgen. Zur Belohnung abends danach haben sich die Teilnehmer in das Café – Re-staurant auf dem Gelände des Nachbarschaftszent-rums begeben und nun entspannt ihre Erfahrungen ausgetauscht bei zurückhaltender kommunikativer, aufmerksamer Bewirtung. Erfrischende Abende sind das für Körper (Sport, Nahrung), Geist (besuchte Ver-anstaltung, eingehende Gespräche), Seele (Zusam-mensitzen, Bewirtung).

Anfang Oktober erinnerte ich mich in einem anderen Stadtteil, diesmal im äußersten Westen der Stadt, an das Café eines Nachbarschaftsheimes, habe es mit Mühe in einer alten Villa gefunden, mich dort an ei-nem Samstagnachmittag zum Kaffee niedergelassen. Als einziger Gast habe ich am Tresen bestellt, nahm Platz in einem großen neonbeleuchteten Raum und bekam prompt alles auch auf den Tresen gestellt. Kon-sequente Selbstbedienung. Wo bekommt man denn sonst Kaffee und Kuchen für zweifünfzig? Die einzige resolute Herrscherin im Lokal diskutierte mit einem Bekannten über die politische Großwetterlage - auch ein neuer Kanzler würde nicht verhindern, dass der Ein-Euro-Jobber so manch anderen arbeitslos machen würde - während sie weiter unverdrossen aufräumte und sich durch mich nur kurz stören ließ. Das laute Kühlaggregat einer alten Vitrine begleitete mein ver-gebliches Suchen nach einer Atmosphäre der Gast-freundschaft in diesem sauberen, aufgeräumten, recht schmucklosen kleinen Saal mit einer kleinen Bühne

Harald Hübner

Nachbarschaftszentren, Gastgewerbe, Café Gastfreundschaft

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werde das Lokal ab morgen geschlossen, weil es nicht gelungen sei, in den letzten vier Jahren das Café auf wirtschaftlich sichere Füße zu stellen.

Besuche in anderen Cafés dieser nicht gewerblichen Art bestätigen die Quintessenz aus den geschilder-ten Erlebnissen. Nicht gewerblich? Das heißt kein auf sich aufmerksam machende Teilnahme am Markt des Gastgewerbes und auch keine Gewinnerzielungsab-sicht des Betreibers. Darauf komme ich zurück.

Die Nachbarschaftszentren möchten mit ihren Cafés niedrigschwellig Kommunikationsräume zur Ver-fügung stellen. Dort werden Speisen und Getränke angeboten mit einem Preis, der bei 30 bis 40 % des üblichen gewerblichen Gastfreundschaftspreises liegt. Damit können keine Gewinne erzielt werden, welche notwendig sind, um einen Betrieb weiterzuentwi-ckeln. Es ist noch nicht einmal ein finanzieller Spiel-raum vorhanden, um gut ausgebildete Gastgeber und Köche zu bezahlen. So können die beschäftigten Mitarbeiter am Tresen den Gästen nicht die Wert-schätzung zukommen lassen, die ihnen gebührt, auch wenn sie nicht viel ausgeben wollen. Professioneller Umgang mit der Ware – es muss nicht immer alles frisch zubereitet werden - könnte zu preisgünstigem Gaumenspaß führen weg vom lieblosen Billiggericht.

Nebenbei - wenn ich beim Betreten des Cafés den Ein-druck habe, in einem unaufgeräumten Wohnzimmer die dort Hausenden zu stören, dann ergibt sich für mich eine hohe Schwelle.

Wenn ich also keinen lächelnden Willkommensgruß und eine gastfreundliche Haltung zu erwarten habe, kann ich den anschließenden Versorgungsakt zu hau-se kostengünstiger gestalten.

Würde ein Nachbarschaftshaus seine Seminare so interesselos durchführen, wie teilweise das Café be-trieben wird, so würden zum Beispiel bei einem Jiu-Jitsu-Kursus schriftliche Anleitungen verteilt werden und dann die Aufforderungen ertönen, doch danach zu kämpfen.Wenn nun die gute Fee sich jetzt zu erkennen gibt, augenrollend mein Gejammer beklagt und dann mir den einen freien Wunsch einräumt, dann würde ich wie folgt loslegen:

Das Nachbarschaftscafé ist gut ausgeschildert, eine ÖPNV-Haltestelle ist in der Nähe, und ich freue mich, das Lokal zu betreten. Es bietet mir die Möglichkeit, mich an einen kleinen Tisch zu setzen und zu signa-

lisieren, dass ich jetzt hier unter Menschen lieber mal für mich oder für uns beide sein möchte. Auch gibt es längere schmale Tische und Bänke, wo ich mich kom-munikationsbereit hinzusetzen kann.

Die Hintergrundmusik ist eine sehr zurückhaltende Geräuschtapete. Ich werde vom Tresen her wie ein alter Bekannter zurückhaltend begrüßt.

Ich stelle mein Handy aus, verharre in ungestörter Atmosphäre, kein Küchendunst, kein unangenehmer Tabakqualm, keine lautstarken Gruppen, studiere die kleine Speisen- und Getränkekarte. Belüftung und Akustik sind sehr geschickt ausgetüftelt.

Mit einer freundlichen Ansprache bestelle ich an der Theke, nehme den Kaffee mit, den man schon für mich gemacht hat, als ich eintrat. Ich hole auch gerne mei-ne Bestellung vom Tresen ab, weil ich die Herzlichkeit spüre, mit der man sich bemüht, ein ständig wech-selndes Angebot an Speisen, Getränken, und freund-lichen Ansprachen zu ermöglichen, ja zu zaubern zu günstigen Preisen. Wenn ich zum Tresen gehe, nehme ich benutzte Teller mit oder bringe auch fertige Ge-richte mit, wenn es für den Gast am Nebentisch ist. Ich muss auf Qualität und Zuverlässigkeit, Ruhe und Abwechslung genauso wenig verzichten wie auf Be-freiung von Bindungen oder Kontakt und Kommuni-kation.

Vielleicht sollte ich doch eines der vielen vorhande-nen guten Cafés in Berlin als Stammlokal ausfindig machen, entgegnet die gute Fee vorsichtig. Nein, antworte ich unbeirrbar, ich möchte diesen Nachbar-schaftsgedanken, in den ich mich verliebt habe, durch mein Wunschcafé fördern, und jetzt bist du dran.

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Renate Wilkening

Europäisches Jugendaustauschprogramm des Internationalen Dachverbandes IFS (International Federation of Settlements and Neighbourhood Centres)

In der Zeit von Juni 2004 bis Dezember 2006 führt die Eurogroup des IFS, gefördert durch die EU, ein internationa-les Jugendprogramm durch.

Ziel des Programms ist es • Möglichkeiten zu schaffen, dass sich Jugendliche aus unterschiedlichen europäischen Ländern begegnen, Erfahrungen austauschen, Verständnis für die jeweils unterschiedlichen Kulturen erlangen und gemeinsam Ideen entwickeln für ein Europa mit Zukunftsaussichten für die Jugend.• Ein europäisches Jugendnetzwerk der gegenseitigen Unterstützung und Hilfe aufzubauen.

Von den geplanten 8 internationalen Begegnungen haben fünf bereits stattgefunden: in England, Finnland, Un-garn, Russland und Polen. Die noch ausstehenden werden zur Zeit in England und Lettland vorbereitet.

Im Folgenden einige kleine Einblicke in die Begegnungen im Rahmen des Programms:

Sebastian Brand, BerlinHelsinki und Savonlinna, Finnland (März 2005)(Sebastian arbeitet ehrenamtlich im Nachbarschaftszentrum ufafabrik. Er betreut Kinder und Jugendliche in einer Freizeiteinrichtung und organisiert mit ihnen Feste und Veranstaltungen.)

„Vom 13. bis 19. März 2005 trafen sich Jugendgrup-penleiter in Finnland. Die Teilnehmer kamen aus den Niederlanden, Österreich, Deutschland, England, Polen, Litauen und Lettland, um sich fit zu machen für die Treffen mit den erwarteten Jugendlichen aus ver-schiedenen Ländern in Ungarn, in Polen, in England, in Russland und in Lettland. In Helsinki angekommen und vom eisigen Wetter be-grüßt, machten wir uns auf den Weg zu unserer Unter-kunft, dem Eurohostel. Dort machten wir auch gleich Bekanntschaft mit unseren, wie sich herausstellen soll-te, sehr freundlichen und hilfsbereiten Organisatoren Florence und Harry. Nach kurzen Verständigungspro-blemen aufgrund der unterschiedlichen Sprachkennt-nisse konnte man sich mit Gestik und vereinfachter Sprache kurz über die Ankunft und den weiteren Ab-lauf austauschen. Im Laufe dieser Konversation erfuh-ren wir, dass sich ein paar andere Teilnehmer im nicht weit entfernten Pub aufhielten. Diese Gelegenheit zum Kennen lernen in gemütlicher Runde nutzen wir sofort. Wir machten die Bekanntschaft mit den anderen deutschen Teilnehmern, den Repräsentanten des Ox-ford-Hauses aus London und mit dem Jugendarbeiter der holländischen Partnerorganisation aus Amster-dam. Allein bei diesem Zusammentreffen von nur einigen Teilnehmern spürte man auf Anhieb die Begeisterung an Jugendarbeit und das Interesse am gegenseitigen Austausch. Das erste gemeinsame Treffen der kompletten Gruppe fand am Morgen danach statt und basierte auf ei-geninitiativer Kontaktaufnahme d.h. es wurde vorerst auf eine offizielle Begrüßungsrunde, in der sich jeder vorstellt, verzichtet und die Teilnehmer konnten sich beim Smalltalk und/oder bei kleineren Unterhaltun-

gen untereinander kennen lernen. Nach kurzer ‚Abtastphase’ ging es dann auch schon auf die Sightseeingtour durch Helsinki. Neben den Sehenswürdigkeiten wie der Stadtkirche, welche wie eine ehm. Tropfsteinhöhle wirkte und dem Fin-nischen Parlament besuchten wir auf dieser Tour die sozialen Einrichtungen Helsinkis.Als erstes ein soziales Wohnprojekt, wo wir nach ausgiebiger Einführung und Besichtung der Anlage einen ersten Eindruck von Sozialarbeit in Finnland er-hielten. Inhalt dieses Projektes ist es, sozial Benachtei-ligten eine angenehme Wohnmöglichkeit zu bieten. Zu den sozial Benachteiligten gehört unter anderem eine Vielzahl von Jugendlichen, die bereits im jungen Alter Alkohol und Drogenprobleme zu bewältigen haben.Diese Parallele zur deutschen Situation unterscheidet sich in der Form des Drogen und Alkoholkonsums. Wo in deutschen Problemfällen vermehrt zu Hartal-koholen und Cannabis zurückgegriffen wird, greifen die finnischen Jugendlichen eher zu Amphitaminen. Dies hängt wohl hauptsächlich mit den Gesetzes-unterschieden zusammen. In Finnland ist das Alko-holgesetz wesentlich strenger als in Deutschland. So ist es dort zu Lande erst mit 21 gestattet, Alkohol zu konsumieren, und auch beim Verkauf sind wesentli-che Unterschiede zu erkennen. Kein Supermarkt, kein Kiosk und auch keine Tankstelle verkauft Hartalkoho-le. Spezielle Spirituosenläden, welche nur vereinzelt zu finden sind, ermöglichen es den befugten Perso-nen Hochprozentiges zu kaufen. Kurz gesagt ist es wesentlich schwerer in Finnland, an Alkohol heranzukommen, als dies in Deutschland der Fall ist. Die Folge daraus liegt auf der Hand: Die Jugendlichen suchen sich eine andere Droge, wenn

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sie ihren Problemen entfliehen wollen, in diesem Fall Amphetamine. Das Wohnprojekt bietet diesen Jugendlichen auf der einen Seite eine Wohnunterkunft im familiären Stil und auf der anderen Seite helfen freiwillige und ausgebil-dete Jugendarbeiter den Betroffenen sowohl bei Ab-hängigkeits- als auch bei persönlichen Problemen. Die Anlage wirkte sehr neu, modern und komfortabel. Unserer nächstes Ziel: ein Jugendcafé, modern und geschmackvoll eingerichtet. Es bietet Jugendlichen von 15-20 Jahren die Möglichkeit, sich mit Freunden in gemütlicher Runde zu unterhalten und neue Bekannt-schaften zu schließen. Nach ausgiebiger Einweisung über die Idee des Ju-gendcafés schloss sich dass sehr informative Tages-programm und man war froh, die neuen Eindrücke am Abend in Ruhe auf sich wirken zulassen. Der nächste Tag, führte uns ins etwa 400 km entfernte Savonlinna. Auf der Fahrt dort hin besichtigten wir wie-der mehrere Sozialeinrichtungen. Unsere erste Station war ein sehr komplexes Nachbar-schaftszentrum in Heinola, einer Wohnanlage, die als Unterkunft für Jugendliche, sozial Schwächere und alte Menschen gedacht ist, gibt es dort einen liebevoll eingerichteten Seniorentreffpunkt, der mit seinen Frei-zeitangeboten überzeugte. So wurden wir mit Gesangseinlagen begrüßt und durften einige Blicke auf die Nähkünste älterer Damen werfen. Es wirkte alles weitaus harmonischer als in mir bekannten Seniorenheimen in Deutschland. Vor allem die Gemeinschaftsarbeiten trugen ihren Teil dazu bei.Es folgte ein nett zubereitetes Mittagessen und so konnten wir uns gestärkt auf die nächste Besichtigung konzentrieren.Aufgrund des langen Aufenthaltes in Heinola, be-schränkte sich unser Besuch beim Nachbarschaftstreff-punkt in Savonlinna auf das Abendbrot.Die offizielle Vorstellungsrunde der Teilnehmer erfolgte am Morgen danach, dies war zugleich der Startschuss für den theoretischen Teil des Seminars.Nachdem das Eis gebrochen und die Stimmung durch Kennlern-Spiele aufgelockert war, begannen die Prä-sentationen einiger Organisationen. So wurden wir im Laufe der Woche über die Arbeit in Amsterdam, St-Pe-tersburg, London, Litauen und Wien informiert.Neben den Präsentationen bestand der theoretische Teil aus Gruppenarbeiten, indem man künftige Semi-

nare plante, Problemstellungen zur europäischen Jugendarbeit besprach und sich Gedanken über Möglichkeiten zur internationalen Vernetzung von Nachbarschaftszentren und Sozialeinrichtungen machte.Erschwert wurden sowohl die Gruppenarbeiten als auch die Diskussionsrunden durch unterschiedliche Sprachkenntnisse. Nach Absprache mit der gesam-ten Gruppe und Dank des Engagements von Ulrike ( Jugendarbeiterin von Outreach ), die von diesem Zeitpunkt an alles ins Deutsche übersetzte, wurde diese Barriere schnell überwunden.Über das gesamte Seminar hinweg war zu beobach-ten, mit welch hohen Begeisterung die Teilnehmer über Jugendarbeit diskutierten und den Austausch untereinander suchten und begrüßten. So entstand nicht nur im Workshop sondern auch privat ein dich-ter Informationsfluss, bei dem die meisten Teilneh-mer mit hohem Interesse ihre eigenen Erfahrungen und Ideen mit einfließen lassen konnten.Nach der „ Arbeit“ wurde uns ein sehr abwechs-lungsreiches Freizeitprogramm angeboten. Neben Spaziergängen durch die schöne Winterlandschaft Finnlands konnten Wagemutige beim Kistenklettern hoch hinaus, um sich anschließend in der finnischen Sauna von all den Strapazen zu erholen. Auch die Besichtung des Stadtzentrums Savonlinna, bei der wir ein historisches Museum und dass alte Stadt-schloss besichtigten, trugen zur Unterhaltung bei.Bei den Abendaktivitäten, hatten wir die Möglichkeit,die Leute besser kennen zu lernen. Ob im gemütlichen Pub oder bei unserer selbst gestal-teten Party im eigenen Haus kamen wir einnander näher und hatten so die Möglichkeit, die bestehen-den Kontakte zu intensivieren.Sehr beliebt war die romantische Abendgestaltung in der nicht weit entfernten Kutta. Die Kutta war eine Art Schneehütte, in welcher wir vom Kaminfeuer ge-wärmt und verzaubert wurden. Spontane Gesangs-einlagen, begleitet von gekonntem Gitarrenspiel, sorgten für Gemütlichkeit und Stimmung.So sollten wir auch in jener Kutta unseren Abschied feiern.Nach sechs sehr eindrucksvollen Tagen neigte sich dass IFS - Finnland – Seminar dem Ende entgegen. Neben der Vielzahl neuer Informationen, war es vor allem die menschliche Seite, die mich persönlich begeisterte.

Debrecen, Ungarn (Mai 2005)„Fünf Tage Gulasch“ und die Folgen, das war die am meisten haften gebliebene Erinnerung einiger Teilnehmer des Treffens von 40 Jugendlichen im Mai 2005 in Debrecen, Ungarn. Nachdem die Jungen und Mädchen fünf Tage Gulasch gegessen hatten, beschlossen sie, anstatt zu klagen und zu jammern, selbst zu kochen. Dies setzten sie mit großem Erfolg in die Tat um.Allerdings stand das Treffen nicht ausschließlich unter dem Aspekt “was essen wir heute” sondern auch unter dem Motto: „Herausforderungen und Aufgaben der Jugendarbeit in ehemals kommunistischen Ländern. (Migration, Im-migration, Toleranz). In workshops erarbeiteten die Jugendlichen sich diese Themen theoretisch. Toleranz konnten sie aber auch praktisch einüben.

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David Wehinger, BerlinGdansk, Polen (Oktober 2005)(David ist Student der Sozialarbeit an der ASFH Berlin, er engagiert sich ehrenamtlich als Teamer in internationalen Jugendaustauschaktivitäten des Verbandes für sozial-kulturelle Arbeit)

„An der Danziger IFS Youth Conference nahmen insgesamt 25 Teilnehmer und Youth Workers aus 8 Ländern teil. Die Teilnehmer kamen aus Ungarn (1), Lettland (2), Rumänien (6), Moldawien (2), BRD (2), Holland (8), Frankreich/Schottland (1) und Polen (4), wobei die polnische Gastgeberorganisation immer mit 3 Mitarbeitern und mit 3-4 Jugendlichen vertre-ten waren, die aber nicht an allen Programmpunk-ten teilnahmen. Unsere Gastgeber waren sehr bemüht und aufmerk-sam um auf unsere Wünsche einzugehen. Für mich war das eine sehr gute Arbeit, die die pol-nische Organisation in der Vorbereitungsphase und während der Konferenz geleistet hat. Die Unterkunft und das Essen waren einfach, trotz-dem gab es keinen Grund zur Kritik. Der Seminarraum in unserer Unterkunft war zu klein und wir mussten oft in den Speisesaal ausweichen, was aber kein Problem war, da der Hotelbesitzer sehr kulant war. Die Gruppe war abends sehr diszipliniert und wäh-rend des Programms engagiert und interessiert. Meiner Meinung nach wurde die Gruppe während des Seminars aber kaum mit Methoden unterstützt um als Gruppe zusammenwachsen zu können. Es gab z.B. keine Namespiele, keine Ice-breaker oder Teambuilder. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass die Teilnehmer sich in der Gruppe wohl gefühlt haben. Die Gruppe war sehr bunt gemischt, was ich als sehr bereichernd empfunden habe. Von den moslemi-schen holländischen Jugendlichen, die Ramadan gemacht haben, über eine Theatergruppe aus Ru-mänien bis hin zu einem polnischen Waisenjugend-lichen.

Das Programm war genau durchorganisiert und es gab keine organisatorischen Pannen. Ich hatte oft das Gefühl, dass wir von einem Pro-grammpunkt zum Nächsten geeilt sind, da das Programm sehr dicht war. Der Vorteil war, dass die Gruppe abends so müde war, dass wir früh schlafen gingen. Ich fand, dass das Programm wenig Platz für die Teilnehmer offen hielt sich selbst mit Workshops einzubringen, wie es zum Beispiel in St. Petersburg der Fall war. Meiner Meinung war der Schwerpunkt mehr auf Input als auf Eigeninitiative angelegt. Die positiven Seiten des Programms waren, es war sehr abwechslungsreich. Z.B. die Treffen mit einem polnischen Polarforscher und Lech Walesa, die Besuche bei lokalen Organisationen, der eintägige Ausflug ans Meer, der Stadtrundgang, der Besuch von einer Schule, der „Ethnic Evening“ und der Besuch einer Bowlingbahn um nur meine persönli-chen Highlights zu nennen. Ich habe persönlich wieder sehr viel mitgenommen und gelernt während des Programms und in der freien Zeit in Gesprächen mit den Jugendlichen, den holländischen Youth Workers und mit Florence Garabedian (der europäischen Koordinatorin von IFS). Ich bin überzeugt, dass ich einige Punkte, die ich gelernt habe, in Berlin umsetzten kann.Debrecen im Mai, St. Petersburg im August und Gdansk im Oktober, jede der Konferenzen war an-ders und hatte bei anderen Punkten ihre Stärken. Ich glaube, dass sich die IFS Youth Conferences auf einem guten Weg befinden, sich längerfristig zu etablieren, denn Vorschläge zur Verbesserung wer-den ernst genommen.“

Ein weiteres Treffen hat in St. Petersburg, Russland, stattgefunden.

Einige Jugendliche kennen sich inzwischen gut und sind im Kontakt via e-mail. Sie reden dort über ihre Probleme, ihre Freuden, ihre Erlebnisse, geben sich Tipps für ihre Arbeit und im persönlichen Bereich. Sie sind dabei, das Ju-gendnetzwerk zu knüpfen und die nächsten Begegnungen in London und Lettland werden mit Sicherheit weiter dazu beitragen.

Es gab diverse Konflikte in Fragen wie Gestaltung der workshops durch Gruppenleiter oder die Jugendlichen selbst. Und es gab Frustrationen, weil vorbereitete Inhalte nicht ausreichend eingebracht werden konnten. Das ging bis hin zu aggressivem Handeln eines Jugendlichen gegen einen Gruppenleiter. Eine wichtige Erfahrung der Jugendlichen war: wie gehen wir mit solchen Situationen um? Die Jugendlichen beschlossen, den Konflikt unter sich zu lösen. Sie versuchten, den aufgebrachten Jugendlichen zu beruhigen, was ihnen auch gelang. In Selbsthilfe lösten sie ein anderes Problem: Im Sommercamp standen den Jugendlichen an einigen Tagen für die Workshops keine Räume mehr zur Verfügung, weil das Camp überbucht war mit anderen Jugendgruppen und Hochzeitsgesellschaften. Kurzerhand verlegten sie ihre Workshops ins Freie, obwohl es sehr kühl und regnerisch war.

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Anreise+1.Tag Wir sind gut ange-kommen! Merhaba und Hallo an Euch alle in Ber-lin!

Herzlich wurden wir im Afacan Motel von Feliz und Ali empfangen. Auch unser türkische Partner aus Istanbul erwartete uns schon. Nach 3 Stunden Flug und 2 Stunden Busfahrt von Izmir nach Afacan ka-men wir gegen 17.30 Uhr in der Jugendbegegnung-stätte der Berliner Stiftung „Umverteilen“ an. Dann Abendessen, ein Sprung ins Schwimmbecken und noch etwas Kartenspiel, das war´s. Bis morgen... P.S. Was wir noch sagen wollen (aus unserer Konzep-tion): “Mit der internationalen Begegnung wollen wir die Zusammenarbeit von Jugendlichen und SozialarbeiterInnen unterstützen. Sie ermöglicht das Kennenlernen anderer Länder und Kulturen. Ziel ist die Verbesserung des gegenseitigen Verständ-nisses, der Abbau von Vorurteilen und eine kritische Reflexion des einigen Standpunktes. Die Kontaktauf-nahme soll vor allem dazu beitragen ein gegenseiti-ges Verständnis Aufzubauen, interkulturelles Lernen sowie Toleranz und Offenheit zu praktizieren. Ein weiterer wichtiger Aspekt unserer Arbeit ist die eigene Verantwortung für die Schaffung einer friedfertigen und gerechten Welt zu begreifen.“

2. TagKennenlernen Wir haben den Vor-mittag in kleinen Gruppen mit den Jugendlichen aus Istanbul zusammen-gesessen und uns

näher kennengelernt. Wie ist das Leben in Berlin und Istanbul? Was bewegt uns? Wo kommst du her? Was ist dein Lieblingsessen?

Viel aus ihrem Leben erzählen die Jugendlichen aus dem Strassenkinderprojekt . Jeder ist eine Geschichte. Die Reaktionen auf den ersten Austausch untereinan-der fallen sehr positiv aus. Erste Schritte... Nachmittags haben wir einen Ausflug in das Fischer-dorf Candarli gemacht. Seyitali ist zur Organisation des gemeinsamen Pro-jekts in das Bergdorf Kalabak Köyü gefahren, um dort mit dem Bürgermeister (Hr. Muhtar) und der Gemein-de die letzten Vorbereitungen abzusprechen. Es stellt sich heraus, dass es Schwierigkeiten gibt, weil ein An-trag an die Provinzverwaltung hätte gestellt werden müssen. Das heisst, wir können morgen noch nicht mit dem Projekt beginnen, sondern müssen erst mit dem Kaymakam (Regierungsvertreter in der Provinz) reden. Also abwarten...

3.TagAusflug nach Berga-ma (Pergamon) und in die Stadt Izmir Hallo liebe Leute in Berlin, heute sind wir direkt nach dem Frühstück nach Ber-

gama (Pergamon) gefahren. Die Fahrt dauerte unge-fähr 30 min. bis zu 1 stunde. Als wir ankamen konnten wir leider nicht hoch zu den Ruinen von Pergamon,, da das Eintrittsgeld zu teuer war (10 euro pro Person) also liefen wir nicht nach oben. Wir setzten uns auf die Steine und machten so auch schöne Fotos. Nach 1 Stunde fuhren wir los in die Stadt Izmir, im Reisebus war viel los manche singen hinten ganz laut und die Leute die vorne saßen lachten und erzählten sich wit-ze. Der Busfahrer lies uns in der Stadt ab und wir liefen erst alle zur Bank um unsere euros in liras zu verwan-deln :). Jeder hatte sein Geld umgetauscht und wollte es so schnell es geht wieder los werden also teilten sich die Personen in Gruppen zusammen und zogen durch die Basare und Einkaufläden. Wir trafen uns um 17.30 Uhr dort, wo der Busfahrer uns ablies. Jeder kam mit mindestens 2-3 Tüten in der Hand zurück und wie es den Anschein hatte hat der Trip in die Stadt Spaß gemacht, denn alle waren

Dokumentation eines Online-Reisetagebuches

Türkeireise

Internationale Begegnungsfahrt in die Türkei vom 1.10.-16.10.2005 nach Afacan und Antalya. Veranstaltet wurde diese Reise von OUTREACH-Mobile Jugendarbeit/Berlin in Kooperation

mit dem Verein „Umut Cocuklari Dernegi“/Istanbul.18 Jugendliche aus Berlin im Alter von 16-19 Jahren treffen sich mit 8 Jugendlichen aus Istanbul in der

Jugendbegegnungstätte Afacan an der westtürkischen Mittelmeerküste, um in einem gemeinsamen Projekt ein Schulgebäude und einen Schulhof zu gestalten. In der zweiten Woche in Antalya gibt es ein reichhaltiges

Kulturprogramm mit Besuchen in einheimischen Familien.

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gut gelaunt. Um 20.30 Uhr kamen wir erst in unserem Hotel Afacan an. Wir aßen zu Abend und gingen für 1 Stunde in unsere Zimmer um uns zu erhohlen, denn um 22.00 Uhr wollten wir uns in der Cafeteria treffen, um die nächsten Tage zu besprechen. Bei der Gesprächsrunde mussten wir erfahren, dass unser geplantes Projekt leider nicht umsetzbar ist, da wir die Erlaubnis für die Gestaltung der Schule nicht bekommen haben. Trotzdem fahren wir morgen in das Dorf Kalabak Köyü, weil wir von den Bewohnern eingeladen wurden.

4.Tag Besuch im Bergdorf Kalabak Köyü Heute morgen um 11Uhr haben wir unser Motel in Afa-can verlassen, um das Dorf Kalabak zu

besuchen. Nach 10 km Busfahrt sind wir die restlichen 7 km mit zwei Traktoren gefahren.Wir wurden wie Stars empfangen.Die Kinder aus dem Dorf umarmten uns und stellen uns sehr viele Fragen! Wir sahen wie die Frauen aus dem Dorf das Essen vorbereiteten. Vor dem Essen haben wir mit einen paar Männern aus dem Dorf und unsere Gruppe und ein paar Kindern das Dorf besichtigt. Als wir zurückkamen, konnten wir schon riechen, was es zum Essen geben wird...Fisch! Die Frauen bereiteten den Salat vor und die Männer übernahmen das Grillen der Fische. (Dies war der leckerste Salat, den wir je gegessen haben!). Danach wurde eine kurze Besprechung durchgeführt, bei der wir uns bei den Bewohnern bedankten. Sie hinge-gen waren noch viel dankbarer, dass wir gekommen waren, trotz des Problems, dass wir die Arbeit, die wir leisten wollten, nicht durchführen durften. Später nah-men ein paar aus unserer Gruppe (Jalal, Sami, Maria, Ceren und Zeynep) am Musikunterricht der Schule teil. Die Lehrerin forderte nacheinander einzelne Schüler auf, uns ein Lied nach Wunsch vorzusingen. Wir waren alle Sprachlos und gerührt, da sie sich sehr viel Mühe gaben und sich nicht schämten. Nach ein paar Stückken bat uns die Lehrerin ein deutsches Lied für die Kinder zu singen. Nach einigem Überlegen fiel uns nur das Lied „Alle meine Entchen“ ein. Und so begannen wir Stück für Stück es den Kindern beizu-bringen. Jedoch gab es Probleme bei der Aussprache, so dass wir anfingen, das Lied so an die Tafel zu schrei-ben, wie es im Türkischen ausgesprochen wird („Ale mayne entsen“). Die Schüler waren begeistert, da es für sie das erste mal war, dass sie eine fremde Sprache sprechen. Danach war auch schon die Zeit gekommen Abschied zu nehmen. Wir bedankten uns ganz herzlich bei al-len und umarmten die Kinder. Sie waren sehr traurig,

dass wir gingen und fragten uns, ob wir nochmal ihr Dorf besuchen werden. Dann stiegen wir wieder auf die Traktoren und fuhren los. Die Fahrt genossen wir in vollen Zügen, da uns die schöne Landschaft fas-zinierte. Wir aßen auf dem Rückweg Feigen, die uns die Dorfbewohner mitgaben. Erschöpft kamen wir in unser Motel zurück und ruhten uns erstmal etwas aus. Schöne Grüsse von Zeynep, Sami und Ceren Morgen werden wir auf den Baumwollfeldern der Landwirtschaftskooperative des Dorfes arbeiten und einiges über die Bedeutung von Baumwolle lernen. Bis dann...

5.Tag Mithelfen auf den Baumwollfeldern von Kalabak Köyü Heute sind wir zu den Baumwollfel-dern der Landwirt-schaftkooperative

von Kalabak Köyü gefahren. Da wir nicht im Dorf ar-beiten konnten, wollten wir wenigstens ein wenig bei der Baumwollernte mithelfen. Es sind nur Frauen, die die harte Arbeit des Baumwollpflückens verrichten. Seit morgens um 7 Uhr sind sie schon auf dem Feld. Sie pflücken so schnell und geschickt, dass wir gar nicht hinterherkommen. Trotzdem freuen sie sich über unsere Mithilfe. Die Baumwolle fühlt sich so schön flauschig an. Doch der Rücken schmerzt nach kurzer Zeit und die Sonne brennt. Zum Glück können wir nun einiges über den Nutzen von Baumwolle erfahren. Z.B. hören wir, dass Baumwolle eine der wichtigsten Roh-stoffe für Textilien, für Explosivpulver, Filmmaterial und für über 50 verschiedene Industrierohstoffe ist. Das heisst Baumwolle ist für die Waffenindustrie genauso wichtig wie für die Textilindustrie. Auch die Samen der Baumwolle werden für die Lebensmittelindustrie zur Pflanzenölherstellung gebraucht. Die Türkei ist der sechstgrößte Baumwollproduzent der Welt (nach China, Indien, USA, Pakistan und Usbekistan). Für ca. 6 Millionen Menschen in der Türkei wird der Lebensun-terhalt durch Baumwollarbeit gesichert. Unter einem Birnenbaum picknicken wir. Ziegenkäse, Tomaten und Brot. Sollen wir jetzt nochmal arbeiten? lieber liegen wir noch etwas im Schatten... Heute abend bereiten wir noch die Abschiedsparty für morgen abend vor. Ja leider ist morgen schon der letz-te gemeinsame Tag. Am Freitag geht es weiter nach Antalya.

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6.Tag Frei und Abschieds-feier Den Tag über hat je-der Zeit für sich und das Gespräch mit den Jugendlichen aus Istanbul.

Höhepunkt des Abends ist dann der erste Teil des Dokumentarfilms über unsere Fahrt. Bei vielen Szenen ist das Gelächter gross. Einige tanzen auch noch oder spielen zusammen bis tief in die Nacht. Ausführliches später...

7.Tag Abschied und Fahrt nach Antalya Den Vormittag ha-ben wir Zeit für die letzten Abreisevor-bereitungen und den Abschied von

der Istanbuler Gruppe (sie fahren erst abends zurück) und von Afacan. Das heisst, Adressen austauschen, Zimmer kontrollieren, Fotos schiessen und noch schnell auf CD brennen, das Auswertungsblatt vom Afacan Motel ausfüllen, bloss nichts von unsrer gan-zen Technikausstattung vergessen etc.. Und natürlich noch ein Gruppenbild machen! Mit Umsteigen in Izmir, fahren wir mit einem Lini-enbus über Denizli durch eine wunderschöne Berg-landschaft in die Nacht hinein nach Antalya. Wir sind insgesamt neun Stunden unterwegs, als wir das Lich-termeer von Antalya sehen. Spaetestens jetzt sind alle wieder wach. Schnell wird das Hotel in Beschlag ge-nommen. Essen gegangen und dann an den Strand. Es ist angenehm warm. Schlafen können dýe wenigsten, wir sind alle ziemlich aufgedreht.

8.Tag Einleben in Antalya Merhaba an euch alle in Berlin, wir sind wohlauf und gut in Antalya gelandet. Der Inter-netzugang im Hotel

funktioniert noch nicht, deshalb brauchen wir einige Zeit (wohl bis morgen abend), um das Tagebuch wie-der auf den neuesten Stand zu bringen. Ausserdem beschaeftigen uns noch die intensiven Erlebnisse in Afacan. Herzliche Grüsse an Euch alle... P.S. Natuerlich schauen wir heute abend das Fussball-spiel Tuerkei: Deutschland

9.Tag Olympiade Die Sonne strahlt und wir werden richtig aktiv! Eine Olympiade ist ange-sagt, mit so vielen unterschiedlichen

Wettkaempfe, dass wir bis zum Abendessen kaum eine Pause haben. Los geht es mit drei Sportwettbe-werben: Streetball, Völkerball und Wettschwimmen. Drei Gruppen kaempfen gegeneinander um den Ta-gessieg. Danach heisst es, wer dreht den besten Wer-bespot? Für die Produkte: Haarentferner, Babybiskuits und Limo. Zum Abschluss gibt es ein Quiz und das bekannte Ratespiel „Wer bin ich?“. Nach dem Abendessen fahren wir mit dem Dolmuþ ins Zentrum und flanieren durch die Altstadt Antalyas. Romantisch scheint der Mond am Hafen und ausge-lassen feiern die Antalyaner(?) Ramadan. Wir kriegen auch nochmal Hunger und essen das beste Yengen (Sandwich) der Stadt bei Evren Büffe. Leider sind die kurzen Werbespots bis zum spaeten Abend nicht fertig geworden. So kann die unabhaen-gige Jury nicht entscheiden und auch keinen Sieger ausrufen! Also warten wir bis morgen...

10.Tag 1.Besuch in der Ayse-Ahmet-Atma-ca-Ilkögretim-Schu-le und Siegerehrung Die Woche startet mit einem Besuch bei unserem Partner

in Antalya, der Ayþe-Ahmet-Schule, die von über 1000 Schülern besucht wird. Herzlich werden wir vom Di-rektor Süleyman begrüsst. Es ist mittlerweile der fünf-te Besuch von OUTREACH, es geht also sehr locker zu. Wie in Kalabak Köyü nehmen einige von uns am Un-terricht teil. Hier folgt ihr Bericht...(wenn er fertig ist). Übrigens im Foyer der Schule haengt ein ganzseitiger Zeitungsartikel, in dem die Vorbildfunktion von OUT-REACH für die Einrichtung von altersübergreifenden Unterricht in bestimmten Faechern beschrieben wird. Ein echter Höhepunkt am Abend ist die Praesentation des Videowettbewerbs und die Siegerehrung. Drei unglaublich lustige Werbefilme mit Fruco, Sesu und Babybrei bringen die Stimmung zum Kochen. Musst du gucken, wenn wir wieder bei euch sind...

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11.Tag Hamam statt Blauer Reise Sommer, Sonne, Strand und Meer mitten im Oktober. So jedenfalls haben wir uns das in An-

talya vorgestellt. Doch tatsaechlich heute, wo wir mit einem Schiff auf das Meer raus fahren wollen, regnet es! Und zwar richtig! Den ganzen Tag über ist es stark bewölkt, nass und kalt. Also nichts ist mit Schwimmen im türkisblauen Wasser und Sonnenbaden an Deck. Stattdessen gehen wir ins Hamam, dem türkischen Badehaus, mit Dampfsauna und Massage. Himmlisch, besonders der seidige Schaum beim Gewaschen werden. Abends gibt es noch die Möglichkeit, einen Film auf DVD zu sehen. Bevor „Reine Nervensache“ richtig an-faengt, schlafen die meisten schon vor der Leinwand ein. Na, dann gute Nacht...

12.Tag 2. Besuch in der Ayse-Ahmet-Atma-ca-Ilkögretim-Schu-le mit Maerchenle-sung und Familien-besuchen

Heute war der Ansturm der jüngeren Schulkinder noch grösser als am Montag. Jedes will geherzt, gedrückt und fotografiert werden. Aber zunaechst geht es zu den Gastfamilien zum Mittagessen. Ali-can nimmt uns (Cidem, Jalal, Maria und Stefan) mit und wir laufen durch die Siedlung zu seinem Haus. Seine Mutter und sein kleiner Bruder begrüssen uns, bevor wir eintreten ziehen wir unserer Schuhe aus. Das Wohnzimmer ist gemütlich eingerichtet und der Esstisch ist schon gedeckt. Alicans Vater erfahren wir arbeitet bei der „türkischen Telekom“ und kommt erst abends nach Hause. Weil Ramadan ist, isst Alicans Mutter nicht mit uns, sondern fastet bis Sonnenun-tergang. Auch das Essen, das sie uns serviert, konnte sie deshalb nicht abschmecken. Trotzdem ist es super lecker! Wir reden über unsere Familien, über das Le-ben in der Türkei und Deutschland, über Politik und das Wetter. Dann zeigt uns Alicans Mutter Familienfotos und selbstangemalte Tabletts. Zum Abschluss machen wir auch noch Fotos und dann müssen wir auch schon wieder zurück in die Schule.

Dort veranstaltet Ilhan mit Zeynep und Ceren eine Maerchenlesung auf einer kleinen Bühne im Unter-geschoss. Es sind so viele Kinder da, dass, obwohl die meisten gespannt zuhören, es staendig unruhig ist. Es gelingt nicht, eine ausreichend ruhige Atmosphaere zu schaffen, deshalb brechen wir die Lesung ab. Lei-der! Die Kinder sind enttaeuscht und wir auch, aber es macht keinen Sinn. Danach entsteht wieder der bekannte Trubel. Alle von uns werden staendýg von den jüngsten Schulkindern umringt und ausgefragt. Der Abschied will kein Ende nehmen. Wir kommen bestimmt wieder...

13.Tag Ein 6er im Lotto? Hier seht ihr endlich mal ein Foto von unserem Hotel...! Cooler Pool, oder? Ganz ehrlich, wer von euch hat nicht

schon einmal von einem Urlaub in einem 5-Sterne-Hotel getraeumt? Für uns ist dieser Traum heute einen Tag lang wahr geworden! All inclusive natuerlich! Sü-leyman und Seyitali sei Dank! Was haben wir uns alles vorgenommen... und dann haben wir fast die ganze Zeit Beachvolleyball gespielt und uns gesonnt. Uuuuuund Essen und Trinken, soviel wir konnten. P.S. Ein Foto von unserem „echten Hotel“ seht ihr in der Fotogalerie. P.S.S. Herzlichen Dank für Eure netten Eintraege ins Gaestebuch. Bald geht es zurück nach Berlin, aber dar-an wollen wir gar nicht denken.

14.Tag Abschiedsfeier und Blaue Reise Am Abend feieren wir mit unserem Partner aus Antalya Abschied. Bei einer gemütlichen Runde

mit türkischen Spezialitäten im Innenhof des Hotels zeigen wir Fotos und Filmaufnahmen von der ersten Woche in Afacan und unseren Aktivitäten in Antalya. Am vorletzen Tag scheint nochmal richtig die Son-ne und wir konnten doch noch die Blaue Reise, eine Bootsfahrt entang der Steilküste Antalyas, unterneh-men. „Nichts Schöners unter der Sonne als unter der Sonne zu sein...“

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Auf der diesjährigen Jahrestagung Stadtteilarbeit in Hannover wurde ein Arbeitsansatz vorgestellt, mit dem die Sprach- und Intelligenzentwicklung von Kindern aus Migrantenfamilien unter Nutzung der besonderen Fähigkeiten und Ressourcen der Mütter (!) nachhaltig gefördert wird. Der konzeptionelle Grundgedanke ist, dass das Erlernen von Deutsch als Zweitsprache am besten funktioniert, wenn in der Primärsprache (meistens die „Muttersprache“) ein differenziertes Benennen und Denken trainiert wird. Und wer ist dafür im Zweifelsfall am Besten geeignet: die Mutter. Insbesondere wenn sie, wie es in dem Projekt geschieht, in einem ersten Schritt in ihrer eigenen Muttersprache (!) zusätzliche Wörter und Begriffe erlernt, die sie später (zwanglos, aber systematisch) mit ihrem Kind übt. Die Mütter werden über Kindertagesstätten „rekrutiert“ und bilden nach einem Schneeballsystem ihrerseits wieder Mütter aus, die das ausgearbeitete Material mit ihren Kindern im Laufe eines Jahres durcharbeiten. Parallel zum familiären muttersprachlichen Programm wird das Ganze in der Kindertagesstätte in deutscher Sprache „absolviert“.

Der Ansatz stammt aus Holland und ist über die RAA (Regionale Arbeitsstellen zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien) Nordrhein-Westfalen unter dem Namen „Rucksack-Projekt“ nach Deutschland gebracht worden. Dort ist auch in vielen Sprachen das umfangreiche Material zur Verfügung gestellt worden, das für die Begleitung der Lernprozesse entwickelt wurde.

Die Projektidee, die konsequent auf die Entwicklung einer kompetenten Zweisprachigkeit setzt, unterschei-det sich wohltuend von den kontraproduktiven Aufforderungen an die Familien, doch gefälligst mit ihren Kindern Deutsch zu sprechen, weil das angeblich ihre Integrationschancen erhöht. Es gibt von vielen Seiten Interesse an diesem Projektansatz und dem dazugehörenden Material.

Das vorgestellte Beispiel der „Stadtmütter“ aus Augs-burg ist schon Ergebnis der weiteren Verbreitung des Projektansatzes. In Niedersachsen hat die LAG Soziale Brennpunkte durch eine Vereinbarung mit der RAA NRW das Recht erworben, das Projekt im Land Niedersachsen umzusetzen (Leitung, Beratung, Schulung).

Eine gute Idee, die Schule auch in anderen Bundes-ländern machen könnte!Bei unserer Suche nach erfolgreichen neuen Kon-zepten der Sprachförderung sind wir auf ein Beispiel gelungener Praxis in Nordrheinwestfalen gestoßen: Das Essener Rucksack- Projekt, auch Stadtteilmütter-projekt genannt. Dieses Elternbildungs- und Sprach-förderprojekt der Regionalen Arbeitsstelle für Kinder und Jugendliche aus Zuwandererfamilien (RAA) hat uns in seiner Effizienz so überzeugt, dass wir es im Rahmen eines LOS-Mikroprojektes im Augsburger Stadtteil Oberhausen, den örtlichen Bedingungen entsprechend umsetzen wollten. Hierbei sollten während der Sprachförderung Erziehungs- und Sozialkompetenzen von Migranteneltern mit Hilfe von mehrsprachigen Multiplikatorinnen (Stadtteil-müttern) gestärkt werden. Bereits bestehende sozial-

Familienbildung einmal anders: das „Rucksackprojekt“

räumliche Kontaktnetze zwischen Eltern, Kindertages-stätten, sozialen Diensten und Weiterbildungsträgern sollten hierfür genutzt werden.In der Vorbereitungsphase von vier Monaten woll-ten wir bei den mit Kindern beschäftigten Bildungs-einrichtungen in Oberhausen eine Sensibilisierung für die Notwendigkeit eines solchen Projektes mit vernetzten Strukturen erreichen. Die Zielsetzungen waren:

• Bekanntmachung des Projektansatzes bei potentiellen Kooperationspartnern • Konzepterstellung mit Kooperations- partnern im Stadtteil • Gemeinsame Planung des weiteren Vorgehens

Nach einem Informationstreffen für betroffene Ein-richtungen, einer späteren Impulsveranstaltung mit Frau Dr. Springer- Geldmacher und umfangreichen telefonischen, schriftlichen sowie persönlichen Be-gegnungen erklärten sich 4 Kindertagesstätten von verschiedenen Trägern (städtische, evangelische, ka-tholische) bereit, sich an der Umsetzung des Projektes zu beteiligen:

Çakmak Hamdiye(Initiative Beratung und Begegnung e.V., Augsburg)

Stadtteilmütter in Augsburg - Oberhausen

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Sie rekrutierten insgesamt sechs Stadtteilmütter. Fünf davon waren türkischer Herkunft undEine mit russischer Herkunft.Diese Elternbegleiterinnen sind mehrsprachig, haben einen guten Kontakt zur Kindertagesstätte und zu den anderen Eltern und verfügen über die nötige Zeit von sechs Stunden wöchentlich.

Zur Qualifikation, sowohl für die Arbeit mit weiteren Müttern als auch für die Zusammenarbeit mit der Kindertagesstätte, erhalten die Stadtteilmütter jede Woche für zwei Stunden in deutscher Sprache eine Anleitung nach dem schriftlichen Rucksackprogramm.

Innerhalb derselben Woche geben sie das Erlernte an ihre Müttergruppe, in den Räumen ihrer Kindertages-stätte in ihrer Muttersprache weiter.

Die Müttergruppen der Stadt-teilmütter bestehen aus 7 – 14 Frauen einer Nationalität. Es gibt drei türkische, eine russische und eine heterogene Gruppe dessen Teilnehmer/innen von Müttern und einem Vater aus acht verschiedenen Herkunfts-ländern bestehen. Die Anleitung erfolgt in dieser Gruppe in der

deutschen Sprache, mit dem Hinweis es zu Hause in der Muttersprache an die Kinder weiterzugeben.

Obwohl sich auch eine italienische und eine aramäi-sche Stadtteilmutter finden ließen, war das Interesse der teilnehmenden Mütter so gering, dass keine Gruppen gebildet werden konnten. Hier sind wir gefordert, neue Wege der Zusammenar-beit mit diesen Eltern zu finden.

Mit den Einrichtungen wurde vereinbart, das gleiche Material und Spiel, die die Kinder mit ihren Müttern in der Erstsprache bearbeiten, in der deutschen Spra-che im Kindergarten parallel einzusetzen. Durch den Widererkennungseffekt sollen die Kinder in die Lage versetzt werden, einfacher und effektiver die deutsche Sprache zu lernen.

Unter Einhaltung der Auflagen (die Stadtteilmütter honorieren, die parallele Anbindung an den Kinder-garten) stellte uns die RAA ihr schriftliches, mehrspra-chiges Arbeitsmaterial für die Mütter und die Kinder kostenlos zur Verfügung.

Das Programm besteht aus verschiedenen Themen, die je nach Situation ausgewählt werden können: die Familie, die Kleidung, der Frühling… Das aktuelle The-ma, welches die Mütter mit Ihren Kindern zu Hause in der Muttersprache bearbeiten, wird von den Stadt-teilmüttern der Kindertagesstätte bekannt gegeben.

Die Erzieher/innen greifen das gleiche Thema in der deutschen Sprache mit allen Kindern gemeinsam auf (Mitnahmeeffekt).

Das Material ist stark strukturiert. Die Mütter empfin-den dies, nach eigenen Aussagen, als eine Erleichte-rung in ihrem Alltag. Zusätzlich ist es auch die Art des Lernens, welches ihren Erfahrungen entspricht.

In Kindertageseinrichtungen mit Situationsorien-tiertem Ansatz müssen individuelle Wege gefunden werden, das Material mit den Inhalten und Anforde-rungen der Einrichtung zu verbinden.

Deutlich wurde auch, wie wichtig neben der Vorberei-tung der Stadtteilmütter zur Elternbildung, auch Fort-bildungen für das Kindergartenteam für die inhaltli-che Auseinandersetzung mit dem Projekt sind.

Um die Partnerschaft zwischen den Erzieher/innen und den Stadt-teilmüttern zu festigen, wurde die Fortbildung zum Thema „Interkultu-relle Sensibilisierung“ mit Frau Dr. Springer-Geldmacher als Referentin, gemeinsam durchgeführt. Weitere Fortbildungen für beide Gruppen zum Beispiel zu den Themen Spra-chentwicklung, Mehrsprachigkeit und interkulturelle Pädagogik sind geplant.

Funktion der Kindertagesstätten

- Sie arbeiten an der Umsetzung des Projek-tes mit, in dem sie die Themen des Projektes aufgreifen und damit, Sprachförderung in der deutschen Sprache in die Arbeit ihrer Einrich-tung integrieren

- Nehmen die Sprachförderung von Migranten-

kindern als Anlass, das Thema Sprache insge-samt für alle Kinder zu etablieren

- Leisten wichtige Beiträge für das Gelingen des Projektes, indem sie bei der Bildung der Müttergruppen und der Auswahl der Stadt-teilmütter aktiv beteiligt sind

- Stellen Räumlichkeiten für die Zusammen-künfte der Gruppen zur Verfügung

- Unterhalten einen regelmäßigen Austausch mit den Stadtteilmüttern, wodurch ein abge-stimmtes Vorgehen ermöglicht wird

- Erhalten Anregungen die Kindertagesstätte interkulturell zu gestalten

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- Einige Kindertagesstätten waren bereit Ge-schwisterkinder während der Müttertreffen mitzubetreuen, andere sahen es als notwen-dig, zusätzlich Kinderbetreuer/innen zu enga-gieren.

Funktion der Stadtteilmütter

- Ohne die Stadtteilmütter hätte das Projekt nicht wirksam umgesetzt werden können

- Sie tragen einen sehr beträchtlichen Anteil zum Erfolg des Projektes bei

- Sie sind ein wichtiges Bindeglied zwischen den Migranteneltern und den pädagogischen Fachkräften

- Durch ihren Einsatz und ihr Engagement

sind sie positive Vorbilder für die Frauen in den Müttergruppen

- Sie motivieren die Mütter für die pädagogi-sche Beschäftigung mit ihren Kindern ständig aufs Neue

Die Stadtteilmütter berichten:

- Durch das Projekt fühlen sich die Stadtteil-mütter in ihrem Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl gestärkt

- Sie fühlen sich wohler in der Kindertagesstät-te als vor Beginn ihrer Mitarbeit am Projekt

- Die Mitarbeit macht sehr viel Spaß

- Durch das Projekt sei das Interesse geweckt, die eigenen Deutschkenntnisse zu erweitern

- Durch die intensive Beschäftigung lernen sie ihre Kinder besser kennen

- Sie haben nun mehr Sicherheit über den Um-gang mit der Muttersprache

- Sprache hat insgesamt einen höheren Stellen-wert innerhalb der Familie erhalten

- Solche und ähnliche Aussagen berichten die Stadtteilmütter auch von Ihren

Müttergruppen

Die Stadtteilmütter genießen als ein wichtiges Binde-glied zwischen Familie, Einrichtung Kindertagesstätte, Familienstützpunkt und Stadtteil Anerkennung. Für ihr Engagement sind sie als Sprach - und Integrati-onsbotschafterinnen ins „Bündnis für Augsburg“ auf-genommen worden.

Seit der Auswertung der Projektphase LOS II wird eine stadtweite Umsetzung der Projektkonzeption ange-strebt.

In sechs weiteren Kinder-tagesstätten, in vier ver-schiedenen Stadtteilen die eine Kooperation mit dem Projekt wünschen, laufen zurzeit die Vorbereitungen für die Anleitungstreffen der Mütter im Januar.

Augsburg, 14.11.05

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Der Verband für sozial-kulturelle Arbeit hat die Sett-lementbewegung als entscheidende Wurzel für sich – und auch für die Geschichte der Gemeinwesenarbeit in Deutschland – reklamiert. Für Deutschland wurden dann beispielhaft das Hamburger Volksheim und die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost beschrieben.

Völlig übersehen wurde dabei, dass es auch eine jüdische Settlementbewegung mit Einrichtungen in Deutschland gegeben hat. Deren Geschichte ist aller-dings einzuordnen in eine Geschichte der jüdischen Settlementbewegung in USA und Europa, die noch weitgehend unerforscht ist.

Tobias Brinkmann weist auf eine enge Kooperation zwischen jüdischen Organisationen und der Settle-mentbewegung in Chicago zum Ende des 19. Jahr-hunderts hin (vgl. Brinkmann 2002). So kooperierten namhafte Rabbiner und die UHC (United Hebrew Charities) mit Mitarbeiterinnen von Hull House, das sich im Herzen des Einwandererviertels an der West-seite von Chicago befand.

In den berühmten „Hull House Maps und Papers“ findet sich auch eine detaillierte Studie des Chicagoer Ghettos von Charles Zeublin aus dem Jahre 1895.

Aus der Zusammenarbeit zwi-schen UHC und Hull House ent-stand ein jüdisches Settlement, das Maxwell Street Settlement.

Die Gründung erfolgte 1892 in enger Absprache mit Jane Addams. Die jüdischen Settler stammten aus wohlhabenden Familien und hatten gute Universitä-ten besucht. Eine Mitgründerin war Minnie Low (1867 – 1922), die „Jane Addams of the Jews“ genannt wurde und mit Jane Addams befreundet war und auch eine

wesentliche Rolle in der jüdi-schen Frauenbewegung spielte. Der langjährige Leiter des Max-well Street Settlements, Jacob Abt, war 25 Jahre alt, als er dort mit der Arbeit begann. Zunächst lebte er mit einem oder zwei Mitarbeitern im Settlement. Bis zu 15 Ehrenamt-liche, die nicht im Settlemen-

wohnten, unterstützten die Arbeit. Sie waren tags-über Ansprechpartner für die Bewohner des Ghettos, abends wurden Kurse angeboten: Deutsch- und Englischkurse, Lateinunterricht und Vorträge zu un-terschiedlichen Themen. Die Parallelen zu Hull House sind unübersehbar. Die Kursthemen entsprachen jedoch eher den Bildungsvorstellungen der akademi-schen Settler als den Bedürfnissen der Immigranten im Ghetto, die mit einem „Self-Educational-Club“ ihre eigene Bildungsarbeit organisierten. Jacob Abt verließ das Maxwell Street Settlement 1898. Nach Brinkmann existierte es noch 1918, es übte aber „keinen bedeu-tenden Einfluss auf jüdische Einwohner aus“ (Brink-mann 2002, 371).

1903 entstand in Chicago auf Betreiben junger Zionisten das „Hebrew Institute“, das den Charakter eines Settlements hatte. Brinkmann schreibt:“ Das ‚Hebrew Institute“ war das erste von ‚neuen’ jüdischen Einwanderern selbst organisierte Settlement in den USA“ (ebda. 403). Das Angebot umfasste Sprachkurse, Musik, Hauswirtschaft und Stenographie, es gab Spiel-möglichkeiten für Kinder und eine Turnhalle. 1908 erhielt das „Hebrew Institute“ einen Neubau und wei-tete seine Arbeit aus. Es wurde zum Treffpunkt unter-schiedlicher jüdischer Vereine und Gruppen.2

In den Judenvierteln von London und New York und anderen Städten entstanden weitere soziale Einrich-tungen, die sich an den Zielen – insbesondere an

Prof. Dr. Dieter Oelschlägel

Die Jüdische Settlementbewegung und das Jüdische Volksheim in Berlin1

„Am 18. Mai 1916 wurde das Jüdische Volksheim eröffnet.Mit dieser Gründung ist von Studenten, jungen Kaufleuten und Frauen der Versuch gemacht worden, ein in England und Amerika erprobtes System der Volkserziehung auf das jüdische Pro-letariat, womit wir die unter wirtschaftlich schlechten Bedingungen lebenden Schichten der Judenschaft meinen, zu übertragen. Es galt den Aufbau und Charakter dieses Siedlungsheimes dem Wesen des jüdischen Menschen anzupassen.In Anlehnung an das Settlementsystem hat sich das jüdische Volksheim neben allgemeinen sozi-alen Hilfeleistungen in gesundheitlicher und wirtschaftlicher Beziehung die Aufgabe gestellt, die Kinder und jungen Leute der in der Gegend des Heimes gelegenen, meist von ostjüdischen Ein-

wandererfamilien bevölkerten Straßen in Gemeinschaften (Kindergarten, Jugendkameradschaften, Klubs) zusammen-zuschließen, um durch geeignete Führung einen kulturellen Einfluss auf die heranwachsende Generation zu gewinnen.“ (Das Volksheim 1916, S.5).

Jane Addams

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denen der Volksbildung – der Settlementbewegung orientierten. In diesen Settlements sollten durch Zu-sammenwohnen und -leben der „sozialen Fürsorger“ mit einem bestimmten Kreis von Proletariern die Ge-fahren wirtschaftlicher und moralischer Zerrüttung abgewehrt werden. Sie sollten aber auch zur Stärkung der jüdischen Identität dienen.So gründete im März eine Gruppe jüdischer Frauen in Milwaukee ein nach Abraham Lincoln benanntes Sett-lement für jüdische Immigranten aus Russland, dessen besondere Aufmerksamkeit den Kindern der Einwan-derer galt, das aber auch für jüdische Jugend- und Sportgruppen eine Heimat wurde. Es existiert noch heute, integriert in das „Jewish Community Center of Milwaukee“.

1903 wurde von 35 jungen Juden das Westend House in Boston gegründet.

In London war es das Bernhard Baron St. Georges Je-wish Settlement, das im Londoner Osten beispielhafte Stadtteilarbeit leistete: soziale Beratung, Gesundheits-fürsorge, Clubarbeit für Kinder und Jugendliche, Vor-trags- und Bildungsarbeit für Erwachsene, Gestaltung der hohen jüdischen Feiertage (vgl. Henriques 1929).

Auf dem Festland haben sich nach dem Vorbild der jüdischen Settlementbewegung zwei Stränge entwi-ckelt: Zum einen die jüdischen Volksheime in Berlin, Hamburg; Breslau, Leipzig3 und Wien, zum anderen die Toynbeehallen, die sich auf die Londoner Toynbee Hall beriefen und sich ausschließlich der Volksbildung widmeten. Solche Toynbeehallen entstanden in Wien, Prag4 und in anderen Städten.

Im Dezember 1900 wurde in der Webgasse 13 in Wien die „Jüdische Toynbee-Halle“ eröffnet. Inspiriert war diese Gründung ebenso wie das Ottakringer Volks-heim von der englischen Settlementbewegung. Die Absicht war es, Arm und Reich zusammenzubringen und „für Sammlung und Erhebung aller zu sorgen, in dem gemeinsamen geistigen Interesse, die sozialen Ungleichheiten vergessen zu machen“, wie Leon Kell-ner5 im Gründungsaufruf schrieb, der in der Wiener zionistischen Wochenzeitung „Die Welt“ stand. Bei der Eröffnung gab es einen solchen Andrang, so dass sie zweimal wiederholt werden musste. Erwähnt wird die große Bibliothek der Jüdischen Toynbee Halle, in der auch der bedeutende Lyriker Paul Celan als Gymna-siast und Student arbeitete, und ein angeschlossenes Lehrlingsheim. Das Geld für Bau und Einrichtung stell-te ein reicher jüdischer Industrieller zur Verfügung. Die Jüdische Toynbee-Halle wurde zu einem wichti-gen Treffpunkt für Jüdinnen und Juden in einem viel-fach antisemitischen Umfeld.

Auch in Berlin gab es eine „Jüdische Toynbee-Halle für Volksbildung und Unterhaltung“ der Berliner Bne-

Brith-Logen6. Sie wurde 1902 oder 1904 gegründet und war in der Kleiststraße, nahe am Nollendorfplatz. Als Vereinszweck des ca. 800 Mitglieder starken Ver-eins wird angegeben: „Veranstaltung von unentgelt-lichen Unterhaltungs- und Vortragsabenden für die ärmere jüdische Bevölkerung, um ihnen Anregungen geistiger und geselliger Art zu bieten, um so die sozi-alen Gegensätze zu mildern“(Jüdisches Jahrbuch für Groß-Berlin 1926, 232).Mitte der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wurde in Altona – bis 1937 selbstständige Stadt – in der Wohlers Allee 58 ein jüdisches Volksheim gegrün-det. Das Volksheim war Kindergarten und Bildungs-einrichtung. Es wird von Sprachkursen und einer Lesehalle berichtet. „Außerdem gab es im ersten Stock das Beratungszimmer eines Arztes, der unter anderem Sprechstunden für die Säuglings- und Jugendpflege anbot...Zeitweilig besuchten 25 Mädchen und Jungen den Kindergarten. Ab Mittag wurden sechzig Kinder in dem dortigen Hort betreut“ (Plog 1999). Für vierzig bedürftige Kinder wurde im Volksheim Mittagessen zubereitet.

Eva Michaelis-Stern (1904 – 1992), Tochter des nam-haften Psychologen William Stern, berichtet:„Die Initiative zur Gründung des Altonaer Volksheimes kam vom zionistischen Jugendbund. Eine Freundin von mir war damals Kindergärtnerin, ich selbst erteilte Gymnastikunterricht, andere haben Musikunterricht gegeben. So hat jeder dazu beigetragen, was er konn-te. Das Volksheim hatte einen Leiter, der wahrschein-lich hauptamtlich angestellt war, Herrn Wittkowsky. Das Heim war vormittags für die Klein- und nachmit-tags für die Schulkinder geöffnet.

Die Kinder, die wir betreuten, gehörten zu ostjüdi-schen Familien, die nach dem 1. Weltkrieg von Polen nach Deutschland gekommen waren und die auf ih-rem Weg nach Amerika in Hamburg hängengeblieben waren. Häufig hatten sie aus wirtschaftlichen Gründen keine Mittel, um weiterzufahren, oder aber sie besa-ßen keine Visen. Sie wohnten zusammen in Altona in einem bestimmten Viertel.Eine Hauptschwierigkeit bestand darin, dass die Gruppe, die wir in dem Volksheim versammelten, die Eltern und Kinder nur Jiddisch sprachen, während wir, die wir aus Hamburg und Altona kamen, um dort zu arbeiten, alle deutschsprachig waren. Dabei war un-sere zionistische Gruppe sehr daran interessiert, diese Menschen weiter dem Judentum zu erhalten, ihnen aber auch gleichzeitig viel europäische Bildung zu vermitteln“(Ellger-Rüttgardt 1996, S. 275)

Finanziert wurde das Altonaer Volksheim wesentlich durch die Unterstützung der Hochdeutschen Israeli-tischen Gemeinde in Altona und die Deutsch-Israeli-tische Gemeinde in Hamburg. Dennoch hat es immer finanzielle Engpässe gegeben.

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Das Heim hatte drei hauptamtliche Angestellte, dar-unter eine ausgebildete Jugendleiterin und eine Kin-dergärtnerin.

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozi-alisten bahnte sich das Ende der Einrichtung an. Bis 1936 wurden noch Kinder betreut, dann wurde das Jüdische Volksheim in Altona aufgegeben.Das bekannteste und hinsichtlich seiner Wirkung bedeutendste jüdische Settlement war das Jüdische Volksheim in Berlin. Vorbild dafür war das in der Tradi-tion der Settlements stehende Siedlungsheim Char-lottenburg.

Das Siedlungsheim Charlottenburg war von Ernst Joel gegründet worden, der dem sozialpolitischen Flügel der „Freien Studentenschaft“ (akademischer Teil der Jugendbewegung) angehörte.

Ernst Joel (1893 – 1929) war ein bedeutender deut-scher Pazifist. Er war Mediziner und wurde bekannt mit seinen Studien über die Pharmakologie von Koka-in und Morphium. 1926 gründete er die Fürsorgestelle für Alkoholkranke und andere Giftsüchtige im Berliner Bezirk Tiergarten, deren Leiter er auch wurde. Er wech-selte dann in den Bezirk Kreuzberg und wurde bis zu seinem frühen Tod der erste Leiter des Gesundheits-hauses am Urban.Ernst Joel war aktiv in der akademischen Jugendbe-wegung und gründete 1915 die Zeitschrift „Der Auf-bruch“.

Über die Tätigkeit des Siedlungsheimes Charlot-tenburg, das in der Sophie-Charlotte Straße 80 war, konnte bis auf eine Notiz in der Nummer 2/3 des „Aufbruch“ 1915 nichts ermittelt werden. Dort wur-den junge Männer und Mädchen zur ehrenamtlichen Arbeit in der Leitung von Kindergruppen des Sied-lungsheims – insbesondere Wanderungen und Spiele – aufgerufen.

In der ersten Nummer des „Aufbruch“ äußerte sich Joel in einem „Brief an einen Freund“ zur Idee des Siedlungsheimes, die offensichtlich von der Settlementbewegung beeinflusst war. Das Siedlungsheim habe un-terschiedliche Aufgaben: es solle Untersuchungs-arbeit leisten, es solle Brücken bauen zwischen den Klassen durch soziale Hilfen, und es solle eine

religiöse Wirksamkeit haben. Ebenso wie in den Sett-lements ging es auch hier um die Veränderung der

„Siedler“ selbst:„Das Siedlungsheim hat vorerst eine prüfende und untersuchende Aufgabe. Mitten im Arbeiterviertel müssen die Siedler, freiwillige Bürger dieses Stadtteils, und ihre Helfer die neue Welt, die sie umgibt, kennen lernen, die neuen und fremden Menschen, deren Nachbarn sie werden wollen, sich vertraut und ver-bündet machen und so wird das Siedlungsheim Sie in doppeltem Sinne seinem Dienst vorbereiten und unterordnen: Sie werden durch die tätige Teilnahme an ihm reicher werden an Kenntnis von den Tatsachen der wirklichen Welt, es werden ihnen helfend Kräfte bewusst werden und wachsen, deren Sein Sie nie zu-vor verspürten“(Joel 1915).

Ein zentraler Begriff auch hier ist der der Begegnung. „Das Siedlungsheim soll eine Stätte sein, in der Men-schen losgelöst aus ihrer Klassengebundenheit, sich finden auf Grund des gleichen Rechtes und der glei-chen Pflicht: Mensch zu sein“. Es betrachte „es als sein vornehmstes Gebot, Begegnungen mit dem Men-schen schlechthin herbeizuführen, ihn aufzusuchen und aufzustöbern, wo er scheinbar verschüttet liegt, ihn aufzuwecken, wo er scheinbar tot ist. Dann erst kann die Siedlung zum Mittelpunkt ganzer Stadtteile werden“ (ebda.) .

Das Siedlungsheim ist ein Ort, wo die Grenzen zwi-schen Privatheit und sozialer Arbeit zerfließen. „Der Siedler ist kein Beamter, der Siedler ist stets zuhause“ (ebda.).

Unter Einfluss dieses Siedler-heims und unter Hinweis auf die Settlementidee gründeten junge Juden – Studenten und Frauen – un-ter Führung des Medizinstudenten Siegfried Lehmann 1916 das Jüdische Volksheim in der

Dragonerstr. 22 ( heute: Max-Beer-Str.) im Berliner Scheunenviertel, wo vor allem ostjüdische Flüchtlinge aus Polen, Galizien und Russland Zuflucht gefunden hatten.

Siegfried Lehmann gehört zu den großen Sozialpä-dagogen des 20. Jahrhunderts; allerdings ist er fast vergessen, wie viele bedeutende jüdische Sozialpäda-gogen und Sozialpädagoginnen.

Siegfried Lehmann wurde 1892 in Berlin geboren. Er gehörte zu einer assimilierten, wohlhabenden, ge-bildeten jüdischen Familie. Sein Vater war Buch- und

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Kunsthändler. Nach dem Abitur begann er 1913 in Berlin ein Medizinstudium. 1919 legte er die ärztliche Staatsprüfung in Frankfurt am Main ab und promo-vierte 1920 mit dem Thema „Zu Prognose der geisti-gen Entwicklung bei kindlicher Epilepsie“.

1916, als engagierter zionisti-scher Student, gründete Leh-mann das „Jüdische Volksheim“ im Scheunenviertel des östlichen Berlin, inmitten der Lebenswelt der ostjüdischen Flüchtlinge. Er war relativ kurze Zeit dessen Lei-ter, dann arbeiteten die Mitarbei-

terInnen selbständig weiter.

1921 wurde Siegfried Lehmann vom Jüdischen Nati-onalrat in Litauen gebeten, die Kinderfürsorge unter der jüdischen Bevölkerung Litauens zu organisieren. Neben einer großen Zahl medizinischer und päda-gogischer Institutionen für Kinder gründete er das „Jüdische Kinderhaus“ in Kowno, der damaligen Hauptstadt Litauens, das er bis 1926 leitete. Sein Nachfolger wurde Hans Lubinski.

Auch in Kowno, das ein Zentrum ostjüdischen Lebens in Litauen war, hat Siegfried Lehmann versucht, die Ideen der Settlementbewegung umzusetzen. Das Haus war mehr als nur ein Kinderheim. Es hatte nach Lehmann eine pädagogische, eine medizinische und eine soziale Abteilung. Die pädagogische Abteilung, das Kinderheim, war für ca. 200 Kinder von den ersten Lebensmonaten bis hin zum Jugendalter eingerich-tet. Ihm waren Werkstätten und ein kleiner land-wirtschaftlicher Betrieb angegliedert, ebenso eine Kleiderausgabestelle, ein Kinderschutzbüro und eine Säuglingsfürsorgestelle.

Siegfried Lehmanns engagierter Einsatz entfremdete ihn von seiner Frau, die zurück nach Berlin ging. Später heiratete er eine russisch-jüdische Ärztin, die zu seiner Unterstützung in das Kinderhaus gekommen war.

Mit einer Gruppe jüdischer Waisenkinder übersiedelte Siegfried Lehmann 1926/27 nach Palästina. Dort bau-te er auf dem Gelände der Versuchsfarm Ben Shemen östlich von Tel Aviv ein Kinder- und Jugenddorf auf, das zur angesehensten Einrichtung dieser Art in Israel werden sollte.

1952 erhielt Siegried Lehmann den Preis der Verein-ten Nationen für Erziehung zum Frieden, und 1957 wurde ihm der Preis für Erziehung des Staates Israel verliehen.

Siegfried Lehmann ist 1958 gestorben und in Ben Shemen begraben worden. Ben Shemen besteht bis heute.

Max Fürst7 schreibt in seinen Lebenserinnerungen: „Diese Gegend... bildete das Zentrum des damaligen Judenviertels. Es war einmal eine gut bürgerliche Ge-gend gewesen, um die Jahrhundertwende, wie man bei Fontane nachlesen kann. Zu meiner Zeit waren die wohlhabenden Bürger, auch die Juden unter ihnen, schon längst in den Berliner Westen gezogen. Geblie-ben waren die ärmeren Geschäftsleute und Juden, die noch nicht lange in Berlin sesshaft waren. Es war eine Gegend der kleinen Leute und eine sehr volkreiche dazu. Immer waren die Straßen, auf die viele kleine und kleinste Lädchen hinauswucherten, voller Leute, die zur Arbeit gingen oder von ihr kamen, immer stan-den Huren herum, die aber wie alle anderen zum Stra-ßenbild gehörten und an denen keiner Anstoß nahm. Es gab auch Warenhäuser: Tietz und Wertheim, große Fabrikhäuser, Textilbetriebe und en-gros-Geschäfte, da war die Volksbühne auf dem Bülowplatz und ge-genüber das Karl-Liebknecht-Haus, die Zentrale der Kommunistischen Partei, daneben das große Kino „Babylon“ und dann die vielen kleinen Cafe’s...“ (Fürst 1976, 15f.)

Und das Statistische Amt Berlin beschreibt das Gebiet als „jüdische Schweiz“: „Jüdische Buchhandlungen, in deren Schaufenstern fast stets dieselben Bücher, Gebetsriemen und andere Kultgegenstände zu sehen sind, viele Firmenschilder mit hebräischen Aufschrif-ten, koschere Restaurants, Bäckereien und Krakauer Kaffeehäuser, jüdische Typen mit Kaftan, langem Bart und Peies (Schläfenlocken) lassen den starken Anteil der jüdischen Bevölkerung an der Einwohnerschaft erkennen“ (Mitteilungen...1929,3) Als Besonderheit gerade der Dragonerstraße, in der sich das jüdische Volksheim befand, hebt der Bericht die überaus große Anzahl von Prostituierten hervor, die dort lebten und arbeiteten (Vgl. ebda S.10), was die Aussage eines Zeitzeugen plausibel macht, im Haus des jüdischen Volksheimes wäre auch ein Bordell gewesen.

Martin Buber8 hatte sich an den Vorbereitungen für das Volks-heim aktiv beteiligt. In seiner Zeitschrift „Der Jude“ konnte Siegfried Lehmann unter dem Pseudonym Salomon Lehnert seine Ideen veröffentlichen (Leh-nert 1916). Er bezieht sich dabei auf die Settlementidee, „d.h. die Niederlassung Gebildeter im Proletarierviertel zwecks sozialer

Arbeit, doch müsse deren vollkommene Realisierung unter den gegebenen Kriegsbedingungen ein nach-geordnetes Ziel bleiben“ (Schäfer 2003,4) Er formulier-te für die Arbeit zwei zentrale Forderungen:„Erstens: Schaffung von Gemeinschaften in den Städ-ten durch Zusammenschluss der Bewohner, die in der Nachbarschaft des Volksheims wohnen, das als

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Erziehungs- und Zusammenkunftsstätte als geistiger Mittelpunkt und dann als wirtschaftliches Zentrum (Konsum- und Kreditgenossenschaft, eventuell Pro-duktivgenossenschaft für die kleine Kolonie) gedacht ist.Zweitens: - eine Forderung für uns Westjuden – mit unserer Volkskultur so vertraut zu werden, dass wir sie in einer solchen Gemeinschaft zu erwecken oder we-nigstens am Leben zu erhalten vermögen“ (zit. nach Landwehr 1992,99).

Gershom Scholem9 sieht hier, sich auf Martin Buber berufend, auch den Einfluss der Gedanken der rus-sischen „Narodnaja Wolja“ mit ihrer Parole „ins Volk gehen“ (vgl. Scholem 1997, 83). Hier scheint Gerschom Scholem, der zum Zeitpunkt seiner Begegnung mit dem Jüdischen Volksheim neunzehn Jahre alt war,

etwas ungenau zu sein. In den 1860er Jahren entwi-ckelte sich als Folge sozialer Probleme und negativer Folgen der Agrarreform die Bewegung der Narodniki („Volksfreunde“)10. Die Narodniki, überwiegend junge Intellektuelle, wollten „ins Volk gehen“. Darunter ver-standen sie, durch Agitation die Bauern zu befähigen, sich selbst zu befreien. Sie lehnten den westlichen Ka-pitalismus ab und idealisierten die Bauerngemeinde, aus der ein Agrarsozialismus hervorgehen sollte. 1874 unternahmen die Narodniki eine große Landagitation, die allerdings fehl schlug, in der Folge radikalisierten sich Teile dieser Bewegung zur „Narodnaja Wolja“ (Volkswille), die sich zur Geheimorganisation entwi-ckelte und zunehmend auf individuellen Terror setzte.Am 18. Mai 1916 wurde das Jüdische Volksheim eröff-net und am 7. Juli 1916 beim Königlichen Amtsgericht Berlin-Mitte in das Vereinsregister eingetragen. Die Eröffnungsrede hielt der Schriftsteller und Sozialist Gustav Landauer11. Sie stand unter dem Thema „Ju-dentum und Sozialismus“.

„Für Landauer sollte das Volksheim ein Beispiel für die ‚Erneuerung der Völker aus dem Geiste der Gemeinde’ werden (...). Hier sollte ein neuer Kern für eine Ge-meinschaft entstehen, die ursprüngliche Regsamkeit und individuelle Eigenheit nicht erstickt, sondern zu neuer Kraft entwickelt und fördert“ (Schäfer 2003,6).

Landauer selbst schreibt am 19. Mai 1916 an seine Tochter Charlotte über das Volksheim:

„Gestern wurde in Berlin in der Dragonerstraße das ,Jüdische Volksheim’ eröffnet. Auf der Er-öffnungsfeier habe ich eine Kurz-fassung meines letzten Vortrages über Sozialismus gehalten. Es kamen viele Menschen, es waren an die 200, die die Räume füllten.

Einige junge Menschen haben mit wenigen Mitteln etwas Schönes aufgebaut. Das Heim ist gut einge-richtet, wirkt sehr freundlich, ist vertrauenerweckend, aber auch von Ernsthaftigkeit erfüllt. Hier werden Studenten, Kaufleute und Arbeiter zu fortbildenden Gesprächen und Vorträgen zusammentreffen. In dem ‚Heim’ gibt es auch eine Babystation, in der die Mütter Anleitungen bekommen. In zwei Räumen wird eine Schreinerei eingerichtet werden. Sie ist für die Ostju-den wichtig, weil sie außer Handel nicht viel gelernt haben. Das ‚Heim’ ist dem Heim in Charlottenburg ähnlich. Es scheint mir aber, dass seine Anfänge besser sind und zudem ist es auch nötiger...“ (zit. nach Selig-mann 1998,3)

Die Mittel für das Volksheim aufzubringen fiel Sieg-fried Lehmann offenbar nicht schwer. „Er gehörte ja zu den reichen Familien und hatte Zugang zu anderen Reichen, er bildete ein Komitee, das die Sache finan-zierte“ erinnert sich Yisroel Shiloni (Shiloni, 4).

Siegfried Lehmann leitete des Volksheim nur kurze Zeit, 1917 wurde er zum Wehrdienst an der Front ein-gezogen. Sein Nachfolger war – ebenfalls nur für kur-ze Zeit – Erich Gutkind.

Erich Gutkind (1877 – 1965) war der Sohn eines der reichsten Juden Berlins und lebte als Schriftsteller. Er war Mitglied des „Forte-Kreises“12, einer losen Vereini-gung von Intellektuellen verschiedener Nationen, die versuchen wollten, einen Lebensbund aufzubauen und mit den Mitteln des Geistes die politischen Span-nungen der Zeit aufzuheben. Auch Gustav Landauer gehörte zeitweilig diesem Bund an. Als Erich Gutkind seine spirituellen Ideen auch im Volksheim umsetzen wollte, verweigerten ihm die Mitarbeiter und Mitar-beiterinnen die Gefolgschaft13. Danach übernahm wohl Gertrude Welkanoz, später Weil, die Leitung des Jüdischen Volksheimes.

Der Gründung des Jüdischen Volksheims, das ähnlich wie die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost sich in einem Wohnhaus im Arbeiterviertel eingerichtet hatte, gingen Aktivitäten voraus, die deutlich an die streetwork-Aktivitäten der SAG-ler erinnerten, die dann zur bekannten Kaffeeklappe führten14.

Gertrude Weil, eine Mitarbeiterin der ersten Stunde, von der wir noch lesen werden, berichtet darüber 1930 in einer jüdischen Zeitschrift:

„Es war in den ersten Kriegsjahren. Die Not wurde unser Wegweiser. Wir erfuhren, dass viele ostjüdische Kinder in einer Volksküche täglich Speisung fanden. Dahin begaben wir uns, scheuen, klopfenden Her-zens an einem der Sonntage. Beim Anblick der Kinder wurde uns warm. Wir riefen sie zum Spiel. Nur wenige folgten uns, die meisten standen schüchtern oder

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spöttisch abseits. Am nächsten Sonntag kamen wir wieder, bald auch an Wochentagen, nun schon dem Verlangen der Kinder folgend. Mehr und mehr traten in unseren Kreis, bis sich alle um uns gesammelt hat-ten – wohl sechzig Knaben damals. Zum Spiel, Singen und Turnen.

Als Chanukka vor der Tür stand, brachten wir einmal bunte Papiere und Pappen, Röllchen und Schachteln, bunte Farben und Flicken mit und bastelten viele Stunden mit geschickten und ungeschickten Händen.

Zu groß und unübersehbar wurde unsere Jungen-schar, da gliederten wir sie nach ihren Neigungen. Sie entsprachen nicht immer ihrem Alter. Es entstanden die ersten Knabengruppen. Wir fingen zaghaft zu wandern an. Anfangs scheuten alle Wind und Wet-ter und lange Märsche. Die Kleidung, besonders das Schuhwerk, war unzulänglich und verstärkte die Pein. Dann kam Purim und unsere Jungs wollten Gäste ein-laden. Ihre großen und kleinen Schwestern. Aus der recht trostlosen Kinderspeisung ist inzwischen eine bewusste, freudige Knabenschar hervorgegangen“ (zit. nach Scheer 1997, 147f.)

Und nun kam auch noch die Mädchenarbeit dazu, ein weiterer Schwerpunkt der Volksheimarbeit.

Über die Tätigkeit des Volksheims informiert ausführ-lich der erste Arbeitsbericht von 1916, der offenbar von Siegfried Lehmann selbst geschrieben und von Felice Bauer15, der Verlobten Kafkas getippt wurde (Das Jüdische Volksheim 1916, künftig zitiert als Ar-beitbericht)16.

„In Anlehnung an das Settlementsytem hat sich das jüdische Volksheim neben allgemeinen sozialen Hil-feleistungen in gesundheitlicher und wirtschaftlicher Beziehung die Aufgabe gestellt, die Kinder und jun-gen Leute der in der Gegend des Heimes gelegenen, meist von ostjüdischen Einwandererfamilien bevöl-kerten Straßen in Gemeinschaften (Kindergarten; Ju-gendkameradschaften, Klubs) zusammenzuschließen, um durch geeignete Führung einen kulturellen Ein-fluss auf die heranwachsende Generation zu gewin-nen“ (Arbeitsbericht ,S.5)

Das Heim sollte die Kinder durch das Jugendalter bis zum Erwachsensein begleiten.

Der Bericht beschreibt auch den Ablauf eines Tages im Volksheim:„Am Vormittag: KinderspielstundenAm Nachmittag: Knaben- und Mädchenkamerad-schaften

Am Abend: Klub junger Mädchen Lehrlingsklubs (die sich aus den jetzt aus der Schule gekommenen Knaben der ersten

Kameradschaft und jungen Leuten aus der Nachbarschaft bilden)

Klub junger Kaufleute (in der Gründung begriffen)

Allwöchentlich vereint ein Abend die Mütter unserer Heimkinder beim Tee, Nähen, einem Vortrag oder einer Aussprache. Ferner dient das Heim, besonders an den Abenden, als Klub und Vorlesungslokal. Einige Räume sind für den Abend an den Jüdischen Lite-rarischen Verein Perez vermietet, der als in sich ge-schlossener Verein, unabhängig vom Volksheim, einen großen Teil der in Berlin wohnenden ostjüdischen Arbeiterschaft umfasst.Eine ärztliche und eine juristische Auskunftsstelle, fer-ner eine Mütterberatungsstelle steht an verschiede-nen Tagen der Nachbarschaft im Heim zur Verfügung“ (Arbeitsbericht, S.6 ).

Die Parallelen zur SAG Berlin-Ost sind nicht zu überse-hen.

Worin das Jüdische Volksheim in Zielsetzung und Praxis über die SAG (und viele Settlements) hinaus ging, war der Bezug zu Wirtschaft und Produktion. Wenngleich die Gründung von Produktionsgenossen-schaften eine unerreichte Perspektive war, so spielte doch handwerkliche Erziehung und Ausbildung im Volksheim eine wesentliche Rolle. Die Jugendlichen wurden unterrichtet im Tischlern, Buchbinden und in Metallarbeiten.„Dieser Werkstattunterricht soll in der jüdischen Ju-gend von früh an die Liebe zum Handwerk, die Freude an der körperlichen Arbeit wecken und der sich im-mer mehr ausbreitenden Entwicklung zum Handel- und Vermittlertum entgegenwirken. Auch als erziehe-rischer Faktor in ethisch-sozialer Beziehung (Solidität der Arbeit, Arbeitsteilung) ist die handwerkliche Betä-tigung der Kinder von Bedeutung“(Arbeitsbericht S.9).

Eine ebenso große Bedeutung nahm im Volksheim die Musik ein, währenddessen der Bericht das Desin-teresse der jüdischen Nachbarn an bildender Kunst beklagt. Musik heißt hier Unterricht in Geigen- und Gitarrenspiel, Chöre und die Gründung eines Heimor-chesters.„Heute wo kaum Zeit gefunden wird, das Alltagsleben durch eine wertvolle Steigerung des Lebensgefühls zu unterbrechen, scheint uns die Musik ein besonders wesentlicher Erziehungsfaktor zu sein. Hierbei kehren wir naturgemäß zur Volksmusik zurück. Neben dem alten deutschen Volksliede pflegen wir mit großer Lie-be das jiddische, welches unzweifelhaft stärker als das deutsche Lied zu den erst einige Jahre in Deutschland lebenden jungen Menschen spricht und zum unmit-telbaren Ausdruck ihrer Seele wird. Die Liebe zum jüdischen Volke, das nationale und das soziale Zusam-mengehörigkeitsgefühl wird durch nichts anderes intensiver wachgerufen und gefestigt“ (Arbeitsbericht S. 13).

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Im Musikunterricht engagierten sich vor allem Fritz Mordechai Kaufmann und seine Frau. Kaufmann, aus einer Eschweiler jüdischen Kaufmannsfamilie stam-mend, begegnete in Leipzig Ostjuden und war von der ostjüdischen Kultur fasziniert. Der Publizist und Redakteur der Zeitschrift „Die Freistatt“ wurde zum bedeutenden Sammler und Herausgeber jüdischen Liedgutes17.

Wie Friedrich Siegmund-Schultze in der SAG Berlin-Ost legte auch Siegfried Lehmann großen Wert auf die Betreuung und Qualifizierung der Mitarbeiterin-nen und Mitarbeiter, die hier im Jüdischen Volksheim „Helfer“ genannt wurden.

So wurden die Helfer auch von Siegfried Bernfeld18 in einer Weise beraten, die wir heute Supervision nennen würden. „Diese Gruppen-leiter trafen sich in einer gemein-samen Diskussionsgruppe, zu der Siegfried Bernfeld eingeladen hatte und in der besondere päda-gogische Fragen besprochen wur-

den“, erzählt Elsa Sternberg, die von 1917 bis 1920 im Volksheim mitgearbeitet hat (Ellger-Rüttgardt 1996; S. 276)

Jeder freiwillige Mitarbeiter konnte nach zwei Mona-ten in die „Helferschaft“ aufgenommen werden, die sich als eine durch Freundschaft und gemeinsame Ziele verbundene Gemeinschaft verstand. Die Helfe-rinnen und Helfer - über deren Zahl leider nichts be-kannt ist – sollten, der Settlementidee folgend, mög-lichst im Volksheim wohnen. Sie erhielten sozialpäda-gogische und religiöse Ausbildung und beschäftigten sich intensiv mit jüdischer Geschichte und Kultur.

Wegen der kriegsbedingten Abwesenheit der Männer bestand die Mehrheit der Helferschaft aus Frauen.

Eine besonders herausragende Rolle unter den Helfe-rinnen spielte Gertrude Welkanoz, die Gershom Scho-lem die „unbestrittener Zentralfigur“ nannte und wie folgt beschrieb:„eine schon etwas ältere (Scholem war damals 19 Jahre alt! Oe), auf die dreißig zugehende, höchst ein-drucksvolle Person,...ein Mädchen von einer völlig natürlichen Würde und Autorität, die einzigartig war. Sie schien mir die einzige ausgebildete Sozialarbeite-rin, doch darin irrte ich mich, denn von Beruf war sie Angestellte bei einer großen Bank, und tatsächlich gab es unter den Freiwilligen keine einzige professi-onelle Mitarbeiterin19. Ihre großen Kenntnisse waren aber nichts, gemessen an dem ungeheueren Einfluss, ja Zauber, den sie menschlich auf all diese Mädchen ausübte“(Scholem 1997, S.85).

Gertrude Welkanoz leitete das Volksheim – über den Zeitraum ist nichts bekannt – und engagierte sich in der Mädchenarbeit. In ihrer Arbeitsgruppe arbeitet auch Felice Bauer, die Verlobte Franz Kafkas, die Ger-trude Welkanoz nach einem Foto beschrieb: “Wenn ich nicht irre, hat sie ein zartes, kleinzusammenge-setztes, aber durch strengen Umriss bedeutendes Gesicht“(Kafka 1967, S. 720, Brief vom 8.10.1916). Spä-ter heiratete Gertrude Welkanoz den Archivar Dr. Ernst Weil und zog mit ihm nach München. Als Gertrude Stein schrieb sie nach dem Ende des Volksheims einen engagierten Bericht über dessen Arbeit.

Drei Frauen engagierten sich im Jüdischen Volksheim, zu denen der Dichter Franz Kafka (1883 – 1924) ein besonderes Verhältnis hatte.

Zuallererst ist da seine zweimalige Verlobte Felice Bauer (1887 – 1960). Sie arbeitete als Prokuristin in einer Firma, die Diktier- und Tonaufzeichnungsgeräte herstellte. Als sie Kafka kennen lernte, hielt sie sich geschäftlich in Prag auf.20

Über seine Briefe an Felice vom Juli bis November 1916 erfahren wir, wie Kafka sie zu dem Engagement im Volksheim drängt: „Es ist auch eine der eigennüt-zigsten Angelegenheiten. Man hilft nicht, sondern sucht Hilfe, es ist aus dieser Arbeit mehr Honig her-auszuholen als aus allen Blumen und Marienbader Wäldern“(Kafka a.aO. S.673, Postkarte vom 30.7.1916).. Kafka wollte für Felice den Mitgliederbeitrag für das Volksheim bezahlen - Mitarbeiter mussten auch Mitglieder werden – weil er für sie starke geistige Anregungen erwartete: „Es ist, so viel ich sehe, der absolut einzige Weg oder die Schwelle des Weges, der zu einer geistigen Befreiung führen kann. Und zwar früher für die Helfer, als für die, denen geholfen wird“(Kafka a.a.O. S. 695, Brief vom 12.9.1916). Wenn man Kafkas Briefe aus dieser Zeit liest, muss man dem Urteil Elias Canettis zustimmen: „Mit der Zeit wächst sich diese Entwicklung zu einer förmlichen Kampagne aus“(Canetti 1983, S.127), so penetrant versucht Kafka, Felice hinsichtlich ihres Engagements im Volksheim zu bevormunden.

Wir erfahren aus den Briefen Kafkas, dass Felice Bauer unter Leitung von Getrude Welkanoz mit einer Mädchengruppe arbei-tete und sich um die literarische Bildung der Mädchen bemühte und auch in der Helfergruppe über pädagogische Fragen referierte. Kafka empfahl ihr die Lektüre, die sie mit den Mädchen lesen sollte,

und beschaffte auch Bücher für den Aufbau einer Kin-der- und Jugendbibliothek im Volksheim. Wir erfahren

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auch, dass Felice für Siegfried Lehmann den Arbeits-bericht von 1916 ins Reine geschrieben hat21.

Eine Freundin Felice Bauers, die ebenfalls im Volks-heim aktiv war, war Grete Bloch (1892 – 1941?), eine 21-jährige Stenotypistin. Sie war Briefpartnerin Kafkas und vermittelte gelegentlich bei Konflikten zwischen ihm und Felice Bauer. Kafka verliebte sich auch in sie. Sie ist im italienischen Exil mit anderen Juden verhaf-tet worden und vermutlich 1941 im Konzentrationsla-ger umgekommen.

Im Sommer 1923 macht Kafka Ferien in Müritz an der Ostsee. Er wohnte neben einer Ferienko-lonie des Jüdischen Volksheims. Dort lernte er Dora Diamant (1902 – 1952) kennen, die in der Küche arbeitete. Sie war knapp über 20 Jahre alt, in jüdischer Tra-dition erzogen und sprach jid-disch und hebräisch. Ihretwegen

zog Kafka nach Berlin und zog mit ihr in eine Woh-nung in Steglitz. Dora Diamant hat seine Hinwendung zum Judentum tatkräftig unterstützt. Es ist davon auszugehen, dass Franz Kafka in dieser Zeit auch das Jüdische Volksheim besucht hat.22

Eine enge Mitarbeiterin Lehmanns im Volksheim war die Soziologin, Sozialarbeiterin und spätere Publizistin Margarete Turmowski-Pinner (1894 – 1982). Sie fand im Volksheim mit seiner auch einzelfallorientierten Arbeit den Einstieg in die soziale Arbeit. Später wurde sie Leiterin des „Jüdischen Arbeitsamtes“ in Berlin. 1933 emigrierte sie nach Palästina, wo sie eine wich-tige Rolle beim Aufbau und der Konsolidierung des Sozialwesens spielte.

Zu den Mitarbeitern im Volksheim gehörte auch David Werner Senator (1896 – 1953), der hauptberuflich im jüdischen Arbeiterfürsorgeamt Berlin von 1921 – 1924 tätig war. Nach seiner Emigration nach Palästina ar-beitet er an verantwortlicher Stelle in der Exekutive der Jewish Agency (1930 – 1945), von wo aus er Sieg-fried Lehmanns Kinderdorf Ben Shemen unterstützt. Schließlich wurde er von 1949 bis zu seinem Tod 1953 geschäftsführender Vizepräsident der Hebräischen Universität in Jerusalem.Über Werner Senator fand auch Siddy Wronsky (1883 – 1948)23, neben Alice Salomon wohl die einfluss-reichste Ideengeberin der sozialen Arbeit in Deutsch-land vor dem zweiten Weltkrieg, zum Volksheim und zu einer zionistischen Erweiterung ihres jüdischen Selbstverständnisses. Sie schrieb im Jahre 1946 an Werner Senator: „Sie waren für mich einer der jungen Menschen aus dem kreis des Volksheims zur Zeit des Beginns meiner Beziehung zum Zionismus, die in mir die national jüdische Idee lebendig werden

ließen...“(zit. nach Konrad 1993, S. 107)..Zusammen mit Friedrich Ollendorf24 gründete und leitete Siddy Wronsky einen „Arbeitskreis jüdischer Sozialarbeiter“, der im Volksheim tagte und der für die jüdische So-zialarbeit in Deutschland und Palästina wesentliche Impulse gab.

Über Siddy Wronsky gab es auch eine Brücke zur So-zialen Arbeitsgemeinschaft Berlin Ost, sie war dort 1919 als Dozentin an der Jugendpflegeschule der SAG und lehrte über „Die wichtigsten in der freien Wohl-fahrtspflege tätigen Verbände“25. Dies ist bisher der einzige Kontakt zwischen der SAG Berlin-Ost und dem Jüdischen Volksheim, den ich finden konnte, obwohl Sieglind Ellger-Rüttgardt behauptet: „Es liegt auf der Hand, dass es Verbindungen zwischen dem ebenfalls im Osten Berlins (Dragonerstraße) gegründeten jüdi-schen Volksheim und der Arbeit Siegmund-Schultzes gegeben hat“(Ellger-Rüttgardt1996, S.260). Leider lie-fert ihr Beitrag zum jüdischen Volksheim dafür keine Belege.

Der Settlementgedanke, Brücken zu bauen und Be-gegnung zu schaffen, spielte auch eine große Rolle in der Arbeit des Jüdischen Volksheims in der Drago-nerstraße: Brücken zwischen Reich und Arm, zwischen Gebildeten und Ungebildeten, zwischen Westjuden und Ostjuden, zwischen Zionisten und Nichtzionisten und letztlich auch – über das Bestehen des Volks-heims hinaus – zwischen Deutschland und Palästina.

Dies geschah vor allem über Vortragsabende und Gesprächskreise und dadurch, dass das Volksheim anderen jüdischen Organisationen Raum zur Verfü-gung stellte. Viele namhafte jüdische Intellektuelle der Weimarer Republik waren in diese Aktivitäten einge-bunden.

„Der hebräische Dichter S.Y. Agnon, Martin Buber, der Maler und Graphiker Joseph Budko, Fritz M. Kauf-mann, Gustav Landauer, Salman Rubaschoff (Schasar) gehörten zu seinen (des Volksheims. Oe.) Freunden, die häufig zu der Helferschaft in ihrem jugendlichen Kreis sprachen. Auch viele der jungen kommenden Persönlichkeiten des jüdischen Lebens, wie Chajim Ar-losoff, Werner Senator, Ludwig Strauss, waren hier oft als Gebende und Empfangende zu finden“ schreibt Salomon (Shalom) Adler-Rudel26, der wohl selbst auch Kontakt zum Volksheim hatte (Adler-Rudel 1959, S.54)27.Nicht genannt bei Adler-Rudel sind Georg Lubinski und Alfred und Julius Berger28.

Besonders hervorgehoben werden soll hier Salman Rubaschoff (1889 – 1974), der als Salman Schasar Staatspräsident Israels wurde. Rubaschoff stammte aus einer angesehenen chassidischen Familie in Weiß-russland. Schon mit 16 Jahren schloss er sich der Poale

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Zion29 an, für die er auch ins Gefängnis ging. Er stu-dierte jüdische Geschichte in St. Petersburg und seit 1912 Geschichte in Freiburg. 1915 kam er nach Berlin und schrieb für die Jüdische Rundschau. Salman Ru-baschoff war aktiv in dem im Parterre des Jüdischen Volksheims residierenden „Jüdischen Arbeiterbil-dungsverein Perez“. Gershom Scholem erzählt: „So wie er nach seiner Arbeit in der Redaktion einen freien Abend hatte, ging er dorthin und hielt einen Kurs über die Geschichte des Volkes Israel von Adam oder unserem Vater Abraham bis zur Gegenwart. Und viele warteten dort trotz seiner häufigen Verspätungen auf ihn, denn es lohnte sich“(Scholem 1997, S.97). Ruba-schoff sprach im Volksheim auch über Bibelkritik und jüdische Arbeiterbewegung. 1924 wanderte er nach Palästina aus und war dort politisch und literarisch aktiv.. Von 1949 – 1950 war er Erziehungsminister und von 1967 – 1973 der dritte Staatspräsident Israels.

In all diesen Diskursen jüdischer Intellektueller im Volksheim wurden bei zahlreichen jungen Juden „der zionistische Bewusstwerdungsprozess katalysatorhaft beschleunigt“(Konrad 1999, S. 280). Viele von ihnen verstanden sich als „Chaluzim“ und das Volksheim als einen Ort der Chaluz-Bewegung.30.

Damit hatte das jüdische Volksheim auch eine wich-tige Bedeutung für die jüdische Jugendbewegung. Als selbstorganisiertes Projekt entsprach es den Au-tonomievorstellungen der Jugendbewegung, so dass der 1924 gegründete „Reichausschuss der jüdischen Jugendverbände (RA)“ plante, den gesamten Bereich der jüdischen Jugendhilfe nach dem Modell des Volksheims zu organisieren.

In der letzten Phase des Volksheims spielte der Jung Jüdische Wanderbund (JJW) dort eine wesentliche Rolle. Der 1920 nach bündischen Prinzipien gegrün-dete JJW vertrat das Prinzip der Selbstarbeit (ohne Ausbeuter und Ausgebeutete), die Ausrichtung auf eine kollektive Lebensweise und – im Blick auf die Auswanderung nach Palästina – die Ergreifung „pro-duktiver“ Berufe (Landwirtschaft; Handwerk, Lehrbe-rufe). Innerhalb des JJW gab es den Brit-Haolim-Flügel, der als praktisches Ziel die Erziehung zum Kibbuz hatte. So waren auch viele Kibbuzim in Palästina Kinder und Jugendliche aus dem Volksheim.. Chaim Seligmann nennt eine Reihe Namen aus dem Kibbuz Givat-Brenner, die im Volksheim ihre Erziehung genos-sen hatten und berichtet von einem Treffen deutscher „Volksheimler“ 1966 in Tel Aviv aus Anlass des 50. Jah-restages der Gründung des Volksheims.31

Das Ende des jüdischen Volksheims liegt noch im Dunkeln. Es wird von fast allen Autoren auf das Jahr 1929 datiert. Nur eine Zeitzeugin, Elsa Sternberg, sagte

in einem Interview: „Das Volksheim existierte noch, als wir 1933 Deutschland verließen“(Ellger-Rüttgardt 1996, S.277).

Über die Bedeutung des jüdischen Volksheims kann man – so glaube ich – noch keine abschließende Bewertung treffen. Hinsichtlich der unmittelbaren Settlementarbeit im Scheunenviertel hatte Siegfried Lehmann selbst eine skeptische Einschätzung:„Ohne Zweifel hatte das Volksheim im Laufe der Jahre gute Volksarbeit geleistet. Aber das große Er-lebnis, im engen Zusammenleben mit dem Volke wieder das Volk als Kraftquelle für das eigene Leben zu empfinden, blieb aus; musste ausbleiben, weil die Teile des jüdischen Volkes, die ihre Heimat verlassen und sich in den europäischen Städten eine neue Existenz suchen, eben nicht mehr Volk sind. Es sind abgestorbene Teilchen, die ihre Nahrung nicht mehr vom Volkskörper empfangen und daher nicht geeig-net sind, das große Erlebnis „Volk“ den Suchenden zu vermitteln“(Lehmann 1926, S.23).

Das deckt sich mit der Einschätzung Franz Lichten-steins, die Adler-Rudel vermittelt:„Die Versuche, den Rahmen des Volksheims weiter zu spannen, aus dem Volksheim ein Volkshaus zu ma-chen – in der Idee als auch in späteren Jahren ständig propagiert – sind nicht geglückt. Wesentlich aber bleibt jene Verbindung von Ost und West, wie sie in Berlin in keinem ähnlich gearteten Kreis in gleicher Weise bestand“(Adler-Rudel 1959, S.56).

Das weist darauf hin, dass vom Jüdischen Volksheim wesentliche Impulse ausgegangen sind sowohl für die jüdische Soziale Arbeit in Deutschland und Palästina als auch für den innerjüdische Dialog. „Es weckte man-ches Talent, das später auf künstlerischem, kulturellem Gebiet Beachtliches leistete“(ebda.).

Von all den Wertungen, die in der – noch spärlichen – Literatur zum Jüdischen Volksheim zu finden sind, erscheint mir die Formulierung von Regina Scheer dem derzeitigen Kenntnisstand am nächsten zu kom-men:„In der weltanschaulichen Diskussion unter den jun-gen Juden Berlins spielte das Volksheim eine große Rolle, vor allem war es ein praktischer Versuch jüdi-scher Erziehungsarbeit, der Versuch, dem Gebot der Zedakah auch unter den schweren Bedingungen in einem der ärmsten, verkommensten Viertel der Groß-stadt nachzukommen.Zedakah ist eine Gerechtigkeit, die natürliches und soziales Unrecht ausgleicht“(Scheer 1997, S. 150).

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Anmerkungen 1 Bereits im Jahre 1994 habe ich im „Rundbrief“ (Oelschlägel 1994) über das Jüdische Volksheim berichtet. Inzwischen sind doch etliche neue Informationen hinzu gekommen, so dass es gerechtfertigt ist, erneut einen Beitrag dazu vorzulegen. Von einer systematischen Erforschung der jüdischen Settlementbewegung und der Jüdischen Volksheime in Deutschland sind wir allerdings noch weit entfernt.

2 Das jüdische Volksheim ist eher mit dem „Hebrew Institute“ zu vergleichen als mit dem Maxwell Street Settlement.

3 Einem Buchstempel im Angebot eines antiquarischen Buches (www.buchladen9.de 15.5.05) entnehme ich, dass es auch in Leipzig ein Jüdisches Volksheim gegeben haben muss.

4 Franz Kafka erwähnt in seinen Aufzeichnungen am 25.11.1912, dass er einen Vortragsabend in der Toynbeehalle organisiert hat (www.kafka.org/index php?id=142,1,1,0)

5 Leon Kellner (1859 – 1928) war Anglistik-Professor an der Universität Czernowitz und ein namhafter Zionist und Freund Theodor Herzls.

6 Die Großloge Bne’Brith („Söhne der Brüder“) wurde 1843 in New York als Bund junger jüdischer Männer mit dem Ziel gegründet, hohe, edle Menschheitsziele zu verwirklichen, so auch die Not der Armen zu lindern. 1882 entstand auch die erste Loge Bne’Brith in Deutschland, in Berlin. Auch hier standen soziale Aufgaben im Vordergrund: Waisenfürsorge, Erholungsfürsorge etc. In der Weimarer Zeit gab es ca. 80 Logen. In der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg gründeten sich in einigen westdeutschen Großstädten die Bne’Brith-Logen wieder.

7 Max Fürst (1905 – 1978) machte 1924 seine Gesellenprüfung als Tischler. 1925 verließ er Königsberg, baute eine jüdische Jugendgruppe auf und gründete die Beratungsstelle „Jugend berät Jugend“ in Berlin. 1933 war er in Gestapohaft und im KZ Oranienburg. 1935 Auswanderung nach Palästina. 1950 Rückkehr nach Deutschland und Arbeit u.a. an der Odenwaldschule.

8 Martin Buber (1878 – 1965) studierte in Wien, Leipzig, Berlin und Zürich. Er schloss sich früh der zionistischen Bewegung an, weniger aus politischen als aus religiösen und kulturellen Motiven. Er gab die angesehene Zeitschrift „Der Jude“ heraus und lehrte von 1924 – 1933 an der Universität Frankfurt am Main jüdische Religionsphilosophie. Gleichzeitig wirkte er am „Freien Jüdischen Lehrhaus“. In den Jahren der Naziherrschaft arbeitete er am Aufbau einer jüdischen Erwachsenenbildung in Deutschland. 1938 emigrierte er nach Palästina und lehrte bis zu seinem Tod an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Buber ist als Herausgegebr und Interpret von Schriften des Chassidismus und als Religonsphilosoph bekannt geworden.

9 Gershom Scholem (1897 – 1982) studierte Mathematik, Religionswissenschaft und Hebräisch in Berlin ua. Städten. Er schloss sich der zionistischen Bewegung an und ging 1923 nach Palästina Er wurde Direktor der judaistischen Abteilung der Hebräischen Universität in Jerusalem und 1933 Professor für Kabbalistik

10 narod (russ.): das Volk

11 Gustav Landauer(1870 – 1919)war Schriftsteller, Literaturkritiker und Sozialphilosoph und gehörte zu den einflussreichsten Menschen des beginnenden 20. Jahrhunderts. Er forderte die Errichtung eines selbstverwalteten freiheitlichen Gemeinwesens jenseits von der herkömmlichen Staatsform und von einem „Polizeisozialismus“. Diesem Gedanken verpflichtet, schloss er sich als Volksbeauftragter für Kultur der Münchner Räterepublik an und wurde bei deren Niederschlagung von Freikorpssoldaten ermordet.12 Genannt nach dem italienischen Ort Forte di Marmi, wo man sich traf

13 vgl. Gershom Scholem 1997, S. 89

14 Vgl. Rolf Lindner (Hrsg.): „Wer in den Osten geht, geht in ein anderes Land“. Die Settlementbewegung zwischen Wilhelm und Weimar. Berlin 1977; Dieter Oelschlägel: “Runter von der Straße, ´rein in die gute Stube“ – Historisches zur Straßensozialarbeit mit Jugendlichen, in: Blätter der Wohlfahrtspflege 1985/11/256 - 259 15 sh. S. 11

16 Über die Arbeit des Volksheim erfährt man auch einiges durch die Interviews mit einigen ehemaligen Mitarbeiterinnen, die Sieglind Ellger-Rüttgardt aufgezeichnet hat (Ellger-Rüttgardt 1996), durch die autobiografischen Aufzeichnungen Gershom Scholems (Scholem 1997, S. 84ff.) und die Briefe Franz Kafkas an Felice Bauer (Kafka 1990, S. 668ff.). Noch auszuwerten ist ein 17seitiger Bericht über Materialien zum Volksheim, die im Archiv des Kibbuz Givat Brenner lagern (Seligmann 1998).

17 Vgl. Fritz Mordechai Kaufmann: Die schönsten Lieder der Ostjuden – Sechsundvierzig ausgewählte Volkslieder. Neu herausgegeben von Achim Freudenstein und Kisten Troyke. Edermünde 2001

18 Siegfried Bernfeld (1892 – 1953) war ein bedeutender jüdischer Pädagoge und Psychoanalytiker. Er engagierte sich in der Wiener jüdischen Jugendbewegung. In seinem Kinderheim Baumgarten versuchte er marxistische und psychoanalytische Erkenntnisse für die Praxis nutzbar zu machen. Mitte der 20er Jahre arbeitete er als Psychoanalytiker in Berlin und lehrte Jugendfürsorge an der Deutschen Hochschule für Politik. 1934 emigrierte er über Südfrankreich und London in die USA.

19 Diese Aussage muss überprüft werden, gerade dazu gibt es widersprüchliche Hinweise in der Literatur

20 Nach der endgültigen Trennung von Kafka heiratete Felice Bauer den Banker Moritz Manasse und hatte mit ihm zwei Kinder. 1931 übersiedelte die Familie in die Schweiz und 1936 nach USA. Felice Bauer starb am 15.10. in Rye bei New York

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21 vgl. Kafka 1967, S. 708, Brief vom 20.9.1916 und S. 729, Brief vom 7.10.1916

22 Nach dem Tod Kafkas lebte Dora Diamant (auch Dymant) als Agit-Prop- Schauspielerin in Berlin und emigrierte zunächst nach Moskau, dann nach London, wo sie 1952 starb.

23 Sidonie (Siddy) Wronsky leitete ab 1906 das Archiv für Wohlfahrtspflege (heute DZI) in Berlin und war führend in zahlreichen jüdischen Organisationen und Institutionen tätig, u.a. im Jüdischen Frauenbund, in der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden, in der Hauptstelle für jüdische Wanderfürsorge. Sie lehrte u.a. an der von Alice Salomon gegründeten Sozialen Frauenschule das Fach „Wohlfahrtspflege“ und veröffentlichte zahlreiche Bücher zur Sozialen Arbeit. 1933 emigrierte sie nach Palästina und baute dort die Ausbildung zur sozialen Arbeit auf.

24 Friedrich Ollendorf (1889 – 1951) war Direktor des Jugendamtes Berlin-Neukölln und wurde 1924 Leiter der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden. 1934 emigrierte er nach Palästina und übernahm verantwortungsvolle Ämter in der Wohlfahrtsverwaltung

25 vgl. Peter Reinicke 1998, S. 642 - 645

26 Salomon Adler-Rudel (1894 – 1975) war ein wichtiger Vertreter der jüdischen Wohlfahrtspflege. Er war von 1915 – 1918 Generalsekretär der jüdisch-sozialistischen Partei Poale Zion, von 1919 – 1934 Geschäftsführer des Arbeiterfürsorgeamtes der jüdischen Organisationen Deutschlands, 1934 – 1936 Generalsekretär der „Reichsvereinigung der deutschen Juden“. 1936 wurde A. aus Deutschland ausgewiesen, arbeitet zunächst in England in jüdischen Organisationen und ab 1949 in Palästina bei der „Jewish Agency“. Von 1958 bis zu seinem Tode 1975 war er Direktor des Leo-Back-Institutes in Jerusalem.

27 Samuel Josef Agnon (1888 – 1970) war ein hebräischer Schriftsteller, der 1966 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Er emigrierte schon 1908 nach Palästina, musste das Land aber während des 1. Weltkrieges verlassen und lebte bis 1924 in Deutschland.Joseph Budko (1888 – 1940), Maler und Graphiker, Leiter der Kunstschule Bezalel in JerusalemChajim (Victor) Arlosoroff ,1899 in der Ukraine geboren, 1933 in Tel Aviv ermordet, war ein zionistischer Arbeiterführer, seit 1931 im außenpolitischen Referat der zionistischen ExecutiveLudwig Strauss (1982 – 1953), Dichter und Literaturhistoriker an der TH Aachen und Leiter des dortigen Deutschen Institutes bis zur Emigration, danach Lehrer in Siegfried Lehmanns Kinderdorf Ben Shemen und schließlich Dozent für allgemeine und hebräische Literaturgeschichte in Jerusalem. Er war ein bedeutender Hölderlinforscher.

28 Georg Lubinski (1902 – 1974) war aktiv im Jung-Jüdischen Wanderbund und gab in dessen Auftrag die Zeitschrift „Der junge Jude“ heraus, die von 1928 – 1931 erschien und die Chaluz-Bewegung unterstützte. Als Giora Lutan gehörte er zu den Fachleuten aus Deutschland, die wohlfahrtsstaatliche Konzepte für den Staat Israel entwickelten. !953 gründete er die Staatliche Versicherungsanstalt in Israel.Alfred Berger (1891 – 1940), Zionist, Mitarbeiter bei der Jüdischen Abteilung der Deutschen Arbeiter-Zentrale in Warschau, führendes Mitglied der Poale Zion, zeitweise Leiter des Arbeiterfürsorgeamtes der jüdischen Organisationen in Berlin und von 1923 – 1929 Leiter des „Keren Hayessod“, einer Gesellschaft zur Förderung jüdischer Einwanderungen und landwirtschaftlicher Siedlungen, die in über 50 Ländern tätig war. 1933 Auswanderung nach Palästina, seit 1936 Leiter der Informationsabteilung der hebräischen Universität Jerusalem.Sein Bruder war Julius Berger (1883 – 1947) und ebenfalls führend in „Keren Hayessod“ in Mitteleuropa und aktiv in der Ostjudenfürsorge.

29 Poale Zion ist die 1906 gegründete zionistisch-sozialistische Partei. „Sie erstrebte neben allgemeinen sozialistischen Zielen auch die Lösung der jüdischen Arbeiterfrage durch Konzentrierung der jüdischen arbeitenden Massen in Palästina...Nach 1918 hatte Poale Zion in Deutschland eine große Anhängerschaft unter den ostjüdischen Arbeitern, die sich auf ein proletarisches Leben in Palästina vorbereiteten“(Schoeps <hg.> 1992, S. 366) Viele Helfer und Gäste des Volksheims standen der Poale Zion nahe oder waren aktive Mitglieder wie Siddy Wronsky und Alfred Berger.

30 Chaluz = Pionier, der das Idealbild des jüdischen Pioniertums durch Zugehörigkeit zu einem Kibbuz zu verwirklichen suchte. Dieses Chaeuziat war ein nationales und soziales Ideal, das einen Verzicht auf Verbesserung des eigenen materiellen Lebensstandards zugunsten harter körperlicher Arbeit im Dienste der Gemeinschaft bedeutete.

31 Vgl. Seligmann 1998, S. 1 + 14

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Literatur

-: Die Siedlungs-, Wohnungs- und Bevölkerungsverhältnisse in der Dragoner-, Grenadier-, Linien-, Rücker- und Mulackstrasse. Mitteilungen des Statistischen Amts der Stadt BerlinNr.8, Heft 5, März 1929

Salomon Adler-Rudel: Ostjuden in Deutschland 1880 – 1940. Zugleich eine Geschichte der Organisationen, die sie betreuten. Tübingen 1959

American Jewish Historical Society: Minie Low (1867 – 1922)URL: Http://www.jewishvirtuallibrary.org/jsource/biography/Low.html vom 20.7.2005

Tobias Brinkmann: Von der Gemeinde zur „Community“. Jü-dische Einwanderer in Chicago 1840 – 1900. Osnabrück 2002 (Studien zur historischen Migrationforschung)

Elias Canetti: Der andere Prozess. Kafkas Briefe an Felice. Frank-furt am Main 1983

Das Jüdische Volksheim. Erster Bericht Mai/Dezember 1916. Berlin 1916

Jutta Dick/Marina Sassenberg (Hrsg.): Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert. Lexikon zu Leben und Werk. Reinbek 1993

Sieglind Ellger-Rüttgardt: Das Jüdische Volksheim, in: diess.(Hrsg.): Verloren und Un-Vergessen. Jüdische Heilpädagogik in Deutschland. Weinheim 1996, S. 260 – 278(Germania Judaica 6)

Max Fürst: Talisman Sheherezade. Die schwierigen zwanziger Jahre. München/Wien 1976

Gertrud Heitz-Rami: Siddy Wronsky (1883 – 1947) Zionistin und Vorkämpferin für das Wohlfahrtswesen, in: Julius Carlebach (Hrsg.): Zur Geschichte der jüdischen Frau in Deutschland. Ber-lin 1993, S. 183 - 202

Rosa L. Henriques: Das jüdische Settlement in London, in: Zeit-schrift für jüdische Wohlfahrtspflege 1/1929/333 - 338

Ernst Joel: Brief an einen Freund, in: Der Aufbruch 1/1915/1 zit. nach www.wbenjamin.org/aufbruch.html (27.5.05)

Jüdisches Jahrbuch für Groß-Berlin auf das Jahr 1926. Ein Weg-weiser durch die jüdischen Einrichtungen und Organisationen Berlins. Berlin-Grunewald 1926

Franz Kafka: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Hrsg. Von Erich Heller und Jürgen Born. Frankfurt am Main 1967

Franz-Michael Konrad: Wurzeln jüdischer Sozialarbeit in Paläs-tina. Einflüsse der Sozialarbeit in Deutschland auf die Entste-hung moderner Hilfesysteme in Palästina 1890 – 1948. Wein-heim und München 1993

Franz-Michael Konrad: Siegfried Lehmanns Idee und Verwirk-lichung einer „Jüdischen Erziehung“. Zur Erinnerung an ein Kapitel deutsch-jüdischer Sozialpädagogik, in: neue praxis 1999/3/272 - 290

Rolf Landwehr: Die Ostjudenfürsorge in Berlin, in: Zedakah. Jüdische Sozialarbeit im Wandel der Zeit. Frankfurt am Main 1992, 93 – 113

Siegfried Lehmann: Von der Straßenhorde zur Gemeinschaft (Aus dem Leben des „jüdischen Kinderhauses“ in Kowno), in: Der Jude (Sonderheft „Erziehung“) 1926/2/22 - 36

Salomon Lehnert (d.i. Siegfried Lehmann): Jüdische Volksarbeit, in: Der Jude 1/1916/2/104 – 111

Rolf Lindner (Hrsg.): „Wer in den Osten geht, geht in ein ande-res Land“. Die Settlementbewegung zwischen Wilhelm und Weimar. Ber-lin 1997

Dieter Oelschlägel: „Runter von der Straße, ´rein in die gute Stube“ – Historisches zur Straßensozialarbeit mit Jugendlichen, in: Blätter der Wohlfahrtspflege 1985/11/256 - 259

Dieter Oelschlägel: Das jüdische Volksheim in Berlin 1916 - 1926, In: Rundbrief des Verbandes für sozial-kulturelle Arbeit 30/1994/1/47 – 49

Dieter Oelschlägel: Lehmann, Siegfried, in: Who is who der Sozialen Arbeit Freiburg i.Br. 1998, S. 350 - 353

Karsten Plog: An einem kühlen Sommerabend. Lebendige Erinnerung an ein ehemaliges jüdisches Volksheim in Altona, in dem sich heute ein Kinderhaus befindet, In: Frankfurter Rundschau vom 14.7.1999.

Peter Reinicke: Wronsky, Sidonie, in: Hugo Maier (Hrsg.): Who is who der Sozialen Arbeit Freiburg i.Br. 1998, S. 642 - 645

Barbara Schäfer: Das Jüdische Volksheim, in: Kalonymos 6/2003/3/4-8

Barbara Schäfer: Berliner Zionistenkreise. Eine vereinsge-schichtliche Studie. Berlin 2003 (minima judaica, 3)

Regina Scheer: AHAWA Das vergessene Haus. Spurensuche in der Berliner Auguststraße. Berlin 1997²

Schoeps, Julius H. (Hrsg.): Neues Lexikon des Judentums. Gü-tersloh/München 1992

Gershom Scholem: Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinne-rungen. Frankfurt am Main 1997

Chaim Seligmann: Das Jüdische Volksheim in Berlin. Zusam-mengestellt von Chaim Seligmann nach den Archivalien des Givat-Brenner-Archivs. Unveröff. Man. 1998

Yisroel Shiloni: Siegfried Lehmann, der Mann von Ben Shemen: Der Weg eines Menschenfreundes zu seinem Volk. Unveröff. Vortragsmanuskript o.O., o.J.

Heather Stur: Milwaukee`s East-Side Haven for Children: Abra-ham Lincoln House Munster Settlemen Needs Room.

URL: http://xserver1.its.mu.edu/284071557183590.hsp vom 20.7.05

Gertrude Weil: Vom Jüdischen Volksheim in Berlin. Jüdische Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik, in: Zeitschrift der Zentral-wohlfahrtsstelle der deutschen Juden 1930

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Nachbarschafts- und Bürgerhäuser, Gemeinwesen- und Stadtteilzentren „liegen im Trend“.

Generations- und zielgruppenübergreifende multi-funktionale stadtteilbezogene Einrichtungen erwei-sen sich (auch und vielleicht gerade) in Zeiten von Haushaltsknappheit und Sozialstaatsumbau als über-lebens- und zukunftsfähig.

Gestützt auf bürgerschaftliches Engagement und im Vertrauen auf die Selbsthilfekraft der Stadtteilbewoh-ner haben sich die Mitgliedseinrichtungen unseres Verbandes z.T. seit vielen Jahrzehnten dafür einge-setzt, dass soziale Arbeit

• informelle Unterstützungsnetze einbezieht und stärkt – statt sie zu ignorieren • sich zum kulturellen Bereich im Interesse von mehr Lebensqualität öffnet – statt sich davon abzugrenzen • flexibel auf die Wünsche der Bürger reagiert, statt sie mit vorfabrizierten Standard- angebo ten abzuspeisen.

Auch wenn immer mehr soziale Einrichtungen und Träger solch einem Kurs folgen, sind es insgesamt noch zu wenig. Wir arbeiten dafür, dass Einrichtungen solchen Zuschnitts und mit solchen Überzeugungen überall entstehen.

Die bunte Vielfalt der Mitgliedseinrichtungen unseres Verbandes zeigt, dass es verschiedene Wege zu die-sem Ziel gibt. So haben wir Mitglieder • die bewusst als Nachbarschaftsheime ge-gründet worden sind die aus einer Bürgerinitiative im Stadtteil hervorgegangen sind • die als Jugend- oder Senioreneinrichtung mit nur einer Zielgruppe angefangen haben • die ursprünglich ausschließlich professionelle soziale Dienste oder Jugendhilfeleistungen angebo-ten haben • die im Rahmen von Gemeinwesenarbeit oder Quartiermanagement angeschoben worden sind.

Das Spektrum reicht von ausschließlich ehrenamtlich getragenen Projekten bis zu großen sozialen Dienst-leistern mit weit über hundert Beschäftigten. Alle eint der Wille, eine gute Nachbarschaft aufzubauen und mit den Menschen in ihrem Einzugsbereich gemein-sam Lösungen zu finden, wo es Probleme gibt.

Wir freuen uns über jede Einrichtung, die diesen Weg mit uns gehen will und dafür Mitglied unseres Ver-bandes wird. Eine Mitgliedschaft in unserem Verband verschafft keine unmittelbaren materiellen Vorteile, aber sie garantiert:

• solidarische kollegiale Unterstützung und know-how-Transfer seitens der anderen Mit gliedseinrichtungen mit ihrem breiten Erfah rungsspektrum (learning from success) • Unterstützung bei Konzeptions- und Projekt entwicklung durch die Geschäftsstelle des Verbandes • Mitwirkung bei der Erschließung von Finan zierungsquellen und Antragsberatung • Möglichkeit der Beteiligung an einrichtungsü bergreifenden Projekten des Verbandes incl. entsprechender Förderung • Einbeziehung in die internen Kommunika tionsstrukturen und in die Öffentlichkeitsar beit des Verbandes (Website, Rundbrief ) • Beteiligung an der Profilentwicklung und Wil lensbildung des Verbandes • Vermittlung von Kontakten zu vergleichbaren Einrichtungen weltweit (über unsere Mitglied schaft im europäischen und weltweiten Ver band der sozial-kulturellen Nachbarschafts zentren – IFS)

Und nicht gering zu schätzen: der Verband für sozial-kulturelle Arbeit steht in einer Tradition, die mit den ersten „Settlements“ in England im 19. Jahrhundert begonnen hat und bereit in den Jahren vor dem I. Weltkrieg mit den „Volksheimen“ und „Sozialen Ar-beitsgemeinschaften“ in Deutschland zu wirken begann und die weltweit einen prägenden Einfluss darauf hatte, wie „Helfen zum Beruf“ wurde. Als Mitglied des Verbandes reihen Sie sich in eine Tradition ein, die auch für heutiges Handeln Maßstab und Orientierung sein kann.

Der Staat sieht sich zunehmend außer Stande, seinen Bürgern das gewohnte Maß an Wohlfahrt zu garan-tieren, und gibt diese Aufgabe der Gesellschaft und ihren Bürgern zurück. Als Mitglied unseres Verbandes können Sie daran mitwirken, auf diese Herausforde-rungen Antworten zu finden, die die Lasten nicht ein-seitig den isolierten Einzelnen aufbürden, sondern sie in neuen und wiederentdeckten Gemeinschaften (wie der Nachbarschaft) solidarisch auffangen.

Verband für sozial-kulturelle Arbeit

Aufruf Mitmachen im Verband für sozial-kulturelle Arbeit!

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Kein Problem: Im Internet finden Sie weitere Informationen, nicht nur über unseren Verband sondern auch über seine gegenwärtigen Mitgliedseinrichtungen, ihre Arbeits-ansätze und Projekte: http://www.vska.de oder http://www.stadtteilzentren.de

Sie können sich auch ohne Mitgliedschaft auf eine Mailingliste setzen lassen, mit der wir zu einem grö-ßeren Kreis von sympathisierenden Organisationen Kontakt halten (ca. 1 x im Monat, also keine übertriebene Informationsschwemme).

Sie können unseren Rundbrief abonnieren,der zweimal im Jahr erscheint und jeweils 5Euro incl. Versand kostet. Im Rundbrief fin-

den Sie gleichermaßen theoretische Über-legungen wie Erfahrungsberichte aus der praktischen Arbeit von Mitgliedseinrichtun- gen, der Rundbrief hält die Erinnerung an die Traditionen der sozial-kulturellen Nachbar- schaftsarbeit lebendig, er berichtet über Part- nerorganisationen im Ausland und die welt weite Bewegung der Nachbarschaftshäuser und Community Organisationen, von der er ein Teil ist.

und/oder: Wir laden Sie zu einer Probemit- gliedschaft zu erleichterten Konditionen ein. Mit 50 Euro im Jahr sind Sie dabei. Sie genie- ßen alle Informations- und Mitwirkungsrech- te der „ordentlichen Mitglieder“ mit Aus- nahme des Stimmrechts in der Mitgliederver- sammlung.

Wenn Sie mit uns Kontakt aufnehmen wollen, können Sie einfach das folgende Formular kopieren und uns zuschicken (Fax 030 8621155)

Verband für sozial-kulturelle Arbeit e.V. Bundesverband Tucholskystr. 11 10117 Berlin

Kontakt mit dem Verband für sozial-kulturelle Arbeit - Rückantwort

Wir haben Interesse am Kontakt mit dem Verband für sozial-kulturelle Arbeit und

möchten, dass unsere Einrichtung in die Datenbank „Sozial-kulturelle Einrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland“ aufgenommen wird

bitten um Aufnahme in die Mailingliste (für den erweiterten Freundeskreis des Verbandes)

abonnieren hiermit den Rundbrief (2 Ausgaben im Jahr zu je 5 Euro incl. Versandkosten - mit dem Recht zur jederzeitigen Kündigung)

erwägen eine Schnuppermitgliedschaft

Name der Einrichtung

Anschrift

Ansprechperson

Telefon Fax email Website

Arbeitsschwerpunkte

Erst einmal näher kennenlernen?

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Vorstand

Seit der Mitgliederversammlung in Hannover (18.11.) gibt es eine neue Zusammensetzung des Vorstandes:

1. Vorsitzender: Georg Zinner, Nachbarschafts-heim Schöneberg, Berlin

2. Vorsitzende: Dr. Britta Lenders, Nachbar-schaftsheim Wuppertal

weitere Vorstandsmitglieder:Marita Dockter, Quäker-Nachbarschaftsheim KölnKlaus Dörrie, DietzenbachOswald Menninger, BerlinRenate Wilkening, Nachbarschafts- und Selbsthil-fezentrum ufafabrik, Berlin

Mitgliederversammlung und Vorstand dankten Mo-nika Schneider für ihre langjährige engagierte und erfolgreiche Arbeit als Vorsitzende des Verbandes.

Leben in Nachbarschaft bis ins hohe Alter Community Care)

Das Projekt „Community Care“ ist im Rundbrief 2/2004 vorgestellt worden. Das Projekt ist im Sommer 2005 an drei Standorten zugleich angelaufen: Berlin (NBH Schöneberg), Köln (Quäker-Nachbarschaftsheim) und Wiesbaden (Nachbarschaftshaus Wiesbaden). Die Pro-jekte werden vom Deutschen Hilfswerk für einen Zeit-raum von drei Jahren (2005-2007) gefördert. Erfahrun-gen und Ergebnisse werden regelmäßig im Rundbrief publiziert werden.

Generationswechsel in der Leitung einiger Nachbarschaftshäuser

Im letzten Jahr war es Karl-Fried Schuwirth vom Nach-barschaftshaus Wiesbaden, der sich in den wohl ver-dienten Ruhestand verabschiedete, in diesem Jahr ist es Brigitte Stenner vom Gemeinwesenverein Heerstr. Nord in Berlin, im nächsten Frühjahr wird ihnen Wolf-gang Hahn, der Geschäftsführer des Nachbarschafts-hauses Urbanstr. in Berlin folgen. Alle haben nicht nur in ihren Einrichtungen sondern auch in unserem Ver-band als Vorstandsmitglieder auf Bundes- oder Lan-desebene für einige Jahre Verantwortung getragen. Wir wünschen ihnen eine gute Zeit im neuen Lebens-abschnitt!

Quartiermanagement

Zwei Berliner Nachbarschaftseinrichtungen sind im Herbst 2005 von der Senatsverwaltung für Stadtent-wicklung mit der Durchführung eines Quartierma-nagement-Verfahrens in „Gebieten der sozialen Stadt“ betraut worden, der Gemeinwesenverein Heerstr. Nord und das Nachbarschaftshaus Urbanstr. in Kreuz-berg.

Erster Neubau eines Nachbarschaftshauses in Berlin seit mehr als 50 Jahren

Die meisten Nachbarschaftshäu-ser in Berlin stellen Umnutzun-gen ehemals für andere Zwecke bestimmter Bauten dar. Nur das Nachbarschaftsheim Neukölln ist 1948 gleich für diesen Verwen-

dungszweck gebaut worden. Jetzt ist mit der „Oran-gerie“ der Kiezspinne in Berlin-Lichtenberg wieder ein Haus entstanden, das auch architektonisch unmittel-bar für seine Aufgabe konzipiert werden konnte. Er-fahrungen aus dem Betrieb anderer Nachbarschafts-häuser sind in die Planung mit einbezogen worden. Am 22. Oktober 2005 wurde das Haus feierlich eingeweiht und seiner Bestimmung über-geben. Der Neubau wurde möglich durch Fördermittel der EU (UrbanII)`.

Neues Mitglied des Bundesverbandes

Als neues Mitglied wurde im November 2005 das “Labyrinth” in Greifswald (Mecklenburg-Vorpommern) in den Verband aufgenommen. Das Labyrinth ist eine Jugendfreizeiteinrichtung,

die sich auf den Weg gemacht hat, eine generations-übergreifende Nachbarschafts- und Stadtteileinrich-tung zu werden. Das Labyrinth liegt in einem Stadtteil, der als sozial belastet gilt. Schon seit vielen Jahren werden Räume der Einrichtung auch von einer selbst organisierten Gruppe aktiver Senioren genutzt.

LabyrinthMaxim-Gorki-Str. 117491 Greifswaldhttp://www.im-labyrinth.de

Nachrichten aus dem Verband und seinem Umfeld

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Neues Mitglied der Berliner Landesgruppe

Auch die Berliner Landes-gruppe hat ein neues Mit-glied, die Ambulanten Hilfen Berlin-Süd (AHB) mit ihrem Nachbarschafts- und Famili-enzentrum im Ortsteil Lich-tenrade (Bezirk Tempelhof-

Schöneberg). Hier ist es ein Träger der ambulanten Erziehungshilfen, der sich der Notwendigkeit einer fachlichen Neuausrichtung unter dem Ansatz der “Sozialraumorientierung” stellt und neben den weiter angebotenen erzieherischen Hilfen eine breite Palette generationsübergreifender nachbarschaftsbezoge-ner Aktivitäten entwickelt, in deren Zentrum das aus einem ehemaligen evangelischen Gemeindezentrum hervorgegangene neue Nachbarschafts- und Famili-enzentrum steht.

AHB - Nachbarschafts- und Familienzentrum Finchleystr. 1012305 Berlin-http://www.ahb-berlin-sued.de/finchley2/index.htm

Aus dem Koalitionsvertrag der neuen großen Koalition

88 Mio. für die Wiederentdeckung des Nachbar-schaftshauses als Modellprojekt mit neuem Namen: Mehrgenerationenhäuser (MGH).

„Die zunehmende Schwächung der typischen Sozialisationsnetze (Familie, Nachbarschaft), der vermehrte Rückzug aus der Erziehungsverant-wortung und - fähigkeit sowie die Ausprägung der Trennlinien zwischen den Generationen und denjenigen, die Kinder haben und denjenigen, die keine Kinder haben, erfordern einen neuen gemeinwesenorientierten Ansatz der Förderung, Unterstützung und Hilfe für Familien i.S. einer verzahnten, kombinierten und in die Gemeinde hinein geöffneten Angebotsstruktur.

Wir wollen deshalb sozialraumbezogene Kristal-lisationspunkte bilden, die fördernde Angebote für Familien und Generationen unter einem Dach und aus einer Hand ermöglichen. Es handelt sich dabei um Zentren/Häuser, die sich in die Nachbar-schaft hinein öffnen und in denen generationsü-bergreifend Alltagssolidaritäten gelebt werden. Die Häuser entwickeln dabei zum einen eigene Angebote der Frühförderung, Betreuung, Bildung, Lebenshilfe. Zum anderen sind sie Anlaufstelle, Netzwerk und Drehscheibe für familienorientierte Dienstleistungen, Erziehungs- und Familienbera-tung, Gesundheitsförderung, Krisenintervention

und Hilfeplanung. Im Schwerpunkt der frühen För-derung werden insbesondere folgende Angebote umgesetzt:

• Betreuungs- und Bildungsangebote für Kinder und Eltern (Tagesbetreuung und Tagespflege, Integration und Förderung) bei besonderer Berücksichtigung der früh- kindlichen Förderung mit Erhöhung des Bildungsanteils (zum Beispiel Natur, Spra- chen)

• Beratung (zum Beispiel Erziehungsfragen, Gesundheit)

• Begleitung in Krisensituationen (zum Bei- spiel Trennung, Überschuldung

• Weiterbildung (zum Beispiel Sprach- förderung)

• praktische Lebenshilfe (zum Beispiel Haus haltsführung, Kochen und Ernährung) bis Unterstützung beim (Wieder-)Einstieg in die Erwerbsarbeit.

Zugleich sollen sie aber auch den Zusammenhalt der Generationen stärken, die ältere Generation einbeziehen, ihre freien Valenzen und Erfahrungen nutzbar machen und ihrer Einsamkeit vorbeugen.

Die MGH bieten hierfür ein starkes Fundament. Sie öffnen sich in die lokale Gesellschaft, generieren bürgerschaftliche Engagement, lassen Solidarität der Generationen wieder erlebbar werden, leisten ganz praktische Lebenshilfe und steuern die Verfüg-barkeit sowie den Einsatz professioneller Unterstüt-zung dort wo sie notwendig ist.

Die MGH basieren auf der Kommstruktur. Sie müs-sen dabei aber auch die Vernetzung nach außen in den versorgenden Krisenbereich der Jugendhilfe sicherstellen. Gleiches gilt für die Verzahnung mit den Bereichen Schule und Kinderbetreuung im Regelsystem. Träger der MGH können Kommunen oder freie Träger sein. In jedem Fall müssen Verein-barungen über die Einbeziehung der Leistungs-angebote mit dem öffentlichen Jugendhilfeträger getroffen werden, um eine verlässliche koordinierte Grundversorgung sicherzustellen. Die bestehenden Angebote werden im Rahmen einer internetge-stützten Aktions-Plattform vernetzt.

Im Rahmen eines Modellprogramms (Impulsgeber) soll in dieser Legislaturperiode in jedem Landkreis und in jeder kreisfreien Stadt in Deutschland ein MGH geschaffen werden. Die Start-Up-Förderung soll 40.000 Euro per anno auf 5 Jahre betragen.

Daraus folgt eine Haushaltsgesamtbelastung i.H.v. 88 Mio. Euro.“

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20. bis 21. 2. 2006 in Leipzig

mitSPIELtagungFachtagung zu spielerischen Verfahrenmit dem Ziel der Förderung von Kreativität,Kommunikation und Kooperation in Städtenund Dörfern, in Unternehmen sowie in derJugendarbeit, Schule und Nachbarschaft

Entdecken

20.02.14.00 – 20.30 Uhr

| »Orte erleben.« |Spaziergang mit allen fünf Sinnen über die »Alte Messe« und den »DeutschenPlatz« mit Bertram Weisshaar, Spaziergangsforscher, Atelier LATENT, Leipzig

Vorstellung und Probespiel von sechs Spielen / spielerischen Verfahren:| Wolfsspuren (Brettspiel) | von Spieltrieb, Till Meyer und Nicole Stiehl, Niedermeilingen| Toursnet – Planspiel zur Nutzung des Internets für Verhandlungen | von Heiland & Partner,Dr. Carlheinrich Heiland, Lüneburg| BürgerMeister (Brettspiel) | von raumtaktik, Matthias Böttger und Dr. Friedrich v. Borries, Berlin| Leben. Lieben. Kreuzchen machen. (Planspiel) | vom Jugendmedienverband Mecklenburg-Vorpommern e.V., Ulrike Gisbier, Bützow| Das Endlos-Spiel u.a. fachliche Lernspiele im Business-Kontext | Axel Rachow, DART Consulting GmbH,Köln| XAGA – Das Stadtspiel / XAGA – Das Dorfspiel (Brettspiele) | von Netzwerk Südost e.V.,Annette Ullrich und Georg Pohl, Leipzig

Pro

bes

pie

l

| »Der Sieg des Siegers – psychologische Erkenntnisse zur Evolution des menschlichen Spiel-triebs.« |Vortrag von Dr. Carlheinrich Heiland, Hochschullehrer Universität Hamburg

Lernen21.02.9.00 – 14.15

| »Lernen durch Spiele –Physiologische und psychologische Prozesse während eines Spiels« |Referat von Frau PD Dr. phil. habil. Marion Bönsch-Kauke, Diplompsychologin, Berlin

Spielerische Methoden im eigenen Fachbereich – Arbeitsgruppen:| Stadt-, Dorf- und Regionalentwicklung, Bürgerbeteiligung, Stadtmarketing |Fachbeitrag: Michael Konken, Dozent für Stadtmarketing und Kommunikation, u.a. FH Oldenburg/Ostfriesland/Wilhelmshaven;Moderation: Andrea Wagner, Contura, Meuselwitz| Kommunikations- und Teamtraining |Fachbeitrag: Axel Rachow, DART Consulting GmbH, Köln;Moderation: Peter H. Krötenheerdt, KRÖTENHEERDT Kommunikation – Coaching – Teamentwicklung,Leipzig| Kinder-, Jugend- und Familienarbeit, Schule, Nachbarschaftsbildung |Fachbeitrag: Ralf Brinkhoff, Spielpädagoge, Löhne;Moderation: Monika Schneider, Agentur für Wohnkonzepte, Köln

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gru

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| Auswertung der Gruppenarbeiten im Forum– Zusammenführen der Ergebnisse– Anforderungen an das Profil für fachübergreifende spielerische Instrumente |Moderation: Annette Ullrich, Georg Pohl, Lern- und Entwicklungsagentur (LEA) des Netzwerk Südost e.V.,

21.02.14.15 – 17.00 Uhr Unternehmen

| »Strukturelemente des Brettspiels« | Fachreferat mit Fragenbeantwortungdurch Gerhard Knecht, Spiellandschaft Stadt e.V., München / Akademie Remscheid| »Das eigene Spiel« | Fachreferat und Tipps zur Produktion und Gestaltung von Brettspielen.Till Meyer und Nicole Stiehl, Spieltrieb GbR, beantworten Ihre individuellen Fragen

| »Spiele und Spielkultur in einer zukunftsfähigen Gesellschaft« |Vortrag von Tom Werneck, Jury »Spiel des Jahres«, Bayerisches Spiele-Archiv Haar e.V., München

Tip

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| Veranstalter: Netzwerk – Arbeitsgemeinschaft zur Förderungeiner gemeinwesen-orientierten Sozialstruktur Leipzig-Südost e.V.Stötteritzer Str. 43, 04317 LeipzigTel./Fax: (0341) 9 90 23 [email protected] www.mitspieltagung.de

20. bis 21. 2. 2006 in Leipzig

mitSPIELtagungFachtagung zu spielerischen Verfahrenmit dem Ziel der Förderung von Kreativität,Kommunikation und Kooperation in Städtenund Dörfern, in Unternehmen sowie in derJugendarbeit, Schule und Nachbarschaft

Die mitSPIELtagung hinterfragt und beschreibt die Eignung und Qualität von Spielen (Brettspiele,Planspiele, Kommunikationsspiele), die im Sinne eines Instrumentes Wirkungen initiieren undWirkungsketten auslösen sollen. Die Veranstaltung richtet sich in ihrem Profil an Personen ausOrganisationen, Unternehmen, Programmen und Gemeinden, die selbst spielerische Verfahren anwendenund an Interessierte, die über einen Einsatz nachdenken bzw. eigene Spiele herstellen wollen.

Teilnahmegebühr / Anmeldung

| Tagung: 180,– EUR (Frühbucherrabatt bis 15.12. 2005 160,– EUR),| Anmeldung unter www.mitspieltagung.de / oder mail: [email protected]

Übernachtung

| Sondertarif 65,- EUR p. Person / p. Nacht (EZ mit Frühstück) im »Balance Hotel Leipzig Alte Messe«,Breslauer Str. 33, 04299 Leipzig, Tel. (0341) 86790, www.balancehotel-leipzig.de

Kooperationspartner

| Stiftung Agens. Initiative zur Förderung von Bildung und Kommunikation für ein gemeinwesenorientiertesHandeln in Stadt, Dorf und Region | Berufsverband der Verkaufsförderer und Trainer e.V. || Spieltrieb – Arbeitsgemeinschaft für die Entwicklung didaktischer Spiele und Simulationssysteme GbR || Ludilux | stadt.info – Das Fachmagazin für Stadtmarketing und Wirtschaftsförderung | Verband fürsozial-kulturelle Arbeit e.V. | BHW Bausparkasse |

Veranstaltungsorte

04103 Leipzig, Deutscher Platz 5Bio City

04103 Leipzig, Deutscher Platz 6Max-Planck-Institut

04103 Leipzig, Deutscher Platz 1Deutsche Bücherei

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GlücksSpirale

Der Rundbrief erscheint mitfinanzieller Unterstützungder Glücksspirale