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8 Sag Schibbolet | Einführung „Gilead besetzte die nach Efraim führenden Übergänge des Jordan. Und wenn efraimitische Flüchtlinge (kamen und) sagten: Ich möchte hinüber!, fragten ihn die Männer aus Gilead: Bist du ein Efraimiter? Wenn er Nein sagte, forderten sie ihn auf: Sag doch einmal «Schibbo- let». Sagte er dann «Sibbolet», weil er es nicht richtig aussprechen konnte, ergriffen sie ihn und machten ihn dort an den Furten des Jordan nieder. So fielen damals zweiundvierzigtausend Mann aus Efraim.“ Buch der Richter 12,5–6 Und ebenso ist der Mensch das Grenzwesen, das keine Grenze hat Georg Simmel, Brücke und Tür Die Einladung, eine Ausstellung für die Jüdischen Museen in Hohenems und München zum Thema Grenzen zu kuratieren, fiel in eine Zeit, in der Grenzen im öffentlichen Diskurs eine immer größere Rolle zu spielen schienen. Zum ersten Mal seit Unterzeichnung des Schengen-Abkom- mens hatten EU-Mitgliedsstaaten in den letzten Jahren Grenzkontrollen wiedereingeführt. Großbritanniens Entscheidung für den Brexit war mehrere Monate vorher gefallen und in den Vereinigten Staaten war Donald Trump zum Präsidenten gewählt worden, nachdem er die exor- bitanten Versprechungen in die Welt gesetzt hatte, entlang der US-ameri- kanischen-mexikanischen Grenze eine „Mauer gewaltigen Ausmaßes“ zu errichten und die Immigration aus Ländern mit mehrheitlich moslemi- scher Bevölkerung zu stoppen. In größerer Nähe zur Heimat und während ich die Arbeit an der Ausstellung bereits begonnen hatte, wurde Öster- reichs rechtspopulistische Partei FPÖ Teil einer Koalitionsregierung, nachdem sie durch eine fremdenfeindliche Kampagne sondergleichen Auftrieb erhalten hatte, in der sie die Wiedereinführung der Grenzkontrol- len und eine radikale Begrenzung der Zuwanderung in Aussicht stellte. Sag Schibbolet! – eine Einführung Boaz Levin 9 Sag Schibbolet | Einführung Immer offensichtlicher zeigt sich in dem, was wir oft als ‚Globalisierung‘ bezeichnen, ein Spannungszustand, mit scheinbar liberalisierten Grenz- regimes auf der einen Seite und beispiellosen finanziellen Möglichkeiten und Technologien zur Sicherung und Befestigung von Grenzen auf der anderen. Zeitgleich mit einem exponentiellen Anstieg des Flugverkehrs und allgegenwärtiger instantaner Kommunikation ist zu beobachten, wie auf der ganzen Welt neue Mauern hochgezogen werden, und wir regist- rieren die Entwicklung neuartiger biometrischer Identifizierungstechno- logien, die immer häufiger zum Einsatz kommen. Trotz des Inkrafttretens des Schengen-Abkommens hat sich die Zahl der Länder, die ihre Außen- grenzen durch Mauern oder Zäune sichern, im Laufe der vergangenen fünfundzwanzig Jahre mehr als vervierfacht. Und diese Grenzen können tödlich sein: Über sechzigtausend Totesfälle wurden in den letzten zwanzig Jahren in Verbindung mit Versuchen registriert, eine Grenze zu überqueren. 1 Die Ausstellung Sag Schibbolet! Von sichtbaren und unsichtbaren Gren- zen im Jüdischen Museum Hohenems untersucht anhand der Werke internationaler Künstlerinnen und Künstler unterschiedliche historische und zeitgenössische Aspekte, die mit dem Begriff der Grenze verbunden sind: mit materiellen oder immateriellen Grenzen, territorialen oder gesellschaftlichen Grenzen und solchen, die mit politischen Mitteln oder wirtschaftlicher Macht gewaltsam durchgesetzt werden. Sag Schibbolet! nimmt seinen Ausgang in der biblischen Geschichte über den Krieg der Gileaditer gegen die Ephraimiten. In der Geschichte wollen sich die Ephraimiten nach einer Niederlage gegen das vom Richter Jiftach angeführte Heer der Gileaditer auf die andere Seite des Flusses Jordan retten. Die Gileaditer halten jedoch die Furten des Jordan besetzt, und da ihnen bekannt ist, dass das Volk der Ephraimiten das Phonem ‚sch‘ nicht auszusprechen vermag, fordern sie, wann immer ein Fremder um Erlaub- nis bittet zu passieren, er solle ‚Schibbolet‘ sagen. Wer dazu nicht in der Lage ist und ‚Sibbolet‘ statt ‚Schibbolet‘ sagt, hat sich als Ephraimiter verraten, und wird getötet. Der Begriff Schibbolet taucht im Englischen zuerst in Verbindung mit Frühformen des nationalen Separatismus auf; Sezessionsbestrebungen jener Zeit gingen von einer wesenhaften Verbindung zwischen Sprache, 1 Migration Data Portal, https://migrationdataportal.org/?i=stock_abs_&t=2017 (Zugang am 27. Januar 2018).

Sag Schibbolet! – eine Einführung Boaz Levin · 12 Sag Schibbolet | Einführung Celan, der den Holocaust überlebte und seine letzten Lebensjahre im französischen Exil verbrachte,

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Sag Schibbolet

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„Gilead besetzte die nach Efraim führenden Übergänge des Jordan. Und wenn efraimitische Flüchtlinge (kamen und) sagten: Ich möchte hinüber!, fragten ihn die Männer aus Gilead: Bist du ein Efraimiter? Wenn er Nein sagte, forderten sie ihn auf: Sag doch einmal «Schibbo-let». Sagte er dann «Sibbolet», weil er es nicht richtig aussprechen konnte, ergriffen sie ihn und machten ihn dort an den Furten des Jordan nieder. So fielen damals zweiundvierzigtausend Mann aus Efraim.“

Buch der Richter 12,5–6

Und ebenso ist der Mensch das Grenzwesen, das keine Grenze hat

Georg Simmel, Brücke und Tür

Die Einladung, eine Ausstellung für die Jüdischen Museen in Hohenems und München zum Thema Grenzen zu kuratieren, fiel in eine Zeit, in der Grenzen im öffentlichen Diskurs eine immer größere Rolle zu spielen schienen. Zum ersten Mal seit Unterzeichnung des Schengen-Abkom-mens hatten EU-Mitgliedsstaaten in den letzten Jahren Grenzkontrollen wiedereingeführt. Großbritanniens Entscheidung für den Brexit war mehrere Monate vorher gefallen und in den Vereinigten Staaten war Donald Trump zum Präsidenten gewählt worden, nachdem er die exor-bitanten Versprechungen in die Welt gesetzt hatte, entlang der US-ameri-kanischen-mexikanischen Grenze eine „Mauer gewaltigen Ausmaßes“ zu errichten und die Immigration aus Ländern mit mehrheitlich moslemi-scher Bevölkerung zu stoppen. In größerer Nähe zur Heimat und während ich die Arbeit an der Ausstellung bereits begonnen hatte, wurde Öster-reichs rechtspopulistische Partei FPÖ Teil einer Koalitionsregierung, nachdem sie durch eine fremdenfeindliche Kampagne sondergleichen Auftrieb erhalten hatte, in der sie die Wiedereinführung der Grenzkontrol-len und eine radikale Begrenzung der Zuwanderung in Aussicht stellte.

Sag Schibbolet! – eine EinführungBoaz Levin

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Immer offensichtlicher zeigt sich in dem, was wir oft als ‚Globalisierung‘ bezeichnen, ein Spannungszustand, mit scheinbar liberalisierten Grenz-regimes auf der einen Seite und beispiellosen finanziellen Möglichkeiten und Technologien zur Sicherung und Befestigung von Grenzen auf der anderen. Zeitgleich mit einem exponentiellen Anstieg des Flugverkehrs und allgegenwärtiger instantaner Kommunikation ist zu beobachten, wie auf der ganzen Welt neue Mauern hochgezogen werden, und wir regist-rieren die Entwicklung neuartiger biometrischer Identifizierungstechno-logien, die immer häufiger zum Einsatz kommen. Trotz des Inkrafttretens des Schengen-Abkommens hat sich die Zahl der Länder, die ihre Außen-grenzen durch Mauern oder Zäune sichern, im Laufe der vergangenen fünfundzwanzig Jahre mehr als vervierfacht. Und diese Grenzen können tödlich sein: Über sechzigtausend Totesfälle wurden in den letzten zwanzig Jahren in Verbindung mit Versuchen registriert, eine Grenze zu überqueren.1

Die Ausstellung Sag Schibbolet! Von sichtbaren und unsichtbaren Gren-zen im Jüdischen Museum Hohenems untersucht anhand der Werke internationaler Künstlerinnen und Künstler unterschiedliche historische und zeitgenössische Aspekte, die mit dem Begriff der Grenze verbunden sind: mit materiellen oder immateriellen Grenzen, territorialen oder gesellschaftlichen Grenzen und solchen, die mit politischen Mitteln oder wirtschaftlicher Macht gewaltsam durchgesetzt werden.

Sag Schibbolet! nimmt seinen Ausgang in der biblischen Geschichte über den Krieg der Gileaditer gegen die Ephraimiten. In der Geschichte wollen sich die Ephraimiten nach einer Niederlage gegen das vom Richter Jiftach angeführte Heer der Gileaditer auf die andere Seite des Flusses Jordan retten. Die Gileaditer halten jedoch die Furten des Jordan besetzt, und da ihnen bekannt ist, dass das Volk der Ephraimiten das Phonem ‚sch‘ nicht auszusprechen vermag, fordern sie, wann immer ein Fremder um Erlaub-nis bittet zu passieren, er solle ‚Schibbolet‘ sagen. Wer dazu nicht in der Lage ist und ‚Sibbolet‘ statt ‚Schibbolet‘ sagt, hat sich als Ephraimiter verraten, und wird getötet.

Der Begriff Schibbolet taucht im Englischen zuerst in Verbindung mit Frühformen des nationalen Separatismus auf; Sezessionsbestrebungen jener Zeit gingen von einer wesenhaften Verbindung zwischen Sprache,

1 Migration Data Portal, https://migrationdataportal.org/?i=stock_abs_&t=2017 (Zugang am 27. Januar 2018).

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nationaler Identität, Ethnie und Territorium aus. Der Begriff wurde im 17. Jahrhundert eingeführt und verstand sich als „Wort, das geeignet ist, um Ausländer oder Fremdlinge zu erkennen“. Im 19. Jahrhundert kristal-lisierte sich seine derzeitige Definition als „Brauch, Prinzip oder Glaube, durch den eine bestimmte Klasse oder Gruppe identifizierbar ist“ her-aus.2 Parallel dazu entwickelten Philosophen und Sprachwissenschaftler die Vorstellung eines sprachlichen Nationalismus. In seinem Essay Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, der 1836 posthum veröffentlicht wurde, schrieb Wilhelm von Humboldt: „Die Sprache ist gleichsam die äußere Erscheinung des Geistes der Völker“3, ohne die es keine Nation geben könne. Und bereits 1792 griff Johann Wolfgang von Goethe zu einer Metapher aus dem kulinarischen Bereich, um den Krieg zwischen Deutschland und Frankreich zu kommentieren: „Weiß und schwarz Brot ist eigentlich das Schibboleth, das Feldgeschrei zwischen Deutschen und Franzosen“4.

Die Erzählung um das Wort Schibbolet spielt im Buch der Richter nur eine untergeordnete Rolle, doch in Folge der verhängnisvollen Begebenheiten, die sich im 20. Jahrhundert zugetragen hatten, übte die einzigartige Art, wie die Geschichte die Beziehung zwischen Sprache, Territorium, Gewalt und Ausschluss thematisiert und die Grenzen des verbalen Ausdrucks auslotet, eine starke Faszination auf Künstler, Philosophen und Schrift-steller aus. Bezeichnenderweise liegt eine Stärke der biblischen Erzäh-lung in ihrer kompromisslosen Kürze, die gesamte Begebenheit ist in fünf kompakte Zeilen gefasst. Im Zentrum steht das Codewort Schibbolet, das im Hebräischen wortwörtlich ‚Kornähre‘ bedeutet, darüber hinaus (und in diesem Fall passender) aber auch ‚Wasserlauf‘ oder ‚Strudel‘. Der Wortstamm ‚sbl‘, der in mehreren semitischen Sprachen auftaucht und sinngemäß zumeist mit ‚Verlängerung‘ und ‚Fortführung‘ assoziiert wird, ist der Ursprung des Wortes ‚shvil‘, Hebräisch für ‚Weg‘.5 Für den Ephrai-miter verbindet sich der Befehl ‚Sag Schibbolet‘ – gemäß J. L. Austins Differenzierung – demnach mit einer Beschreibung, einer Frage und einem Sprechakt zugleich. Kommt er der Aufforderung nach und sagt das Wort Schibbolet, scheint in dem, was zunächst die bloße Beschreibung eines Flusses ist, eine Frage auf, die schlussendlich, kraft des Sprechens, geradewegs zu einer Grenze wird. Der Fluss ist nicht länger ein Wasser-lauf oder ein Strom, den wir passieren können – genau wie das Wort nicht länger eine semantische Bedeutung in sich trägt –, sondern hat sich vielmehr in ein reales Hindernis verwandelt; durch das Aussprechen des einen Wortes ist eine Grenze entstanden, die nicht beschreibbar ist,

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sondern nur auf fatale und unwiderrufliche Weise vollstreckt werden kann. Es genügt nicht, die Bedeutung des Wortes Schibbolet zu ‚kennen‘ – als Wasserlauf oder Losungswort – man muss es richtig aussprechen können, in die Tat umsetzen (und zwar physisch, nicht bloß gedanklich). Wie Jacques Derrida in seinem einflussreichen Aufsatz über die Schriften Paul Celans schreibt: „Die Wichtigkeit dieses Wortes lag weniger in seiner Bedeutung als in der Art, wie man es aussprach.“6

Im Zentrum von Derridas Essay steht eine Auslegung von Celans eng-maschigem Gedicht In Eins, in dem es um einen Grenzübergang geht:

Dreizehnter Feber. Im Herzmund erwachtes Schibboleth. Mit dir, Peuple de Paris. No pasarán Schäfchen zur Linken: er, Abadias, der Greis aus Huesca, kam mit den Hunden über das Feld, im Exil stand weiß eine Wolke menschlichen Adels, er sprach uns das Wort in die Hand, das wir brauchten, es war Hirten-Spanisch, darin, im Eislicht des Kreuzers „Aurora“: die Bruderhand, winkend mit der von den wortgroßen Augen genommenen Binde –– Petropolis, der Unvergessenen Wanderstadt lagauch dir toskanisch zu Herzen. Friede den Hütten!

Paul Celan

2 Julia Cresswell, Oxford Dictionary of Word Origins. Oxford 2010.3 Wilhelm von Humboldt, „Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die ver-

schiedenen Epochen der Sprachentwicklung“[1820], in: Albert Leitzman/ Bruno Gebhardt (Hg.), Wilhelm von Humbolts gesammelte Schriften, Bd. 4. Berlin 1903-1936, S. 14.

4 Johann Wolfgang von Goethe, „Zum 24. September”, in: Conrad Höfer/Curt Noch (Hg.), Goethes sämtliche Werke, Bd. 34. München/Berlin 1909-1932, S. 239.

5 Ronald S. Hendel, „Sibilants and šibbolet (Judges 12:6)“, in: Bulletin of the American Schools of Oriental Research, Nr. 301 (1996), S. 69-75. doi:10.2307/1357296.

6 Jaques Derrida, Schibboleth. Für Paul Celan, Peter Engelmann (Hg.). Wien 2012, S. 48-49.

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Celan, der den Holocaust überlebte und seine letzten Lebensjahre im französischen Exil verbrachte, verwendet hier ein sprachliches Durchein-ander: Hebräisch, Deutsch, Französisch und Spanisch vermischen sich an seinem Grenzübergang und verwischen die Grenzen der Bedeutung, Übersetzbarkeit und der Passage. Das Gedicht ist voller Parolen: zunächst das Codewort Schibbolet, das – je nachdem, aus welchem Munde es kommt – womöglich die Passage verwehrt, und danach auf Spanisch der antifaschistische Schlachtruf ‚No pasarán‘ – wortwörtlich ‚Passieren verboten!‘. Doch auch das in einem österreichischen Dialekt formulierte Datum ‚Dreizehnter Feber‘ (in Österreich beschreibt ‚Feber‘ nicht nur den Monat Februar, sondern bedeutet auch ‚Fieber‘) ist mit einer Reihe von Assoziationen verknüpft; so erinnert es zum Beispiel an den Spanischen Bürgerkrieg oder die Februarkämpfe 1934 in Österreich. Im weiteren Verlauf begegnet uns Petropolis, die Stadt in Brasilien, in der sich Stefan Zweig, gleichfalls ein jüdischer Exilant, der aus Österreich stammte,7 am 23. Februar 1942 das Leben nahm. Petropolis ist auch der Name Osip Mandelstams für St. Petersburg, Schauplatz der Februarrevolution des Jahres 1917 und Standort des Panzerkreuzers ‚Aurora‘, von dem aus das Signal zum Sturm auf das Winterpalais, dem Beginn der russischen Oktoberrevolution, gegeben wurde.8 Spätestens jetzt hat sich das Ge-dicht in eine schwindelerregende Konstellation von Daten und Verweisen verwandelt, die bedeutsame Momente des antifaschistischen Wider-stands sowie tragische Ereignisse und Verluste ins Gedächtnis zurückge-rufen hat. Für Derrida verweist Schibbolet auf die Vielfältigkeit sowie die Migration von Sprachen, das „Babel in einer einzigen Sprache“9 und dann wiederum auf die Tatsache, dass Sprache „nur von einem Ort her Bedeu-tung erlangen kann“.10 Es ist widersprüchlich, da es einerseits ganz real poetisch ist, andererseits tragischerweise auch diskriminierend; ein Weg, sich mit anderen zu verbünden, aber auch Mittel der Kontrolle und Unterdrückung. Celan verweist auf seine Gedichte als ‚Sprachgitter‘, und wie die Dichterin und Klassische Philologin Anne Carson anmerkt, „ist diese Wortschöpfung aus zwei Nomen zusammengesetzt, die in eine ambivalente Verbindung eintreten. Einerseits der Verweis auf ‚Sprache‘, andererseits das ‚Gitter‘, etwa ein Raster aus Linien, ein Gatter oder Spalier oder ein netzartiges Gewebe. Für Personen, die ein Leben hinter Gittern führen, ist dies die Grenze […] aber auch ihre einzige Verbindung zur Außenwelt. In der Jäger- oder Anglersprache bezeichnet es die Falle oder das Netz.“11 Mit anderen Worten ist die gesprochene Sprache ein Geflecht, das sowohl durchlassen als auch blockieren kann, und es ist das Gespinst des Schreibens – das dem Text zugrunde liegende Gewebe – das die Bedeutung ent-wickelt, aber auch Inhalte filtert oder den Zugang

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komplett versperren kann. Das sprachliche Netz, das Celan auswirft, oder in dem er sich verfängt, lässt uns an den sonderbaren Midrasch denken, mit dem einst Rabbi Samuel bar Nachman im 3. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung die brutalen Vorkommnisse in Kapitel 12 des Buches der Richter kommentierte. Samuel nämlich führt das tragische Schicksal Ephraims auf Jacobs Segenswunsch zurück, dass „sie sich mehren sollten wie die Fische“; in dieser ‚Gnade‘ erkennt der Rabbi die Bestim-mung des ephraimitischen Volks, der Nachfahren Jacobs, gefangen zu werden „wie die Fische, bei ihrem Mund“.12

Die Ausstellung Sag Schibbolet! Von sichtbaren und unsichtbaren Gren-zen tritt für ein nuancierteres Verständnis ein, wie Grenzen funktionieren und auf welche Weisen sie sich zeigen können, nicht nur als Mauern oder Stacheldraht, sondern auch in Form komplexer Ausschluss- und Identifikationsmechanismen, die die gesellschaftlichen Strukturen tief im Inneren durchziehen. Erzählt wird die Geschichte eines Wortes, das nicht übersetzbar ist und zu einem todbringenden Codewort wird, einem In- s trument der Ausgrenzung, einer unsichtbaren, unüberwindlichen Gren-ze. In einer globalisierten Welt voller ‚smarter‘ biometrischer Grenzen und zugangskontrollierter Gemeinschaften, geteilter Städte und ausge-klügelter Risikoberechnungssysteme werden Grenzen nicht selten in Vorstandsetagen konzipiert, von Gesichtserkennungsalgorithmen defi-niert, oder sie entstehen durch ökonomisches Ungleichgewicht oder im Zuge von Privatisierungsprozessen. Die Werke in der Ausstellung über-winden solcherart Grenzen sowohl real als auch metaphorisch gesehen und widmen sich der Erforschung ihrer Geschichte und Gegenwart.

Diese Publikation, zu gleichen Teilen Katalog und Anthologie, zielt darauf ab, der Ausstellung eine Stimme zu verleihen, die mit Sprache intim verbunden ist. Sie bringt Texte über die gezeigten Werke mit Essays und Geschichten zusammen, die den zentralen Fragen der Präsentation eine zusätzliche Dimension verleihen, und ergänzt sie mit persönlichen Grenz-Erzählungen und Augenzeugenberichten von jüdischen Flüchtlin-gen, die ab 1938 über den Rhein zu entkommen versuchten.

7 Zweigs Mutter Ida Zweig (geborene Brettauer) entstammte einer Hohenemser Familie. 8 Jon Felstiner, Paul Celan: Poet, Survivor, Jew. New Haven 2001, S. 187. 9 Derrida, Schibboleth, S. 59. 10 Ebd., S. 60. 11 Anne Carson, Economy of the Unlost: (Reading Simonides of Keos with Paul Celan).

Princeton 2009, S. 31. 12 Samuel A. Berman, Midrash Tanhuma-Yelammedenu: An English Translation of Genesis

and Exodus from the Printed Version of Tanhuma-Yelammedenu with an Introduction, Notes, and Indexes. New York 1996.

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Sag Schibbolet

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Arno Gisinger Schuss/Gegenschuss (2018)

Vier S/W-Fotografien im Panoramaformat (385 x 175 cm)

„Schuss-Gegenschuss“ ist eine Technik des Filmschnitts, mit der in Dialogsituationen der Eindruck räumlicher Kontinuität gewahrt bleibt. Die Kamerabewegung hat sich dabei auf eine Achse von 180 Grad zu beschränken, während abwechselnd aus diametral entgegengesetzten Perspektiven gefilmt und das aufgenommene Material anschließend zusammengeschnitten wird.

In seinem Werk Schuss/Gegenschuss (2018), das speziell für diese Aus-stellung entstand, erforscht Arno Gisinger die Grenze anhand dieses filmischen Prinzips, nachdem er zunächst archivalische Recherchen zu historischen visuellen Darstellungen von Grenzen betrieben hatte. Die Aufnahmen, auf der Mittel-Insel im Alten Rhein bei Hohenems mit einer um 180 Grad schwenkbaren analogen Kamera für Panoramafotografie fotografiert, zeigen die vier Seiten eines Grenzsteins, der einen Punkt auf der 1935 neu festgelegten Grenze zwischen Österreich und der Schweiz markiert. Die vier Aufnahmen wurden als Negative belassen, digitalisiert und auf große halbtransparente Banner gedruckt, die im Außenbereich vor dem Jüdischen Museum Hohenems installiert sind. Gisingers bruch-stückhafte Momentaufnahmen wurden somit zu einer räumlichen Montage, die statt einer einzelnen monolithischen Perspektive eine allum fassende Gesamtansicht bietet.

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Arno GisingerSchuss/Gegenschuss, 2018

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„Das Schuß-Gegenschuß-Verfahren ist ein Verfahren der Montage,das aber zurückwirkt auf das Verfahren der Aufnahme, von daher auf das Ausdenken und Aussuchen, den Umgang mit Bildern und Vorbildern. Schließlich ist Schuß-Gegenschuß die zentrale Regel, das Wertgesetz.“ (Harun Farocki) 1

Im Film ist „Schuss-Gegenschuss“ ein Montageprinzip, das häufig bei Dialogen eingesetzt wird. Um Personen im Zwiegespräch zu zeigen, wird eine Sequenz auf einer 180 Grad-Achse symmetrisch entgegengesetzt zweimal gefilmt. In der Montage werden die Aufnahmen dann abwech-selnd so geschnitten, dass eine Dialogsituation entsteht. Das stringente Achsenprinzip garantiert die Illusion raumzeitlicher Kontinuität. Um-gekehrt kann das Ausbrechen aus diesem Prinzip zu einem bewussten Verfremdungseffekt führen. Durch seinen häufigen Einsatz ist dieses Verfahren zu einem ‚Wertgesetz‘ im Kino geworden. Harun Farocki geht es in seinem Aufsatz Schuss-Gegenschuss aus dem Jahr 1981 allerdings weniger um die Regel als um das Verhältnis von Aufnahme und Film-schnitt. Um in der Montage einen Dialog darstellen zu können, müssen bereits im Vorfeld der Aufnahme alle bildkonstituierenden Elemente wie Format, Kameraposition, Position der darstellenden Personen, Bildaus-schnitt, Licht, usw. bestimmt werden. Das Wertgesetz Schuss-Gegen-schuss der Montage wirkt in diesem Sinne unmittelbar zurück auf die Gestaltung der Aufnahmen selbst. Und diese wiederum hat mit unserem Umgang mit Bildern und Vorbildern zu tun.

Das Schuss-Gegenschuss-Prinzip wird nicht nur im intimen Dialog von Einzelpersonen, sondern auch in der Totalen eingesetzt, zum Beispiel in der filmischen Darstellung militärischer Auseinandersetzungen. Der britische Fotograf und Filmpionier James Williamson wendete in seinem ‚Aktualitätenfilm‘ über den Boxeraufstand in China (Attack on a China mission Station) bereits im Jahr 1900 das Prinzip von Schuss-Gegen-schuss an.2 Dialoge im Außenraum zu realisieren stellt hingegen, so Harun Farocki, eine besondere Herausforderung im Film dar: „In der freien Natur ist es schwer, vielfältig mit dem Schuss-Gegenschuss um-zugehen, da fehlen die räumlichen Orientierungsmöglichkeiten. Zu sehr

Arno Gisinger

Schuss / Gegenschuss

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1 Harun Farocki, „Schuß-Gegenschuß. Der wichtigste Ausdruck im Wertgesetz Film“, in: Fernseh- und Kinotechnik, Nr. 25 (November-Dezember 1981), S. 507-516.

2 Der französische Filmhistoriker Georges Sadoul (1904-1967) sah Williamson als den eigent-lichen ‚Erfinder‘ des Schuss-Gegenschuss-Prinzips an.

3 Farocki, op. cit., S. 159.4 „Schuss-Gegenschuss“ heißt im Französischen dementsprechend „champ-contrechamp“.

muss man draußen mit der Blickrichtung arbeiten, die Behauptung eines Gegenüber wird zu wenig von Einzelheiten im Raum gestützt.“3

Eine Grenzsituation — das Aufeinandertreffen zweier abgegrenzter Territorien — im Bild darzustellen bzw. bildlich zu re-konstruieren ist immer die „Behauptung eines Gegenüber“. Diese wird letztlich zu einer Frage des Standpunktes und der Inszenierung des Blicks. Eine Grenze zu fotografieren bedeutet meist, von einem bestimmten Standpunkt aus ein anderes Territorium, einen nicht sichtbaren Raum zu erfassen. Dies geschieht oft durch die indirekte Darstellung des im Bildfeld nicht gezeig-ten Raums. Im Französischen bezeichnen wir diesen imaginären Raum als „hors-champ“.4 Betrachten wir beispielsweise die folgende Fotografie von der Grenzsituation zwischen Hohenems und Diepoldsau aus dem Zweiten Weltkrieg.

Bestand Archiv der Finanzlandesdirektion für Vorarlberg(Sign. f-hoh-074), Archiv JMH

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Das Bild stammt aus dem Archiv der Finanzlandesdirektion für Vorarlberg in Feldkirch und ist mit August 1943 datiert. Der Fotograf inszeniert darin die Figur eines Grenzwächters als bewaffneten Grenzsoldaten an einem schmalen Uferweg des Flusses Rhein, der die beiden Länder durch eine ‚natürliche Flussgrenze‘ trennt. Der Wächter befindet sich auf „Streife beim Hohenemser-Bad“, wie die mittels einer Schreibmaschine auf die Rückseite der Fotografie getippte Bildlegende vermerkt. Die Figur ist aus einer mittleren Entfernung in Dreiviertelansicht von hinten zu sehen und blickt vor der österreichischen (reichsdeutschen) Seite aus in Richtung Schweiz. In der perspektivischen Ferne sind die beiden Zollämter, rechts jenes von Hohenems, links, und auf der anderen Seite des Rheins gele-gen, Diepoldsau, zu sehen. Das Land jenseits der Grenze befindet sich metaphorisch gesprochen ausserhalb des Bildausschnittes und wird wie auf vielen anderen überlieferten Fotografien aus dieser Zeit durch den Blick des Grenzwächters ‚dargestellt‘. Jenseits ihrer dokumentarischen Komponente ist dieses Bild also auch eine inszenierte Symbolfotografie — ein Vorbild, wie Harun Farocki sagen würde — einer bewachten Grenz-situation an einem Fluss. Oder mit anderen Worten: der Topos eines visuellen Schibbolets.5

Bestand Archiv der Finanzlandesdirektion für Vorarlberg(Sign. f-hoh-072), Archiv JMH

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Sag Schibbolet

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5 Das Wort „Schibbolet“, ursprünglich hebräisch für „Kornähre“, kann auch „Strömung“ oder „Fluss“ bedeuten. Beim Topos des Flusses als Grenze geht es letztlich auch um den ‚Missbrauch natürlicher Grenzen‘.

6 Siehe die Texte zu Grenzsteine, Hörstationen sowie Gabriel Heims Essay in dieser Publikation.

Das zweite Beispiel zeigt eine Fotografie, die im Mai 1943 aufgenommen wurde. Handschriftlich wird sie als „Panorama v. Alten-Rhein“ bezeich-net. Die zusätzliche Schreibmaschinen-Legende identifiziert das Bild als “Der Alte-Rhein zwischen Zollamt Schmitter und Hohenems, Blick auf den Kummaberg und den Hohen-Kasten“. Das Bild zeigt einen offenen, unverstellten Blick in die weite Landschaft, ein symmetrisch komponier-tes Panorama mit Fluss, Aulandschaft und Bergen. In der Wasserober-fläche der weitläufigen Flusslandschaft spiegelt sich ein bewölkter Frühjahrshimmel. Es scheint als ob sich der Betrachterstandpunkt inmit-ten des Flusses befinden würde. Nichts lässt hier fotografisch auf eine Grenzsituation schließen. Die Schweiz, das Land jenseits der Grenze, ist nur für Kenner anhand der fernen Berge (Hoher Kasten) identifizierbar. Dennoch befinden wir uns in einer Grenz situation.Beide Fotografien stammen mit großer Wahrscheinlichkeit vom selben Fotografen, einem Zollbeamten namens Kirchmair, der seine Tätigkeit in dieser topografisch und politisch komplexen Grenzsituation verrichtete und zu einer ‚fotografischen Vermessung‘ der Grenzlandschaft nutzte. Nach den Anfängen der Rheinregulierung am Ende des 19. Jahrhunderts erfolgte hier in den 1920er Jahren ein zweiter wichtiger Begradigungs-durchstich des Flusslaufes. Als Grenze in diesem Abschnitt wurde im bilateralen Abkommen zwischen Österreich und der Schweiz 1935 nicht der neue sondern der alte Rhein festgelegt, wodurch die Schweizer Ortschaft Diepoldsau zwischen den alten und den neuen Flusslauf geriet. Schnell wurde diese topografisch unübersichtliche Zone zu einem Eldora-do für Schmuggel und illegale Grenzübertritte. Nach dem sogenannten „Anschluss“ Österreichs 1938 wurde der Abschnitt nicht zufällig zu einer gefragten Übertrittsgrenze für jüdische Flüchtlinge aus dem national-sozialistischen Deutschen Reich. Bis 1945 spielten sich hier zahlreiche Flüchtlingsdramen ab, die diese Grenzlandschaft zu einer mit menschli-chen Schicksalen aufgeladenen Erinnerungslandschaft machen.6

Auf der Suche nach einer Möglichkeit, im Rahmen des Projekts Sag Schibbolet! Von sichtbaren und unsichtbaren Grenzen fotografisch auf diese spezifische lokalhistorische Situation zu reagieren, bot sich jene kleine Insel inmitten des Alten Rheins bei Hohenems an, auf der sich noch heute die historischen Grenzsteine befinden. Sie enthalten auf ihren vier

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Sag Schibbolet

| Themen Seiten jeweils eingravierte sprachliche Codes: auf den beiden Längs-

seiten OE für Österreich und S für die Schweiz, auf den Stirnseiten die Zahl 1935 als Jahr der Bestimmung des Grenzverlaufs sowie eine fortlaufende Nummerierung. Auf der Aufsichtsfläche jedes Steins mar-kiert eine exakt in der Mitte eingravierte Linie die Grenze. Diese verläuft damit durch den jeweiligen Grenzstein: die eine Hälfte gehört zu Öster-reich, die andere zur Schweiz.

In einem bewusst ad minima reduzierten Protokoll fotografierte ich am frühen Morgen des 25. November 2017 den Grenzstein Nummer 19 von allen vier Seiten: frontal, jeweils im Abstand von zwei Armlängen und auf ‚Augenhöhe‘ der Schrift. Als Aufnahmeinstrument diente eine analo-ge Panoramakamera mit einem rotierenden Objektiv, das eine optische Bildfelderweiterung auf 180 Grad ermöglicht. Aus den vier panoramati-schen Bildern (zweimal Schuss-Gegenschuss) entsteht so eine Quadratur der Perspektiven, die den Blick in die Grenzlandschaft in vier mögliche Standpunkte auflöst und vier Blickvarianten eines all embracing view darstellt. Ein- und derselbe Grenzstein dient dabei jeweils als räumlicher Orientierungspunkt für das imaginierte Gegenüber.

Wie wirkt, um abschließend noch einmal mit Harun Farocki zu fragen, das Verfahren der Montage auf das Verfahren der Aufnahme zurück? Während im Medium Film mittels der Montage aus den Aufnahmen eine raum-zeitliche Abfolge der Bilder und damit eine Erzählung entsteht, bleibt die Fotografie ein visuelles Fragment, das einen fixen Standpunkt definiert und eine subjektive Temporalität der Betrachtung ermöglicht.

Foto: Roland Stecher, 2017

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7 Zur Frage der Dekonstruktion medialer Bilder von Flüchtlingen im klassischen Bildjournalis-mus vgl. die Arbeit der Migrant Image Research Group. Siehe dazu den Beitrag von Florian Ebner, „Andere Zeugenschaften. Was sagt die Einstellung über die Einstellung?“, in: Farewell Photography, Ausstellungskatalog der Biennale für aktuelle Fotografie. Köln 2017, S.182-183.

In unserem Fall ist die Montage der Bilder eine räumliche, die einen Standortwechsel bei der Betrachtung erfordert. Die vier schwarz-weißen Panoramen wurden in ihrer Negativ-Form belassen, digitalisiert und auf halbtransparente Folien übertragen, die als großflächige Bildmembrane im Außenraum des Jüdischen Museums Hohenems stehen. Schließlich entstand das Ausdenken und Aussuchen der Bilder für die Arbeit Schuss- Gegenschuss aus dem Umgang mit Vorbildern: mit historischen Foto-grafien ebenso wie mit der kritischen Hinterfragung heutiger medialer Bilder von Flüchtlingen, die unser visuelles Unterbewusstsein bevölkern.7

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