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Sabine Zubarik Die Strategie(n) der Fußnote im gegenwärtigen Roman AISTHESIS VERLAG Bielefeld 2014 Leseprobe

Sabine Zubarik - AISTHESIS VERLAG · Leseprobe. Umschlaggestaltung unter Verwendung der Seiten 176 und 177 der deut- ... schen Ausgabe von Danielewskis „House of Leaves“: Mark

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Sabine Zubarik

Die Strategie(n) der Fußnote im gegenwärtigen Roman

AISTHESIS VERLAGBielefeld 2014

Leseprobe

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Umschlaggestaltung unter Verwendung der Seiten 176 und 177 der deut-schen Ausgabe von Danielewskis „House of Leaves“: Mark Z. Danielewski, Das Haus – House of Leaves, Stuttgart: Klett-Cotta 2007.

© Aisthesis Verlag Bielefeld 2014Postfach 10 04 27, D-33504 BielefeldSatz: Germano Wallmann, www.geisterwort.deDruck: docupoint GmbH, MagdeburgAlle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-8498-1012-2www.aisthesis.de

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassung ..........................................................................................

Einleitung ..........................................................................................................I. Text-para-Text .....................................................................................II. Fußnoten: Eigenschaften und Funktionen in literarischen Texten .......................................................................III. Fußnotenromane ................................................................................

Teil A: Vom Umgang mit Wissen ...............................................................

A.I Heraus-geben, heraus-nehmen: Urs Widmer, Liebesbrief für Mary ..................................................I.1 Wie viel gibt ein Herausgeber? ........................................................I.2 Die Liebe der Schriftsteller: Schreiben und Lesen = Geben und Nehmen ...............................I.3 Rivalen und/oder Doppelgänger ....................................................I.4 Brief und Kommentar: Symbiose und parasitäres Verhältnis ...I.5 Nachtrag und Zusammenfassung: herausgeben und herausnehmen ......................................................

A.II Funny Footnotes: Literaturbetrieb in Science-Fiction und Fantasy .........................II.1 Science-Fiction – Fiction of Science: Fiktion von und über Wissenschaft ...............................................II.2 Fantasieuniversen und ihre Wissenschaften .................................II.3 Nachschlagewerke: Enzyklopädisierung von fantastischen Welten ............................II.4 Erklärungsexzesse, Grenzübergänge und Verkehrungen ...........II.5 „Was bisher geschah...“ – Serielle Nachhilfe und Anknüpfung an das Gesamtwerk ..........II.6 Literatur über Literaturbetriebe .....................................................II.7 Die interliterarische „Stimme“: Das footnoterphone ...................II.8 Fazit ......................................................................................................

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Teil B: Modi der Enthierarchisierung .......................................................

B.I Der Rahmen: José Carlos Somoza, La caverna de las ideas ......I.1 Ergon und Parergon ..........................................................................I.1.a Außen und Innen ...............................................................................I.1.b Überbordung ......................................................................................I.1.c Hineingezogen werden ....................................................................I.1.d Verdrehung und Mise en abyme ......................................................I.1.e Mangel und Mehrwert .....................................................................I.1.f Setzung und Auflösung .....................................................................I.2 Modelle der Lesbarkeit .....................................................................

B.II Entropische Schreibweise: Alain Robbe-Grillet, La Reprise ....II.1 Das Prinzip der Entropie ..................................................................II.2 Dispersion von Identität(en) ...........................................................II.3 Das Zwillingssyndrom ......................................................................II.4 Multiplizierung und Spiegelung .....................................................II.5 Gleichwahrscheinlichkeit in Raum und Zeit ...............................II.5.a Raum ....................................................................................................II.5.b Zeit .......................................................................................................II.6 Umschreibung ....................................................................................II.7 Katabolische Tendenzen ..................................................................II.8 Anabolische Tendenzen ....................................................................II.9 Die neue Ordnung .............................................................................

B.III Textstruktur zwischen Linie und Raum: Zsuzsanna Gahse, Kellnerroman ....................................................III.1 Text als Raum .....................................................................................III.2 Metaphoriken von Linie und Raum ..............................................III.3 Zsuzsanna Gahse, Kellnerroman .....................................................III.3.a Fußnoten, die keine sind ..................................................................III.3.b Der Parcours durch das Jetzt ...........................................................III.3.c Der aufgeklappte Text, das Zählen und das Verschieben ..........

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Teil C: (Un)möglichkeiten – grenzenlose Texte ....................................

C.I Text als Rhizom: Albert Goldbarth, Pieces of Payne ...................I.1 Rhizomatik ..........................................................................................I.2 Bifurkationen ......................................................................................I.3 Konnexionen ......................................................................................I.4 Fragmente ............................................................................................

C.II Noten ohne Text: Gérard Wajcman, L’Interdit und Dag Solstad, Armand V. ........II.1 Der absente Text ................................................................................II.2 Universalnoten als Vorläufer: Gottlieb Wilhelm Rabener, „Hinkmars von Repkow Noten ohne Text“ ..............................................................................II.3 Gérard Wajcman, L’Interdit ............................................................II.4 Dag Solstad, Armand V. – Fussnoten* *zu einem unausgegrabenen Roman .........................II.4.a Eigentlicher / uneigentlicher Text ..................................................II.4.b Privilegien der Fußnoten ..................................................................II.4.c Die Freilegung ....................................................................................II.5 Das Zentrum als Funktion ..............................................................

C.III Typographischer Exzess. Faltungen, Verschiebungen, Vervielfachungen: Mark Z. Danielewski, House of Leaves ..........................................III.1 Herausgeberschaften: Die Edition der Edition der Edition usw. III.2 Typographie: Der Roman als Technopägnion .............................III.2.a Kapitel IX: Ein exemplarischer Leseweg ......................................III.2.b Das typographische Labyrinth ........................................................III.2.c Positive und negative Umrisse .........................................................III.2.d Das Navidson-Haus und das Blätterhaus ......................................III.3 Falt(ung)en ..........................................................................................

Schlusswort .......................................................................................................

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Anhang 1: Fußnotenaufkommen in den untersuchten Fantasy-Romanen .......................................................................

Anhang 2: Überblick der Ankerzeichen und Noten in Zsuzsanna Gahses Kellnerroman ........................................

Bibliographie ....................................................................................................

Danksagung ......................................................................................................

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Zusammenfassung

Seit den späten 80er Jahren des 20. Jahrhunderts ist der Anstieg an Romanen zu verzeichnen, die gehäuft, teilweise exzessiv, Fußnoten und andere Formen der Anmerkung verwenden. Der Großteil davon tut dies auf eine Weise, die nicht mehr unter Gérard Genettes Definition des Paratextuellen zu sub-sumieren ist. Statt der dezenten Unterordnung des Beigestellten zeigt sich Widerspruch, Überbordung und Störung. Die eine narrative Linie wird ver-eitelt durch Bifurkation des Lesewegs und Multiplikation der Bedeutungen. In einem Fußnotenroman, so die aufgestellte Definition, sind die Anmer-kungen ein konstitutives Element der Gesamterzählung und ihre Lektüre keinesfalls fakultativ. Die Tatsache, dass Kommentarebenen verwendet wer-den, trägt zum Inhalt bei, ihre Form ist Aussage.

Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert, die jeweils bestimmte Phänomene und Funktionen der Anmerkung in zeitgenössischen Romanen näher betrachten:

Teil A beschäftigt sich mit Werken, in denen die Fußnotenebene als Ort des besonderen Umgangs mit Wissen benutzt wird. Anhand Urs Widmers Kurzroman Liebesbrief für Mary wird der Frage der Herausgeberschaft als konkurrierender Autorschaft nachgegangen. Ein weiteres Unterkapitel ist der Imitation und Parodie von Wissen(schaft)sdiskursen in Fantasy- und Science-Fiction-Romanen (von Flann O’Brien, Terry Pratchett, Walter Moers und Jasper Fforde) gewidmet.

Teil B untersucht die Emanzipation der Anmerkung als eigenständiger Text(teil). Hier geht es um Noten, die den Haupttext sowohl qualitativ als auch quantitativ stark beeinträchtigen, ihn als Hilfsdiskurs gar unterordnen. Die Hierarchie des zentralen Haupttexts über den rahmenden Beitext ist ins-besondere in José Carlos Somozas Roman La caverna de las ideas ins Gegen-teil verkehrt. Bei Alain Robbe-Grillets Nouveau Roman La Reprise machen sich Erzähler und kommentierender Gegenerzähler die narrative Alleinherr-schaft streitig. In Zsuzsanne Gahses Kellnerroman wird die Fußnotenstruk-tur gänzlich ad absurdum geführt, indem keinerlei Faden bzw. sinnvoller Leseweg mehr auszumachen ist und die Textfragmente lose verbunden im Textraum Buch nebeneinander treten.

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In Teil C geht es um Werke, die unbegrenzte (Un)möglichkeiten auf den Plan rufen, wie etwa Romane, die einzig aus Noten bestehen (Gérard Wajc-mans L’Interdit und Dag Solstads Armand V. ). Albert Goldbarth stellt mit Pieces of Payne einen grenzenlosen Roman vor, der wie ein Rhizom Knoten-punkte bildet und beständig auf das Textäußere (und wieder zurück) ver-weist. Mark Z. Danielewskis Megawerk House of Leaves schließlich lässt sich als typographischer Exzess bezeichnen, in dem alle nur möglichen Spielarten und Potentialitäten des Anmerkungsgebrauchs vorgeführt werden und so ein Roman entsteht, der aufgrund der Ebenenvervielfachung und dem Ver-fahren der Faltung und Schachtelung über das Medium Buch hinauswächst und gleichzeitig nur darin funktioniert.

Zusammenfassung

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Einleitung

I. Text-para-Text

Im Zentrum dieser Arbeit steht der Rand. Der Paratext gilt als eine Textform, die per definitionem dem Marginalen, Randständigen, Subordinaten zuge-rechnet wird. Denn Paratexte, zu denen neben Autornamen, Titel, Vorwort, Widmung, Motti, Überschriften etc. auch Anmerkungen zählen, werden gemeinhin als Rahmenstücke eines Textes bezeichnet, „die keine Bestand-teile von ihm sind, ihn gleichwohl auf das engste umgeben und zu ihm in einem vielfach komplexen Verhältnis stehen.“1 Nach Gérard Genette ist der Paratext das, was den Text „kleidet“, was ihn „schützt“ und „begleitet“: „[l]e texte se présente rarement à l’état nu, sans le renfort et l’accompagnement.“2 Schon im Untertitel der deutschen Übersetzung von Seuils, Genettes Werk, das gänzlich den Paratexten gewidmet ist, steht „Beiwerk“, und auch Phil-ippe Lejeune spricht über Paratexte von „frange“, Franse oder Anhängsel.3 Paratexte, gleich Türschwellen,4 die Ein- und Ausgang ermöglichen, sind Zonen des Übergangs und der Transaktion,5 von denen, so Genette, nicht mit Sicherheit gesagt werden könne, „ob man sie dem Text zurechnen soll“,

6 da sie vielmehr einen „oft unbestimmten Randbereich zwischen Text und Nicht-Text“7 einnehmen. Der Paratext habe den Status des Uneigentlichen

1 Moennighoff, Burkhard (41996): „Paratexte“, in: Arnold, H. L./Detering, H. (Hrsg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. München: Dt. Taschenbuch-Ver-lag. S. 349.

2 Genette, Gérard (1987): Seuils. Paris: Editions du Seuil. S. 7, in dt. Übersetzung von Dieter Hornig: Genette, Gérard (1989): Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

3 Lejeune in Genette (1987) S.  8. Auch Benstock verweist auf die ausgelagerte Position, sowohl topographisch auf der Textseite als auch inhaltlich am Rande des Hauptthemas. Fußnoten, zumindest von wissenschaftlichen Texten, seien „inherently marginal, not incorporated into the text but appended to it“, „coop-erative with the text, but not intrinsic to it.“ (Benstock, Shari [1983]: „At the Margin of Discourse: Footnotes in the Fictional Text“, in: PMLA. 98. S. 204).

4 Zur Schwelle vgl. auch Maclean, Marie (1991): „Pretexts and Paratexts: The Art of the Peripheral“, in: New Literary History. 22. S. 273.

5 Vgl. Genette (1987) S. 8.6 Genette (1989) S. 9.7 Ebd. S. 327.

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– obgleich er Text ist, ist er nicht der Text8 – und seine Existenz sei wesent-lich bestimmt durch den funktionalen Charakter: In allen seinen Formen sei er ein „discours fondamentalement hétéronome, auxiliaire“, er stehe im Dienst des Textes, der ihm seine Daseinsberechtigung verleihe.9

Allerdings weist Genette explizit auf die autoriale Originalanmerkung als Ausnahme hin und stellt damit bereits deren paratextuellen und subordina-ten Charakter infrage:

[D]ie autoriale Originalanmerkung gehört, zumindest wenn sie sich auf einen gleichfalls diskursiven Text bezieht, zu dem sie eine Beziehung der formalen Kontinuität und Homogenität unterhält, eher zum Text, den sie eher weiter-führt, verzweigt und moduliert als kommentiert.10

Jedoch liegt der „Einspruch“ gegen den untergeordneten Status von Para-texten grundsätzlich im Wort selbst: Die griechische Präposition παρά meint örtlich: von … her, bei, neben … hin, zu … hin, entlang, zeitlich: wäh-rend, neben, bei und übertragen: gegen, wider, im Vergleich mit, neben.11 Ein Para-Text läuft nicht nur neben und am Text entlang, sondern richtet sich auch wider den Text, vergleicht sich mit ihm, läuft gegen ihn an. Damit ist das sowohl kreative wie auch subversive Potential bereits in der Etymolo-gie des Namens verankert. Wörter mit der Vorsilbe para, so Joseph Hillis Miller, kennzeichnet die intrinsische Eigenschaft, dass sie ohne Counterpart bedeutungslos sind.12 So gibt es z.B. keinen Parasit ohne Wirt, und keinen

8 Genette (1987) S. 12: „il n’est pas encore le texte.“9 Genette (1989) S. 18: „Wesentlich, weil der Paratext offenkundig – von punk-

tuellen Ausnahmen abgesehen, die wir da und dort antreffen – in allen seinen Formen ein zutiefst heteronomer Hilfsdiskurs ist, der im Dienst einer anderen Sache steht, die seine Daseinsberechtigung bildet, nämlich des Textes. Welchen ästhetischen oder ideologischen Gehalt […], welche Koketterie und welche paradoxe Umkehrung der Autor auch in ein paratextuelles Element einbrin-gen mag, es ist immer „seinem“ Text untergeordnet, und diese Funktionalität bestimmt ganz wesentlich seine Beschaffenheit und seine Existenz.“

10 Genette (1989) S. 313.11 Vgl. Anonymus (o.J.) „Liste griechischer Präfixe“, URL: http://www.wikipedia.

org/wiki/Liste_griechischer_Präfixe [Zugriff am 12.12.12]. 12 Vgl. Miller, J. Hillis (1995): „The Critic as Host“, in: Bloom, H./Man, P. d./

Derrida, J., et al. (Hrsg.): Deconstruction and Criticism. New York: Continuum. S. 219.

Einleitung

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Paratext ohne die Annahme eines Textes.13 Wie Genette betont Hillis Miller die Funktion der Schwelle, jedoch mit starkem antithetischen Bezug:

‚Para‘ is a double antithetical prefix signifying at once proximity and distance, similarity and difference, interiority and exteriority, […] something simulta-neously this side of a boundary line, threshold, or margin, and also beyond it, equivalent in status and also secondary or subsidiary, submissive, as of guest to host, slave to master. A thing in ‚para‘, moreover, is not only simultaneously on both sides of the boundary line between inside and out. It is also the bound-ary itself, the screen which is a permeable membrane connecting inside and outside. It confuses them with one another, allowing the outside in, making the inside out, dividing them and joining them. It also forms an ambiguous transition between one and the other.14

Paratexte sind demnach gekennzeichnet durch eine doppelseitige Bindung nach außen und innen und ihre Ambiguität zwischen Nähe und Distanz – text-topographisch wie auch semantisch. Miller spricht die Frage nach Auto-rität und Hierarchie an (slave to master) und deren potentielle Aufhebung durch eine Grenze in Form einer durchlässigen Membran – ein Aspekt, der für die hier zu untersuchenden Romane bedeutsam sein wird.

Im Folgenden geht es um eine Form des Paratexts, die zur Untergruppe der Anmerkungen gehört: die Fußnote. An ihr interessiert ihre Verwendung in literarischen Texten, speziell im gegenwärtigen Roman.

II. Fußnoten: Eigenschaften und Funktionen in literarischen Texten

Die Frage, inwiefern Fußnote und Anmerkung als synonyme Begriffe ge- braucht werden können, hängt vom Kontext ab: Ist es ein historischer, so

13 Was nicht bedeutet, dass der Text dann tatsächlich vorhanden sein muss. Denn – während ein Text ohne jeglichen Paratext äußerst selten auftritt (Genette behauptet sogar, schlechterdings nicht geben könne (vgl. Genette (1987) S. 11) – sind Paratexte, denen der Bezugstext abhanden gekommen ist, nicht unüblich. Darunter fallen z.B. Werke von denen nichts als der Titel, das Vor-wort oder ein Kommentarband erhalten ist, und eben auch Anmerkungen, deren Haupttext fehlt – ein Szenario, das in seiner fiktionalen Spielart in Kap. C.II. dieser Arbeit näher ausgeführt wird.

14 Miller (1995) S. 219.

II. Fußnoten: Eigenschaften und Funktionen in literarischen Texten

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sind sie zu trennen,15 da Anmerkung als Oberbegriff jegliche Form des zusätzlichen Textes (wie Marginalien, Glossen, Scholien, Endnoten etc.) meinen kann,16 die Fußnote aber speziell diejenige Form der Anmerkung ist, die tatsächlich den unteren Rand der Seite zum Ort hat. In der prak-tischen Anwendung jedoch werden beide Begriffe häufig synonym verwen-det, teils von den Autoren literarischer Texte selbst,17 teilweise aber auch in Sekundärliteratur,18 die sich mit der einen oder anderen Form von Anmer-kungen beschäftigt. Dies mag der Tatsache geschuldet sein, dass Anmerkung im Angelsächsischen mit annotation dem Begriff der Note näher steht als dies im Deutschen der Fall ist, sodass der Übergang von note zu footnote ein fließender ist.19

15 Vgl. hierzu ausführlicher Kaestner, Jürgen (1984): „Anmerkungen in Büchern“, in: Bibliothek: Forschung und Praxis. 8. S. 204-205.

16 Vgl. die Definition von Genette: „Eine Anmerkung ist eine Aussage unterschied-licher Länge (ein Wort genügt), die sich auf ein mehr oder weniger bestimmtes Segment des Textes bezieht und so angeordnet ist, dass es auf dieses Segment verweist oder in dessen Umfeld angesiedelt ist.“ (Genette [1989] S. 304-305). Ähnlich Kaestner: „Unter Anmerkung verstehen wir […] eine Äußerung unter-schiedlichen Inhalts, die der Verfasser eines Textes von dem fortlaufenden Haupttext absondert, gleichzeitig aber mit diesem durch symbolische Reprä-sentanz verbindet. Diese Repräsentanz kann durch Anmerkungszeichen […] oder Lemmata […] dargestellt werden.“ (Kaestner [1984] S. 205).

17 Goldbarth bezeichnet die Anmerkungen in seinem Roman Pieces of Payne als footnotes, obwohl sie in einem eigenen Anmerkungsteil nach dem zusammen-hängenden Text stehen.

18 Z.B. Benstock (1983), Bowersock, Glen W. (1983): „The Art of the Footnote“, in: The American Scholar. 4. S. 54-62; Hilbert, Betsy (1989): „Elegy for Excur-sus: The Descent of the Footnote“, in: College English. 51. S. 400-404; Grafton, Anthony (1997): The Footnote. A Curious History. London: Farber and Farber; Eckstein, Evelyn (2001): Fußnoten. Anmerkungen zu Poesie und Wissenschaft. Münster: LIT; Stang, Harald (1992): Einleitung, Fußnote, Kommentar. Fingierte Formen wissenschaftlicher Darstellung als Gestaltungselemente moderner Erzähl-kunst. Bielefeld: Aisthesis. Rieß spricht sich in seiner satirischen Abhandlung eindeutig für die Bezeichnung Fußnote aus, da Anmerkung semantisch zu unge-nau sei. (Vgl. Rieß, Peter [1995]: „Vorstudien zu einer Theorie der Fußnote“, in: Rieß, P./Fisch, S./Strohschneider, P. (Hrsg.): Prolegomena zu einer Theorie der Fußnote. Münster: LIT. S. 13-14).

19 Je näher Untersuchungen an das 20. Jhd. rücken, desto verwirrender wird laut Kaestner die Verwendung der Begriffe: „In keinem anderen Jahrhundert sind die Bezeichnungen für die Anmerkung so vielfältig und widersprüchlich.“ (Kaestner [1984] S. 218).

Einleitung

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Als Fußnote werden in dieser Arbeit – außer dann, wenn es tatsäch-lich um historische oder formale Unterscheidungen geht – gemeinhin alle Anmerkungsformen bezeichnet, die auf räumlich und graphisch abgeson-derter Ebene mit einem Verweis im Haupttext einen weiteren Diskurs füh-ren, seien sie auf jeder Seite unterhalb des Textes, am Ende eines Abschnitts, eines Kapitels oder sogar des gesamten Textes angebracht.20

Wenn auch die Geschichte der Fußnote an sich (als tatsächliche Note am Fuß der Seite) eine neuzeitlich junge ist,21 so hat sie dennoch eine lange Vor-geschichte in der Tradition der Anmerkungspraxis. Das Phänomen, etwas an einen Text anzufügen, ist so alt wie die Praxis des Aufschreibens,22 geht man grundsätzlich davon aus, dass eine Fixierung im Schreibprozess immer auch die Revidierung, die Korrektur und den Einspruch herausfordert – und dies umso mehr, je autoritärer ein Schreibakt auftritt.23 Der Kommunikations-

20 Vgl. auch Mainberger, Sabine (2002): „Die zweite Stimme. Zu Fußnoten in literarischen Texten“, in: Poetica. 33. S. 339: „Ob die Anmerkungen tatsächlich auf der gleichen Seite oder am Ende des Textes abgedruckt werden, ist dann eine im wesentlichen praktische Frage. Auch ans Ende gestellte Anmerkungen werden ‚Fußnoten‘ genannt.“ Zum Ort der Anmerkungen ausführlicher siehe die Magisterarbeit Zubarik, Sabine (2005): Paratexte: Fußnoten und Anmer-kungen als textkonstituierende Bestandteile neuerer Erzählliteratur, http://www.db-thueringen.de/servlets/DocumentServlet?id=4319 [Zugriff am 12.12.12], S. 12-14; zur Debatte Fuß- versus Endnote mit Beispielen für ihre jeweiligen Befürworter siehe Eckstein (2001) S. 27-31; zur Mischung von Anmerkungs-arten siehe Harnack, Adolf von (1911): Aus Wissenschaft und Leben. Gießen: A. Töpelmann. S. 161-162 und Bowersock (1983) S. 59-60.

21 Ab dem 17. Jhd. wird in Frankreich erstmals „note“ als Ersatz für den älteren Terminus Glosse im Lexikon verwendet (1636 im Robert, vgl. Genette (1987) S. 305) und die Einrichtung der Fußnote findet ihre allmähliche Verbreitung, die sich gegen die Marginalie durchsetzt. In Deutschland findet die Bezeich-nung der Note, speziell der Fußnote, erst im 19. Jhd. Eingang in die Wörterbü-cher und Nachschlagewerke (vgl. Eckstein [2001] S.  23-26; Kaestner [1984] S. 204-205).

22 Etwas weniger radikal Connors, Robert J. (1998): „The Rhetoric of Citation Systems, Part I: The Development of Annotation Structures from the Renais-sance to 1900“, in: Rhetoric Review. 17. S. 7: „Glossing and annotation are as old as literature.“

23 Vgl. Derrida (am Beispiel von Gesetzestexten): „Yet we see how this law text, which makes the law, produces at the same time a double bind: it says to the reader or auditor, ‚Be quiet, all has been said, you have nothing to say, obey in

II. Fußnoten: Eigenschaften und Funktionen in literarischen Texten

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gehalt von Sprache besteht gerade darin, dass sie per se keine monosemische Aussage leisten kann, das heißt sie impliziert und produziert von vornherein Missverstehen und Vieldeutigkeit. Die Folge davon ist die Notwendigkeit von Zusätzen erklärender, verbessernder, widersprechender Art. Die schrift-liche Anmerkung ist eine Form, diesen Mangel sowohl auszugleichen als auch mitzukommunizieren und festzuhalten.

Auf die Entstehung der Fußnote aus anderen in der Antike und im Mittel-alter gebräuchlichen Kommentarformen, der Verbreitung ihrer Anwendung mit dem Einzug des Buchdrucks und der Frage ihres Nutzens im Laufe der historischen Entwicklung von Anmerkungspraktiken in unterschiedlichen Schriftkontexten ist an anderen Orten gebührend und detailliert eingegan-gen worden, weshalb hier nur darauf verwiesen werden soll.24

silence,‘ while at the same time it implores, it cries out, it says, ‚Read me and respond: if you want to read me and hear me, you must understand me, know me, interpret me, translate me, and hence, in responding to me and speaking to me, you must begin to speak in my place, to enter into a rivalry with me.‘ The more a text is ‚unannotatable‘, the more it generates and cries out for anno-tation: this is the paradox and the double bind. An infinitely ‚unannotatable‘ text provokes infinite annotation.“ (Derrida, Jacques [1991]: „This is Not an Oral Footnote“, in: Barney, S. A. (Hrsg.): Annotation and Its Texts. New York: Oxford University Press. S. 202).

24 Am umfassendsten hat dies Pfersmann 2011 geleistet, der zudem beweist, dass die Anmerkung kein rein okzidentales Phänomen ist. (Vgl. Pfersmann, And-réas [2011]: Séditions infrapaginales. Poétique historique de l’annotation littéraire [XVIIe-XXIe siècles]. Genève: Droz.) Kurz zusammenfassend siehe Zubarik, Sabine (2005). Detaillierter: Tribble, Evelyn B. (1997): „‚Like a Looking-Glas in the Frame‘: From the Marginal Note to the Footnote“, in: Greetham, D. C. (Hrsg.): The Margins of the Text. Michigan: University Press. S.  229-244; Kaestner (1984), Cahn, Michael (1997): „Die Rhetorik der Wissenschaft im Medium der Typographie. Zum Beispiel die Fußnote“, in: Rheinberger, H.-J./Hagner, M./Wahrig-Schmidt, B. (Hrsg.): Räume des Wissens: Repräsentation, Codierung, Spur. Berlin: Akademie-Verlag. S.  91-109; Zerby, Chuck (2001): The Devil’s Details: A History of Footnotes. Montpelier, VT: Invisible Cities Press; Grafton (1997); Dworkin, Craig (2005): „Textual Prostheses“, in: Com-parative Literature. 57. S. 1-24; zur Anmerkungspraxis in der Renaissance siehe Connors (1998); zum Verhältnis von Poesie und Wissenschaft im 17. bis 19. Jhd. siehe Eckstein (2001); zur Polemik der Fußnotennutzung im Wissen-schaftsbereich seit den 80ern des 20. Jhd. siehe Bowersock (1983) und Hilbert (1989); zur Fußnote im digitalen Zeitalter siehe Derrida (1991) und Dotz-ler, Bernhard (2000): „Virtual Textuality oder: Vom parodistischen Ende der

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Fußnoten als besondere Form von Paratexten besitzen sehr spezielle Eigen-schaften: Sie sind partiell zugeordnet und beziehen sich demnach auf einen ganz bestimmten Teil des Haupttexts (ein Wort, einen Satz, maximal einen Absatz); mit dieser Stelle sind sie lokal verbunden – meist auf derselben Seite, mit einer Zahl oder einem Symbol als Ankerzeichen.25 Fußnoten sind frag-mentarisch – in sich selbst als Kurzform26 und in Bezug auf die anderen Fuß-noten, zu denen sie trotz direkter Nachbarschaft unterhalb des Strichs unzu-sammenhängend stehen. Weiterhin sind sie ein Kompromiss in der Stringenz des Textes, da sie Ergänzungen und Abschweifungen möglich machen ohne die Hauptlinie zu belasten und „auszubeulen“27. Dieser Kompromiss kos-tet allerdings die Linearität der Lektüre: Durch genaues Nachverfolgen der Noten an Ort und Stelle wird der Lesefluss des Haupttexts unterbrochen; im Nachhinein gelesen verliert sich der dazugehörige Kontext.

Die Fußnote im wissenschaftlichen Kontext hat zahlreiche Funktionen;28 ihr Gebrauch in fiktionalen Texten kann sich diese Funktionen zunutze

Fußnote im Hypertext“, URL: http://www.dichtung-digital.de/Forum-Kassel-Okt-00/Dotzler [Zugriff am 12.12.12]. Für die französische Literatur: Cronk, Nicholas/Mervaud, Christiane (Hrsg.) (2003): Les notes de Voltaire: une écrit-ure polyphonique: études. Oxford: Voltaire Foundation; Dürrenmatt, Jacques/Pfersmann, Andréas (Hrsg.) (2004): L’Espace de la note. Rennes: Presses Uni-versitaires de Rennes; Volpilhac-Auger, Caherine (Hrsg.) (1997): Le texte et son commentaire. Grenoble: Université Stendhal-Grenoble. Weitere Sammelbände zur Anmerkungspraxis: Arnould, Jean-Claude/Poulouin, Claudine (Hrsg.) (2008): Notes*/ *Études sur l’annotation en littérature. Mont-Saint-Aignan: Publications des universités de Rouen et du Havre; Barney, Stephen A. (Hrsg.) (1991): Annotation and Its Texts. New York: Oxford University Press; Gervais, André (Hrsg.) (1991): Poétique de la note. Rimouski: Université du Québec; Marotin, François (Hrsg.) (1988): La marge. Actes du colloque de Clermont-Fer-rand (janvier 1986). Clermont-Ferrand: Association des Publications de la Faculté des Lettres et Sciences Humaines. Weitere Sekundärliteratur siehe die Bibliographie unter http://www.amrandebemerkt.de/bibliographie.htm.

25 Zur Begriffsbestimmung des Ankers siehe Bunia, Remigius (2008): „Fußnoten zitieren“, in: Metz, B./Zubarik, S.  (Hrsg.): Am Rande bemerkt. Anmerkungs-praktiken in literarischen Texten. Berlin: Kadmos. S. 13-32.

26 Deshalb nennt Genette Anmerkungen eine „Gattung“, die „zwangsläufig ent-täuschend“ sei, da ihre „Auftritte definitionsgemäß punktuell sind, aufgesplit-tert, gleichsam verrieselnd, um nicht zu sagen staubig.“ (Genette [1989] S. 304).

27 Genette (1987, S. 301) spricht im franz. von „hernie“ (= Wulst oder Beule).28 Sie dient der Präzision (durch genauere Erklärungen, Definitionen, ergänzende

Dokumente, längere Zitate), der Abschweifung (Übergang zu benachbarten

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machen. Insofern können sie „echte“ oder fiktive Fußnoten sein, d.h. der Autor oder der Herausgeber kann tatsächlich historische, technische, geo-graphische oder philologische Erklärungen abgeben – Beispiele hierfür wären die polyhistorisch-enzyklopädischen Barockromane oder die histori-schen Romane des 19. Jahrhunderts; sie können aber auch in (mitunter par-odistischer) Nachahmung ihr Spiel damit betreiben. Teils geht beides eng ineinander über: die angegebenen Informationen sind nachweislich richtig, dienen aber der satirischen Gestaltung des Textes.29

Besonders die Funktion der Selbst- und Fremdkritik tritt bei der literari-schen Fußnote maßgeblich in den Vordergrund. Durch Herausgeber- und Übersetzerfiktionen wird nicht nur Wissenschaftlichkeit nachgeahmt, son-dern der Haupttext oft ironisch gebrochen und dadurch in seiner Inten-tion subvertiert. Subversion geschieht aber auch durch die Möglichkeit des

Themen, Kommentare, Erörterungen), der Beglaubigung (Anführung von Gewährsleuten, Quellen, Ausführung von Beweisen), der Spekulation (Darstel-lung von Ungewissheiten, Vagheiten und vernachlässigten Komplexitäten), der Einordnung in den wissenschaftlichen Kontext (Darstellung des Forschungs-stands, eigene Abgrenzung, Auswahl der zur Kenntnis genommenen Vorgänger, eigenes Wissenschaftsverständnis, Genese des Reflexionsprozesses und der For-schungsarbeit), der Selbst- und Fremdkritik (Vorwegnahme von eventuellen Einwänden, Korrektur, Antwort auf Kritik, Bemerkungen von wirklichen oder fiktiven Lesern) und der Lesehilfe (Erklärung von Fachbegriffen, Etymologien, Übersetzung von fremdsprachigen Zitaten bzw. Lieferung des fremdsprachigen Originals). Durch die abgekürzte Ausdrucksweise (Z.B.: a.a.O., vgl., cf.; ein-zelne Adjektive vor Autoren als Lesehinweis: grundlegend, im Ansatz interes-sant, ausführlich etc.) bietet die Fußnote ein dem wissenschaftlichen Diskurs nützliches Maß an Ökonomie. Vgl. auch die detaillierte Auflistung Harnacks von 1906 (vgl. Harnack [1911] S. 152).

Cahn (1997) bezeichnet wissenschaftliche Fußnoten als „Fingerabdrücke“, an denen die Genealogie eines Textes, also seine akademischen Ursprünge abgele-sen werden können, aber auch als eine Art Buchführung des Wissens“ des Ver-fassers (S. 97), ein „in Abbreviatur vorgetragener Bildungsroman des Wissens“ (S.  102); ebenso lassen sie Aspekte der wissenschaftlichen Schulenbildung, Anerkennungen und Allianzen erkennen (vgl. S. 98).

29 Auch Mainberger betont die Schwierigkeit der Unterscheidung: „Moderne Werke machen die Unterscheidung zwischen Anmerkungen mit seriösem wissenschaftlichen Anspruch und fiktionalisierter Wissenschaft allerdings oft schwer; Beispiele sind Eliots Anmerkungen zu The Waste Land oder diejeni-gen Nabokovs zu seiner Übersetzung von Puškins Evgenij Onegin“ (Mainberger [2002] S. 337).

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Registerwechsels30: die ausgelagerte Note weist manchmal einen völlig ande-ren Sprachstil oder einen veränderten Ton auf.31

Die Anmerkung ist ein bevorzugtes Mittel, um Erzählinstanzen aufzu-spalten und Polyphonie32 zu erzeugen; hier kann der Autor seine Meinung zu den Figuren abgeben,33 aber umgekehrt auch die Figuren ihre Meinung zum Autor, oder zu anderen Figuren. In manchen Genres – wie z.B. dem

30 Dass diese Funktion auch von nicht fiktionalen Texten genutzt wird, hier aber problematisch sein kann, beweist Bowersocks Untersuchung der Anmerkungen von Edward Gibbons 1776 veröffentlichtem Werk The History of the Decline and Fall of the Roman Empire. Die darin enthaltenen Fußnoten treten auf als „counterpoint“ (Bowersock [1983] S.  56) zum Text; vom christlichen Kle-rus wurden sie zu Endnoten verbannt, wo eine impertinente Bemerkung wie „probably stolen from some better writer“ (siehe ebda.) – Hunderte Seiten von der eigentlichen Textstelle getrennt – den frühchristlichen Autoren weniger anhaben konnte. Erst 1781 durften die Anmerkungen ihren eigentlichen Platz am Fuß der Seite einnehmen. Gibbons Buch wurde auf den Index des Vati-kans gesetzt, nicht so sehr wegen seines Textes, sondern vielmehr wegen seiner Anmerkungen: „Gibbon’s text may have seemed offensive, but the notes were more dangerous because they gave authority to the text“ (ebda.). So dient die Fußnote auch als Fluchtpunkt: „Over the years the footnote has regularly pro-vided a safe refuge for untenable hypotheses. Writers are inclined to behave as if they will be held less accountable for indiscretions committed below the text than in it“ (Ebd. S. 61).

31 Vgl. Benstock (1983) S. 204: „They allow the writer to step outside the critical discourse and comment on it from a perspective that may be different from (and in a voice that may be separate from) that established in the text.“ und Hilbert (1989) S. 400: „a message slipped under the door, a whispered aside in counter-point to the formal discourse of the text.“

32 Vgl. Cahn (1997) S. 96: „Die typographisch realisierte Struktur von Trennung und Zusammenhang überführt die linear-unterbrochene Sequenz der gedruck-ten Schrift in die komplexere Struktur einer virtuellen Gleichzeitigkeit. Wer in Text und Fußnoten schreibt, ‚spricht‘ mit mehr als einer ‚Zunge‘. Und diese Mehrspurigkeit ist nicht eine Verstärkung der Stimme, sondern situiert den Dis-kurs in komplexen, intratextuellen Selbstbeziehungen […].“

33 In Fieldings Tom Jones z.B. stehen die Fußnoten, in denen der Autor seine Mei-nung über das Verhalten der Figuren und Spekulationen über ihre ungewissen Beweggründe abgibt, im Widerspruch mit der in der Erzählung zur Schau gestellten Allwissenheit des Erzählers. Der Autor in den Fußnoten, der weniger weiß als der Erzähler im oberen Text, liefert eine zusätzlich eingeführte Reflek-tionsebene, die zwischen Erzähler und Leser steht (vgl. Genette [1987] S. 319).

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Briefroman – ist die Fußnote der einzige Ort für einen reflektierenden Ein-griff der Autorinstanz und eine Kontaktaufnahme zur Leseinstanz.34

Ebenso kann die örtliche Distanz der Note auch eine zeitliche zum Aus-druck bringen und in Retrospektion das Erzählte relativieren, ergänzen oder negieren. Die Chronologie sowohl des Erzählten als auch des Erzählens kann so erhalten oder aber grundlegend zerstört werden.35

Des Weiteren nimmt die Fußnote intratextuelle Bezüge durch vor- und rückverweisende Anmerkungen innerhalb eines Werkes auf und stellt so den Text als ein selbstreferentielles Gefüge aus, das die Schwierigkeit des linearen, unverzweigten Erzählens abbildet.36

Auch die Funktion der Intertextualität ist nicht allein der wissenschaftli-chen Fußnote vorbehalten; gerade der moderne Fußnotenroman nutzt die Ebene der Anmerkung als Anschluss nicht nur zu einzelnen Werken, son-dern zum potentiellen Gesamtkorpus der Literatur an sich. Die Technik der

34 Vgl. Genette (1987) S. 324-325, der als Beispiele Rousseau (Nouvelle Héloïse) und Stendhal anführt.

35 Bei Paul Austers Oracle Night dienen die Fußnoten einer klaren Trennung der zeitlichen Ebenen, bei Robbe-Grillets La Reprise hingegen wird durch die Anmerkungsebene jegliche zeitliche Einordnung vereitelt.

36 John Barth in Sabbatical nutzt intratextuell verweisende Fußnoten, um z.B. Hauptcharaktere, die im ersten Abschnitt, in dem sie erwähnt werden, nur eine periphere Rolle spielen, durch den Hinweis auf die spätere Beschreibung, die bei Bedarf vorgeholt werden kann, einzuführen. Das Vor- und Nach-blättern vollzieht die Art und Weise des Erzählens der beiden Hauptfiguren nach. Das Versprechen der späteren Klärung durch kommende Ausführungen erweist sich dabei oft als illusionär: „The reader quickly learns that the pro-mise of clarity is illusory, for one set of facts leads on to a further complexity.“ (Hilbert [1989] S. 404) Das Referenzsystem, das die Noten innerhalb ihrer selbst bilden, stellt dabei die Autorität jeglicher Information, die immer nur aus sich selbst generiert wird, infrage. Ausführlicher zu den Fußnoten in Sab-batical siehe Hilbert (1989).

Allgemein zum Verweis der Fußnote auf die Referentialität der Sprache siehe Benstock (1983) S. 215: „The notes appear to support the traditional notion that all types of documentation, even footnotes in literary texts, force the reader to recognize the inherent repeatability and referentiality of writing, of language in any context, its insistence on dragging with it into the present moment all the accretions of its historical development. Especially notes that blatantly add new interpretations to the inscribed meaning of the narrative suggest that such new possibilities – references – can be infinitely extended back through time, always drawing on their multilingual involutions, transferences, and cross-references.“

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Montage von Zitaten produziert ein Textverständnis, das mit Kristevas texte géneral beschrieben werden könnte.37

Nicht zuletzt fungiert die Ebene der Fußnoten als Referenz auf die Gemachtheit des Textes, sowohl in seiner Materialität als Schriftstück, als auch in seiner Eigenschaft als fiktives Erzählwerk.38 Sie lässt den Arbeits-prozess des Erfindens, Schreibens und Editierens durchscheinen und ist in ihrer Position am Rand des Textes oftmals der Ort, an dem der Autor den Leser in den kreativen Akt, samt seinen Schwierigkeiten, miteinbezieht.39

37 Ein Beispiel hierfür ist Albert Goldbarths Roman Pieces of Payne, der neben einem schmalen Handlungsgerüst hauptsächlich aus einer Collage von inter-textuellen Bezügen und Zitaten besteht. Mit Goldbarths Werk wäre auch Ben-stocks Aussage eindeutig zu widerlegen, fiktionale Fußnoten würden sich darin von wissenschaftlichen Fußnoten unterscheiden, dass sie nur immer zurück auf den Bezugstext verweisen und nicht auf ein Außerhalb des Textes: „Most significant, they belong to a fictional universe, stem from a creative act rather than a critical one, and direct themselves toward the fiction and never toward an external construct, even when they cite ‚real‘ works in the world outside the particular fiction. The referential and marginal features of these notes serve a specifically hermeneutic function; to the extent that notations in fictional texts negotiate the distance between writer and reader, they do so in terms that dif-fer radically from those of schollarly discourse“ (Benstock [1983] S. 205). Zu Goldbarth ausführlich: Kap. C.I. dieser Arbeit.

Den der Anmerkung inhärenten intertextuellen Charakter betont Derrida (1991) S. 197: „Annotation in the strict sense in no way differs from intertex-tuality. It is intertextual through and through, from the moment we understand ‚text‘ in the classical sense as a notation representing one discourse propped on another. It consists, in effect, of a text related to another text that has meaning only within the relationship.“

38 Vgl. Benstock (1983) S. 208: Fußnoten sind „one of dozens of ways in which the text calls attention to itself as text, to its existence as printed matter, to its writerly quality, and to its scripted authority“.

39 In The French Lieutenant’s Woman von John Fowles „betritt“ der Autor den Text kontinuierlich über die Fußnoten: Er stellt Kommentare, Erläuterungen und Informationen zur Verfügung, die Zeit und Ort der Handlung als historische Ver-gangenheit verdeutlichen und den Leser nicht vergessen lassen, dass die Charak-tere fingiert sind. Im Stile Hitchcocks schreibt er sich sogar selbst in die Handlung ein als Passagier desselben Zuges, den der Protagonist nach London nimmt. Über den Rand des Textes – „a voice that speaks not from inside the text, but at its edge“ (Hilbert [1989] S. 403) – erfolgt „[the] consciousness of the text as artifice“ (ebda.). Die Verfilmung des Romans allerdings verdeutlicht die Schwierigkeit, Fußnoten adäquat in ein anderes, nichtschriftliches Medium umzusetzen.

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Dementsprechend zeigt der Anmerkungsapparat auch auf die grundsätzli-che Unabschließbarkeit von Texten, zu denen immer weitere Anmerkungen gemacht werden können.40

In Bezug auf den Leseprozess hat die Fußnote noch eine weitere Funk-tion, die sich eng an Victor Šklovskijs Verfahren der Verfremdung41 knüpft, nach dem poetische Texte z.B. durch Verlangsamung die Lektüre entauto-matisieren. Wie Cahn darlegt, affirmierte schon Edmund Spenser im She-pheards Calender von 1586 die Unterbrechungskraft der Anmerkungen, weil sie zu einer sorgfältigeren Lektüre führen: „Many excellent and proper devises both in wordes and in matter would passe in the speedie course of reading, either as unknowen, or as not marked.“42 Die Kritik an der Fußnote, sie würde die kontinuierliche, flüssige Lektüre behindern und verhindern,43 verkehrt sich hier also in der gewollten Störung des Lesers zu ihrer Stärke. Digressionen und Abweichungen geben dem Leser zudem Entscheidungs-macht, allein deshalb, weil dieser sich im konkreten Akt des Lesens für einen Leseweg entscheiden muss.

Ob wissenschaftlich oder literarisch, faktual oder fiktional, auto- oder allograph, immer ist die Fußnote Mittel zur Textorganisation.44 Durch sie ist es möglich, Digressionen und Umwege einzugehen sowie parallele Ver-sionen45 darzustellen.

40 Vgl. Lipking, Lawrence (1977): „The Marginal Gloss“, in: Critical Inquiry. 3. S. 611: „Thus the apparatus of the margin, with its constant suggestion that revi-sions are possible, explanations are needed, delivers a vivifying thruth: however much the text pretends to finality, it is always open to change. And even the gloss requires in turn a gloss.“

41 Sklovskij, Viktor (51994): „Die Kunst als Verfahren“, in: Striedter, J. (Hrsg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München: UTB. S. 3-35.

42 Spenser in Cahn (1997) S. 107.43 Beispielsweise findet Bowersock (1983) S. 54, Fußnoten „absorbing“, lästig und

unwillkommen: „the principal pleasure they give is to distract the reader from the text he is reading.“ Ihm ist der inzwischen viel zitierte Vergleich der Fußnote mit einer im falschen Moment ertönenden Türglocke zu verdanken: „Encoun-tering one […] is like going downstairs to answer the doorbell while making love“ (ebd.).

44 „A border means order.“ so Kiilerich, Bente (2001): „Savedoff, Frames, and Par-ergonality“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism. 59. S. 321.

45 Vgl. Bowersock (1983) S. 55: „It [the footnote] is like a variation on a theme. The composer offers a new perspective on what he or someone else has already

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Die eingangs für Paratexte im Allgemeinen diskutierten Fragen zur Autorität des Bezugstextes lassen sich für die Fußnoten in besonderem Maß aufgreifen: Durch die Aufteilung des Ortes46 in ein erstes und zweites „Stratum“47 bringen sie zunächst die Etablierung und Wahrung einer Hierar-chie mit sich; doch können durch die unterschiedliche Anwendung der Fuß-note die für das Primäre und das Sekundäre zugewiesenen Orte vertauscht oder jegliche kohärente Einteilung ganz aufgegeben werden – wie dies häufig in literarischen Werken geschieht.48

expressed.“ Die Fußnote als Möglichkeit der Variation wird besonders deut-lich in Robbe-Grillets La Reprise genutzt, in dem die Version des Erzählers im Haupttext einer anderen Version des Doppelgänger-Erzählers in den Anmer-kungen gegenübergestellt wird. (Vgl. Kap. B.II. dieser Arbeit).

46 Vgl. Derrida (1991) S. 193: „In the strict sense, the status of a footnote implies a normalized, legalized, legitimized distribution of the space, a spacing that assigns hierarchical relationships: relationships of authority between the so-called principal text, the footnoted text, which happens to be higher (spatially and symbolically), and the footnoting text, which happens to be lower, situated in what could be called an inferior margin.“

47 Vgl. Cahn (1997) S. 105: „Die wichtigste Leistung der typographischen Tech-niken der Zweistimmigkeit ist nämlich nicht die Schaffung eines zusätzlichen Raumes, um etwas zu sagen, was sonst keinen Platz hätte, sondern umgekehrt die Abschließung und Isolierung des ersten Stratums des Textes von dem zwei-ten. […] Die graphische Separierung der zweiten Stimme affirmiert den Status und die „Heiligkeit“ des ersten Textes, den Kommentar und Anmerkung nicht unterbrechen dürfen und dem sie sich nur von Ferne nähern. Die typographi-sche Spaltung in Text und Nebentext ist mehr als eine Division, weil sie eine diskursive Hierarchie impliziert: Genau diese semantische Aufladung der gra-phischen Differenz zur Darstellung eines hierarchischen Verhältnisses verselb-ständigt sich und wird zum dauerhaften Zug des doppelten Schreibens. Sie stellt die typographisch-rhetorische Figur der Selbstermächtigung durch Annotation zur Verfügung: Selbstermächtigung durch Annotation, durch Äußerung in einem separaten Register.“

48 Bei Nabokovs Pale Fire beispielsweise haben sich die Texterläuterungen „zum Roman ausgewachsen und machen den zu kommentierenden Text zur Margi-nalie“ (Mainberger [2002] S.  343). Auch Tristram Shandy von Sterne ist ein Beispiel dafür, wie der „Haupttext“ zum Untertext der Fußnote wird: Der Text ist von seinem Thema, das die Fußnote erläuterte, abgewichen und kommen-tiert seinerseits nun die Fußnote (dazu näher Benstock [1983] S. 210).

II. Fußnoten: Eigenschaften und Funktionen in literarischen Texten

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III. Fußnotenromane

Dass Fußnoten in narrativen Texten verwendet werden, ist keine neue Erscheinung.49 Sie finden sich bei prominenten Autoren wie Rousseau, Wie-land, Fielding und Joyce, die Anmerkungen nicht mehr nur als typographi-sche Möglichkeit der zusätzlichen, nicht fiktiven Erläuterung oder der text-peripheren Hinweise nutzen, sondern als strukturale Mitkonstituenten der Fiktion Text betrachten. Sterne und Jean Paul sind als Liebhaber der Digres-sion bekannt, nicht zuletzt in und mithilfe der Fußnote. Jean Paul sieht in ihr bereits die Möglichkeit der Vervielfachung der Ebenen:

[D]enn nun ist dem Schriftsteller ein Weg gezeigt, […] auf Einem Blatte zugleich für zwei Geschlechter, ohne deren Vermischung, ja für fünf Fakul-täten zugleich, ohne deren Grenzverrückung, zu schreiben, indem er, statt ein ekles gärendes Allerlei für niemand zu brauen, bloß dahin arbeitet, dass er Notenlinien oder Demarkationslinien zieht und so auf dem nämlichen fünf-stöckigen Blatte die unähnlichsten Köpfe behauset und bewirtet.50

Genette deutet in Seuils schon eine Form der literarischen Anmerkung an, die weniger unter die Bezeichnung des Paratextuellen zu rechnen wäre als unter die Mittel der Textorganisation:

Es ließe sich eine emanzipierte Funktionsweise vorstellen, bei der die Anmer-kung nicht mehr unter den Diskurstyp fiele, sondern, selbständig und in eige-nem Interesse, narrativen Typs wäre und eine momentane Verzweigung der Erzählung übernähme. Die mögliche Formel dafür würde uns Valéry unbeab-sichtigt liefern, wenn er sich über die allzu sklavische Linearität der Erzählfik-tionen beklagt: „Vielleicht wäre es interessant, einmal ein Werk zu schreiben, das bei jedem seiner Knoten die vielfältigen Möglichkeiten aufzeigen würde, mit denen der Geist konfrontiert ist und unter denen er die einmalige Fort-setzung wählt, die dann im Text erfolgt. Damit würde man die Illusion einer eindeutigen, die Wirklichkeit nachahmenden Determination durch die Vor-stellung einer In-jedem-Augenblick-Möglichen ersetzen, die mir der Wahrheit

49 Aufgrund der Fülle der Beispiele ist es an dieser Stelle unmöglich, auch nur eine Auswahl an Texten aufzuführen. Eine ausführliche alphabetische Übersicht von literarischen Werken, die Anmerkungen enthalten, findet sich unter www.amrandebemerkt.de.

50 Jean Paul (1889): Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz. Leipzig: Biblio-graphisches Institut. S. 5.

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näher zu kommen scheint.“ Mir ist allerdings kein Beispiel dieses möglichen Gebrauchs bekannt.51

Inzwischen hat ein solcher Gebrauch der Anmerkungen seine tatsächliche literarische Umsetzung gefunden. In den 1980ern noch eher als Seltenheit betrachtet,52 herrscht seit den 1990ern ein regelrechter Boom53 von Romanen, die Fußnoten und andere Formen der Anmerkung als konstitutive Elemente verwenden.54 Es lässt sich bei einer Vielzahl von Romanen eine Verselbstän-

51 Genette (1989) S. 320.52 Vgl. Benstocks Aussage von 1983: „A far less customary practice among writers,

one that may occur in fewer texts than can be counted on one hand: the use of footnotes in literary texts to extend, explain, or define the fictional premises of the work“ (Benstock [1983] S. 204). Auch Kaestner bemerkt 1984: „[…] sind Anmerkungen in der Schönen Literatur des 20. Jahrhunderts eine äußerst sel-tene Erscheinung. […] Als zeitgenössische literarische Tendenz jedoch ist die Anmerkung tot“ (Kaestner [1984] S. 223). Dass diese Einschätzung zwar dem Beachtungsgrad solcher Werke entspricht, aber nicht der Realität ihrer Existenz, zeigt sich in der Anzahl der bereits in den 1950ern und 1960ern erschienenen Titel (siehe Bibliographie unter http://www.amrandebemerkt.de).

53 Mainberger spricht von der „zweiten Blüte“ der literarischen Fußnote im 20. Jhd. – die erste fand im 18. Jhd. statt (vgl. Mainberger [2002] S. 340).

54 Neben den in dieser Arbeit näher behandelten Romanen seien (stellvertretend für eine Vielzahl) folgende Texte genannt, die eine besonders interessante Ver-wendung von Fußnoten aufweisen: Auster, Paul (2004): Oracle Night. London: Faber & Faber; Baker, Nicholson (1989): The Mezzanine. Cambridge: Granta; Barth, John (1982): Sabbatical. New York: G. P. Putnam’s Sons; Bergen, David (2002):  The Case of Lena S. Toronto: McClelland & Stewart; Boully, Jenny (2002): The Body. Londonderry, N.H: Slope Editions; Camus, Renaud & Tony Duparc (1978): Travers. Paris: Hachette; Camus, Renaud (2000): Ne lisez pas ce livre. Paris: P.O.L.; Clarke, Susanna (2004):  Jonathan Strange & Mr. Nor-rell. New York: Bloomsbury; Coe, Jonathan (1997): The House of Sleep. Lon-don: Viking; Fowles, John (1969):  The French Lieutenant’s Woman, Boston: Little, Brown & Co; Grimsen, Germar (2007):  Hinter Büchern. Der Reigen. Berlin: Eichborn; Haddon, Mark (2003):  The Curious Incident of the Dog in the Night-Time. Oxford: Fickling; Lewitscharoff, Sibylle (2006):  Consumma-tus. München: Deutsche Verlags-Anstalt; Popov, Jewgeni (1999):  Die wahre Geschichte der Grünen Musikanten, Berlin: Berlin-Verlag; Shimoda, Todd A. & L. J. C. Shimoda (2002): The Fourth Treasure. New York: Doubleday; Stauffer, Michael (2001): I promise when the sun comes up, I promise I’ll be true. Basel: Engler; Wagner, David (2011): Vier Äpfel. Reinbek: Rohwolt; Wallace, David Foster (1996): Infinite Jest. Boston: Little, Brown & Company; Walsh, Rodolfo

III. Fußnotenromane

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digung und Emanzipation der Fußnote beobachten. Sie scheint sich aus dem Rahmen des Paratextuellen herauszulösen und auf den Text zuzubewegen, sich quasi in ihn hineinzuschieben, ihn zu bestimmen oder ihn sogar zu verdrängen.

Der Begriff Fußnotenroman ist nur wenige Jahre alt (seit 2005 findet man ihn im Netz, im Jahr 2013 schon mit 162 Einträgen, in Rezensionen und bei den Autoren selbst), und er zeugt davon, dass die Benennung einer Untergat-tung, deren gehäuftes Erscheinen in den letzten Jahrzehnten zu verzeichnen ist, nötig wurde. Wie definiert sich ein Fußnotenroman? Es ist keineswegs so, dass darunter all jene Romane fallen, die Fußnoten oder anderweitige Arten von typographisch ausgelagerten Anmerkungen (wie End-, Abschnitts- oder Kapitelnoten) verwenden. Dazu gehören also auch nicht solche Romane, zu denen nachträglich ein (nichtfiktionaler) allographer Autor, Herausgeber oder Übersetzer Anmerkungen (z.B. editorischer oder philologischer Natur) zum Werk hinzugefügt hat. Z.B. ist ein historischer Roman des 19. Jahrhun-derts mit zahlreichen Anmerkungen nicht per se ein Fußnotenroman.55

In einer engeren Definition lässt sich dieser nämlich als Gattungsbegriff beschreiben: Hierbei handelt es sich um Romane, die die Anmerkungs-ebene(n) in einer Art und Weise benutzen, die textkonstituierend in dem Sinne sind, dass das Funktionieren ihrer Fiktion hochgradig auf der Auf-teilung der verschiedenen Textebenen beruht. Die Fußnote wird zum Schreibverfahren, zur textarchitektonischen Strategie. Es ist nicht nur die Anmerkung nicht wegzudenken vom Text, vielmehr ist v.a. die Form der Anmerkung, also die Tatsache, dass sich ihrer bedient wird, unverzichtbar.

Der angedeutete Plural – Strategie(n) – im Titel der Arbeit zeigt, dass sich ebendiese Strategie in den einzelnen Romanen unterschiedlich ausprägt und zu einem jeweils andersartigen spezifischen Verfahren wird. Eine Typo-logie der Fußnote im Roman ließe sich nach unterschiedlichen Funktions-typen vorstellen (z.B. Herausgeberfiktion, multiple Erzähler, thematische Digressionen).56 Genette unternimmt eine Aufteilung innerhalb seiner

J. (1981): „Nota al pie“, in: Rodolfo J. Walsh (Hrsg.) (1981):  Obra literaria completa. Mexico: Siglo XXI; Widmer, Urs (1974): Die Forschungsreise. Zürich: Diogenes; Závada, Pál (2006): Das Kissen der Jadwiga. München: Luchterhand.

55 Die Bibliographie unter www.amrandebemerkt.de enthält eine lange Liste an Primärliteratur, in denen Anmerkungen verwendet werden. Allerdings sind nur einige davon Fußnotenromane im eigentlichen Sinn.

56 Pfersmann (2011) prägt z.B. die Kategorien des philologischen Romans (vgl. S. 351-382) und des Romans der „contre-histoire“ (vgl. S. 429-468). Harald Stang (1992) untersucht fingierte Formen wissenschaftlicher Darstellung im 20. Jhd.

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Kategorien der Narratologie – autographe versus allographe, auktoriale versus aktoriale, fiktionale versus faktuale Anmerkungen – und fragt nach den räumlichen, zeitlichen, stofflichen und pragmatischen Situationen eines Paratexts. In dieser Arbeit steht jedoch nicht im Vordergrund, ein Ordnungs-schema und eine damit verbundene Kategorisierung der Beispielromane zu liefern, sondern die unterschiedlichen Ausprägungen der literarischen Fuß-note im Verhältnis zu ihrem Bezugstext zu verhandeln, und so ist die Auftei-lung in drei große Kapitel der graduellen Emanzipation des Paratextes und seiner narrativen Autonomie geschuldet.

Im ersten Teil der Arbeit geht es um Fußnoten, die die Funktionen der nicht-fiktionalen Anmerkung in ihrer Anwendung auf den Roman übernehmen und literarisch fruchtbar machen. Konkret findet sich dies in Herausgeber- oder Übersetzerfiktionen, ist doch die Anmerkungsebene just der Ort, an dem die Instanzen der Text-Bearbeitung und -Vermarktung, ob real oder fiktiv, wirkmächtig werden (als Beispiel dient Urs Widmer, Liebesbrief für Mary). Weiterhin werden Fußnoten im Roman gleich ihrem wissenschaft-lichen Pendant zum jeweils spezifischen Umgang mit Wissen und Wis-senschaft benutzt bzw. zur Erzeugung einer solchen. Untersucht wird dies paradigmatisch an Texten aus den Genres Fantasy und Science-Fiction unter-schiedlicher Autoren (Walter Moers, Flann O’Brien, Jasper Fforde und Terry Pratchett). Dieser Teil behandelt solche Texte, die den Auslagerungsstatus der Fußnoten für ihre Narration benötigen und ihn nicht angreifen oder gar aufheben, sondern ganz im Gegenteil ihre kreative und mitunter subversive Wirkung gerade durch die beibehaltene Ortstrennung entfalten können.

Der zweite Teil der Textanalysen verhandelt dagegen Romane, in denen die hierarchische Ordnung von Haupt- und Nebentext durch die Art der Nutzung verdreht und infrage gestellt wird. Die Anmerkungsebene eman-zipiert sich, wächst sowohl quantitativ als auch qualitativ über den ihr zugewiesenen Ort hinaus, überbordet den Haupttext und ordnet ihn sich teilweise unter. Mit Derrida lässt sich an diesen Beispielen die Zusammen-arbeit von Rahmen und Zentrum, Werk und Beiwerk, und die Vereitelung der Setzung dieser Oppositionen beobachten. In den Romanen geht es um kritisierende Nebenfiguren, die sich zwillingshaft mit der Hauptfigur die Erzählgewalt streitig machen (wie bei La Reprise von Alain Robbe-Grillet), um einen Übersetzer, dessen Kommentarebene zunehmend den Haupt-strang der Geschichte darstellt (wie bei José Carlos Somozas Kriminalro-man La caverna de las ideas), und (am Beispiel von Zsuzsanna Gahses Kell-nerroman) um peripatetische Kellner, die übergangslos durch Haupt- und

III. Fußnotenromane

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Anmerkungstexte wandern und so die von Genette konstatierte und von Miller bereits ins Wanken gebrachte Schwelle zwischen dem einen und dem anderen Raum obsolet machen.

Im dritten Teil schließlich treten solche Texte auf den Plan, die Unmög-lichkeiten propagieren und den Roman als Experiment an Grenzen und dar-über hinausführen. In ihnen finden die Fußnoten ihre radikalste Nutzung. Was in Teil eins und zwei als konsequente logische Entwicklung erschien – die es de facto diachronisch nicht gibt – wird hier zusammengeführt, denn einerseits benötigen die Texte ganz maßgeblich die Aufteilungs- und Aus-lagerungsstrategie, sie führen diese aber gleichzeitig über das Maß hinaus an den Exzess und ins Extrem, ohne jedoch – wie in Teil zwei – die text-geographischen wie auch narrativen Hierarchien zu subvertieren. Vielmehr zeigen sie die Grenzen und Grenzenlosigkeit des schriftlichen Mediums und das Potential des gegenwärtigen Romans auf, der sich von den neuen Medien eher inspirieren als für medial beschränkt erklären lässt. Es geht hier z.B. um den unendlichen Text, der in seinen Verweisen offen über die Buch deckel in das Netz von Informationen hinausweist und sich in seiner Struktur – um mit Deleuze und Guattari zu sprechen – rhizomatisch verhält (wie bei Albert Goldbarths Roman Pieces of Payne), es geht um die Extrem-form Noten ohne Text (am Beispiel von Dag Solstad, Armand V. Fußnoten zu einem unausgegrabenen Roman und von Gérard Wajcman, L’Interdit) und um einen Roman, der dank seiner Anmerkungsebenen ein Vielfaches seines Umfangs an Inhalt in sich trägt und kalligrammatisch abbildet, was er beschreibt (Mark Z. Danielewski, House of Leaves).57

57 Folgende Teile dieser Arbeit sind in Auszügen oder früheren Textversionen bereits publiziert worden: Kapitel A.II. verkürzt als Aufsatz, (2012) „Funny Footnotes: Beredter Literaturbetrieb in Science Fiction und Fantasy“, in: Metz, B./Zubarik, S. (Hrsg): Den Rahmen sprengen. Anmerkungspraktiken in Literatur, Kunst und Film. Berlin: Kadmos. S. 282-315. Geringfügige Auszüge aus B.II. im Aufsatz, (2008b) „Zum Zuviel zu viel: Fußnoten und Klammern: Die Wiederaufnahme: Angelus Silesius’ Cherubinischer Wandersmann und Robbe-Grillets La Reprise“, (zusammen mit Holt Meyer) in: Metz, B./Zuba-rik, S. (Hrsg): Am Rande bemerkt. Anmerkungspraktiken in literarischen Texten. Berlin: Kadmos. S.  77-100. C.I. in Auszügen im Aufsatz (2008a) „Rhizoma-tisches Schreiben (und Lesen): Albert Goldbarths Pieces of Payne“, in: Zema-nek, E./Krones, S.  (Hrsg.): Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreib-verfahren und Buchmarkt um 2000. Bielefeld, Transcript. S. 317-330. Auszüge aus C.II. im Aufsatz (2010) „Präsenter Mangel – abwesendes Material: Fußno-ten in literarischen Texten“, in: Grutschus, A./Krilles, P. (Hrsg): Figuren der

Einleitung

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Absenz – Figures de l’absence. Berlin: Frank & Timme. S. 33-46. Auszüge aus C.II. und B.I. im Aufsatz (im Druck) „Die Fußnote als Spur in literarischen Texten: Gérard Wajcman, L’Interdit und José Carlos Somoza, La caverna de las ideas“, in: Malchior, L. et al. (Hrsg.): Spuren. Suche (in) der Romania. Frankfurt am Main: Peter Lang. C.III. in Teilen im Aufsatz (2014) „Figurale (Un)Mög-lichkeiten im Roman: Mark Z. Danielewskis House of Leaves“, in: Polzer, M./Vanscheidt, Ph. (Hrsg.): Fontes Litterarum. Hildesheim: Georg Olms. S. 313-335. In B.I., B.II. und C.I. befinden sich überarbeitete Textteile aus der Magi-sterarbeit (2005).

III. Fußnotenromane