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rundschreiben 04|12

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medico international

rundschreiben 04|12www.medico.de

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rundschreiben 04|12

ISSN 0949-0876

Titelseite: Es gibt Formen der Armut, dieMenschen zu einem bloßen Objekt der äuße-ren Umstände erniedrigen. Schon in derApartheid war die arme schwarze Bevölke-rung in ein komplexes System der Wanderar-beit eingebunden, das ihnen nur die bloßeExistenz gestattete. Trauernder Bergarbeiteraus der südafrikanischen Platinmine Mari-kana. Siehe auch S. 28-32.Foto: Reuters

editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

„Wir haben tagelang, ja wochenlang demonstriert, doch wir haben nichts er-reicht. Jetzt hilft nur noch die Poesie.“So leitet der in Spanien lebende argenti-nische Rockmusiker Alejo Stivel ein Vi-deo ein, mit dem er sich an Angela Mer-kel wendet. Nach den Bildern demons-trierender Spanier, die sich mit aller Fan-tasie gegen den von der EU und insbe-sondere Deutschland erzwungenenSparkurs wenden, sieht man den nichtmehr allzu jungen Rocker das Flugzeugnach Berlin besteigen. Durch den Zollschmuggelt er ein verdächtiges Paket,das er durch Berlin bis vors Bundeskanz-leramt trägt.

Es enthält Sprengstoff – aber nur virtuel-ler Natur: ein auf Merkel umgemünzterVideoclip mit einem der bekanntestenChansons im spanischsprachigen Raum.„Ojalá“ (Hoffentlich) ist ein Lied des Ku-baners Silvio Rodríguez. Ein Liebeslied,das als versteckte Kritik auf die allgegen-wärtige Präsenz Fidel Castros verstan-den wurde. Nun aber eine auf Merkel:„Hoffentlich vergeht dir dein beständigerBlick, dein genaues Wort, dein perfektesLächeln." Käme doch nur ein plötzlichesEreignis: „Ein gleißendes Licht, einSchuss aus Schnee." Dann verschwändedie Totalität Merkel´scher Präsenz undpolitischer Wirkungsmacht so, als hättees sie nie gegeben. Stivel reicht seinepoetische Paradoxie durch die Gitters-täbe des Kanzleramtes auf einer selbst-gebrannten CD, auf die er schnell „ParaAngela“ (für Angela) kritzelt.

Inhalt

Editorial.............................................2

Kommentar.......................................4

Migration ...........................................6

Nicaragua .......................................12

Pakistan..........................................16

Projekte – Projektionen...................20

Brasilien..........................................22

Haiti.................................................26

Südafrika.........................................28

Kritische Einsprüche zum World Health Summit......................33

medico aktiv....................................38

medico Materialliste........................40

Service/Impressum.........................42

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Deutschland undseine Regierendensind für viele Men-schen in den Ausei-nandersetzungenum die Verteidigungdes öffentlichenGutes in Südeuropazur schrecklichenGrimasse einesrücksichtslosen Ka-pitalismus geronnen. Das war die politi-sche Begleitmusik aus Südeuropa,während wir dieses Heft produzierten:Generalstreik, Schriftsteller, die die deut-sche Kanzlerin zur Persona non grata er-klären, Meldungen über Krebspatienten,die sich ihre Medikamente teilen, Mili-tärs, die sich mit einem kommenden Auf-stand solidarisieren.

Von sozialem Eigentum in Form von öf-fentlicher Bildung und einem allen zu-gänglichen Gesundheitswesen und sei-ner Verteidigung sind die meisten Länderder medico-Partner noch weiter entferntals Südeuropa. Besonders deutlich wirddas in der Reportage des JournalistenKlaus Ehringfeld. Er war mit der von me-dico geförderten Karawane der Mütterunterwegs, die alljährlich nach Mexikoaufbricht, um ihre verlorenen Kinder zusuchen. Jährlich verliert sich die Spurvon 20.000 Zentralamerikanern auf demWeg nach Norden. Aus dem Elend ent-fliehen – dafür gibt es derzeit häufig nurindividuelle Lösungen. Nicht alle, die ge-hen, fallen den grässlichen Verbrechenvon kriminellen Banden oder grenzpoli-zeilicher Willkür zum Opfer. Das ist fastschon eine gute Nachricht in dem Textvon Ehringfeld, der uns vom glücklichenWiedersehen einer honduranischen Fa-milie mit dem verlorenen Sohn berichtet.

Diese weihnachtlich anmutende Ge-schichte folgt dem medico-Grundsatz, dieHilfe für den Einzelnen in Not, nicht imGegensatz zu sehen zur Beschäftigungmit den Ursachen von Unterdrückungund Ausgrenzung.

Wem in der Weihnachtszeit nach etwasRebellischem und Unversöhnlichem zumute ist, findet das Anti-Merkel-Videoim Netz (unter: http://www.20minutos.tv).Als Dreingabe zum „Fest des Friedens“empfehlen wir außerdem, mit Adornoskritischer Reflektion über das Schenken,die Weitergabe einer medico-Fördermit-gliedschaft. Nicht zuletzt deshalb, weil eseine Übung wäre, in unauflöslichen Wi-dersprüchen zu denken. Das hält in die-ser kalten Jahreszeit den Verstand wachund wärmt nicht nur den Kopf.

Herzlichst Ihre

P.S. „Hilfe verteidigen, kritisieren, über-winden“ ist das Motto unseres virtuellen Adventskalenders. 24 Kolleginnen und Kolle-gen des People`s Health Movement äußernsich zu einer möglichen anderen Welt: www.medico.de/adventskalender

www.medico.de/hoerenX

Abgegeben und quittiert: AlejoStivel bringt das Lied zur Krisenach Berlin.

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anchmal ist es das Groteske, dasverdeutlicht, woran die Welt krankt.Und mitunter reichen dafür schon

wenige Worte. „Bringing Medicines intoLow-Income Markets“ lautet der Titel einerStudie, die das Bundesentwicklungshilfemi-nisterium (BMZ) kürzlich in Berlin auf demvon der Industrie dominierten „World HealthSummit“ vorgestellt hat; ein Titel, der keinenZweifel daran lässt, warum sich die globaleGesundheitspolitik auf dem Holzweg befin-det. Denn wenn es nicht mehr um sozialeGemeinwesen geht und nicht einmal mehrum Länder, sondern allein noch um Märkte,seien sie „einkommensschwach“ oder ren-diteträchtig, dann muss sich Politik auchnicht mehr an den Bedürfnissen von Men-schen ausrichten, sondern nur noch dieEntwicklung von „innovativen Geschäftsmo-dellen“ im Auge haben. So steht es tatsäch-lich in der begleitenden Presseerklärungdes BMZ: Die Welt – ein einziger großerMarkt; Politik als Wegbereiter von Business.

Um die Dinge der Menschen steht esschlecht, wenn sich alles nur noch um Wa-rentausch und Märkte dreht: Märkte, für dieAnreize zu schaffen sind, deren Vertrauenes zurückzugewinnen gilt, die von Finanzin-

kommentar

GELD –Der Geist aller Dinge?Von Thomas Gebauer

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„Wenn ich sechs Hengste zahlen kann

Sind ihre Kräfte nicht die meine?

Ich renne zu und bin ein rechter Mann

Als hätt’ ich vierundzwanzig Beine."

Johann Wolfgang von Goethe,

Faust (Mephisto)

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stitutionen, wie z.B. Internationaler Währungsfonds oderWeltbank, stabilisiert werden; Märkte, die sich schließlichauch der immer größer werdenden sozialen Herausforderun-gen annehmen sollen. Letzteres forderte als einer der Haupt-redner auf dem Berliner Gesundheitsgipfel Josef Ackermann.

Unter Bezugnahme auf Goethes „Faust“ brachte Karl Marx inseinen Frühschriften eben solche Umstände auf den Punkt:„Das Geld ist der wirkliche Geist aller Dinge.“ Goethe, derzehn Jahre lang Finanzminister in Weimar war, wusste, wassich da mit dem aufkommenden Kapitalismus zusammen-braute. Lange bevor der Skandal des Handels mit Derivatendie destruktive Seite des Kapitalismus offenkundig gemachthat, schilderte Goethe die neue Wirtschaft als Fortsetzungvon Alchemie, als Wertschöpfung, die sozusagen aus demNichts gelingt. Der Preis dafür allerdings ist hoch. Macht undReichtum erzielt nur, wer seine Seele verkauft, wer sich demabstrakten Prinzip des Geldes ergibt.

Bemerkenswert, wie sich die Mächtigen heute gegenseitigals „Mephistos“ beschimpfen. Die Banker seien welche, lässtder Kanzlerkandidat der SPD mitunter verlauten. In Acker-mann erblicke man „das warme, freundliche und teuflischeGesicht des Kapitals. Mephisto kann auch warm sein", mein-te kürzlich Daniel Cohn-Bendit. Bundesbankpräsident Weid-mann sieht im Chef der Europäischen Zentralbank MarioDraghi einen Mephisto, etc., etc.

Kapitalismus ist ein Kult, der nur deshalb alternativlos er-scheint, da er sich mit scheinbarer Rationalität und Wissen-schaftlichkeit umgibt. Das Teuflische an diesem Kult ist, dasser zwar um das kommende Unheil von Anfang an weiß, aberam Ende ausgerechnet diejenigen ausstößt, die ihm – ohnesich zu bereichern – aufgesessen sind. Eher, so zeigt es sichheute in Griechenland, werden ganze Bevölkerungsteile ab-geschrieben, als das Prinzip, das die Katastrophe verursachthat, korrigiert.

Der holländische Maler und Mitbegründer der „Situationisti-schen Internationale“ Constant N. verfasste 1959 eine Er-klärung, die noch heute zum Nachdenken anregt. Statt dieBörse von Amsterdam, die damals in einem erbärmlichenZustand war, zu renovieren, empfahl er deren Abriss und dieRückgabe des so wieder gewonnenen Grund und Bodens andie Leute des Viertels: als Lebensraum von Menschen.

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Kreativität statt Automation: Constant N. entwarf mit der Ausstellung „New Babylon“(1960) einen Stadtplan für den „spielerischen“ Menschen.

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ENOSIQUE/HUEHUETOCA. Imersten Moment wollen nicht maldie Tränen fließen. Im ersten Mo-

ment steht er da wie versteinert. Er hatsein bestes Hemd angezogen, auch seineFrau hat sich hübsch gemacht, die beidenkleinen Söhne tragen den Schopf saubergescheitelt. Die Familie von Cervelio Ma-teos hält sich fest an den Händen.

Dann endlich betreten die Eltern die kleineKapelle der Migrantenherberge von Teno-sique, fest eingehakt bei Franziskanerpa-ter Fray Tomás. Die Augen von Cerveliospringen von der Mutter zum Vater undwieder zurück, hin und her, so als müsseer sich versichern, dass sie es wirklichsind: der Vater, ein hagerer Campesino,die Mutter, eine kleine runde Frau miteiner warmen Ausstrahlung. Cervelio undseine Familie gehen einen Schritt auf siezu. Dann drückt er seine Eltern an sich,als müsse er die neun verlorenen Jahre ineine Umarmung pressen. Und dann end-lich kann er auch den Tränen freien Lauflassen. Die Fotografen halten den Mo-ment für die Ewigkeit fest.

Fray Tomás reicht Cervelio ein Mikrofon.Er soll ein paar Worte richten an die Re-porter, die anderen Migranten und vorallem die vielen Mütter. Seine Stimme istso leise, dass man sich trotz Lautsprecher

anstrengen muss, seineWorte zu verstehen. Cer-velio erzählt von Stolzund Dankbarkeit und wiesehr er seine Eltern alldie langen Jahre ver-misst habe. „Ich bin soglücklich, sie hier nebenmir zu haben.“ Applausbrandet auf, nun fließenauch Tränen bei den dreiDutzend Müttern ausZentralamerika, die nachMexiko gekommen sind,um ihre Kinder zu suchen und inständighoffen, dass ihnen das gleiche Glück zu-teil wird wie dem 27-jährigen Cervelio undseinen Eltern.

Vor neun Jahren, er war gerade 18 Jahrealt, ging er den Weg HunderttausenderMigranten. Er entfloh der Armut seinesDorfes San Antonio in der honduranischenProvinz Lempira, wo die Scholle von VaterJosé die acht Kinder kaum ernährte. Cer-velio wollte weg, wollte ein besseresLeben. Er wollte in die USA, „in den Nor-den“, wie er es nennt. Das scheinbar ge-lobte Land, wo man in ein paar Tagen dasverdient, wofür man in der Heimat einenMonat schuften muss. Cervelio wollteOrangen pflücken oder Bohnen ernten.Hart arbeiten hatte er schon in Kinderjah-

T

migration

Vagabunden auf dem Weg nach200.000 zentralamerikanische Migranten durchqueren das gefährli

jährlich. Nur in wenigen Herbergen finden sie Schutz. Zwei davo

Journalist Klaus Ehringfeld besucht.

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ren gelernt, als er dem Vater auf dem Feldhalf. Also packte Cervelio den Rucksack,Hemd und Hose und ein paar Groschen,und kam nach tagelangem Fußmarsch

und Busfahrt in Mexiko an. Hier sprang erauf den Güterzug, den sie „Die Bestie“nennen, weil er einen ins Paradies, aberauch viel zu oft in die Hölle bringt.

Doch die Reise des Jungen endete, bevorsie richtig begann. In Lomas Alegres in Ta-basco im Süden Mexikos stieg er beieinem Halt vom Zug ab. Er wollte schnell

etwas zu essen besorgen. Doch der Zugsetzte sich ohne ihn wieder in Bewegung:„Ich lief, aber konnte auf den letzten Wag-gon nicht mehr aufspringen, so blieb ich

zurück.“

Cervelio, so kann man rückblickendsagen, hat großes Glück gehabt. Ertraf auf einen Busunternehmer, derihm einen Job als Kassierer gab, so

blieb er erst einmal. Bald darauf lernte erMaria kennen, sie verliebten sich, heirate-ten und bekamen zwei Söhne. Und sotauschte er den Traum im „Norden“ gegeneine Wirklichkeit in Mexikos Süden.

Seiner Familie aber konnte Cervelio niemitteilen, was aus ihm geworden war. SanAntonio in Honduras ist fast von der Au-

Norden che Mexiko

n hat der

Er drückt seine Eltern an sich, als müsse er die neun verlorenen Jahre in eine Umarmung pressen.

Nach sieben Jahren den Sohn wiedergefunden: Familienzusammenführung inder Migrantenherberge von Tenosique.

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ßenweilt abgeschnitten: „Und ich hatteimmer die falsche Vorwahl.“ So blieb Mut-ter Silveria daheim allein mit der Angst,was aus ihrem Jungen geworden war.

200.000 bis 300.000 Honduraner, Salva-dorianer, Nicaraguaner und Guatemalte-ken verlassen nach Schätzungen vonHilfsorganisationen jedes Jahr ihre HeimatRichtung Norden. 70.000 sind seit 2006auf dem 3.000 Kilometer langen Wegdurch Mexiko verschwunden. Viele fallenvom Zug, weil sie übermüdet sind oderbeim riskanten Aufstieg auf die Waggonsin voller Fahrt ausrutschen und unter dieRäder kommen. Manche werden von derPolizei aufgegriffen und in den Knast ge-steckt. Aber die größte Gefahr droht durchdie organisierte Kriminalität, vor allem die„Zetas“, eine paramilitärische Verbrecher-bande, gegründet von ehemaligen Elite-soldaten. Sie haben mal als Leibwächterfür das „Golf-Kartell“ angefangen, sinddann selbst in den Rauschgifthandel ein-gestiegen und haben vor fünf Jahren denMenschenhandel als Einnahmequelle ent-deckt. Besonders das Migranten-Mono-poly ist ein lukrativer Nebenerwerb. Sie

verschleppen die Männer und Frauen,nötigen unter Folter die Telefonnummernvon Angehörigen und erpressen Löse-geld. Frauen und Mädchen werden verge-waltigt.

„Diese Banden sind heute für die Migran-ten die mit Abstand größte Bedrohung“,sagt Fray Tomás, Leiter der Migrantenher-berge „La 72“ von Tenosique. 5.000 DollarLösegeld würden in der Regel verlangt.„Migranten sind für die Banden eine Ware,

mit der sich Geldverdienen lässt.“Wer kein Lösegeldzahlen kann, mussfür die Banden ar-beiten. Wer auchdas nicht will, demist der Tod sicher.Die Zetas ermor-den ihre Geiselnmeist auf bestia-lische Weise, siezerstückeln sie undlösen sie in Säureauf. Andere wer-den einfach an dieWand gestellt undin Massengräbern verscharrt, so wie imAugust vor zwei Jahren die 72 Auswande-rer im Bundesstaat Tamaulipas.

Das alles blieb Cervelio erspart. Als er vorneun Jahren auswanderte, da gab esnoch keine Zetas. Damals waren die größ-ten Gefahren, vom Zug zu fallen und vonder „Migra“, den korrupten Schergen derEinwanderungsbehörde, ausgenommenzu werden.

Vor neun Jahren gab esauch noch niemanden, anden sich Mutter Silveria aufder Suche nach ihrem Sohnhätte wenden können. Mitt-

lerweile existieren in fast allen LändernZentralamerikas lokale Organisationen,die versuchen, verschollene Migrantenaufzuspüren. In Mexiko macht das vorallem das Movimiento Migrante Meso-americano (Mittelamerikanische Migrati-onsbewegung, M3). „Wir hatten aus Hon-duras eine Suchanfrage erhalten“, erzähltRubén Figueroa vom M3. „Dann suchtenwir über kommunale Radios in der Ge-gend, wo wir ihn vermuteten, nach Cerve-lio.“ Nach und nach näherte sich Rubén

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Den Güterzug nennen sie „Die Bestie“,weil er einen ins Paradies, aber auch in die Hölle bringen kann.

„In Mexiko pressen uns alle aus.“ Daniel und Arlin ausHonduras in der Herberge San José nahe Mexiko-Stadt.

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so dem Honduraner an und kreiste sei-nen Aufenthaltsort ein. Irgendwann fuhrFigueroa in das Dorf, wo er wohnen sollte,ging von Haus zu Haus, bis er eines Ta-ges vor Cervelios Tür stand und seineFrau Maria öffnete.

Seit acht Jahren gibt es inzwischen dieKarawanen zentralamerikanischer Ange-höriger durch Mexiko. Unermüdlich habendie Mütter, Väter und Geschwister in die-sen Jahren die Bilder ihrer Lieben aufDorfplätzen und in Städten ausgelegt,haben mit Politikern und Polizisten gere-det. Und eigentlich immer bekam irgend-wer irgendeinen wichtigen Hinweis. Sokonnte Rubén Figueroa Söhne im Knastaufspüren oder als Prediger bei evangeli-kalen Sekten. Er konnte Zwillingsschwes-tern wieder zusammenführen, die sich vor20 Jahren zuletzt gesehen hatten. 30 Fa-milien hat die Mittelamerikanische Migra-tionsbewegung mittlerweile wieder zu-sammengebracht.

La 72 – erste Station

Nun stehen also Cervelio und seine Elternetwas unbeholfen vor so vielen Menschen

in der Herberge in Tenosique und sollenerzählen, wie sie sich fühlen. Vater Josénimmt das Mikrofon und sagt einfach nur:„Ich habe von der Wiederbegegnung im-mer geträumt, aber geglaubt habe ich eserst, als Rubén bei mir in San Antonio vorder Tür meiner Hütte stand und mich hier-her nach Mexiko eingeladen hat.“

Hierher – das ist „La 72“, der erste Anlauf-punkt für die Zentralamerikaner, wenn sienach Gewaltmärschen aus ihrer Heimatdie mexikanische Grenze überquert ha-ben. In dem Auffanglager können sie sichnicht nur satt essen, hier haben sie einenSchlafplatz, werden medizinisch versorgt.Und in der „Casa del Migrante“ wird jederWanderer registriert, damit man seineSpur besser verfolgen kann, sollte er nichtam Ziel ankommen.

An einem sonnigen Morgen im Oktobertreffen in dem Refugium schon morgensdie Neuen auf die Alten, die Kommendenauf die Gehenden. Bei Kaffee, einer kräf-tigen Suppe und Tortillas tauschen dieWanderer Erlebnisse aus, die Erfahrenenwarnen die Neuen vor den Gefahren aufdem Weg. Manche beratschlagen eineRoute, andere dösen auf ihren Matten.Wieder andere waschen ab und helfen,wo sie können. Edwin zum Beispiel istschon 14 Tage in Tenosique. Er kocht oftTamales, die typischen Maispasteten oderhilft beim Spülen der Teller. Er weiß nochnicht, ob er weiter will oder nach Hondu-ras zurück. Es sei zu schwer, zu gefähr-lich, und schließlich habe der Sohn auchbald Geburtstag. Hausherr Fray Tomásgibt seinen Gästen Zeit, sich zu entschei-den. Weggeschickt wird niemand. Edwinweiß das zu schätzen: „Hier in Mexikokönnen wir nur auf Menschen wie ihn oderauf Herbergen wie diese hoffen. Alleanderen hier wollen uns nur an den Kra-gen. Banden oder Behörden, ganz egal.“

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en, betont Müller. „Wie kann es angehen,dass jedes Jahr 20.000 Menschen aufihrem Weg durch Mexiko verschwindenund niemand unternimmt etwas?“

Huehuetoca – Zwischenhalt

Eintausend Kilometer weiter nördlich sindgerade Daniel und Arlin in der HerbergeSan José in Huehuetoca gestrandet. Vor16 Tagen brachen sie in Choluteca imSüden von Honduras auf – mit Rucksackund Geld. Hier, zwei Stunden nördlich vonMexiko-Stadt, haben sie nur noch dieKlamotten, die sie am Leib tragen, einegelbe Plastiktüte mit einem geschenktenPullover und Schuhe mit durchgebroche-nen Sohlen. Überfälle, Misshandlungen,Diebstähle liegen hinter ihnen. Gleich hin-ter der Grenze haben Banditen sie aus-genommen, und die Busfahrer verweiger-ten ihnen Wechselgeld, nur weil sie Mig-ranten sind und damit rechtlos. Aber amschlimmsten sind die bewaffneten priva-ten Sicherheitsdienste auf den Bahnhö-fen. „Die nehmen uns, was wir noch ha-ben“, sagt Daniel müde. „Hier in Mexiko

Insgesamt 54 solcher Herbergen gibt esin Mexiko. Sie werden getragen von kirch-lichen Einrichtungen und engagiertenGeistlichen wie Fray Tomás. Und auslän-dische Organisationen wie medico inter-national engagieren sich finanziell beimBau von Schlafsälen und Gesundheitssta-tionen, so wie bei „La72“ in Tenosique.

medico hilft aber auch bei der Suche nachin Mexiko verschollenen Migranten undunterstützt dabei die Arbeit der Mittelame-rikanischen Migrationsbewegung (M3),die neben der konkreten Hilfe vor allemLobbyarbeit für die Wanderer leistet. M3tritt den Behörden auf die Füße, stellt un-angenehme Fragen und verlangt Respektund Schutz für die Migranten.

Mit der Unterstützung für M3 wolle me-dico, den „Finger in die Wunde legen undden mexikanischen Politikern und der Ge-sellschaft den Spiegel vorhalten“, begrün-det Dieter Müller, medico-Repräsentant inMittelamerika, das Engagement. „Wir wol-len dafür sorgen, dass Migranten sichtbarwerden.“ Die Politiker müssten aufwach-

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weiteren Übergriffen zu schützen. FürMarta Sánchez „tragen die Behörden dieVerantwortung für die Unversehrtheit derMigranten“.

Wie dringend im Norden von Mexiko-Stadtetwas geschehen muss, kann man jedenTag in der San-José-Herberge besichti-gen. Hier stranden täglich 100 bis 150Menschen, in die Gesichter aller haben

sich Müdigkeit und Anstrengungen einge-schrieben. Die meisten sind bereits zweibis drei Wochen unterwegs, kaum jemandhat richtig geschlafen, dazu kommt dieAngst. „Eine Entführung“, sagt Daniel,„dann hilft uns nur noch Gott.“ Er und seinKumpel Arlin wollen nach Houston. DerTraum vom Norden, von einem besserenLeben, von besser bezahlter Arbeit ist füralle die Motivation, trotz Schikanen undSchicksalsschlägen weiterzumachen.

Auch Cervelio, der Honduraner, der seineEltern wiederfand, hat von dem großenTraum noch nicht Abstand genommen. AlsTagelöhner auf den mexikanischen Mais-und Bohnenfeldern verdient er kaum fünfEuro am Tag. Besser als daheim, aberauch nicht genug, der Armut zu entrinnen.„Die Illusion vom Norden“, sagt er leise,„die Illusion ist noch lebendig“.

pressen sie uns aus wie eineOrange. Aber wir haben nochLeben und Gesundheit.“

Die Unterkunft in Huehuetocaist die erste, die von Basisor-ganisationen betrieben wird.Noch fehlt es an vielem – anSchlafsälen, Toiletten und ei-ner Gesundheitsstation. „DasRefugium ist ausder Not entstan-den, nachdemdie Herberge imnahen Lecheríaauf Druck der dortigen Lokalre-gierung geschlossen wurde“,sagt Dieter Müller von medico.Huehuetoca ist jetzt der ein-

zige Anlaufpunkt für die Migranten im Na-delöhr nahe der mexikanischen Haupt-stadt. „Die Gegend hat sich zu einem dergefährlichsten Orte für sie entwickelt, hiersind sie leichte Beute für Räuber sowieprivate Sicherheitsdienste, und sie treffenoft auf eine feindliche Bevölkerung, dievon den lokalen Regierungen gegen dieMigranten aufgebracht wird.

Deshalb haben M3 und studentischeKollektive eilig diesen improvisierten Ortaus der Taufe gehoben, um den ausge-laugten Wanderern wenigstens Essen undein Obdach anbieten zu können. Leutewie Rubén Figueroa und Marta Sánchezvon M3 halten aber weiter Druck aufKirche und Politik aufrecht, um eine defi-nitive und besser ausgestattete Herbergezu erzwingen.Für Dieter Mül-ler ist das eine„ h u m a n i t ä r eund politischeNotwendigkeit“,um die Zentral-amerikaner vor

Migranten sind für die Banden eine Ware,mit der sich Geld verdienen lässt.

Die neuen „Verschwundenen“ der Globalisierung: In Mexiko werden zentralamerikanischeMigranten Opfer eines barbarischen Menschenhandels. Protestaktion von M3.

Projektstichwort

Die Arbeit der erwähnten Migrantenherbergen in Mexiko sowie die Öf-fentlichkeitsarbeit der jährlichen Mütterkarawanen auf der Suche nachihren verschollenen Kindern können Sie fördern unter dem Stichwort:Migration.

www.medico.de/hoerenX

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ass das integrierte Ansiedlungs-projekt in La Palmerita viele Risi-ken barg, war medico von vorn-

herein klar. Als sich die protestierendenLandarbeiter, die in einem Aufsehen erre-genden Hungermarsch auf Managua dieZusage von Land erhielten, an uns wand-ten, sie beim Aufbau eines Dorfes undeiner kleinbäuerlichen Landwirtschaft zuunterstützen, gab es großes Zögern. EineMachbarkeitsstudie hielt das Projekt fürdurchführbar. Das größte Problem: Alle150 Familien waren Tagelöhnerfamilien,die auf Plantagen gearbeitet hatten. Siebesaßen keinerlei Erfahrung als Kleinbau-ern und ihre Biographien waren allesamtvon erheblichen Gewalterfahrungen ge-prägt. Ende vergangenen Jahres erhieltendie Bewohner die Landtitel vom Staat unddamit auch das Recht das Land zu ver-kaufen. Die meisten hielten dem verlo-ckenden Druck eines Agrarunterneh-mens aus der Region nicht stand – undverkauften.

Dieter Müller hat als medico-Vertreter inMittelamerika das Projekt gemeinsam mitden lokalen Projektpartnern, die Frauen-organisation MEC (Bewegung Maria Ele-na Cuadra) und die Agrargenossenschaftaus El Tanque (COOPCOVE), die vergan-genen fünf Jahre betreut und schildert dieaktuelle Situation sowie die Ursachen fürdiese Entwicklung.

Wie ist die aktuelle Situation vor Ort?

Dieter Müller: Es gibt knapp 20 Familien,die noch in Palmerita leben und einigebewirtschaften auch ihre Felder. DerRest der einst 150 Familien hat den Ortverlassen und ihre Ländereien verkauft.Das waren etwa 400 Manzanas (1 Man-zana = ca. 0,75 Hektar). Anfang Septem-ber hat sich die Situation noch einmalzugespitzt. 50 Personen, zumeist ehe-

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nicaragua

Vom Ende eines vernünftigenIn Palmerita haben die meisten Bewohner ihr Land verkauft / Ein

Repräsentant von medico in Zentralamerika

D

Gescheiterte Entwicklung: Die Großplantage kehrt zurück, und aus Tagelöhn

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Was bedeutet das für die verbliebenenFamilien in Palmerita?

Der Druck auf sie, ihr Land zu verkaufen,wird sich erhöhen. Sie sind eingekreistvon den Ländereien des Agrarunterneh-mens. Ihre Felder liegen verstreut inmit-ten der Großplantage. Dort werden mas-siv Pestizide eingesetzt. Das Unterneh-men hat auf seinen Flächen alle Bäume,die im Rahmen des Projekts aufgeforstetwurden, mehr als 45.000, roden lassen.Palmerita war ein blühendes Dorf, mansah viele der Häuser schon nicht mehrhinter den Bäumen. Nun ist die Unwirt-lichkeit zurückgekehrt. Es läuft eine Kla-ge wegen Umweltverschmutzung gegendas Unternehmen, die zu erwartendeGeldstrafe bewegt sich zwar im fünfstel-ligen Dollar-Bereich, was das Unterneh-men aber nicht empfindlich trifft, ange-sichts der zu erwartenden Gewinne.

Wie lukrativ ist der Landverkauf?

Die Preise haben sich in anderthalb Jahren verdoppelt. Für zwei Manzanaskonnten die Bewohner zuletzt 3.000 Dol-lar erzielen. Für einen nicaraguanischenLandarbeiter ist das bar auf die Handsehr viel Geld. Der Indikator für Armutliegt in Nicaragua bei zwei Dollar proTag. Eine andere Frage ist, was die Men-schen mit dem Geld wirklich anfangenkönnen. Sehr viel geht in den Konsumvon Waren, die sie sich sonst nicht leis-ten könnten. Dann schmilzt das Geld soschnell wie Eis in der Sonne. Tragischist, dass mit dem Verkauf und der Um-setzung des Geldes in schnellen Kon-sum nichts bleibt, was der nächsten Ge-neration dienen könnte. Die meisten ar-beiten wieder als Tagelöhner. Das ist dasSchicksal, das sie wahrscheinlich auchan ihre Kinder vererben werden.

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malige Bewohner von Palmerita, habendas Versammlungshaus besetzt und er-heben weitere Ansprüche. Sie forderndie Aufteilung der restlichen Grünflächenund des Gemeindelandes, um auch die-se zu verkaufen und die Erlöse aufzutei-len. Das Agrarunternehmen, das inzwi-schen über 80 % der Flächen aufgekaufthat, unterstützt die Besetzer mit Lebens-mitteln und stellt ihnen gut bezahlte An-wälte zur Verfügung.

Projekts Interview mit Dieter Müller,

ern werden nicht immer Kleinbauern.

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Was ist der Grund für das Scheitern?

Die Mehrheit der ehemaligen Bewohnerhat sich trotz aller Bemühungen im Be-reich von Fort- und Ausbildung sowie derpsychosozialen Arbeit nicht mit der Per-spektive einer kleinbäuerlichen Existenzanfreunden können. Sie waren Landar-beiter und gewohnt ihren kleinen Lohntage- oder wochenweise ausbezahlt zubekommen. Ein Kleinbauer muss dage-gen in Perioden von drei Monaten bis zueinem halben Jahr denken. Man mussrelativ viel investieren, bevor man ein Er-gebnis und Einkünfte erzielt. Deshalbhaben viele Bewohner schon lange ihreEinkünfte wieder über Tagelöhnerjobsbei den umliegenden Großbauern erzieltund ihre Landflächen verpachtet.

Ist Palmerita also auch an globalenEntwicklungen gescheitert?

Ja. Seit zwei Jahren sind Großbauernund Agrarunternehmen in ganz Nicara-gua auf der Suche nach Land. Das hatmit den globalen Agrarspekulationen unddem weltweiten Energiehunger zu tun.Dabei setzen diese Unternehmen ver-schiedenste Druckmittel ein, um die Leu-te zum Verkauf ihres Landes zu bewe-gen. In Palmerita haben einzelne Be-wohner nachweislich Provisionen dafürerhalten, dass sie die Nachbarn zumVerkauf überredeten. Damit wurden dieohnehin labilen sozialen Beziehungen imDorf weiter geschwächt. Statt eine Dorf-gemeinschaft zu entwickeln, ging es nurnoch darum, wer in diesem Geschäft den besten Schnitt macht. Das Schicksalvon Palmerita war besiegelt, als es ge-lang zwei historische Führer des Hunger-marschs auf Managua für dieses Ge-schäft zu gewinnen. Sie verkauften nichtnur ihr eigenes Land, sondern habenauch Provision für die Vermittlung weite-

rer Landkäufe erhalten. Sie haben letzt-lich das Ganze mit dem Agrarunterneh-men unter Dach und Fach gebracht.

Bevor medico Spendengelder einsetz-te und Mittel für das Projekt in Palme-rita beim BMZ beantragte, wurde eineMachbarkeitsstudie durchgeführt.Manche Schwierigkeiten waren medi-co durchaus bekannt. Welches Resü-mee würdest Du heute ziehen?

Ich habe mir nach der Eskalation im Dorf die Machbarkeitsstudie von damalsnoch einmal durchgelesen. Mich hat diedurchgehende Rhetorik der Bewohnerund insbesondere der Führer überrascht,mit der sie begründeten, dass sie nachihren Erfahrungen als Landarbeiter nureines wollten: unabhängig werden vonden Konjunkturen der Plantagenwirt-schaft, Herr sein über eigenes Land unddie eigene Subsistenz. In der Studie er-zählen sie von den elenden Arbeitsbe-dingungen in den Kaffeeplantagen, siesind voller Hass auf die Reichen, die ihrSchicksal bestimmen. Deshalb wolltensie unbedingt eigenen Boden haben undwendeten sich an medico, weil sie denerfolgreichen Wiederaufbau in El Tanquekannten, dem neuangesiedelten Dorfvon Kleinbauern, deren Existenz durcheinen Wirbelsturm vernichtet wordenwar. Ihr Wille, sich ein neues anderesLeben aufzubauen, war real.

Bis heute sprechen alle gegenwärtigenund ehemaligen Bewohner von Palme-rita von ihrem Recht. Aus ihrer Sichthaben sie sich dieses Land durch ihrenProtest und durch ihr langes Leiden er-kämpft. Auf eine bestimmte Weise gibtes eine hohe Identifikation mit der eige-nen Leistung, dieses Land und die Häu-ser erstritten zu haben. Ob die psycho-soziale Arbeit, die medico mit finanziert

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hat, Ideen und Wege gefunden hat, die-se Form der Identifikation zu stärken und zugunsten eines kommunalen, ge-meinsamen Projektes zu entwickeln,frage ich mich. Es gab viele, zum Teilsehr heftige Alltagskonflikte, die durchdie psychosoziale Arbeit bewältigt wer-den mussten. Damit wurde das Gewalt-potenzial im Dorf erheblich reduziert.Aber möglicherweise wurde deshalbwichtigen Fragen nach der Denkweiseder Menschen, nach ihren Lebensprojek-ten zu wenig Beachtung geschenkt.Auch nach El Tanque kommen ständigLandkäufer. Die werden regelmäßig ab-geschmettert. Hier unterscheidet sich Ni-caragua auch von den anderen zentral-amerikanischen Ländern. Da werden dieKleinbauern häufig entschädigungslosvertrieben.

Wie geht ihr mit dem aktuellen Kon-flikt um. Gibt es irgendeine Kompro-missmöglichkeit mit den Besetzern?

Die rechtliche Situation ist eindeutig.Sie haben ihr Land verkauft und wohnenauch nicht mehr in dem Landkreis. Siehaben keinerlei Ansprüche. Es ist ganzklar, dass sie im Interesse des Agrarun-ternehmers agieren, der das Land will.Unsere Strategie besteht darin, die zuunterstützen, die nach wie vor in Palme-rita leben. Das haben wir auch mit demBürgermeister vereinbart.Er wird sich hoffentlich somit dem Agrarunterneh-men verständigen, dassdie Ausgangsbedingun-gen für die verbliebenenBewohner sich nicht wei-ter verschlechtern.

Was bedeutet diese Er-fahrung für die medico-Idee mit solchen Pro-

jekten, Inseln der Vernunft zu schaf-fen? Sind die externen Faktoren zustark?

Die externen Ausgangsbedingungen fürPalmerita haben sich in einer solchenGeschwindigkeit verändert, dass es füruns unmöglich war, das Projekt daraufauszurichten. Deutlich ist aber auch er-neut geworden, dass soziales Handelnnicht in allen Facetten berechenbar ist.Wir haben dieses Projekt trotz vieler Un-wägbarkeiten, die uns bekannt waren,begonnen. Und ich bleibe dabei, solcheProjekte müssen immer wieder versuchtwerden. Wenn wir nur noch Projektedurchführen mit Menschen, die schoneinen gewissen Bildungs- und Organisa-tionsgrad haben, damit wir sicher seinkönnen, dass sie nicht misslingen, dannschließen wir die Allerärmsten und dieje-nigen, die am meisten ausgegrenzt wer-den, aus der Entwicklungsarbeit aus.Für sie bliebe nur noch Barmherzigkeit.In Nicaragua zählen 40 % der Bevölke-rung zu den extrem Armen. Ich glaube,dass medico solche Projekte immer wie-der wagen sollte. Wenn wir nur noch „ri-sikoarme“ Projekte machen, dann betei-ligen wir uns an der weiteren Marginali-sierung derer, die ohnehin außen vorsind.

Das Interview führte Katja Maurer

Projektstichwort

Ein Erfolg des Palmerita-Projektes bleibt, dass es gelungen ist,über Jahre den Kindern den Schulbesuch zu ermöglichen. Vie-le haben in dieser Zeit ihren Schulabschluss gemacht, einigewenige studieren sogar. In Verteidigung der 20 Familien wer-den medico und MEC weiterhin Präsenz zeigen und alles tun,damit die Armen eine Chance haben. Unterstützen Sie diese ri-sikoreiche Arbeit, die nicht immer von Erfolg gekrönt ist – abernotwendig bleibt. Das Stichwort dafür lautet: Nicaragua.

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s gab keine Feuerlöscher, die Fens-ter waren vergittert, Fluchtwege ver-sperrt. Für mehr als 250, vielleicht

sogar über 300 Menschen wurde die Tex-tilfabrik Ali Enterprises am 11. September2012 zur Todesfalle, in der sie elend ver-brannten. Hier sah man die Bilder in denAbendnachrichten, eine Katastrophenmel-dung mehr aus Karatschi, der pakistani-schen 20-Millionen-Metropole im Mün-

dungsdelta des Indus. Am nächsten Mor-gen lasen wir die Emails unserer Partner,Nasir Mansoor von der National TradeUnion Federation (NTUF) und Karamat Alivom Pakistan Institute for Labour Educa-tion and Research (PILER). Bis dahin ver-band uns die Nothilfe für die Flutopfer dergroßen Überschwemmungen 2010 und2011. Wenn wir jetzt auch in Gewerk-schaftsdingen kooperieren, liegt das am

pakistan

Die neuen Sklaven des WeltmarkWas ein Fabrikbrand in Karatschi mit billigen Jeans in Deutschl

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Der menschliche Preis im globalen Textilgeschäft: Kerzen für die 300 Brandopfer in der Kleiderfabrik von Karatschi.

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Auftraggeber von Ali Enterprises. „Mindes-tens 75 % der Jeans gingen unter dem La-bel ‚Okay’ nach Deutschland“, schrieb unsNasir. „Das Label wird vom Textildiscoun-ter KiK vertrieben.“

Baldia Town und Bönen/Westfalen

Die Fabrik lag in Baldia Town, einemStadtteil im Westen Karatschis. Er zieht

sich an der großen Autobahn entlang, dieden stolzen Namen Regional-Coopera-tion-for-Development-Highway trägt undvon den Leuten kurz RCD genannt wird.Baldia wurde auf dem Reißbrett entwor-fen, Baubeginn war 2001, die Einwohner-zahl liegt heute schon bei über 400.000.medico-Partner Nasir Mansoor kannte AliEnterprises schon vor dem Brand, weilseine Gewerkschaft wie in anderen derüber 10.000 Fabriken Karatschis auch inder Todesfabrik aktiv war. AuftraggeberKiK hat seinen Sitz in Bönen, einer west-fälischen Provinzstadt mit 18.000 Einwoh-nern. In Einkaufszentren vor deutschenStädten kosten „Okay“-Jeans von KiK ab15,99 € das Paar. Dieses Billigschnäpp-chen wird in Karatschi bezahlt, auch beiAli Enterprises. Am 11. September 2012zahlten die Arbeiterinnen und Arbeiter dortmit ihrem Leben, in den Monaten und Jah-ren zuvor mit einer Existenz, deren Le-bensrhythmus vom globalisierten Welt-markt bestimmt wird, konkret gesprochen:in Bönen/Westfalen.

Für die über 1.000 Beschäftigten bei AliEnterprises hieß das eine Schufterei vonbis zu 14 Stunden täglich. Mehrarbeit wur-de nicht bezahlt, konnte jedoch nicht zu-rückgewiesen werden. Gearbeitet wurdeam Band, mit immer den selben Handgrif-fen, je nach dem Teil der Jeans, für dendie einzelne Arbeiterin zuständig war, Ho-senbund oder Tasche. Bezahlt wurde perStück. „Wie anderswo lag der Tagesver-dienst oft unter dem Armutssatz von zweiDollar täglich“, sagt Nasir Mansoor. ImMonat kamen so höchstens 60 Euro zu-sammen.

Die Räume waren nicht erst im Brandfalllebensgefährlich: eng, stickig, unzurei-chend beleuchtet, die Luft zum Atmen vol-ler Textilfasern. Das widerspricht, was jetzt

tes and zu tun hat.

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wichtig wird, auch pakistanischem Recht.Auch bei Ali Enterprises erhielten diemeisten Beschäftigten keinen Arbeitsver-trag. Sie konnten sich deshalb bei keinerBehörde beschweren, keine Sozialversi-cherung, keine Rente beantragen, auchdies im Widerspruch zu pakistanischemRecht. Sie können jetzt, da kommt dasGanze auf den Punkt, nicht einmal ihrenAntrag auf Entschädigung belegen, für er-littene Verletzungen, den Tod eines Fami-lienmitglieds, den Verlust von Arbeitsplatzund Einkommen.

Bewegung für Arbeiterrechte

Der rechtswidrige Vorenthalt der Arbeits-verträge erklärt die Schwierigkeiten beider Zählung der Opfer. So gibt es nebenden erfassten Toten nach wie vor nichtidentifizierte Leichname, zugleich abermehr Vermisstenmeldungen als gezählteLeichname. Nasir und seine Kollegen ar-beiten mit vier Kategorien. Die ersten dreiliegen, schlimm genug, auf der Hand:identifizierte sowie nicht identifizierte Tote

und Vermisste, von denen nicht einmal einLeichnam blieb. Die vierte bezieht sich aufdie Toten, die bisher weder gefunden nochvermisst gemeldet wurden: Wanderarbei-ter vom Land, deren Angehörige vomBrand der Fabrik und dem möglichen Todihrer Verwandten noch gar nichts gehörthaben.

In Bönen/Westfalen beruft man sich aufPrüfberichte zur Arbeitssicherheit, die vonAli Enterprises nur Gutes zu berichtenhaben. Wenige Tage nach dem Brandgründeten Betroffene von Ali Enterprises,Gewerkschaften, Menschenrechtsorgani-sationen und linke Gruppen das WorkersRights Movement. Mit dabei, neben NTUFund Nasir, auch der zweite medico-Part-ner in Karatschi, die Forschungs-, Bil-dungs- und Advocacy-NGO PILER. DasBündnis organisierte schnell eine ersteDemonstration, die prompt verboten wur-de – während man die Besitzer der Todes-fabrik gegen Kaution auf freien Fußsetzte.

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Fand KiK nach eigenen Angaben zu-nächst keinen geeigneten Ansprechpart-ner vor Ort, kam es dann zum Treffen mitPILER und der Vorlage eines ersten Ent-schädigungsangebots aus Bönen/Westfa-len: 500.000 Dollar „Soforthilfe“ zuzüg-lich derselben Summe an „nachhaltigerUnterstützung“. Legt man die offizielleZahl von 259 Getöteten zugrunde, wärendas etwas über 3.860 Dollar pro Person,zuzüglich weiterer Zahlungen des pakis-tanischen Staates. „Viel Geld in denSlums von Karatschi, verdammt wenig inBezug auf die Gewinnspanne bei KiK“,sagt Karamat Ali, Geschäftsführer vonPILER. Die Betroffenen und das Bündnisgeben sich damit nicht zufrieden, verwei-sen auf ein ver-gleichbares Un-glück in einer Welt-marktfabrik Bangla-deschs. Dort zahl-ten die Auftragge-ber nicht eine, son-dern zwanzig Mil-lionen. „Wir wollen,

dass Zustände wie bei Ali Enterprises auf-hören“, sagt Karamat Ali. „Das betrifft dieBesitzer, die pakistanischen Behörden,die ausländischen Auftraggeber.“ Es be-trifft auch die deutschen Zustände. Denndas Gefühl, von der weltweiten Krise nichtwirklich betroffen zu sein, das Gefühl, trotzjahrelangen Lohnverlusten und fortlaufen-dem Abbau sozialer Rechte noch ganzgut dazustehen, verdankt sich auch derMöglichkeit, Jeans für 15,99 € kaufen zukönnen.

medico wird seinen pakistanischen Part-nern weiter zur Seite stehen. Anfang De-zember 2012 treffen wir Nasir Mansoorund Karamat Ali in Karatschi, währendeiner Fact Finding Mission zur weiterenAufklärung des Brandes und zur Abstim-mung der nächsten Schritte einer interna-tionalen Kampagne.

Thomas Seibert

Projektstichwort

In der Fluthilfe unterstützt medico neben PILER und dem von derNTUF initiierten Sindh Labour Relief Committee die landesweit tä-tige Gesundheitsorganisation HANDS. Mit PILER, NTUF und Part-nern in Europa streiten wir jetzt für die Entschädigung der Über-lebenden und Hinterbliebenen der KiK-Fabrik. Stichwort: Pakistan.

Arbeit wie im Gefängnis: 14 Stunden Akkord, vergitterte Fenster,kein Feuerschutz. Ausgebrannte Textilfabrik Ali Enterprises /„Okay“-Jeans für den deutschen Discounter KiK.

www.medico.de/hoerenX

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Flüchtlinge zweiter KlasseLibanon: Nothilfe für syrische Palästinenser

n Syrien droht ein blutiger Winter.Unlängst warnte der UN-Sonderge-

sandte Lakhdar Brahimi vor der „Somali-sierung“ des syrischen Gemeinwesens,sprich: der Erosion des Staates beigleichzeitiger Erstarkung lokaler Milizenund konfessionalisierter Gewalt. Längsthat der Konflikt auch die palästinensi-sche Bevölkerung erreicht, deren Flücht-lingslager zumeist in Nachbarschaft zu

ärmeren sunnitischen Wohnvierteln lie-gen, die vielerorts Ausgangspunkte derRebellion gegen das Regime waren. InSyrien sind die ca. 490.000 palästinensi-schen Flüchtlinge rechtlich der Bevölke-rung gleichgestellt. Wie zuvor in Homsund Deraa brachen jetzt auch im Damas-zener Flüchtlingscamp Yarmouk mit ca.100.000 Einwohnern Kämpfe zwischenRegimegegnern und Assad-loyalen pa-

projekte – projektionen

Chancen statt DrohnenSomalia: Lebensgrundlagen für die Überflüssigen

n Somalia verdichtet sich der neueSüden. Hier leben die dreifach Über-

flüssigen der globalisierten Welt – als Ar-beitskräfte werden sie nicht benötigt, alsKonsumenten sind sie zu arm und dieErzeugnisse, die sie herstellen werdennicht gebraucht. Wahrnehmung erfahrensie im globalen Norden meist nur nochals Katastrophenopfer oder Sicherheitsri-siko, wenn ihre Überlebensstrategien diezugewiesene Ausgrenzung durchbrech-en. Als Störfaktor der globalen Just-in-Time-Produktion und der transnationalenHandelswege, tauchen die somalischenPiraten plötzlich auch in deutschen Ge-richtssälen auf. Anlässlich der Auswei-tung des sogenannten „Atalanta“-Man-dats durch den Bundestag, warnte dersomalische medico-Partner NAPAD (No-madic Assistance for Peace and Deve-

lopment) vor einer weiteren Militarisie-rung am Horn von Afrika: Die geplantenKampfflieger- und Drohneneinsätze wer-den vor allem unter der Küstenbevölke-rung zu neuen „Kollateralschäden“ füh-ren. Dass die internationale Gemein-schaft die Entsorgung von Giftmüll und illegale internationale Fischfangflotten insomalischen Gewässern nicht stoppte,habe die Sympathiewerte der Piraten zu-sätzlich steigen lassen. NAPAD fordertdie Stärkung der zivilen somalischen In-stitutionen und „legitime Chancen“ für dieFörderung alternativer Lebensgrundla-gen. Ein medico-Interview zum ersten„Piratenprozess“ in Hamburg seit 1401,der letzte Verurteilte war Klaus Störtebe-ker, unter: www.medico.de/piraten

Spendenstichwort: Ostafrika

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elbst im Jahr IInach dem Sturz

des Raïs Mubarakhält die Veränderungan. Niemals zuvorhaben die Menschenin dem 80-Millionen-Land die Erfahrunggemacht, eine Regie-rung verändern, ge-schweige denn stür-zen zu können; erst-mals konnten sie in freien Wahlen einenPräsidenten bestimmen. Die Regierungder Muslimbrüder löste die gefürchteteStaatssicherheit zwar auf, ließ aber vieleMilitärs und Polizisten unbehelligt, die an Folter und Gewaltverbrechen beteiligtwaren. Aber die Erfahrung, mit gesell-schaftlichen Tabus und der Allmacht derHerrscher selbst brechen zu können,führt dazu, dass die Opfer nicht mehrschweigen. Am 2. November 2012 de-monstrierten in Kairo Tausende gegendiese Kultur der Straflosigkeit. Dabeiauch Seif Al-Dawla, Leiterin des El Na-deem Center, dem neuen medico-Part-ner in Kairo. In ihrer Rede warf die Men-

schenrechtlerin Präsident Mursi vor,dass es allein in den ersten 100 Tagenseit seinem Amtsantritt 150 nachgewie-sene Folterfälle gab. Das Al NadeemCenter bietet psychologische Beratungfür Folteropfer, hilft Frauen bei ge-schlechtsspezifischer, oft häuslicher Ge-walt und unterstützt afrikanische Flücht-linge in Ägypten. Unerschrocken kritisiertdas von Frauen geleitete Center die vonreligiösen Parteien dominierte verfas-sunggebende Versammlung: Die Rechtevon Frauen dürfen nicht beschnitten unddas absolute Folterverbot muss endlichVerfassungsgebot werden.

Spendenstichwort: Ägypten

Umsturz macht Mut Ägypten: Frauen gegen die Straflosigkeit

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lästinensischen Milizen aus, wie palästi-nensische Aktivisten aus Yarmouk me-dico per Skype berichteten. Immer mehrPalästinenser fliehen in den Libanon.Dort gelten sie als Flüchtlinge zweiterKlasse, haben nur beschränktes Aufent-haltsrecht und müssen bei Grenzübertrittje Erwachsenen 300 US-Dollar sowie 50US-Dollar pro Kind entrichten. Der lang-jährige palästinensische medico-Partner

Nashet Association hat jetzt im CampEin el Hilweh (Saida) begonnen, die an-kommenden palästinensischen Flücht-lingsfamilien zu versorgen. Im Vorder-grund stehen die Nöte der Säuglinge undKleinkinder: besonders Hygieneartikelund Babynahrung werden an die Fami-lien verteilt.

Spendenstichwort: Syrien

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Wenn Männer mal zuhören: Al Nadeem Center in Kairo.

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ie Rua da Gloria befindet sich mit-ten im alten Büroviertel von Rio deJaneiro. Die glänzenden Fassa-

den der Hochhäuser mit ihrem verblich-enen Charme vergangener Jahrzehn-te haben eine Anmutung von New Yorkund symbolisieren die Geschichte einesSchwellenlandes, das schon lange daranarbeitet, eine globale Wirtschaftsmacht zuwerden. Auch wenn Rio nicht mehr dasaktuelle Zentrum dieser Entwicklung ist,sondern Sao Paulo, herrscht auf den Stra-ßen hektische Betriebsamkeit schwarz

gekleideter Anzug- und Kostümträger. Inder Rua da Gloria, im 7. Stock einesschnörkellosen Bürogebäudes hat PACSseinen Sitz. Das „Instituto Políticas Alter-nativas para o Cone Sul“, das „Institut zurEntwicklung politischer Alternativen fürSüdamerika“, besaß in besseren TagenGeld genug, um sich im mittlerweile unbe-zahlbar teuren Zentrum Rios Räume zukaufen. Nun, da angesichts der brasiliani-schen Wirtschaftsmacht und der europäi-schen Krise die ausländische Unter-stützung für Nichtregierungsorganisatio-

brasilien – Teil II

David gegen GoliathIn den Auseinandersetzungen um die Umwelt- und Gesund-

heitsschäden des ThyssenKrupp-Stahlwerks in Rio geht es

um Bürgerrechte und ein fragwürdiges Entwicklungsmodell

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Gefährlicher Staub aus Eisen. Die Emissionen des Stahlwerks verursachen Hautausschläge und Atemnot.

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nen hierzulande zurückgefahren wird,musste PACS die Hälfte seiner Mitarbeiterentlassen, die Löhne kürzen und Büro-räume untervermieten. Aber Sandra Quin-tela, eine Soziologin Anfang 40, die inBremen studiert hat, und, ihr aus Argenti-nien stammender jüngerer Kollege, Migu-el Borba Sá, wirken zuversichtlich: Diebrasilianische Zivilgesellschaft und die so-zialen Bewegungen, zu denen PACS seit26 Jahren zählt, werden sich angesichtsso tiefgreifender Veränderungen in Brasi-lien neu ausrichten. Sie hoffen, dass die-ser Wandlungsprozess zumindest für ihreOrganisation abgeschlossen ist.

PACS, eine Mischung aus linkem ThinkTank und sozialer Bewegung, geriet eherzufällig in einen Konflikt, in dem es umentscheidende Fragen des brasilianischenEntwicklungsweges geht. Seit vielen Jah-ren unterstützt die Gruppe mit Fortbil-dungen Anwohnervereinigungen in SantaCruz, einem ärmlichen Stadtteil von Rio.Fast 200.000 Menschen leben hier, 60 Ki-lometer oder zwei Stunden mit öffentli-chen Verkehrsmitteln vom Stadtzentrumentfernt. Marginalisierte Peripherie, armeBewohnerinnen und Bewohner, außerhalbjeder öffentlichen Wahrnehmung, dasRückzugsgebiet für billige Arbeitskräfte.Das war alles so, bis 2006 mit dem Baueines Stahlwerks unter der Ägide desdeutschen Unternehmens ThyssenKruppbegonnen wurde.

Wachstumsgläubigkeit

PACS und die Anwohner befinden sichseither in einer exemplarischen Auseinan-dersetzung um die Bedingungen von so-zioökonomischer Entwicklung, die sichüber die Rechte von Menschen hinwegsetzt um Wirtschaftswachstum zu erzie-len. Weiß Gott, nicht nur ein brasiliani-

sches Problem. Für Sandra Quintela undMiguel Borba Sá führt an den Rechten derlokalen Bewohner kein Weg vorbei. Esgibt keine zweierlei Maß.

In der Bucht von Sepetiba, die an SantaCruz grenzt, hat man sich darüber mitdem Bau des Stahlwerks nonchalant hin-weggesetzt. Lula und der brasilianischeAbleger von ThyssenKrupp (TKCSA) sa-hen sich dazu legitimiert. Fünf MillionenTonnen Stahl jährlich, riesige Gewinne,Belieferung der ganzen Welt, insbeson-dere Chinas. Ein Vorzeigeprojekt für Prä-sident Lula. Endlich kein Bergbau mitschlechten, wenigen und unqualifziertenArbeitsplätzen, sondern ein deutschesTraditionsunternehmen. Hochmodern.Brasilien in der ersten Liga. Dafür wurdenSteuern gesenkt und bei den Umweltauf-lagen viele Augen zugedrückt. Auch dieBewohner in Santa Cruz glaubten an die-sen Traum, bis er sich zum Alptraum ent-wickelte.

8.000 Fischer ohne Arbeit

Die ersten Opfer waren die Fischer. 8.000verloren ihre Arbeit, weil man mit dem Baudes Werkes die Bucht verseuchte. Ihr em-pörter und verzweifelter Protest schafftees schon vor der Eröffnung des Stahl-werks weltweit in die Medien. Tausendeihrer Entschädigungsklagen sind anhän-gig. Seit 2010 ist das Werk eröffnet, undnun geht mit unschöner Regelmäßigkeitein „Silberregen“ von der Fabrik aus aufdie Bewohner nieder, der Unsicherheitund Angst auslöst. Hunderte Bewohnerklagen seither über Hautausschläge,Atemnot, zum Teil auch chronische Krank-heiten. Wie ein UFO ist das Stahlwerk indas Herz von Santa Cruz gepflanzt. Aberdas deutsche Traditionsunternehmen hatkeine Standortpolitik betrieben. Es gibt

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keine Werkswohnungen, keine Ausbil-dungsstätten, keine Arbeitsplätze für dielokale Bevölkerung.

Mit Sandra und Miguel von PACS reisenwir zu einem Treffen der Bürgerinitiative,die sich gegen das Stahlwerk zur Wehrsetzt. 20 Männer und Frauen mit abgear-beiteten Gesichtern und einfacher Klei-dung warten auf uns in dem Gebetsraumeiner kleinen evangelikalen Kirche. Derbefindet sich im Wohnzimmer eines ver-bauten Häuschens, dem man ansieht,dass immer dann aufgestockt wurde,wenn mal wieder Geld da war. Viele ha-ben ihre Krankenakten mitgebracht underzählen ihre Leidensgeschichte. Josebeispielsweise hat 30 Jahre vom Fischengelebt, seine Haut ist gegerbt vom salzi-gen Wind des Meeres. Es gibt seit 2006keine Fische und keine Krabben mehr.Der drahtige dünne Mann pfeift seinenRedestrom und seine Empörung durch dieZahnlücken. Man versteht ihn kaum, aberspürt die Ohnmacht. In der Autonomie desFischerdaseins ist ein solches Unglücknicht vorgesehen.

Oder die 55-jährige Maria. Seit 30 Jahrenlebt sie in Santa Cruz, ist verheiratet miteinem Fischer und hat zwei Kinder. Inschwarzen Stiefeln und Seidenstrümpfen,die Haare streng nach hinten gekämmt,erzählt sie mit zitternder Stimme davon,dass sie seit der Eröffnung der Fabrikschwer erkrankt ist. Der Arzt, der ihrden Zusammenhang mit der Umweltver-schmutzung durch die Fabrik attestierte,sei aus undurchschaubaren Gründen ab-gezogen worden. Machenschaften wer-den vermutet. Zu oft hat man Ähnlicheserlebt. Ihr Mann muss nach Angola aufMontage. Mit dem Fischen ist Schluss. Erstößt Drohungen gegen die Fabrik aus,weil er um das Leben seiner Frau fürchtet.Die Menschen in dieser Runde fühlen sich

von Regierung und Unternehmen belogenund betrogen. Und noch ist der Entwick-lungszug längst nicht am Ziel. Nach demStahlwerk soll in der Bucht auch nochein großer Hafen zum Verschiffen derErze aus Brasiliens Minen errichtet wer-den. Das Wirtschaftswunder wirft langeschmutzige Schatten auf Santa Cruz.

Helfer gegen die Ohnmacht

Die Leute von PACS, Sandra und Miguelund all die anderen, die seit Jahren regel-mäßig nach Santa Cruz kommen, sindHelfer gegen die Ohnmacht. Mit ihrer Un-terstützung haben die Armen der Buchtden Verantwortlichen die Hölle heiß ge-macht. Übrigens auch mit deutscher Un-terstützung durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung. PACS mobilisierte Experten ausder Hauptstadt. Ein erster Bericht über dieGesundheitsschäden liegt vor. Nach denjahrelangen Protesten musste nun auchdie brasilianische Regierung handeln undverschärfte die Umweltauflagen.

Ein Wirtschaftskrimi

Der öffentliche Protest hat die brasiliani-sche Staatsanwaltschaft auf den Plan ge-

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rufen. Aber die Aussichten einen Prozesszu gewinnen, hängen davon ab, eine ein-deutige Verbindung zwischen den Krank-heiten und den Umweltschäden herzu-stellen. Das kann Jahre dauern, wenn esüberhaupt gelingt.

Schneller als die juristische Bearbeitungsind vielleicht die ökonomischen Pro-zesse. Die Unternehmenskommunikationvon TKCSA stellt alle Gefährdungen inAbrede. Es handle sich nur um unschäd-lichen Grafit, wiederholen die Sprechergebetsmühlenartig. Aber langsam hatman den Eindruck, dass hier gnadenlosgesundgebetet wird. Denn für Thyssen-Krupp steht in Brasilien viel auf dem Spiel.Alle teuer bezahlten Prognosen von Mc-Kinsey über die zu erwartenden schnellenGewinne und niedri-gen Kosten des Wer-kes waren Milch-mädchenrechnun-gen. Das Werk ist einökonomisches De-saster. Acht Milliar-den hat seine Errich-tung gekostet, kalku-liert waren 1,9 Milliar-den. Der in Rio pro-

duzierte Stahl ist teurer als der ausDeutschland. Die Geschichte diesesStahlwerks ist ein einziger Wirtschafts-krimi und eine Bankrotterklärung der Be-triebswirte von McKinsey. Gelingt derVerkauf nicht, munkelt man, stünde diegesamte Existenz von ThyssenKrupp aufdem Spiel.

Die Auseinandersetzungen um das Stahl-werk und die Umweltrechte der Bürgersind für Brasilien symbolisch wie wenigeandere Ereignisse. Der großartige brasi-lianische Schriftsteller Luiz Ruffato, Sohneines Popcorn-Verkäufers und einer Wä-scherin, erklärt mir das auf einer Lesungseines ersten auf Deutsch erschienenenBuches „Es waren viele Pferde“. Brasilien,sagt er, sei ein Land im tiefgreifenden Um-bruch. Migration vom Land in die Stadt seiin kürzester Zeit zum Schicksal von Aber-millionen geworden. Die Menschen verlö-ren dabei nicht nur ihre Heimat, sondernauch die Friedhöfe und damit ihre Wur-zeln. Für Ruffato ist die Wurzellosigkeitvon Millionen Menschen die Ursache fürdie Gewalt in den Städten. Brasilien steheam Scheideweg. Um sich neu zu konsti-tuieren, bräuchte das Land nicht nur So-zialprogramme. Die Menschen müsstenZugang zu qualifizierter Bildung haben.Sie müssten Bürger werden, die ihreRechte kennen und in der Lage sind siewahrzunehmen. Um all dies geht es inSanta Cruz.

Katja Maurer

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Projektstichwort

Mitten im November kam es wieder zu einem Aufsehen erregendenStörfall im Stahlwerk von ThyssenKrupp. medico unterstützt deshalbdie Arbeit von PACS. Es soll umgehend ein Gesundheitsmappingder Region erstellt werden, um die Gesundheitsschäden und dievorhandenen Gesundheitseinrichtungen sowie deren Umgang mitden Vorwürfen aufzulisten und zu systematisieren. Das Spenden-stichwort dafür lautet: Brasilien.

Krank durch die Umweltschäden: die55-jährige Maria am Zaun der Fabrik.

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Haiti

IMPULSE GEGEN DI

E ABHÄNGIGKEIT

Als wir in Frankfurt die Bilder von den Baufortschritten unserer Partner sahen, haben

wir viel von dem verstanden, was die haitianischen Partner gemeinsam mit medico

leisten. Die Liebe, mit der die Gesundheitsstation auf einer Anhöhe in dem Dorf Fouche

und das Fortbildungszentrum in Leogane ausgestattet wurden, die geschnitzten Türen,

die farbenfrohen Mauern, all die Details, die nicht nur zweckdienlich sind, erzählen

etwas über die Würde der Menschen und den Wiederaufbau in Haiti. An den fatalen,

ausweglosen Strukturen des Lands hat sich nichts geändert. Gerade hat der zweite

Hurrikan dieses Jahres die Anfälligkeit des Landes wieder deutlich gemacht. Vieler-

orts ist die Ernte dahin und mehr als einer Million Menschen droht Unterernährung.

Doch wenn sich Menschen noch zum Handeln in der Lage sehen – wie die Mitglieder

des Dorfkomitees in Fouche, das den Bau einer dringend benötigten Gesundheits-

station organisierte, oder die haitianisch-dominikanischen Migrantinnen in Leogane,

die das Fortbildungszentrum errichteten – wandelt sich etwas. Vielleicht kann diese

geglückte Erfahrung, etwas verändern zu können, einen Impuls geben wider die

Abhängigkeit und Ausgrenzung.

Das Projektstichwort lautet: Haiti.

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Zu Gast bei medico: Zwei Aktivistenaus Südafrika, die eine weiß und be-reits im Befreiungskampf aktiv, derandere schwarz und am Ende derApartheid politisiert, sprechen überdas Massaker von Marikana, ihrschwieriges Verhältnis zum ANC,über die Abhängigkeiten der Zivilge-sellschaft und ihre Vision von Basis-demokratie. Adèle Kirsten ist Sozial-wissenschaftlerin, in den 1970erJahren schloss sie sich dem Kampfgegen die Apartheid an. Seither setztsie sich für soziale Gerechtigkeit und gegen Militarisierung ein. Zuletztgab sie ein Aktionshandbuch überdemokratische Rechte und Mitbe-stimmung heraus.Tshepo Madlingoziist Jurist und beim medico-PartnerKhulumani aktiv, der mit über 60.000Mitgliedern größten Selbsthilfeorga-nisation von Überlebenden derApartheid. Derzeit arbeitet er in Lon-don an seiner Doktorarbeit.

medico: Im Zuge des Bergarbeiter-streiks in einer Platinmine im süd-afrikanischen Marikana wurden im August 2012 34 Menschen von derPolizei getötet. Was hat dieses Ereig-nis ausgelöst?

Tshepo Madlingozi: Das Ausmaß istschockierend und historisch. Seit demoffiziellen Ende des Apartheidregimes imJahr 1994 sind nie mehr so viele Men-schen von der Polizei getötet worden.Auf lokaler Ebene wurden die Protestezuletzt immer dann aggressiv und re-pressiv, wenn die Polizei sich einmischte.Das reicht vom Verbot von Protestmär-schen über das Verhängen drakonischerStrafen und harte Haftbedingungen bishin zur Tötung von Menschen. In Mari-

südafrika

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Die Zivilgesellschaft nennt es ein „Massaker“, der ANC eine „Tragödie“: Prote

„Wir werden Zeugen eines paran Eine historische Zäsur: Während der Afrikanische Nationalkongre

feiert, tötet die Polizei 34 schwarze Bergarbeiter.

Page 29: rundschreiben 04|12

kana sehen wir einen Kulminationspunktrepressiver Amtsführung, die auch nachder Apartheid nie verschwunden ist.

Adèle Kirsten: Entweder war die Polizeibei politischen Mobilisierungsaktionenauf kommunaler Ebene vollkommen ab-wesend oder aber die Polizei hat mit ih-rer aggressiven Präsenz die Gewalt erstentfacht. Das war Ergebnis eines For-schungsprojektes, an dem ich beteiligtwar. Damit versagt auch das demokrati-

sche Transformationsprojekt,für das der Polizeiapparat alsSchlüsselinstitution angesehenwurde. Die Polizei sollte voneiner repressiven Kraft in einenGaranten der Menschenrechteverwandelt werden. Das ist nun passé. Schon im Zeitraumzwischen Mitte der 1990er undMitte der 2000er Jahre hatteder heutige Präsident Zuma die Remilitarisierung der Poli-zei vorangetrieben und zuletztauch umgesetzt. Dieses Klimabegünstigt den maximalen Mit-teleinsatz durch die Polizei undselbst die parlamentarischenUntersuchungen bleiben vageund mehrdeutig hinsichtlich derFrage, in welchen Fällen diePolizei schießen darf. 2008 hatetwa die damalige stellvertre-tende Sicherheitsministerin undheutige Ministerin für BergbauSusan Shabangu zur Behand-lung von Kriminellen die Devise„Tötet die Dreckskerle!“ aus-gegeben. Das hat sich ins Ge-dächtnis vieler Leute eingegra-ben. Es herrscht der Eindruck,dass die Bergarbeiter deshalbgetötet wurden, weil sieSchwarze waren; der Staat

tötet schwarze Arbeiter. Der Rassismus-frage kommt also eine herausgehobeneBedeutung zu. Die Gefolgsleute desANC bezeichnen die Ereignisse von Ma-rikana als eine „Tragödie“. Nur die Me-dien und die Zivilgesellschaft nennen sieein „Massaker“. Journalisten haben he-rausgefunden, dass die Mehrheit derOpfer erst gejagt, verfolgt und dann zwi-schen den Felsen des Steinbruchs ge-zielt hingerichtet wurde.

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est der Gesteinshauer in der Platinmine von Marikana.

oiden Staates“ ss (ANC) sein 100-jähriges Jubiläum

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30Ist denn schon erkennbar, ob und wiedas Massaker aufgearbeitet wird?

Tshepo Madlingozi: Betrachtet man dieUntersuchungskommission oder dieKommentare des Präsidenten und ausdem Sicherheitsapparat, dann sieht esnicht so aus, als würde sich irgendetwasändern. Die schrecklichen Lebensbedin-gungen der Bergarbeiter sind unverän-dert und eine neue soziale Bewegungals Alternative zum regierenden ANC istnicht in Sicht. Innerhalb der Zivilgesell-schaft bestimmen allenfalls wohlbekann-te Stimmen den Diskurs zu Marikana –Akademiker, Rechtsanwälte und Wissen-schaftler, wie wir. Das gilt auch für dieUntersuchungskommission, die fünf bissieben Millionen Euro kosten wird –Geld, das für die Vergütung eben jenerExperten verschwendet werden wird. Diesozialen Bewegungen bleiben außenvor. Es wird also keine grundlegendeVeränderung des polizeilichen Umgangsmit Protesten geben. In Südafrika ist dasLeben eines schwarzen Menschen nochimmer wertlos und billig zu haben.

Adèle Kirsten: Es gab Unmengen anProtestverboten. Das kennen wir eigent-lich nur aus den Zeiten der Apartheid.Das geltende Versammlungsrecht siehteigentlich keinerlei Einschränkungen vor.Wir werden also gerade Zeugen einesverstärkt paranoiden, sich in seiner Hal-tung verhärtenden Staates. Doch ichglaube, dass innerhalb des ANC verein-zelt sehr wohl wahrgenommen wird, inwelche Schwierigkeiten sich die Parteibringt, wenn sie das Thema der materiel-len Lebensumstände und des informel-len Sektors nicht anspricht.

Tshepo Madlingozi: Kein anderes Landist von so vielen Verwerfungen entlangvon ethnischen, Schicht- und Geschlech-

terzugehörigkeiten bestimmt. Wir spre-chen hier über etwa zehn- bis zwölftau-send Demonstrationen und Protestaktio-nen pro Jahr. Noch immer ist die Mehr-heit der Südafrikaner von der ungelöstenLandfrage und der generationsübergrei-fenden ländlichen Armut betroffen. Auchdas ist eine Zeitbombe. Die Weißenmüssen endlich anerkennen, dass sieextrem privilegiert worden sind, dass die Armut der Schwarzen das direkte Ergebnis der Privilegien der Weißen ist.Die Klassenapartheid ist verschränkt mitrassistischer Ungleichheit, die weiterhin

besteht. Die Zivilgesellschaft geht vorGericht, um ein paar Fälle zu klären,aber sie kann dieses Problem nicht alleinim Gerichtssaal verhandeln. Die Verfas-sung schließt bislang eine Landreformaus, und wir haben ein enormes Korrup-tionsproblem. Die Leute reden sehr offendarüber, wieviel Geld sie welchenStaatsvertretern geben. Das ist weithinakzeptiert.

In Südafrika wurde eine Befreiungs-bewegung zur allmächtigen Regie-rungspartei. Was bedeutet das heutefür soziale Bewegungen?

Adèle Kirsten: Trotz des scheinbar

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31spontanen Charakters einiger Protestedreht sich noch immer alles um denANC. Altgediente Leute, die in lokalenParteiverbänden arbeiten, verlassendiese nicht, sondern helfen dabei, Bür-gerversammlungen aufzubauen, die sichum die Dienstleistungen in ihrer Kom-mune sorgen. Sie organisieren die Kund-gebung und die jungen Männer, dieschließlich die Straßenkämpfe ausfech-ten. Wenn dann das Ziel, den ungelieb-ten Gemeinderat loszuwerden, erreichtist, wird an seiner Stelle ein andererANC-Vertreter installiert. Auf diese Art

werden soziale Bewegungen immer wie-der vom ANC aufgesogen. Aufgrundeiner historisch vom weißen Kapital do-minierten Industriekultur, ist es für vieleschwarze Südafrikaner noch immerschwierig wirtschaftlich Fuß zu fassen.Der Staat ist ihre naheliegende und sogut wie einzige Akkumulations- und Auf-stiegsressource. Entsprechend hart um-kämpft sind die Parteiposten, für diemanchmal sogar gemordet wurde. Wirt-schaftsvertreter haben lange vor demEnde der Apartheid einen Pakt mit demANC geschlossen, um ihre Vormachtstel-lung für die Zeit nach dem Wandel zu sichern. Das ist eines der Vermächtnisseaus Mandelas Amtszeit, über das nie-

mand sprechen möchte. Dennoch ist die emotionale Bindung an den ANC im-mens. Auch für meine Biographie in derAntiapartheidsbewegung hat er ein gro-ßes Gewicht. Ich habe die „Regenbogen-nation“ als eine Art glückliche Schonfristvor dem Eintreten der jetzigen Wirklich-keit erlebt. Das war unglaublich aufre-gend, geradezu elektrisierend. Heutefühle ich mich in die Ära der Apartheidzurückversetzt. Als Weiße, die quasi dasLager gewechselt hat, nehme ich die Un-befangenheit, mit der weiße Leute ein-deutig rassistische Meinungen äußern,verschärft wahr. Es ist ihnen nicht mehrpeinlich, sie halten sich nicht mehr zu-rück. Die Alltäglichkeit der Apartheid istvon ihnen nie zugegeben oder anerkanntworden.

Tshepo Madlingozi: Natürlich haben wir Schwarze über alle Lager hinweg imANC mit Mandela einen Messias gese-hen. Ich wuchs in den 1980ern auf underlangte politisches Bewusstsein durchmeine unmittelbare Community. Die1980er waren die Blütezeit der Machtder einfachen Leute. Es gab Straßen-versammlungen, Selbstverteidigungs-komitees, alternative Regierungsmo-delle. Mein erstes englisches Wort war„Macht“. Die Leute sagten: „We are ma-king power.” Als Jugendlicher beteiligteich mich an Straßenschlachten. Das Leben meines Vaters hat mich schonfrüh politisiert. Er war Bergarbeiter. Mo-natelang bekam ich ihn aufgrund desHomeland-Systems nicht zu sehen. Die-ses System zerstörte unsere Communi-ties und hat geradezu eine toxischeMännlichkeit geschaffen. Wenn die Män-ner nach Monaten aus den Bergwerkenzurückkamen, hatten sie oft die Bindungzu ihrer Familie verloren. Das ist heuteimmer noch so. Als Kind dachte ich, dassdas Böse in den Bergwerken und in den

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Menschen stecken muss. für die meinVater schuften und sterben musste. Ichbin mit der Überzeugung sozialisiert worden, dass Menschen auch ohne vonzentralen Parteiorganen gefällte Ent-scheidungen handeln können. Als dieExilanten in den 1990er Jahren zurück-kehrten, waren sie für mich eine Quelleder Inspiration. Sie erzählten Geschich-ten von Fidel Castro, aus Russland undChina, vom unabhängigen Afrika. Unddoch erschienen sie gleichzeitig armse-lig; kehrten sie doch mit einer politischenKultur zurück, die auf einer zentralisti-schen Entscheidungsfindung im Sinnedes Marxismus-Leninismus beruhte. DieLeute, die im Land selbst ihren Beitragzum Aufbau des Widerstands hier geleis-tet hatten, wurden marginalisiert. DieANC-Exilanten bil-deten eine sehrverschlossene Be-wegung. Der ANCzwang die sozialenBewegungen zurIntegration in denANC und sagteihnen: „Eure Arbeitist getan.” 1992schloss die CO-SATU (Congress ofSouth African TradeUnions) ein formel-

les Bündnis mitdem ANC. Unterder RegierungMandelas wurdedie wirtschaftslibe-rale Linie gebilligt.Mandelas fauleKompromisse inder Land- und Eigentumsfragekonnten nicht in

Frage gestellt werden – weil der unan-tastbare Mandela es war, der diese Kom-promisse gestaltet hatte. Manchmal fra-ge ich mich, was wohl geschehen wäre,wenn jemand anderes der erste Präsi-dent des neuen Südafrikas gewordenwäre, was für soziale Bewegungen hät-ten entstehen können? Es muss inner-halb des ANC einen radikalen Wandelgeben. Wir brauchen wieder so etwas wie eine fassbare Kultur der politischenUngewissheit. In anderen Ländern wis-sen Politiker nicht, ob sie wiedergewähltwerden. In Südafrika hingegen weiß der ANC ganz genau, dass er noch min-destens ein Jahrzehnt an der Macht seinwird. Und das ist Teil des Problems.

Interview: Anne Jung und Usche Merk

Projektstichwort

Keine Zukunft ohne Vergangenheit: Ohne die Aufdeckung derWahrheit über das Apartheidregime und ohne die Entschädigungder Opfer kann es keine tragfähige Versöhnung am Kap der gutenHoffnung geben. Dafür streitet der langjährige medico-Partner Khu-lumani Support Group. Aber auch die gewalttätige südafrikanischeGegenwart verlangt bewusstes Handeln. Der neue medico-PartnerLocal Goverment Action, ein Zusammenschluss kritischer Gruppender Zivilgesellschaft, hat jüngst ein Aktionshandbuch veröffentlicht,damit Basisinitiativen in ihren sozialen Kämpfen besser um ihre ju-ristischen Rechte und politischen Möglichkeiten wissen. Spenden-stichwort: Südafrika.

Im weltweit platinreichsten Gebiet leben 60 % aller Fami-lien in Armut. Minenarbeiter-siedlung in Südafrika.

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om 21. bis24. Oktober2012 fand

zum vierten Mal derWorld Health Sum-mit in Berlin statt.Diesen sogenann-ten Weltgipfel haben2009 die BerlinerCharité und die Uni-versität Paris Des-cartes ins Lebengerufen. Heute sinddie Hauptanteilseig-ner die Messe Berlinund die Werbeagen-tur Visit Berlin; dieCharité hält 15 %.Beim Lesen der Pressemitteilungendrängt sich der Eindruck auf, die Veran-stalter verstünden Weltgesundheit alsWerbegag. Die Organisatoren wollen dietouristische Attraktivität Berlins erhöhenund ein „Davos der Medizin“ schaffen.Ganz unverblümt nennen sie ihre Ziele:„Im Fokus steht, Berlin als Kongressdes-tination zu stärken, Wissenschaft, For-schung, standortübergreifende Gesund-heitspolitik und das offentliche Gesund-heitswesen zu fordern und so weitere Ge-sundheitskongresse und Großveranstal-tungen fur Berlin zu interessieren.“

Wenn auch das öffentliche Gesundheits-wesen nur deshalb gefördert werden soll,um Berlin attraktiver zu machen, so istdies immerhin ein Fortschritt. Beim letztenGipfel stand es noch nicht auf dem Pro-gramm. Damals waren neben der Politikfast ausschließlich private Gesundheits-dienstleister und Pharmakonzerne einge-laden. Der Blick richtete sich nur auf me-dizinische Probleme in den Industrienatio-nen, Präventionsmedizin kam nicht vor.Deshalb organisierte medico gemeinsammit 20 gesundheits- und entwicklungspo-litischen Organisationen die alternativeGegenkonferenz „Public Eye on Berlin“.

gesundheit

Kritische Einsprüche zum World Health SummitGesundheit als öffentliches Gut oder als Gemeingut? Eine

Debatte über Alternativen zum medizinisch-industriellen

Komplex.

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„Menschen vor Profite“: medico-Debatte in Berlin.

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34Einsprüche statt kooptierteKritik

Beim diesjährigen World Health Summitwaren auch Vertreter von Nichtregierungs-organisationen Partner der Veranstalter,die vor vier Jahren noch Teil der Alterna-tivkonferenz waren. Zu den Sprechern ge-hörten renommierte Experten für PublicHealth.

Darum stellte sich durchaus die Frage, obder World Health Summit einen Raum ge-boten hätte, um mit Kritik Politiker und Me-diziner zu erreichen: „Reingehen und auf-weichen oder sauber bleiben.“ Das be-zeichnete Rolf Rosenbrock bei der Veran-staltung „Menschen vor Profite – Ein kri-tischer Einspruch“ am 22. Oktober als Fra-ge des Abends. Dazu hatte medico ge-meinsam mit Attac, der Buko Pharma-Kampagne, Diakonie, IPPNW, dem Ver-ein demokratischer Ärztinnen und Ärzteund dem Verein demokratischer Pharma-zeutinnen und Pharmazeuten in die Berli-ner Kalkscheune geladen. Die Buchau-torin Silke Helfrich („Commons – Für einePolitik jenseits von Markt und Staat“) undProf. Rolf Rosenbrock, Vorsitzender desParitätischen Gesamtverbandes, disku-tierten mit medico-Geschäftsführer Tho-mas Gebauer mögliche Alternativen zumgesundheitspolitischen Konzept desWorld Health Summit.

Schnell wurde deutlich, dass auch diesesJahr der Weltgesundheitsgipfel grundsätz-lich falsch konzipiert war. Für Thomas Ge-bauer war es schon das Wort „Welt“: „Dastellt sich die Frage, welche Welt gemeintist?“ Angefangen mit dem HauptrednerJoseph Ackermann zeige die Auswahl derSprecher, wessen Interessen im Vorder-grund ständen. Die Anzahl der Referen-ten, die aus der Industrie kamen, warviermal so groß wie die der Sprecher aus

Entwicklungsländern. Vor allem aberstand die Ausrichtung des Gipfels der Ideevon Public Health entgegen. „Die Frageist: Will ich Markt und Individuum oder willich Gleichheit und Gesundheit?“, formu-lierte Rolf Rosenbrock, der über 15 Jahredie Forschungsgruppe Public Health imWissenschaftszentrum Berlin leitete.

Die sozialen Bedingungen entscheiden

In seinem Vortrag er-läuterte Rosenbrockeinige Grundannah-men. Gesundheit ent-stehe nicht in ersterLinie durch medizi-nisch-technischenFortschritt, sonderndurch die Verbesse-rung der Gesamtbedingungen. So sankdie Anzahl der Tuberkulosefälle ab Beginndes 19. Jahrhunderts deutlich, obwohl erst1943 ein Antibiotikum zur Verfügungstand. Der Grund für den Rückgang wardie Verbesserung der Arbeitsbedingun-gen, Wohnverhältnisse und Ernährung.Nach Rosenbrocks Berechnungen liegtder Beitrag der Medizin zur Eindämmungchronisch degenerativer Krankheiten seit1950 bei Frauen bei 20-40 %, bei Män-nern nur bei 10 %.

Der World Health Summit aber behauptedie Dominanz der Medizin für das gesund-heitliche Geschehen. Damit liegt er imTrend: Nur 1,7 Promille der Ausgaben derKrankenkassen werden für Primärpräven-tion verwandt. Die beste Primärpräventionist soziale Gerechtigkeit. Rosenbrock wiesauf die Erkenntnisse des Buches „Gleich-heit ist Glück“ der US-amerikanischenWissenschaftler Kate Pickett und RichardWilkinson hin: Je gerechter die Einkom-

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35men in einer Gesellschaft verteilt würden,umso gesünder seien die Menschen –und zwar nicht etwa nur gesamtgesell-schaftlich, weil es weniger Arme gebe.Auch die Reichen würden weniger krank.Doch diese Erkenntnis werde nicht umge-setzt, sondern im Gegenteil immer mehr„auf den einzelnen Fall und die Herz-

klappe“ geschaut, sagte Rosenbrock. Dassei im Interesse des medizinisch-indus-triellen Komplexes. Es ginge darum, Pro-dukte zu bieten, die vermarktbar seien.Public Health erschaffe keine solchenProdukte.

Commons vs. öffentliche Güter

Die Analyse teilte Silke Helfrich. Sie siehtaber weniger ein Verteilungs-, denn einEinstellungsproblem: „Man muss fragen,was will ich erreichen, nicht was will ichden anderen verkaufen.“ Helfrich verortetdie Lösung in Commons oder Gemeingü-tern, die nicht mit öffentlichen Gütern zuverwechseln seien. Bei öffentlichen Gü-tern sorge der Staat dafür, dass alle Zu-gang haben, so Helfrich: „Das hat einenversorgungstechnischen Drall.“ Bei Com-mons oder Gemeingütern werde hingegender Unterschied zwischen Konsumentenund Produzenten aufgehoben. Die Men-schen produzierten das, was sie brauchen

– und verkauften, wenn sie etwas darüberhinaus produzieren. Ihre Commons ver-walteten sie selbst. Helfrich ist davonüberzeugt, dass „wir rausmüssen aus derIllusion“, der Staat werde es richten. Fürsie war die entscheidende Frage desAbends, wie man das Denken ändernkönne und „dass es neben der Dichotomie

von öffentlich gegen privat noch etwasDrittes gibt“.

Ein bisschen „wolkenmäßig“, befand RolfRosenbrock. Für ihn bleiben die sozialenBewegungen der zentrale Adressat. „Woman etwas mit dem Staat machen kann,habe ich nichts dagegen.“ Thomas Ge-bauer griff die Idee des Dritten auf: „Esgeht nicht um Staat oder Nicht-Staat,sondern um eine andere, eine neue Staat-lichkeit, die nicht privaten Wirtschafts-und Machtinteressen dient, sondern denBedürfnissen der Menschen verpflichtetist.“ Als Beispiel nannte er die gesetz-liche Krankenversicherung. „Die Gesetzli-che ist zwar staatlich reguliert, sie könnteaber auch gemeinschaftlich kontrolliertwerden.“

Hannah Wettig

Die vollständige Videodokumentation der Veranstaltung finden Sie auf unserer Internet-seite unter: www.medico.de/einspruch

Häppchen, Vorträge und Stehempfänge: Markt und Medizin beim Weltgesundheitsgipfel.

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medico-fördermitgliedschaft

alle nIchT enTsTellTe bezIehung IsT eIn schenken

Von Theodor W. adorno

Die Menschen verlernen das schenken. Der Verletzung des Tauschprinzips

haftet etwas Widersinniges und unglaubwürdiges an; da und dort mustern

selbst kinder misstrauisch den geber, als wäre das geschenk nur ein

Trick, um ihnen bürsten oder seife zu verkaufen. Dafür übt man charity,

verwaltete Wohltätigkeit, die sichtbare Wundstellen der gesellschaft

planmäßig zuklebt. In ihrem organisierten betrieb hat die menschliche

Regung schon keinen Raum mehr, ja die spende ist mit Demütigung durch

einteilen, gerechtes abwägen, kurz durch die behandlung des beschenkten

als Objekt notwendig verbunden. noch das private schenken ist auf eine

soziale Funktion heruntergekommen, die man mit widerwilliger Vernunft,

unter sorgfältiger Innehaltung des ausgesetzten budgets, skeptischer

abschätzung des anderen und mit möglichst geringer anstrengung ausführt.

Wirkliches schenken hatte sein glück in der Imagination des glücks des

beschenkten. es heißt wählen, zeit aufwenden, aus seinem Weg gehen, den

anderen als subjekt denken: das gegenteil von Vergesslichkeit.

(Minima Moralia – 21. aphorismus)

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Massen-Küss-Marathon unterm Wasserwerfer. Chiles Jugend kämpft für freieBildung: „Wir haben die Angst unserer Eltern überwunden.“ medico unterstütztdie Menschenrechtsorganisation CODEPU im Kampf wider die Angst und dieStraflosigkeit. Sie steht u.a. Opfern der Pinochet-Diktatur zur Seite. Foto

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medico international

Mut spenden: Ob an Verwandte oder gute Freundinnen und Freunde, überreichen Sie zu Weihnachten die medico-Fördermitgliedschaft. Sie unterstützen damit die von medialenKonjunkturen unabhängige Projektförderung und Öffentlichkeitsarbeit von medico interna-tional. Nur mit Ihrer steten Unterstützung können wir gemeinsam langfristig helfen und solidarische Partnerschaften aufbauen: mit Ärzten in Syrien, Gewerkschaftern gegen deut-sche Billigfabriken in Pakistan, Reservistinnen in Israel und Umweltschützern in Brasilien. Bestellen Sie unseren Fördermitgliedschafts-Flyer als attraktive Gabe für Sie selbst und andere. Auch medico gibt Ihnen etwas zurück: Wir informieren Sie über Veranstaltungenund medico-Aktivitäten in Ihrer Nähe und halten Sie über unsere aktuellen Kampagnensowie die Projekte der Partner auf dem Laufenden.

Sie wollen mehr wissen? Tel. (069) 944 [email protected]

Page 38: rundschreiben 04|12

38medico aktiv

Das malische Dilemma medico-Partner zu Gast in Frankfurt

as nach eige-ner Darstel-

lung „dienstältes-te politisch-kultu-relle Zentrum derBundesrepublik“,der Club Voltairein Frankfurt, warbis auf den letz-ten Platz gefüllt.Alassane Dicko,vom medico-Part-ner AME aus Ba-mako, diskutierteam 25.10. überden kommendenKrieg um Mali.Normalerweise berichten die Mitarbeiterder Association Malienne des Expulsés(AME) über ihre Arbeit mit all jenen Mig-ranten, die als „Abschüblinge“ Opfer deseuropäischen Migrationsregimes werdenoder zuletzt im Zuge des Libyen-Kriegesinterniert waren. Diesmal aber sprachAlassane Dicko als Aktivist einer hellwa-chen malischen Zivilgesellschaft, die mitanhaltenden Protestkundgebungen aufdie kriegerische Spaltung des Landesund die Präsenz dschihadistischer Mili-zen in Tombouctou und Gao reagiert.

Für Dicko steht unumstößlich fest, dassnicht nur die religiöse Freizügigkeit Ma-lis, sondern auch seine politische Unab-hängigkeit auf dem Spiel steht. Deshalb,und damit beginne das malische Dilem-ma, „braucht unser Militär Hilfe von au-

ßen“ – afrikanische Truppen und zur Noteuropäische Unterstützung. Nicht wenigeim Publikum reagierten irritiert und wie-sen auf die Gefahren „imperialer Ein-mischungen“ hin. Ob er das Schicksalvon Patrice Lumumba vergessen habe?„Lumumbas Ermordung liegt 50 Jahrezurück“, entgegnete Dicko, „und wir Afri-kaner haben mittlerweile besser verstan-den, wie der Westen funktioniert“. Undwarum nicht mit den Al-Qaida-nahen Mi-lizen verhandeln? Der medico-Partnerantwortete trocken: „Diese Leute führendie Scharia ein. Das ist nicht verhandel-bar, sondern nur zurückzuweisen.“ Einguter Abend im Sinne des Voltaire zuge-schriebenen Bonmots über das freieWort.

Mehr unter: www.medico.de/sahelistan

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Mali bleibt multiethnisch, laizistisch und unteilbar – Protestveranstaltung in Bamako.

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Page 39: rundschreiben 04|12

enn sich am 30. November die Vor-standsmitglieder der medico-Stif-

tung zu ihrer regulären Herbstsitzungtreffen, entscheiden sie über Projektför-derungen in Höhe von 80.000 Euro. DieIdee der Stiftung, wichtige medico-Arbei-ten aus eigenen Mitteln fördern zu kön-nen, nimmt nachhaltige Formen an. För-derschwerpunkte sind psychosozialeMaßnahmen und Projekte, die eine alter-native, kritische Gesundheitsbewegungfördern. Auch das jährlich stattfindende Stiftungssymposium, gehörtzu den zentralen Aktivitätender Stiftung. In mittlerweilesieben Jahren hat sich dasSymposium zum wichtigenDebattenraum entwickelt, in dem Grundfragen dermedico-Arbeit mit Fachleu-ten sowie Spenderinnenund Spendern, Stifterinnenund Stiftern auf die Zukunfthin diskutiert werden.

Im Anschluss an die Vor-standssitzung findet die alljährliche gemeinsame Sitzung mit den Mitgliederndes Stiftungskuratoriumsstatt. Gerade das Stiftungs-kuratorium, dem unter an-deren der Kabarettist GeorgSchramm und der ehema-lige hessische Justizminis-ter Rupert von Plottnitzangehören, gewährleistetden Austausch über strate-gische Fragen und disku-tiert die Vorschläge für dasnächste Symposium.

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Das Stiftungsvermögen ist bis Ende Ok-tober auf gut vier Millionen Euro gewach-sen, wozu neben treuen Altstifterinnenauch wieder zahlreiche Neustifter beige-tragen haben.

Wenn Sie Fragen zur Stiftung oder zum Thema Testament haben, könnenSie sich unverbindlich mit Gudrun Kortas(Tel. 069/944 38-28 oder per Mail an [email protected]) in Verbindung setzen.

Ein Ort der Strategiedebattestiftung medico international: Positive Vermögensentwicklung

Weltmarktbedingte KrankheitenDie medico-Panels auf dem 18. Kongress„Armut und Gesundheit“, 6. März 2013,TU-Berlin, 11.30 – 17.45 Uhr

Wie jedes Jahr beteiligt sich medico auch 2013 mitdrei eigenen Diskussionsrunden am Kongress „Ar-mut und Gesundheit“, der am 6. März 2013 in derTechnischen Universität Berlin stattfindet. ZentralesThema werden die gesundheitlichen Folgen einer aufden Weltmarkt orientierten Wachstumspolitik sein.Vom Diamantenabbau in Sierra Leone bis zu den Ge-sundheitsschäden, hervorgerufen durch das giganto-manische deutsch-brasilianische Stahlwerk in Rio,von den Folgen der Nahrungsmittelspekulation biszum Brain Drain von Gesundheitspersonal reichendie Beiträge.

Es sprechen unter anderem: Thomas Schwarz (medicus mundi, Schweiz), Sandra Quintela (PACS,Brasilien), Thilo Bode (Foodwatch, Berlin), Nasir Man-soor (National Trade Unions Federation, Pakistan)

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THE DATE

Page 40: rundschreiben 04|12

Fluchtursache ReichtumMigration und Rohstoffhandelin Afrika

(44 S.) Gold, Diamanten,Baumwolle und Fischbestände:In einigen Ländern Westafrikaszeigt sich, dass gerade derReichtum an Rohstoffen dieMigrationsbewegungen inner-halb Afrikas und nach Europahervorruft.

Sie finden hier eine Auswahl der Materi-alien, die medico mit viel Sorgfalt erstelltund zu Informations- und Bildungszwe-cken kostenfrei (mit einigen gekenn-zeichneten Ausnahmen) zur Verfügungstellt.

Sie helfen medico und den Projektpart-nern sehr, wenn Sie zur Weiterverbrei-tung dieser Materialien beitragen!Machen Sie Freunde, Bekannte, Arbeits-kollegen auf das rundschreiben, die

medico-Jahresbericht 2011

(36 S.) Projekte, Netzwerke, Aktionen, Kampagnen: derGesamtüberblick mit Grund-sätzen und Finanzbericht.

Mehr Gerechtigkeit für Millionäre und MilliardenMenschen!

Flyer von medico und Attac zurKampagne Umfairteilen, diefordert, Reichtum weltweit zubesteuern und die Einnahmenglobal gerecht zu verteilen.

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Liebe Leserinnen und Leser,

materialliste

medico-Stichworte, die Minenzeitungaufmerksam! Die vollständige Liste un-serer Materialien steht im Internet bereit:

Unter www.medico.de/material findenSie die hier abgebildeten und alleweiteren Publikationen zum Bestellenoder Herunterladen.

Für Nachfragen stehen wir Ihnengerne unter Tel. (069) 944 38-0 zur Verfügung.

Stichwort Gesundheit

(40 S. DIN A5) Das Sonderheftzur Weltgesundheit bleibt nichtbei der Beschreibung der Kata-strophe stehen. medico zeigt Pro-jekte der Abhilfe und beschreibtdas Gesundheits-Netzwerk, indem wir uns global und lokal be-wegen.

Page 41: rundschreiben 04|12

bestellcoupon

______ medico-Jahresbericht 2011

______ Mehr Gerechtigkeit...: Flyer

______ medico-Stichwort: Gesundheit

______ Broschüre: Fluchtursache Reichtum

______ Broschüre: stiftung medico international

______ Broschüre zu Testament und Erbschaft

______ medico-Plakate Gesundheit DIN A1

______ medico-Stichwort: Pakistan

______ Plakat WHY? DIN A1

______ Auf Rohstoffraub: Flyer (8 Seiten)

______ medico rundschreiben 02 | 12

______ medico rundschreiben 03 | 12

Name: ______________________________________

Straße: ______________________________________

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kostenlose Materialien bestellen

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in Höhe von _______ € von meinem Bankkonto abgebucht wird.

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Bitte einsenden an:

medico international Burgstraße 106 D-60389 Frankfurt am Main

oder faxen an:(069) 43 60 02

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Bankleitzahl: _________________________________

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WHY? Jahr für Jahr sterben Flüchtlingean den Außengrenzen Europas

(DIN A1) Das Plakat können Sie kosten-los bei uns bestellen. Damit es unversehrtbei Ihnen ankommt, verschicken wir es in einer Plakatrolle. Weil dadurch die Ver-sandkosten sehr hoch sind (7,40 €), würden wir uns über eine Spende freuen.Spendenstichwort: Migration.

Wissenswertes zu Testament und Erbschaft

(24 S.) Wenn Sie medico testamen-tarisch berücksichtigen möchten, bietetdie Broschüre Informationen zu recht-lichen und steuerlichen Fragen inkl.weiterführende Adressen.

Stichwort Pakistan

(16 S. DIN A5) Arbeitsalltag und Bei-spiele der medico-Projektarbeit inPakistan, verbunden mit einer Kurz-vorstellung von medico und seinemKonzept kritischer Nothilfe.

Broschüre stiftung medico international

(16 S.) Übersicht über Ziele, Satzung,Struktur und steuerliche Aspekte derstiftung medico international.

Anzahl:

Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit (Plakate, DIN A1)

medico-Plakate für Gesundheitszentren,Arztpraxen oder andere öffentliche wieprivate Orte. Damit sie unversehrt beiIhnen ankommen, verschicken wir sie ineiner Plakatrolle. Weil dadurch die Ver-sandkosten sehr hoch sind (7,40 €),

würden wir uns über eine Spende freuen. Spendenstichwort:Gesundheit.

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Adressänderung: Bitte geben Sie bei Änderungen Ihrer Adresse auchIhre alte Anschrift und/oder die Spendernummer an.So ermöglichen Sie es uns, Sie zu „finden“, und hel-fen zugleich mit, Verwaltungskosten zu sparen.

Einmalige Spende: Für Spenden ab 50 € schicken wir Ihnen eine Spen-denbescheinigung zu. Für alle Spenden unter die-sem Betrag empfehlen wir Ihnen, Ihrem Finanzamteine Kopie Ihres Kontoauszugs zusammen mit ei-nem Abriss eines medico-Überweisungsformularseinzureichen. Auf der Rückseite des Abrisses befin-den sich Informationen zum Freistellungsbescheid.Selbstverständlich stellen wir Ihnen auch für Spen-den unter 50 € auf Anfrage eine Spendenbescheini-gung aus. Wenn Sie mehr als einmal im Jahr spen-den, schicken wir Ihnen keine Einzelquittung, son-dern gerne zu Beginn des Folgejahres eine Jahres-spendenbescheinigung zu.

Fördermitgliedschaft: Die Fördermitgliedschaft bei medico sieht keine Pro-jektbindung vor. Vielmehr unterstützen Sie damit un-sere gesamte Projekt- und unsere unabhängigeÖffentlichkeitsarbeit. Die regelmäßigen Beiträge un-serer Fördermitglieder ermöglichen es uns, langfris-tige und verbindliche Projektkooperationen einzuge-hen, aber auch flexibel zu reagieren, wenn akuteHilfe notwendig ist. Der jährliche Förderbeitrag liegt

Spendeninformation

bei mind. 120 €. Das wäre z.B. der relativ kleine Be-trag von 10 € monatlich. Für Leute mit wenig Geld(Auszubildende, Erwerbslose, Studierende) beträgtder jährliche Förderbeitrag 60 €. Für alle regelmäßi-gen Spenden (Fördermitgliedsbeiträge, Einzugser-mächtigungen und Daueraufträge) schicken wir Ih-nen jeweils im Januar des darauffolgenden Jahreseine Sammelbestätigung zu, auf der alle Spendendes Jahres aufgeführt sind.

Spendenquittungstelefon: Tel. (069) 944 38-0, Fax: (069) 944 38-15 oderE-Mail: [email protected]

Bankverbindung: medico international, Spendenkonto 1800, Frank-furter Sparkasse, BLZ 500 502 01

Vielen Dank, dass Sie unsere Arbeit mit einer Spen-de unterstützen! medico international ist gemeinnüt-zig und Ihre Spende ist steuerlich absetzbar.

stiftung medico international:Wenn Sie, statt einer Spende – die unmittelbar in dieProjektförderung fließt – über eine Einlage in die stif-tung medico international – deren Wirkung auf Dauerangelegt ist – nachdenken, dann senden wir Ihnengerne weitere Informationen.

Sie können sich auch direkt an Gudrun Kortas wenden: Tel. (069) 944 38-28 oder per Email: [email protected]

Herausgeber:medico internationalBurgstraße 106D-60389 Frankfurt am Main

Tel. (069) 944 38-0Fax (069) 43 60 02

E-Mail: [email protected]: www.medico.de

Redaktion: Katja Maurer (verantwortl.),Thomas Gebauer, Martin GlasenappKorrektorat: Marek ArltGestaltung: Andrea Schuldt

Bearbeitung und Übersetzung der S. 28-32: Olivia Klimm

Spendenkonto: 1800 Frankfurter Sparkasse BLZ 500 502 01

impressum

42service

Hinweis: Das medico-rundschreiben ist auf 100 % Recyclingpapier gedruckt.

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Trauma und PolitikEine Fachtagung zutraumatischen Erfahrungen, ihrer gesellschaftlichen Deutung und Bearbeitung.

24. JANUAR 2013, 10.00 – 16.30 UHR, Frankfurt am Main, Haus am Dom

medico internationalKatholische Akademie Rabanus Maurus

Katholisches Amt für Religionspädagogik

SAVE THE DATE

VORTRÄGE/ARBEITSGRUPPEN: Prof. Dr. Ariane Brenssell,Christiane Leonhardt-Içten, Sabine Lübben, Katja Maurer,Usche Merk, Karin Mlodoch, Marie-Luise Rössel-Cunovic, Dr. Martin Sack, Jochen Strauss, Wilma Weiß.

TAGUNGSLEITUNG: Kerstin Frei, Katja Maurer, Dr. BrigittaSassin, Barbara Schindler-Bäcker, Wilma Weiß.

Akkreditiert für Lehrkräfte aus Hessen

Weitere Informationen unter: www.medico.de/trauma

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medico international

Auch dafür werden Revolutionen gemacht: „Ich bin auf derSeite des Aufstands der Frauen in der arabischen Welt, weilmir seit 20 Jahren nicht erlaubt wird, den Wind in meinenHaaren und auf meinem Körper zu spüren“.

(Dana, Aktivistin aus Syrien, Oktober 2012)