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UNIVERSITÄT ZU KÖLN Philosophische Fakultät Romanisches Seminar SANTA TERESA, EL SECRETO DEL MUNDO”. GLOBALISIERUNG UND GLOBALITÄT IN 2666 VON ROBERTO BOLAÑO MASTERARBEIT im Fach Romanistik-Spanisch vorgelegt von LEYLA BEKTAŞ Matrikelnummer: 4728351 [email protected] Betreuung: PROF. DR. WOLFRAM NITSCH KÖLN, 13.08.2015

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UNIVERSITÄT ZU KÖLN

Philosophische Fakultät

Romanisches Seminar

SANTA TERESA, „EL SECRETO DEL MUNDO”.

GLOBALISIERUNG UND GLOBALITÄT IN 2666 VON ROBERTO

BOLAÑO

MASTERARBEIT

im Fach Romanistik-Spanisch

vorgelegt von

LEYLA BEKTAŞ

Matrikelnummer: 4728351

[email protected]

Betreuung: PROF. DR. WOLFRAM NITSCH

KÖLN, 13.08.2015

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INHALTSVERZEICHNIS

EINLEITUNG: GEHEIMNIS UND GLOBALISIERUNG ...................................................................... 1

1. GLOBALISIERUNG UND GLOBALITÄT ...................................................................................... 2

1.1 Zum Begriff der Globalisierung ................................................................................ 2

1.2 Pfeiler der Globalisierung in Mexiko ....................................................................... 5

1.3 Wege der Globalität: Die Geschichte der Globalisierung ...................................... 11

1.4 Vorüberlegungen zu einer ästhetischen Globalität: Baudelaires „Le voyage“ .... 15

2. SANTA TERESA ALS KRISTALLISATIONSPUNKT DER GLOBALISIERUNG .................................... 19

2.1 Migration und Nomadisierung .............................................................................. 19

2.2 Die produktionsbedingte Entwertung des Individuums .....................................24

2.3 Das Stadtbild Santa Teresas im Zeichen von Segregation und eigenständiger Transformation .................................................................................................... 29

2.4 Die Metaphysik der Globalisierung: Wüste und Verwüstung............................. 34

3. SANTA TERESA IM SPIEGEL DER GLOBALITÄT ....................................................................... 39

3.1 Mobilisierung und Entpersonalisierung als wiederkehrende Momente der Geschichte ............................................................................................................. 39

3.2 Parallele Orte der Gewalt und Verwüstung.......................................................... 45

3.3 Die (unaufhaltsame?) Ökonomisierung des Lebens ............................................ 51

3.4 Globalität und Fiktion ...........................................................................................56

ABSCHLIEßEND: Al borde del abismo .................................................................................... 61

BIBLIOGRAPHIE ..................................................................................................................... 63

ABBILDUNGEN ...................................................................................................................... 68

ERKLÄRUNG .......................................................................................................................... 71

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EINLEITUNG: GEHEIMNIS UND GLOBALISIERUNG

A veces sueño que estoy en una ciudad que es México pero que al mismo tiempo no es México.

Juan García Madero in Roberto Bolaño: Los detectives salvajes (1998)

„Sentencian a 697 años de prisión a cinco feminicidas en Chihuahua“, meldete Ende Juli

2015 die mexikanische Zeitung La Jornada1. Eine symbolische Haftstrafe im Falle der

Frauenmorde von Ciudad Juárez, die seit dem Beginn ihrer Zählung im Jahre 1993

weitestgehend ungeklärt und unbestraft geblieben sind. Wenngleich die feminicidios längst

nicht nur in Ciudad Juárez (Chihuahua) stattfanden, sondern an vielen Orten in Mexiko

geschahen und immer noch geschehen, haben die ‚Frauenmorde von Ciudad Juárez‘ als solche

weltweite Bekanntheit erlangt. Das geschah nicht zuletzt durch Roberto Bolaños posthum

erschienenen Roman 2666 (2004), der sich ihnen auf über dreihundert Seiten in minutiöser

Weise widmet.

Bolaño lässt die Frauenmorde in Santa Teresa geschehen, einer fiktiven

nordmexikanischen Grenzstadt, und flicht sie ein in eine mythisch anmutende Paradigmatik

weltlicher Belange: „Nadie presta atención a estos asesinatos, pero en ellos se esconde el

secreto del mundo“ (2666: 439), lautet es an einer entscheidenden und viel kommentierten

Stelle des Romans, die in Santa Teresa nicht nur ein, sondern sogar das Geheimnis der Welt

verortet. Wir wollen in dieser Arbeit dieser Aussage nachgehen und uns fragen, welche

globalen Tendenzen sich in Santa Teresa verdichten.

Die Welt, die in 2666 um die Frauenmorde herum konstruiert wird, ist eine vollständig

von den multiplen Prozessen der Globalisierung gezeichnete Welt2. Die Auswirkungen der

Globalisierung(-spolitik) zeigen sich konkret in Santa Teresa: zum einen anhand der

zunehmenden Mobilität des Subjekts und der produktionsbedingten Entwertung des

Individuums; zum anderen anhand der räumlichen Tendenzen der Segregation,

eigenständigen Transformation und der Verwüstung des Lebensraums. All diese

Konsequenzen stehen in indirektem, zum Teil sogar in direktem Zusammenhang zu den

feminicidios und den entsprechenden, erfolglosen Ermittlungen.

Neben dieser Darstellung eines globalisierten Mexiko werden im Roman darüber hinaus

historische und synchrone Querverbindungen zu verschiedenen Orten auf der Welt in 2666

geschaffen, die parallel oder analog zu Santa Teresa konstruiert und wahrgenommen werden.

Die dem Roman eigene Wahrnehmung der Welt bezeichnen wir als ‚Globalität‘. Globalität ist

zum einen der subjektive Spiegel der Tendenzen der Globalisierung sowie ihrer früheren,

1 Artikel vom 27.07.2015: http://www.jornada.unam.mx/ultimas/2015/07/27/sentencian-a-697-anos-en-

prision-a-cinco-feminicidas-en-chihuahua-5437.html. 2 Dementsprechend oft wird Bolaño der Status eines Schriftstellers des ‚globalisierten Zeitalters‘

zugeschrieben (vgl. z.B. POPE 2011).

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historischen Ausprägungen und Vorstufen. Zum anderen ist die Globalität des Romans 2666

eine kritische Auseinandersetzung mit der globalisierten Welt und ihrem Produktivitätswahn,

dessen verheerende Folgen in 2666 klar aufgezeigt werden.

Warum ausgerechnet Santa Teresa? 2666 verortet sich inhaltlich und poetologisch nach

dem Scheitern der großen politischen und ästhetischen Ideologien. Dass Ciudad Juárez dabei

eine tragische Schlüsselrolle einnimmt, sagt Bolaño im Gespräch mit Mónica MARISTAIN:

Ciudad Juárez, que es nuestra maldición y nuestro espejo, el espejo desasosegado de nuestras frustraciones y de nuestra infame interpretación de la libertad y de nuestros deseos. (BOLAÑO 2004: 339)

Als Bolaño begann, sich mit den Frauenmorden in Ciudad Juárez zu beschäftigen, diente ihm

die investigative Studie zu den feminicidios von Ciudad Juárez, Huesos en el desierto (2002),

des mexikanischen Journalisten Sergio GONZÁLEZ RODRÍGUEZ als wichtige Vorlage. Zu dieser

äußert sich Bolaño folgendermaßen:

Huesos en el desierto es así no sólo una fotografía imperfecta, como no podía ser de otra manera, del mal y de la corrupción, sino que se convierte en una metáfora de México y del pasado de México y del incierto futuro de toda Latinoamérica. (BOLAÑO 2004: 215)

Diese werkexternen Überlegungen der Spiegelung und Verbildlichung in Ciudad Juárez

verleiteten Bolaño wohl in 2666 mit dazu, das Geheimnis der Welt eben genau hier in Ciudad

Juárez‘ fiktivem Ebenbild Santa Teresa zu situieren. Durch die Fiktionalisierung von Ciudad

Juárez und die Situierung der fiktiven Stadt in einem anderen nordmexikanischen Bundesstaat

(nämlich in Sonora und nicht in Chihuahua) werden die hier geschehenden Dinge

übertragbar, universalierbar und gelten zum einen für die gesamte Grenzregion Mexikos zu

den USA, darüber hinaus für andere Teile der (globalisierten) Welt (vgl. GRAS 2012: 110). Santa

Teresa wird zum Paradigma, zum Emblem der Globalisierung (vgl. MUNIZ 2010: 38;

HERLINGHAUS 2013: 217; OLIVIER 2014: 371) und steht dabei insbesondere für die ‚Verlierer‘ der

Globalisierung ein, des heute sogenannten Global South.

1. GLOBALISIERUNG UND GLOBALITÄT

1.1 ZUM BEGRIFF DER GLOBALISIERUNG

‚Globalisierung‘ ist von einem wirtschaftspolitischen Programm zu einer Gegenwartsdiagnose3

avanciert. Was in den sog. Entwicklungsländern noch immer die ungleichen Auswirkungen

einer in den 1980er Jahren angewandten, internationalen Doktrin bedeutet, ist in hiesigen

Breitengraden zu einem passe-partout-Begriff der Beschreibung des aktuellen Zustands der

Welt geworden4. Es scheint keinen Zweifel zu geben: Wir befinden uns im ‚Zeitalter der 3 Vgl. OSTERHAMMEL/PETERSSON (2003: 7), die den Begriff der Globalisierung primär als

Gegenwartsdiagnose charakterisieren, die dem kollektiven Bedürfnis entgegenkommt, der eigenen Epoche einen Namen zu geben und das Besondere an ihr auszumachen.

4 Auch in der akademischen Textproduktion, wie es der Sammelband Denken des Raums in Zeiten der Globalisierung (OTT/UHL 2005) exemplifiziert: Im Vorwort wird ausführlich über die Evolution des Raumbegriffs reflektiert, doch welche allgemeine Definition von Globalisierung zugrunde gelegt wird, bleibt offen. Demgemäß entwickeln die hier versammelten Beiträge eigene Vorstellungen vom

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Globalisierung‘. So wenig das Phänomen der Globalisierung dabei selbst greifbar erscheint, die

Allgegenwärtigkeit des Begriffs beweist doch seinen Erfolg. Der Soziologe und

Gegenwartsanalytiker Zygmunt BAUMAN (1998: 7) charakterisiert den Begriff ‚Globalisierung‘

als Modewort, das durch seinen häufigen Gebrauch auf immer mehr Phänomene und Prozesse

referieren will und sich selbst dadurch zunehmend undurchsichtig macht.

Angesichts der ‚Flexibilität‘ des Begriffs, die die Gefahr birgt, ‚Globalisierung‘ zu einem

unspezifischen Sammelbegriff verkommen zu lassen, heißt Globalisierung begrifflich zu

definieren vor allem, reduktiv tätig zu sein und eine Auswahl im breiten theoretischen

Angebot zu treffen. Die Auswahl für diese Arbeit ergibt sich aus dem hier zu untersuchenden

literarischen Korpus. Mexiko spielt im ganzen Œuvre Bolaños eine Schlüsselrolle; 2666 ist in

großen Teilen die Dokumentation eines von Globalisierungsmaßnahmen und Migration

gezeichneten Mexikos der 1990er Jahre und dabei insbesondere der Grenzregion zu den USA,

ein spezifischer Ort, an dem sich globale Tendenzen kristallisieren:

‘Cada cosa de este país es un homenaje a todas las cosas del mundo, incluso a las que aún no han sucedido‘ (2666: 428).

So werden verschiedene simultane, aber auch historisch entfernte Szenarien, Szenerien und

Phänomene und Ereignisse immer wieder parallelgeführt, die in Santa Teresa

zusammenlaufen. Über diese diversen, den Globus umgreifenden Verbindungslinien, die auf

den ersten Blick nicht immer evident erscheinen, wird eine dem Roman eigene Wahrnehmung

der Welt, eine Globalität, konstruiert und dargestellt, die sich aus den Prozessen der

Globalisierung ergibt und diese zugleich kritisiert.

Daraus ergibt sich Folgendes für den theoretischen Teil dieser Arbeit (Kapitel 1):

Zunächst wird der wirtschaftspolitische ‚Fall‘ Mexiko, wo Globalisierung zum Programm wurde

und die Mobilisierung eines Großteils der Bevölkerung folgte, historisch beleuchtet (Kapitel

1.2), um die Konsequenzen der Globalisierung, die in 2666 im Hinblick auf Subjekt, Raum und

politische Strukturen anhand des urbanen Raums der fiktiven Stadt Santa Teresa geschildert

werden, zu begreifen. Die theoretische Fokussierung auf eine lokale Perspektive auf

Globalisierung soll dabei exemplarisch für die allgemeine Dynamik der Globalisierung

einstehen, die ohne ein konkretes Beispiel unspezifisch bliebe5.

Der Übergang zum Begriff der Globalität (Kapitel 1.3) ergibt sich über die sich daran

anschließende historische Perspektive auf Globalisierung, die hinter der jahrhundertelangen

Geschichte von Globalisierung ein seit der Kolonialzeit kontinuierlich bestehendes, weltliches

Imaginarium erkennen lässt, das den politischen Entscheidungen vorausgeht und aus ihnen

Begriff der Globalisierung oder thematisieren ihn nicht explizit. Offenbar ist es unanfechtbar, dass wir ‚in Zeiten der Globalisierung‘ leben, weshalb diese Formel z.T. fast synonym eingesetzt wird zu ‚heutzutage‘ oder auch zu ‚nach dem spatial turn‘.

5 Vgl. dazu OSTERHAMMEL (2001: 342), der der globalen Perspektive auf globale Themen in der Geschichtsschreibung absagt: „‚Weltgeschichte‘ darf nicht auf einer einförmigen und eintönigen Ebene des Großen und Allgemeinen verharren, sie muss sich im Kleinen und Spezifischen verankern. Einige Soziologen nennen das heute ‚glocalization‘, aber es ist auch schon ein Gebot schlichter Darstellungstechnik“.

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folgt. Es reicht bis in die Paradigmen des heutigen Globalen Südens, für den Mexiko

emblematisch einsteht. Auf der anderen Seite der politischen Veränderungen steht also die

subjektive Wahrnehmung der Welt von globaler Implikation, die hier sog. Globalität. Bevor all

dies in der literarischen Analyse von 2666 (Kapitel 2 und 3) Form annimmt, soll uns die

Analyse von Charles BAUDELAIRES Gedicht „Le voyage“ von 1861 (Kapitel 1.4), aus dem eine

Zeile das Motto für 2666 darstellt, erste entscheidende Anhaltspunkte für die Globalität von

Bolaños Roman geben.

Im Begriff der Globalisierung bündeln sich Bedeutungen der politischen,

wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, ökologischen und informationstechnischen

Vernetzung, die sich mit allgemeinen Betrachtungen zur historischen Spezifizität unseres

Zeitalters vermengen. Trotz der Vielzahl an Prozessen, die Globalisierung begrifflich

impliziert, ist Globalisierung jedoch klar an die exzessive und effektive Ausbreitung des

Kapitalismus auf globaler Ebene gebunden. Das ist also zunächst eine Frage der

Intensivierung: Der Wirtschaftshistoriker Armando KURI stellt fest, dass es sich bei

Globalisierung vor allem um eine quantitative Steigerung schon länger vorhandener

Tendenzen handelt. Seit den 1980er Jahren gibt es lediglich eine noch größere Anzahl an

Handlungsgütern, einen erhöhten Austausch von Dienstleistungen, einen Anstieg von

Produktion, eine wachsende Zahl multinationaler Unternehmen und einen Anstieg von

internationalen Kapitalflüssen im Vergleich zum Ende des ausgehenden 19. Jahrhunderts (vgl.

KURI 2007: 25; 29). Auch für den Soziologen Ulrich BECK liegt die Besonderheit der

gegenwärtigen Globalisierung in der „Ausdehnung, Dichte und Stabilität wechselseitiger

regional-globaler Beziehungsnetzwerke“ (BECK 1997: 31), auch er legt also ein quantitatives

Kriterium bezüglich der Vernetzung zugrunde.

Aus der Globalisierung resultiere, so lautet es oft, die sog. ‚Erosion des Nationalstaats‘.

Was ist damit gemeint? Insofern als der moderne Nationalstaat noch ein „Bündnis zwischen

Marktwirtschaft, Sozialstaat und Demokratie“ (BECK 1997: 24) darstellt, also eine Einheit, die

Politisches und Ökonomisches verbindet und gleichzeitig modular trennt, so bedeutet

Globalisierung nun eine wachsende Kluft zwischen nationalstaatlicher Politik und Ökonomie

(vgl. BAUMAN 1998: 75). Dies wiederum geht einher mit einer Verschlingung der Politik durch

die Ökonomie, da letztere zum universalen Richtwert, ja zum determinierenden Faktor der

nationalen Politik wird (vgl. HARDT/NEGRI 2000: 8f.)6. Die Eigendynamik des Marktes, seine

‚unsichtbare Hand‘, agiert am besten ganz ohne politische Interventionen und Regulierungen,

die den Wettbewerb und Markt lediglich verzerren.

6 Diese Universalisierung des Ökonomischen an der Wurzel politischer Handlung macht HARDT/NEGRI

zufolge den Unterschied zum ‚herkömmlichen‘ Kapitalismus aus, der prinzipiell immer ein Weltsystem war. Auch Manuel CASTELLS betont, dass der Kapitalismus durch sein expandierendes Moment schon immer die Welt umspannte, die globale Ökonomie nun aber als eigene Einheit „in Echtzeit“ global agiert (vgl. CASTELLS 1996: 101).

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Darüber hinaus stellen transnationale Akteure, die sich jenseits des Nationalstaats

verorten, die Machtbündelung, Souveränität und Autonomie des Nationalstaates infrage (vgl.

BECK 1997: 29). Somit verschiebt sich der ‚Ort der Macht‘ –quasi unbemerkt– weg vom

Nationalstaat hin zu neuen Zentren mit übernationaler Organisations- und Kontrollfunktion,

die ihrerseits keiner transparenten oder demokratisch zugänglichen, steuernden Instanz

unterstehen. Simultan dazu entstehen, so FUENTES/PEÑA (2010a: 6), vermittels einer neuen

internationalen Arbeitsteilung (NIDL: New international division of labor), an anderen Orten

neue Produktions- und Industriezentren, die fundamentaler Bestandteil der globalisierten

Weltordnung sind, jedoch mit keinerlei Kontrollfunktion ausgestattet sind7. Wie genau diese

globalisierte Arbeitsteilung vonstatten geht, wollen wir uns im folgenden Kapitel anhand des

Beispiels Mexiko genauer ansehen.

1.2 PFEILER DER GLOBALISIERUNG IN MEXIKO

Las oscilaciones psíquicas con que al eludir la mirada ajena nos eludimos a nosotros mismos, son rasgos de gente dominada, que teme y que finge frente al señor. [...] El carácter de los mexicanos es un producto de las circunstancias sociales imperantes en nuestro país; la historia de México, que es la historia de esas circunstancias, contiene la respuesta a todas las preguntas.

Octavio Paz: El laberinto de la soledad (1950)

Wie artikuliert sich die Dynamik der Globalisierung in Mexiko? Im Folgenden sollen

makropolitische Entscheidungen der 1980er Jahre historisch beleuchtet werden. Die urbanen

Zentren der Grenzregion Mexikos zu den USA erweisen sich dabei als der Ort, an dem neue

Industriezentren entstehen und sich die globalisierenden Dynamiken also besonders

bemerkbar machen. Die mikropolitischen Folgen äußern sich insbesondere an dem für die

Globalisierung symptomatischen Phänomen der Migration und ihren Auswirkungen wiederum

für die Umgestaltung des urbanen Raums, allesamt Folgen, die in 2666 bereits omnipräsenter

Bestandteil der dargestellten Welt sind.

Die historische Ausgangssituation für die Globalisierungspolitik in Mexiko ist die Krise

der Auslandsverschuldung von 1982. Dieses Ereignis ist bereits international bedingt, da es auf

das zu Beginn der 1970er Jahre zusammengebrochene System fester Wechselkurse (Bretton-

7 César FUENTES und Sergio PEÑA vom interdisziplinären Colegio de la Frontera Norte (COLEF, Ciudad

Juárez) beziehen sich hier auf die von der Stadtsoziologin Saskia SASSEN definierten global cities, Knotenpunkte der Organisation in einer globalisierten Weltordnung und Schlüsselorte des Finanzsektors und anderer Dienstleistungsfirmen, für die sie New York, London und Tokio als Beispiele nennt. Die Auslagerung einzelner Sektoren auf die ganze Welt, insbesondere des Produktionssektors, geht von hier aus vonstatten. Diese Analyse widerspricht der oft bemühten Globalisierungstheorie, dass in der Globalisierung kein steuerndes Zentrum mehr vorhanden sei (vgl. z.B. BAUMAN 1998: 80).

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Woods-System) zurückgeht: Die ständig steigenden Zinsen der für Zwecke der

Industrialisierung vergebenen Kredite treiben Mexiko in die Zahlungsunfähigkeit (vgl. Atlas

der Globalisierung 2011: 70). Um der Spirale von Verschuldung und Inflation zu entkommen,

entscheidet man, das Land auf den globalen Markt hin zu öffnen: Globalisierung wird als das

neue Rezept für Wachstum angesehen (vgl. CORDERA 2006: 14). Der Drang nach

wirtschaftlichem Wachstum dominiert die mexikanische Wirtschaftspolitik der 1980er Jahre.

Es entsteht die Auffassung, man müsse sich der globalen Wirtschaft anschließen, um den

eigenen Fortschritt zu ermöglichen (vgl. KURI 2007: 25). Diese Auffassung geht einher mit

konkreten politischen Maßnahmen, darunter der Befolgung des Washington Consensus im

Jahre 1989, einem ‚Strukturanpassungsprogramm‘ (SAP: structural adjustment program) des

Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank. Diese Reformagenda wird für

mehrere lateinamerikanische Länder, die sich in ähnlichen Schuldenkrisen befinden,

formuliert und sieht gegen Kreditbilligung die folgenden wirtschaftspolitischen

Umstrukturierungen vor (vgl. ROZO 2007: 322f.):

� Liberalisierung der internationalen Handelspolitik: Abbau von Handelsbeschränkungen und -kontrollen

� Finanzielle Liberalisierung � Liberalisierung ausländischer Investitionen: Abbau von Hürden zur Einführung

ausländischer Direktinvestitionen (FDI: Foreign Direct Investment) � Deregulierung: Aufhebung aller marktbeschneidenden und

wettbewerbsverzerrenden Regulierungen � Umstrukturierung und Kürzung der Staatsausgaben, Verringerung der Bürokratie � Privatisierung staatlicher Unternehmen

Das Freihandelsabkommen TLCAN (Tratado de Libre Comercio de América del Norte) bzw.

NAFTA (North American Free Trade Agreement) zwischen USA, Kanada und Mexiko, das am 1.

Januar 1994 in Kraft tritt, stellt sodann nur die Spitze des Eisbergs dar und wird zum Symbol

einer schon länger geführten Globalisierungspolitik. Mit der Errichtung der

nordamerikanischen Freihandelszone ist der hier erstgenannte Punkt des Washington

Consensus vollends realisiert, Zölle und Handelsbeschränkungen werden abgebaut. Die FDI

treiben die Globalisierung weiter voran: Multinationale Unternehmen (MNE: Multinational

Enterprises), die im Falle Mexikos zu 80% ihren Firmensitz in den USA haben (vgl.

FUENTES/PEÑA 2010a: 9), agieren auf Basis ebendieser Direktinvestitionen und können im Zuge

der Errichtung der Freihandelszone weiter wachsen und eingeführt werden.

Dies fällt 1994 zusammen mit der bereits seit Mitte der 1960er Jahre bestehenden

maquiladora-Industrie in Mexiko, die auf FDI beruht und im Zuge des TLCAN-Abkommens

weiter floriert: Ausländische Firmen, d.h. MNE, stellen das Rohmaterial, das in den

Montagebetrieben, den maquiladoras, die sich zumeist im Norden Mexikos an der Grenze zu

den USA befinden, zu Endprodukten für den Export weiterverarbeitet wird (vgl. FUENTES/PEÑA

2010a: 3). Die so entstehenden export-processing zones (EPZ), oft in der Nähe eines Hafens

oder einer Nationalgrenze gelegen, werden somit zu sog. free trade areas, zu Orten des freien

Handels, in denen die transnationalen Konzerne auf sehr geringe oder gar keine staatliche

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Aufsicht und Regulierung bauen können (vgl. FUENTES/PEÑA 2010a: 8; 13). Gemäß der im

Washington Consensus verankerten Forderung nach Deregulierung ist der Einfluss der Politik

hier also auf ein Minimum reduziert. Die Vorteile der Auslagerung an Standorte in

‚Entwicklungsländern‘ wie Mexiko, die sich für die MNE ergeben, bestehen darüber hinaus in

den dort möglichen geringen Lohnkosten, niedrigen Bodenpreisen, unternehmerfreundlichen

Besteuerungsformen und Regulationsdichten, wozu Tarifbindungen, Sozialversicherung und

Umweltauflagen gehören (vgl. ZEHNER 2001: 154).

Diese in den EPZ herrschende ‚Abwesenheit des Staates‘ (vgl. MONÁRREZ 2010: 28)

spiegelt sich in den prekären Arbeitsbedingungen der maquiladoras und Lebensbedingungen

ihrer Mitarbeiter wider: Die hier Beschäftigten, hauptsächlich Frauen (vgl. STAUDT/ROBLES

2010: 75), arbeiten ohne Sozialschutz und für Niedriglöhne. Sie arbeiten auf ihr eigenes Risiko,

es wird ihnen keine Sicherheit, weder von staatlicher noch von industrieller Seite,

gewährleistet. Da ein genereller Überschuss an Arbeitern besteht und nur ein niedriger

Qualifikationsgrad in den Fabriken, die zumeist Montagebetriebe sind, benötigt wird, ist die

Arbeitskraft zudem quasi austauschbar. Der Soziologe Manuel CASTELLS (1996: 78f.) benennt

das Streben nach Produktivität als entscheidenden Faktor in der Globalisierung. Ein

Menschenleben ist in dieser auf Effizienz und Produktivität gebauten und entstandenen

Industrieregion vor allem ein industriell arbeitender Körper, weshalb MONÁRREZ/BEJARANO

(2010: 48) von ‚low-valued individuals‘ in den EPZ sprechen.

Nichtsdestotrotz ziehen die Freihandelszonen ArbeiterInnen aus den zentralen und

südlichen Bundesländern Mexikos sowie aus anderen zentralamerikanischen Staaten an, wo

Arbeit und gute Entlohnung rar sind (vgl. GONZÁLEZ GONZÁLEZ 2009: 45). Denn wenngleich

Mexiko seit der Errichtung der Freihandelszone zu einem der größten Exportländer

Lateinamerikas avanciert ist, insbesondere durch seine Exporte in der Automobil-, Elektronik-

und Textilproduktion, hat sich die Armut des Landes, unter der die Hälfte der Bevölkerung

leidet, unterdessen nicht verringert (vgl. ROZO 2007: 328). Die Landarmut ist im Zuge der

Globalisierung und des Freihandelsabkommens sogar gestiegen8. Das ist in vielen Regionen

der Fall, wo saisonale, d.h. temporäre und regionale Migration längst praktiziert wird (vgl.

BARABAS et al. 2011: 9). Diese wird Mitte des letzten Jahrhunderts schnell zu einem

Langzeitbrauch nationaler und transnationaler Natur:

Pronto, muy pronto, encontraron el camino al norte y de ahí pasaron la frontera para buscar y arribar al mítico ‚otro lado‘: Estados Unidos de América. (BARABAS et al. 2011: 10)

8 Im südmexikanischen Oaxaca beispielsweise, einer Kaffee- und Baumwollregion, kommt es zu

massenweiser Landarmut u.a. im Zuge des Falls des internationalen Kaffeepreises sowie durch die Einführung synthetischer Stoffe (vgl. BARABAS et al. 2011: 80). Neben der Tatsache, dass die nationale Landwirtschaft sich nach dem TLCAN-Abkommen der US-Konkurrenz ausgesetzt sieht, sieht das Abkommen auch die Aufhebung eines seit der Revolution in der mexikanischen Verfassung festgelegten Artikels vor, nach dem das gemeinschaftliche indigene Land unverkäuflich und nicht privatisierbar ist, weshalb sich in Folge des Abkommens der Aufstand der zapatistischen Befreiungsbewegung EZLN in Chiapas bildet (vgl. Atlas der Globalisierung 2011: 65).

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Zunächst geht es gen Norden des Landes, wo in den maquiladoras ein ständiger Bedarf an

Arbeitskraft besteht. Die Migrationskette verlängert sich aber meist bis in die USA, deren

verheißungsvolle9 Grenze unmittelbar an die EPZ angrenzt und von vielen Migranten illegal

überquert wird. In den USA besteht ebenfalls ein ständiger Bedarf an gering qualifizierter

Arbeitskraft in diversen Wirtschaftssektoren, dessen Umfang nicht durch reguläre, d.h. legale

Migranten gedeckt werden kann (vgl. GONZÁLEZ GONZÁLEZ 2009: 49) und wo die Löhne zudem

um ein Vielfaches höher sind (vgl. NÚÑEZ/KLAMMINGER 2010: 160). So sind die EPZ sowohl

Ankunfts- als auch Übergangsorte, Orte der omnipräsenten Mobilität von Migranten, die

zumeist indocumentados, also ohne Ausweispapiere unterwegs, sind.

Doch die massenhafte und omnipräsente Migration vom Süden Mexikos bzw.

Mittelamerikas in den Norden Mexikos bzw. USA lässt sich nicht allein über die

komplementäre örtliche Konstellation eines Pols der Nachfrage und eines des Angebots

erklären. In einem Land, wo ganze Landstriche entleert werden, da alle hacia el norte

emigrieren10, dorthin, wo zumeist schon mindestens ein Familienmitglied lebt, ist Migration zu

einem multikausalen Phänomen geworden, das sich nicht allein auf den ökonomischen Anreiz

zurückführen lässt. (Arbeits-)Migration kommt nicht durch eine rein individuelle, freie

Entscheidung und rationale Kosten-Nutzen-Rechnung zustande, wie die neoklassische Theorie

sie durch ihr Menschenbild des homo oeconomicus erklärt. Vielmehr spielen sog.

‚Migrationsnetzwerke‘ eine buchstäblich entscheidende Rolle:

[...] las redes de migrantes son nexos que incrementan la posibilidad de movimiento internacional porque minimizan los riesgos de desplazamiento, reducen los costos económicos y no económicos de la migración y son el motor a partir del cual se perpetúa cada vez en forma más independiente de las causas económicas que le dieron origen. (BARABAS et al. 2011: 31)

Die Bedeutsamkeit dieser informellen sozialen Netzwerke zeigt sich darin, dass sie die

Wahrscheinlichkeit von Migration erhöhen: Indem sie Risiken und Kosten der

(internationalen) Migration verringern, generieren sie selbst Mobilität und sind der Antrieb für

eine so entstehende Migrationskultur, die sich so immer mehr von ökonomischen Faktoren

und dem individuellen Wunsch der Verbesserung der Lebensbedingungen entkoppelt.

Migrationsnetzwerke schaffen transnationale, dynamische Gemeinschaften (vgl. BARABAS et al.

2011: 29). Migration wird zu einem kollektiven Trend, dem viele Migranten als Akteure

innerhalb einer größeren Einheit folgen. Wenngleich jede Migration einen Fall für sich

darstellt, wird hier klar, dass sie größeren sozialen und globalen Tendenzen gehorchen, sie

sind zu einem Teil der nationalen Identität geworden, die nicht nur von wirtschaftlichen

9 Vgl. dazu Carlos MONSIVÁIS (2005: 23-26), der die schon immer ambivalente Beziehung Mexikos zu

den USA in der auch kulturellen Globalisierung verschärft sieht: Anti-Amerikanismus und Nationalismus mischen sich mit Konformismus und dem Wunsch, am Wohlstand des Nachbarn teilzuhaben und sich deshalb seiner Kultur und Identität zunehmend anzupassen.

10 Offiziell emigrieren jedes Jahr ca. 400.000 Mexikaner dauerhaft in die USA und mehr als 380.000 Mexikaner überqueren jährlich die Grenze, um temporär in den USA zu arbeiten (vgl. GONZÁLEZ

GONZÁLEZ 2009: 37).

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9

Faktoren abhängig ist. Migrationsnetzwerke schaffen die Bedingungen und Motivation für eine

von den Migranten selbstorganisierte und sich selbst potenzierende Massenmobilität. Der

mexikanische und US-amerikanische Staat sind weit davon entfernt, diese zu kontrollieren11.

Das Ausmaß der Migration macht sich am Städtezuwachs bemerkbar. Die urbanen

Zentren der Industrie stellen die (temporären) Zielorte der Migration dar. Die Grenzstadt

Ciudad Juárez (Chihuahua) zum Beispiel, die Stadt mit dem höchsten Anteil an FDI und der

höchsten maquiladora-Konzentration in Mexiko (vgl. FUENTES/PEÑA 2010a: 11f.), ist in den

1960er Jahren noch eine Stadt mit rund 280.000 Einwohnern und wird durch stetige

Zuwanderung 2005 zu einer Millionenstadt (vgl. FUENTES/PEÑA 2010b: 105).

Die rasante Urbanisierung steigert den Bedarf an Wohnraum, führt in der attraktiven

Grenz- und Industrieregion aber auch dazu, dass Privatinvestoren sich weite Teile des

Stadtgebiets sichern, um es zu höheren Preisen weiterzuverkaufen. Die örtlichen Regierungen

auf der mexikanischen Seite sind, anders als auf der US-amerikanischen Seite in der

Nachbarstadt El Paso (Texas), der Zwillingsstadt von Cd. Juárez, nicht gewillt oder nicht

befähigt, die Bodenspekulation zu regulieren, zum Teil profitieren sie selbst von ihr. Der aus

der Privatisierung und Spekulation resultierende Anstieg des Bodenpreises macht den

Stadtkern für viele Menschen unbezahlbar und ergo unbewohnbar, weshalb die

ankommenden Migranten sich zumeist in der Peripherie ansiedeln, wo die Landpreise

günstiger sind, aber kaum Infrastruktur (Trinkwasser, Kanalisation, Müllabfuhr, Transport,

Elektrizität etc.) vorhanden oder Anschluss an das Stadtzentrum gewährt ist. Öffentliche

Dienste werden privatisiert und so haben lediglich besser verdienende Schichten der urbanen

Bevölkerung Zugang zu diesen Diensten. Fast die Hälfte der Bewohner von Cd. Juárez arbeitet

aber als einfache Arbeitskraft in den hier ansässigen maquiladoras: Da ihre Löhne es nicht

anders zulassen, konzentrieren sie sich in den peripheren Gegenden der Stadt, insbesondere

im Südwesten. Die Folge ist eine klaffende räumlich-soziale Segregation (vgl. FUENTES/PEÑA

2010b: 100-113).

Wo der offizielle Staat sich zurückzieht, nehmen neue oder parallele Autoritäten den

Platz ein. Neben den MNE und Privatinvestoren gehört dazu auch die Drogenökonomie.

Systematische Straflosigkeit und polizeiliche Korruption, bei der ein Beamter seine Funktion

ausnutzt, um privaten Gewinn zu erlangen, blicken auf eine lange Tradition in Mexiko zurück

(vgl. STAUDT/ROBLES 2010: 77), ebenso der narcotráfico, der meist über diese Phänomene

erklärt wird12. Die nationale ‚Tradition‘ des narcotráfico wird im Zuge der Globalisierung

11 Nachdem die Legalisierungspolitik Mitte der 1980er Jahre und das TLCAN-Abkommen eben nicht zu

einer Regulierung der mexikanischen Migration in die USA geführt hatten, sondern die ‚Ströme‘ von Migranten sogar noch verstärkten, folgte Mitte der 1990er Jahre eine restriktive Politik, die die illegale Immigration in die USA kriminalisierte (vgl. GONZÁLEZ GONZÁLEZ 2009: 32-34).

12 Dabei können Drogenhandel und -konsum in Mexiko in den 1980er Jahren auch durch Arbeitslosigkeit, Landarmut, geringe Löhne und geringen Arbeiterschutz, also durch Globalisierung mit bedingte Phänomene, wachsen: Viele verarmte Bürger sehen sich genötigt, mit den Drogenhändlern zu kooperieren. Ebenso werden im Zuge der Kürzung der Staatsausgaben weniger öffentliche Gelder zur Bekämpfung des Drogenhandels zur Verfügung gestellt (vgl. MEJIA 1988: 125-

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begünstigt, da die staatliche Gegenmacht13 geschwächt wird (vgl. CASTELLS 1998: 175).

Drogenkartelle operieren insbesondere in Zonen der hohen staatlichen ‚Durchlässigkeit‘ (vgl.

MONÁRREZ 2010: 28), die ein geringes Maß an Risiko und Strafverfolgung versprechen (vgl.

CASTELLS 1998: 173) und wo sie ihre eigenen Gesetze schaffen können: an Orten der

‚Abwesenheit des Staates‘, wie den EPZ.

Weshalb kann die spezifische Globalisierungsgeschichte Mexikos als paradigmatisch

betrachtet werden? Der Washington Consensus, der Mexiko mehr oder minder freiwillig den

Weg in die Globalisierung ebnet, ist eine Agenda, die von den Industriestaaten für mehrere

Länder in der Krise formuliert wurde14 und somit ein allgemeines Programm des nachhaltigen

Wirtschaftswachstums darstellen sollte. Somit ist Paradigmatik bereits konstitutiver

Bestandteil der Idee von Globalisierung: Der Ökonomie den Weg zu ebnen und den nationalen

Raum für sie zu öffnen, gilt als Universalie. Der Washington Consensus steht für eine

quantitative Sicht auf die Welt, nach der die Entwicklung eines jeden Landes in den gleichen

Zahlen gemessen werden kann. Das Ziel der convergencia impliziert die Vorannahme, dass sich

alle ‚Entwicklungs‘-Länder auf der gleichen und vergleichbaren Schiene der Entwicklung und

des stetigen Wachstums befänden (vgl. HARDT/NEGRI 2000: 281f.)15. Dennoch führen die

Strukturanpassungsprogramme nicht zu gleichen Ergebnissen. Dass der Weltmarkt nun an

oberster Stelle der nationalen Politik steht, bewirkt keineswegs eine Vereinheitlichung der

Welt, in dem Sinne, dass die ‚Dritte Welt‘ nun nicht mehr bestünde. Der Literaturtheoretiker

Michael HARDT und der Politikwissenschaftler Antonio NEGRI betonen in ihrem gemeinsamen

Traktat Empire (2000), dass sich ‚Erste Welt‘ und ‚Dritte Welt‘ zunehmend verstricken und

sich einander räumlich annähern. Ein Signum der globalisierten Welt, insbesondere aber im

Global South, ist die Bildung von Slums (vgl. HARDT/NEGRI 2000: 253f.; DAVIS 2004). Arm und

127). Weiterhin begünstigend ist die politische Dezentralisierung, die in den 1980er Jahren in Mexiko stattfindet und mit der Einschränkung der Zentralgewalt der PRI (Partido Revolucionario Institucional) einhergeht.

13 Falls diese ‚Gegenmacht‘ im Fall von Mexiko je eine war: Neben dem privaten Profitieren Einzelner durch Korruption, also der parasitären Einnahme von staatlichen Institutionen, profitiert mittlerweile die gesamte mexikanische Wirtschaft vom Drogenhandel, ohne den sie um rund 60% einbrechen würde (vgl. GONZÁLEZ RODRÍGUEZ 2002: 109). Die verschiedenen Machtinstanzen sind längst ineinander verwoben: „[...] el crimen en lo fundamental es organizado desde el Estado, protegido desde el Estado y defendido desde el Estado [...] De hecho, las ‘mafias’ mexicanas habitan en el corazón del mismo Estado“ (GONZÁLEZ RODRÍGUEZ 2002: 66f.). Insofern erscheint auch die Bezeichnung der ‚organisierten Kriminalität‘ von Seiten des Staates zumindest doppeldeutig.

14 Mexiko war dabei von 1987 bis 1992 der größte Kreditnehmer des IWF (vgl. Abbildung 1 im Anhang). 15 Das vereinheitlichte Ziel des Wirtschaftswachstums und die policy implications ignorieren aber die

klaffenden politischen und sozialen Bedingungen der unterschiedlichen Länder sowie die unterschiedlichen Stadien der Demokratie, auf die die Maßnahmen fallen. Es wird zudem oft kritisiert, dass das ‚Rezept‘ des freien Marktes, das den verschuldeten Entwicklungsländern durch den Washington Consensus empfohlen wird, in den Industriestaaten, die diese ‚Ratschläge‘ entwerfen, in dieser Form gar nicht angewandt wird. Hier sorgen staatliche Interventionen und ein relativ regulierter Markt für mehr Protektionismus (vgl. CALVA 2007: 13). Dies zeigt, dass Globalisierung keine Kooperation zwischen gleichgestellten Partnern ist.

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11

Reich können unmittelbar und dicht beieinander liegen, in einer Stadt vereint, und sind

dennoch Welten voneinander entfernt, durch feine Linien der Trennung markiert.

Dieses Kapitel hat deutlich gemacht, wie ‚Globalisierung‘ als wirtschaftspolitisches

Programm für mehrere Nationen sich z.T. ganz lokal artikulieren kann, zum Beispiel an der

Grenzregion Mexiko/USA, wo mehrere Akteure die Souveränität des Nationalstaates

unterwandern. In Cd. Juárez, quantitativ am meisten von der Globalisierung ‚betroffen‘,

bündeln sich globale Tendenzen: Als Industriestandort bietet die Stadt viele

Arbeitsmöglichkeiten, allerdings zu prekären sozialen Bedingungen; als Grenzstadt ist sie

zugleich Ankunftsort und Ausgangspunkt nationaler und internationaler Migration. Die sich

zunehmend verselbstständigende Migration wird zum Symptom der Globalisierung, die ihr

Auslöser ist und gleichzeitig durch sie angekurbelt wird, da sie den Einfluss des

Nationalstaates weiter einschränkt. Somit ist Migration ein Phänomen, das zwischen

Partikularität und Globalität steht: Nicht nur werden in ihr die spezifischen Geschichten

einzelner offenbart, sondern auch Makrostrukturen der Globalisierung sichtbar (vgl.

NÚÑEZ/KLAMMINGER 2010: 155).

1.3 WEGE DER GLOBALITÄT: DIE GESCHICHTE DER GLOBALISIERUNG

Wenngleich der Begriff der Globalisierung in der Funktion einer Gegenwartsdiagnose erst seit

den 1990er Jahren Konjunktur hat (vgl. OSTERHAMMEL/PETERSSON 2003: 7), so wird heutzutage

ebenso oft betont, dass die Prozesse der Globalisierung auf eine jahrhundertelange Geschichte

zurückblicken. Die historische Perspektive auf Globalisierung führt uns in die Anfänge des

Kolonialismus und somit zu einer speziellen, historischen Wahrnehmung der Welt. Daran

anschließend wollen wir uns fragen, wie ‚Globalität‘ sich unter den gegebenen

Voraussetzungen der aktuellen Globalisierung aktualisiert.

Der Romanist Ottmar ETTE (2012: 26) betont, dass die Globalisierung, derer wir heute

Zeuge werden, nichts radikal Neues sei, sondern vielmehr aus einem jahrhundertelangen

Prozess der globalen Verflechtung hervorgehe, der seit ihrem Beginn, dem Kolonialismus,

bestimmte Kontinuitäten und strukturelle Konstanten aufweist. Schon in der Frühen Neuzeit,

der „ersten Phase beschleunigter Globalisierung“ (ETTE 2012: 10), also einer frühen,

historischen Form von Globalisierung, wird dabei ein asymmetrisches, ungleiches Verhältnis

auf dem Globus geschaffen. Das Wissen über die Welt sei nie absichtslos, immer an eine

potentielle Beherrschung der Welt gebunden (vgl. ETTE 2012: 9). Die grundsätzliche

Asymmetrie globaler Verhältnisse ziehe sich durch bis in die heutige Ausprägung von

Globalisierung. Parallel dazu entsteht im Abendland von Anfang an ein „Imaginarium des

Globalen“ (ETTE 2012: 12), das die Ereignisse reflektiert und sie gleichzeitig mitprägt.

Der Literaturwissenschaftler Walter D. MIGNOLO führt diese Asymmetrie, die man auch

als Eurozentrismus bezeichnen könnte, noch weiter aus. Die lineare Weltanschauung, die der

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Globalisierungsagenda des Washington Consensus zugrunde liegt und die wir im

vorangegangenen Kapitel thematisiert haben, verortet er in einem europäischen epistemischen

Schema, einem sog. Makronarrativ, durch das Europa über Jahrhunderte hinweg seine

Hegemonie sichern kann:

For five hundred years, universal history was told from the perspective of one local history, that of Western civilization, an aberration, indeed, that passed for the truth. […] Western civilization managed to have the epistemic privilege of narrating its own local history and projecting it onto universal history […] (MIGNOLO 2000: ix)

Die Vormachtstellung Europas beruhe nicht nur auf der physischen Expansion in Form des

Kolonialismus, sondern auch auf der Expansion einer Geschichte bzw. eines Narrativs aus

einer lokalen Perspektive, das als universale Wahrheit ‚exportiert‘ wurde. So zieht MIGNOLO

Verbindungslinien zwischen der Christianisierungsmission, mit der die Kolonialisierung im 15.

Jahrhundert ihren Anfang nimmt und die später abgelöst wird durch die Zivilisierungsmission

im 18. Jahrhundert, eine Art säkularisierte Form der christlichen Mission und unterscheidet so

in verschiedene Etappen der Kolonialisierung/Globalisierung. Das Programm der ‚neoliberalen‘

Globalisierung am Ende des 20. Jahrhunderts ist für MIGNOLO lediglich eine weitere

neokoloniale Etappe dieser Missionen, wenngleich die USA hier die hegemoniale Position

Europas bereits übernommen hat (vgl. MIGNOLO 2000: 279f.).

Dabei verortet MIGNOLO Ende des 19. Jahrhunderts einen Paradigmenwechsel, der der

entscheidende ideengeschichtliche Umbruch sein könnte, welcher die lineare Auffassung von

Globalisierungsprogrammen überhaupt erst ermöglicht: „spatial boundaries were transformed

into chronological ones“ (MIGNOLO 2000: 283). Vormals räumliche Abgrenzungen werden

durch zeitliche ersetzt. Globale Unterschiede werden nun nicht mehr auf geographische

Distanzen und somit räumlich bedingte Eigenheiten zurückgeführt und darüber erklärt,

sondern von nun an chronologisch eingeordnet und dargestellt auf einer fiktiven linearen

Skala von Fortschritt und Zivilisation – es gibt nur noch unterschiedliche, bewertbare Stadien

der Entwicklung. Somit ist die Geschichte des Kolonialismus bei MIGNOLO auch die Geschichte

einer bestimmten Wahrnehmung (der Welt) und eines Makronarrativs, welches diese

Wahrnehmung vertritt und das von einer bestimmten lokalen Instanz aus erzählt und

verbreitet wird.

ETTE und sein ‚Imaginarium des Globalen‘, MIGNOLO und sein ‚Makronarrativ‘: Beide

verankern sie im Kontext des Kolonialismus, was die historische Relevanz und Wirkungskraft

dieser Konstrukte verdeutlicht. Es sind Weltbilder, die globalpolitischen Entscheidungen

vorausgehen und zugleich aus ihnen resultieren. Wir wollen diese spezielle

Wahrnehmung der Welt, die die Welt maßgeblich prägt und geprägt hat, im Folgenden

‚Globalität‘ nennen. Im Gegensatz zum Begriff der Globalisierung ist ‚Globalität‘

terminologisch eher unterbelichtet. Der Duden von 2000 gibt unter ‚Globalität‘ lediglich „das

Globalsein, globale Beschaffenheit“ an, eine Bedeutung, die auf der Eigenschaft des Zustands

insistiert, während ‚Globalisierung‘ rein sprachlich einen Prozess impliziert. Durch MIGNOLOS

und ETTES historische Perspektive gehen wir davon aus, dass Globalität schon immer und zu

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13

allen Zeiten existent war und sich dabei auf der anderen Seite der globalpolitischen

Veränderungen verortet. Wie aber steht es um die Globalität in der heutigen Ausprägung von

Globalisierung? Wir wollen uns Aspekte der aktuellen Globalität ausgehend von Ulrich BECKS

und Édouard GLISSANTS Überlegungen zum Begriff der Globalität erarbeiten.

Globalität bezeichnet die Tatsache, daß von nun an nichts, was sich auf unserem Planeten abspielt, nur ein örtlich begrenzter Vorgang ist, sondern daß alle Erfindungen, Siege und Katastrophen die ganze Welt betreffen und wir unser Leben und Handeln, unsere Organisationen und Institutionen entlang der Achse ‚lokal-global‘ reorientieren und reorganisieren müssen. (BECK 1997: 30)

Für BECK ist ‚Globalität‘ unmittelbar mit ‚Globalisierung‘ verknüpft: Globalität ist ein Zustand,

der sich aus den faktischen Prozessen der Globalisierung ergibt. Globalität heute meint, dass

kein Ereignis mehr als rein lokal und isoliert wahrgenommen, sondern immer im Kontext der

globalen Vernetzung und Verwobenheit über nationalstaatliche Grenzen hinweg aufgefasst

wird. Ebendiese zugleich kollektive und subjektive Selbstwahrnehmung und Selbstdefinition

der Menschen als transnationale ‚Weltgesellschaft‘ ist dabei ein entscheidendes Merkmal der

gegenwärtigen Globalisierung (vgl. BECK 1997: 31).

Das formulieren HARDT/NEGRI noch radikaler: Es gibt keinen Standpunkt mehr

außerhalb der Globalisierung (vgl. HARDT/NEGRI 2000: 34). Die ‚globale Macht‘, von

HARDT/NEGRI Empire getauft, ist horizontal und befindet sich überall und zugleich nirgendwo

(vgl. HARDT/NEGRI 2000: 190). HARDT/NEGRI charakterisieren den Kapitalismus als System, das

sich selbst potenziert: Wachstum und ‚Liberalisierung‘ sind zu einem allgemeinen Ziel erklärt

worden und bieten gleichzeitig das Mittel zur Erreichung dieses Ziels, nämlich sie selbst. Diese

Selbstdynamik beruht auch darauf, dass die „Ideologie des Weltmarktes“ (HARDT/NEGRI 2000:

150) von allen Menschen verinnerlicht wird. HARDT/NEGRI sprechen in Anlehnung an Michel

FOUCAULT von der Selbstdisziplinierung des Subjekts in der Globalisierung, welches die

Globalisierung scheinbar freiwillig mitmacht, sie dadurch vorantreibt und sich parallel dazu

selbst ausbeutet (vgl. HARDT/NEGRI 2000: 330). Einen entscheidenden Stellenwert räumen sie

dabei den Kommunikationsmedien ein:

The development of communications networks has an organic relationship to the emergence of the new world order – it is, in other words, effect and cause, product and producer. Communication not only expresses but also organizes the movement of globalization. (HARDT/NEGRI 2000: 32)

Kommunikationsmedien sind zugleich produziert und produzierend: Sie gehen aus der

globalen Vernetzung hervor und erschaffen sie gleichzeitig mit, da sie selbst horizontale

Netzwerke sind und darüber hinaus ein globales Bewusstsein erschaffen. So kann sich

niemand der vernetzten und globalisierten Gesellschaft entziehen, alle partizipieren an ihr.

Die Globalisierung produziert also Subjekte, die das System selbst reproduzieren. Das

Paradoxe dabei ist, dass wir denken, wir würden frei und mündig handeln, da der Kapitalismus

auf einer liberalen Grundidee fußt. Mit Byung-Chul HAN könnte man sagen, das Empire habe

das Höchstmaß an Macht erlangt, ja einen quasi totalitären Status, denn der Gipfel der Macht

ist dann erreicht, wenn Stille herrscht, wenn sie also nicht mehr thematisiert wird und die

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14

Illusion von Freiheit fortbesteht (vgl. HAN 2005: 9). So wird in der Globalisierung die Frage

drängend, inwiefern Subjekte noch als solche zu bezeichnen sind und nicht zu Objekten des

Marktes geworden sind, inwiefern aus ihrer scheinbaren individuellen Freiheit nicht gerade ihr

Opfersein besteht.

Gerade aufgrund dieser Universalisierung der kapitalistischen Weltordnung und

Omnipräsenz des Ökonomischen lassen HARDT/NEGRI keinen Zweifel an den Protest- und

Widerstandsmöglichkeiten: Man kann sich nur an jedem Ort und zu jeder Zeit gegen das

Empire stellen (vgl. HARDT/NEGRI 2000: 211). Während BECK Globalität also als unvermeidbares

Resultat einer globalisierten Gesellschaft betrachtet, formulieren HARDT/NEGRI im selben

Zuge eine Kritik an der Verinnerlichung des Ökonomischen, weshalb Globalität, selbst wenn

letztere diesen Begriff nicht nennen, auch ein Gegenentwurf zur Globalisierung sein sollte.

Der Schriftsteller und Philosoph Édouard GLISSANT unterscheidet zwischen

mondialisation, dem französischen Begriff für Globalisierung, auf der einen und mondialité auf

der anderen Seite, einem von ihm eingeführten Begriff. Da Globalisierung für GLISSANT eine

zunehmende kulturelle Monotonisierung und Homogenisierung bedeutet, eine „anti-

diversité“, sollte Globalität eine Antwort, ein imaginäres Gegenmodell dazu sein, das für

Diversität und die Begegnung mit dem Anderen oder dem Fremden, das und den es auch in

der Globalisierung noch gibt, einsteht16. Der Widerstand gegen Globalisierung sollte aber nicht

in Regionalismus münden, da GLISSANT, ähnlich wie BECK, betont, dass das Globale schon

längst und irreversibel unser Leben und Handeln bestimmt.

Was die gleichmachenden Tendenzen der Globalisierung angeht, machen HARDT/NEGRI

(2000: 198f.) eine interessante Beobachtung: Zum einen vollziehe die Globalisierung sich

inclusive, da alle Subjekte, ungeachtet ihrer Herkunft und ihres Geschlechts, Teil davon sind

und zumindest theoretisch von den gleichen universalen wirtschaftlichen Möglichkeiten

profitieren. Zum anderen sei sie auf einer oberflächlichen Ebene differential, da Lokalkolorit

und Exotisch-Authentisches zelebriert und zu touristischen Zwecken konstruiert werden,

solange sie nicht konfliktträchtig sind, und somit kommerzialisierbar und vermarktbar

werden.

In Anbetracht der historischen Verwurzelung von Globalisierung über die letzten 500

Jahre betont auch der Historiker Jürgen OSTERHAMMEL, dass es gerade die nun vorhandene,

internationale Perspektive sowohl auf heutige als auf historische Prozesse ist, die die heutige

Globalisierung zu einem ‚neuen‘ Phänomen mache (vgl. OSTERHAMMEL/PETERSSON 2003: 10).

Wir verfügen jetzt über einen Begriff, der uns erlaubt, die Geschichte der Welt aus einer

Perspektive der Verflechtung und Vernetzung zu betrachten. Diese ‚Globalperspektive‘

bedeutet, dass die klassische Geschichtsschreibung aus der Perspektive eines Nationalstaates

16 Vgl. dazu das Interview „Non la mondialisation, mais la ‘mondialité’”, das Laure ADLER 2004 mit ihm

führte.

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überwunden wird17 und ließe sich in diesem Sinne ebenso unter dem Begriff der Globalität

fassen.

In diesem Kapitel wurde über einen (post-)kolonialen Exkurs deutlich, dass Globalität

sich je nach Lage der Welt aktualisiert, globale Themen reflektiert und sie gleichzeitig mit

prägt. Die heutige Globalität ist geprägt durch die Verinnerlichung des Ökonomischen und

somit ein Spiegel und Resultat der Globalisierung. Gleichzeitig kann Globalität sich kritisch zu

den Prozessen der Globalisierung positionieren und verfügt dabei über die medialen und

diskursiven Möglichkeiten dafür, jedoch wird oft betont, dass unsere Freiheit in dem

Zusammenhang vielleicht nur eine Illusion ist. Das ‚Zeitalter der Globalisierung‘ ist zudem das

Zeitalter eines globalen Bewusstseins, das nationalen Paradigmen und Narrativen nicht mehr

verpflichtet ist. Das entspricht der Wahrnehmung der Welt in 2666, die, wie wir sehen werden,

sowohl eine kritische Reflexion auf die Gegenwart ist, d.h. die Darstellung einer globalisierten

Welt, als auch ein (subjektiver) Streifzug durch die globale Geschichte, ohne dabei eine

spezielle nationale Perspektive einzunehmen.

1.4 VORÜBERLEGUNGEN ZU EINER ÄSTHETISCHEN GLOBALITÄT: BAUDELAIRES „LE VOYAGE“

Während Globalisierung ein relativ fassbares, konkretes Phänomen ist, ist Globalität also eine

subjektive Wahrnehmung der Welt, ein Weltbild. Dieses Weltbild impliziert bereits, dass es

zum einen konstruiert ist, zum anderen an eine spezielle Perspektive gebunden ist – ganz

ähnlich wie eine ästhetische Konstruktion. Man könnte also sagen, dass Globalität selbst eine

perspektivgebundene Fiktion ist, die wiederum durch ästhetische Konstruktionen geprägt sein

kann. Wir wollen im Folgenden aber die Globalität innerhalb einer Fiktion selbst analysieren.

Für diese ästhetische Globalität muss unterschieden werden zwischen der Gesamtkomposition

des Textes und der Figurenrede, die verschiedene Globalitäten innerhalb der Gesamtglobalität

des Textes darstellen kann. Zu zeigen wie genau sich Globalität in 2666 auf diesen Ebenen

artikuliert, ist Ziel dieser Arbeit und wird in Kapitel 3 besprochen. Bevor wir uns der

literarischen Analyse von 2666 widmen, sind jedoch noch einige Vorüberlegungen angebracht.

Was den fünfteiligen und örtlich sowie thematisch weit gestreuten Roman eint, ist der

Titel 2666 sowie das dem Roman vorangestellte Motto von Charles BAUDELAIRE: „Un oasis de

horror en medio de un desierto de aburrimiento“. Wir wollen dieses Zitat und das Gedicht, aus

dem es stammt, in diesem Kapitel auf den Aspekt der Globalität hin untersuchen und sehen

was dieses aus dem Jahre 1861 stammende Zitat uns vorab an Aufschluss geben kann über den

17 Gleichzeitig sollte diese nationale Perspektive nicht durch eine komparatistische Perspektive ersetzt

werden, da sie das Problem der zu vergleichenden Einheiten stellt (vgl. OSTERHAMMEL 2001: 344) und somit wieder auf den Begriff der Nation referiert. Histoire croisée ist ein rezenter historiographischer Ansatz, der sich dieser Globalperspektive verpflichtet sieht. Der internationale Vergleich, dem eine synchrone Betrachtungsweise zugrunde liegt, soll durch eine diachron ausgelegte Transfergeschichte ersetzt werden (vgl. WERNER/ZIMMERMANN 2002).

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Roman aus dem Jahre 2004. Es handelt sich dabei um eine punktuelle Aktualisierung von

Globalität zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt, die aber entscheidend für Bolaños

Globalität in 2666 zu sein scheint.

Das Motto ist eine Zeile aus dem achtteiligen Gedicht „Le voyage“, erschienen im Zyklus

„La mort“ aus den Fleurs du Mal, ein Gedicht, dem Bolaño auch an anderen Stellen Beachtung

schenkt. bespricht. „Le voyage“, wie der Titel erahnen lässt, ist auf den ersten Blick ein Gedicht

über das Reisen. Es beginnt mit einer naiven, kindlichen Neugierde:

Pour l’enfant, amoureux de cartes et d’estampes, L’univers est égal à son vaste appétit, Ah ! que le monde est grand à la clarté des lampes ! Aux yeux du souvenir que le monde est petit ! (I, Z. 1-4)

Die Lust auf Reisen zu gehen entsteht schon im Kindesalter durch Weltkarten und

Briefmarken, die den Appetit auf die Welt, ja gar auf das ganze Universum schüren. In diesem

Stadium scheint die Welt unheimlich groß, so groß wie der Appetit selbst. Später wird diese

Kinderfantasie zu den Hoffnungen und Erwartungen des Reisenden, die im zweiten Quartett

bereits in der Ersten Person Plural und im Präsens beschrieben werden: „Berçant notre infini

sur le fini des mers“ (I, Z. 8). Die Vorstellungen des Reisenden sind unendlich, seine

Erwartungen unstillbar, er ist getrieben von Neugierde, ja er wird selbst zum Objekt seiner

Neugierde: „La Curiosité nous tourmente et nous roule“ (II, Z. 3). Doch die begrenzte äußere

Welt kann sich mit dieser sehr viel reicheren, grenzenlosen, inneren Welt der „Imagination“

(II, Z. 15), der Globalität, nicht messen (vgl. GOLDBÆK 1990: 80). Die kleine Welt kann nur

enttäuschen, da sie den großen Erwartungen, dem Verlangen („désir“, IV, Z. 12) nicht

standhält. Die erhoffte Verzauberung durch die Welt findet in der Realität der bereisten Orte

nicht statt; sie besteht nur in der unermesslichen Vorstellungskraft, nicht in der tatsächlichen

Erkundung der Welt.

In seinem Essay über „Le voyage“ äußert Bolaño sich zu dem hier beschriebenen Reisenden:

Por cierto, las primeras estampas de viaje no rehúyen ciertas visiones paradisiacas, producto más de la voluntad o de la cultura del viajero que de la realidad [...]. El viajero de Baudelaire tiene la cabeza incendiada y el corazón repleto de rabia y amargura, es decir, probablemente se trata de un viajero radical y moderno, aunque por supuesto es alguien que razonablemente quiere salvarse, que quiere ver, pero que también quiere salvarse. (BOLAÑO 2003: 150f.)

Bolaño insistiert hier zum einen darauf, dass BAUDELAIRES Reisender primär Dinge sehen

möchte und sich von seiner Reise die visuellen Reize erhofft, die er sich zuvor ausgemalt

hatte18. Doch das Auge, dem zuhause über Karten und Briefmarken viel versprochen wurde,

wird zwangsläufig enttäuscht. Das Reisen erfüllt nur so lange die Hoffnungen, als dass die

eigene Wahrnehmung, eine kulturelle Schablone und ein eigener Wille, eine Verzauberung

durch die Dinge zulässt, während die tatsächlichen Eindrücke nicht viel in ihm bewirken

18 Dementsprechend wohl auch die Abneigung des Protagonisten Arturo Belano aus Los detectives

salvajes (1998), der seiner Freundin Laura Jáuregui über die Orte, die er bereisen möchte, das folgende sagt: „no pienso verlos, pienso vivir en ellos, tal como he vivido en México“ (211).

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vermögen. Außerdem ist der hier beschriebene Reisende ein moderner Reisender, der sich

selbst zu retten sucht, einer Sache entfliehen, entkommen möchte, doch welcher? Später im

Gedicht lautet es, einen zurückgekehrten Reisenden zitierend:

Et, malgré bien des chocs et d’imprévus désastres, Nous nous sommes souvent ennuyés, comme ici. (IV, Z. 3-4)

Die Realität selbst der fernsten Orte führt zum selben Überdruss wie zuhause. Das Einzige,

was diese Ödheit unterbricht, sind Dinge, die schieflaufen. Zuvor hatte man sich von den

exotischen Orten erhofft, dass diese Quelle von Glück und Schönheit seien: „Frères qui trouvez

beau tout ce qui vient de loin !“ (IV, Z. 20). Man möchte der Langeweile zuhause entfliehen, ihr

entkommen, doch die tatsächlichen Orte in der Fremde sind, ebenso wie der Ort, von dem

man aufbricht, auch nur ganz einfache Orte, erneute Quellen des ennui, dem, gemäß

BAUDELAIRE, schlimmsten aller menschlichen Laster19: Mehr als nur einfache Langeweile,

äußert sich im ennui ein existenzieller Zustand der Abnutzung und Leere, der Abscheu,

Übersättigung und grundlosen Melancholie (vgl. LE PETIT ROBERT). „Comme ici“ ist eine

Ernüchterung über Ähnlichkeiten und Parallelen des Hier und Dort, man war auf der Suche

nach Neuem, mit dem man die inneren Unzulänglichkeiten überwinden wollte. Die Reise ist

die Hoffnung auf und der Drang nach Unterschieden, nach Anderem, Anderssein und

Anderswerden in der Ferne. Die Ähnlichkeits- oder gar Gleichheitserfahrung in der Ferne

kommt daher einer Enttäuschung gleich. Somit führt die baudelaire’sche Reise am Ende

zwangsläufig in den Tod, da dieser dem enttäuschten Reisenden als letzte Bastion noch Neues

verspricht. Immer wieder, immer nur Neues finden zu wollen, ist das einzige, absurde Streben

des Reisenden. Die Kritik, die sich hieraus ergibt, erschöpft sich nicht in einer reinen

Tourismuskritik, wie es Walter BENJAMINS Lektüre von BAUDELAIRES Werk bezeugt:

Es ist sehr wichtig, daß das ‚Neue‘ bei Baudelaire keinerlei Beitrag zum Fortschritt leistet. Im übrigen findet man bei Baudelaire kaum je einen Versuch, sich mit der Vorstellung vom Fortschritt ernstlich auseinanderzusetzen. Es ist vor allem der ‚Fortschrittsglaube‘, den er mit seinem Haß verfolgt, wie eine Ketzerei, eine Irrlehre, nicht wie einen gewöhnlichen Irrtum. (BENJAMIN 1974: 183)

BENJAMIN analysiert hier den quasi religiösen Status, den der Fortschritt in der Gesellschaft

genießt und dem BAUDELAIRE nicht nur skeptisch, sondern voller Hass gegenüber steht. Wenn

schon der ganze Globus nichts als ein „spectacle ennuyeux“ (VI, Z. 5) bietet, an dem die

gesamte „Humanité“ (VI, Z. 18) beteiligt ist, wie sollte die Zeit dann Veränderung bringen?

Nirgendwo auf der Welt ist eine Alternative zu sehen, nirgendwo die Möglichkeit gegeben,

dem eigenen Leben zu entfliehen. Die Ernüchterung und Entzauberung durch die Welt

bündelt sich in einer für 2666 entscheidenden Metapher, die der Romantisierung und

Exotisierung der Welt eine endgültige Absage erteilt:

Amer savoir, celui qu’on tire du voyage ! Le monde, monotone et petit, aujourd’hui,

19 Vgl. dazu das den Fleurs du Mal programmatisch vorangestellte Gedicht „Au Lecteur“: „Dans la

ménagerie infâme de nos vices/Il en est un plus laid, plus méchant, plus immonde !/[…] C’est l’Ennui !“ (Z. 32-37).

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Hier, demain, toujours, nous fait voir notre image : Une oasis d’horreur dans un désert d’ennui ! (VII, Z. 1-4) [Hervorhebung von mir]

Reisen führt lediglich zu einer Gewissheit, nämlich der Monotonie der Welt, die den inneren

ennui spiegelt, auf den man somit an jedem Ort und zu jeder Zeit zurückgeworfen wird. Zu der

spezifischen Zeile äußert Bolaño sich, noch bevor sie zum Motto von 2666 wird, wie folgt:

En medio de un desierto de aburrimiento, un oasis de horror. No hay diagnóstico más lúcido para expresar la enfermedad del hombre moderno. Para salir del aburrimiento, para escapar del punto muerto, lo único que tenemos a mano, y no tan a mano, también en esto hay que esforzarse, es el horror, es decir el mal. [...] Hoy, todo parece indicar que sólo existen oasis de horror o que la deriva de todo oasis es hacia el horror. (BOLAÑO 2003: 151f.)

Für Bolaño äußert sich in der ‚Oase des Grauens in einer Wüste der Langeweile‘ auf

hellsichtige Weise das Krankhafte des modernen Menschen. Der einzige Ausweg aus dem

ennui, dem durch die Übersetzung ins spanische aburrimiento etwas von seiner existenziellen

Schwere genommen wird20, ist das Grauen, das somit zu einer prekären Oase innerhalb der

gähnend leeren Wüste wird. BAUDELAIRES Nihilismus und Abneigung gegen Fortschritt

während des Zweiten Kaiserreichs greift Bolaño rund 140 Jahre später wieder auf, als ob

BAUDELAIRE hier eine Prognose der Schrecken des 20. Jahrhunderts lieferte, auf die 2666 (2004)

bereits zurückschaut. In „Le voyage“ hat der Mensch unendliche Fantasien und Pläne für die

Welt, die völlig unabhängig von der eigentlichen, realen Welt bestehen; in 2666 wird

geschildert, wie weite Flächen dieser Welt bereits der globalen Ökonomie zur Verfügung

gestellt wurden. Das Baudelaire-Motto zu 2666 ist nicht nur die wörtliche Situierung der

Wüstenstadt Santa Teresa mit ihren grauenhaften Ereignissen, sondern auch eine

metaphysische und emblematische Verbildlichung des Horrors der gesamten modernen Welt,

in der selbst das Grauen, die letzte Oase, beginnt, sich zu reproduzieren und der Horror somit

auch Gefahr läuft, zum ennui zu werden. In diesem Motto wird also die Funktion Santa Teresas

in 2666 bereits offenbar: In Santa Teresa verdichten sich globale Tendenzen des Grauens.

Santa Teresa ist das Symptom einer krankenden Welt. Schauen wir im Folgenden, in welchen

Weisen die Globalisierung sich in Santa Teresa artikuliert und welcher ihr Beitrag zu dem hier

stattfindenden Grauen ist.

‚Organisatorisch‘ bedeutet das: Kapitel 2 widmet sich den Auswirkungen der

Globalisierung auf zwei grundsätzlichen Ebenen. Kapitel 2.1 und 2.2 drehen sich um das

Subjekt in Santa Teresa, um seine Mobilisierung und häufig darauffolgende individuelle, aber

auch allgemein menschliche Entwertung. In Kapitel 2.3 und 2.4 geht es um die Ebene des

Raums, also die räumlichen Veränderungen in der Globalisierung sowie die Emblematik des

Raums für die conditio humana in der Globalisierung. Beide Ebenen des Subjekts wie des

Raumes geben Aufschluss über die Machtverhältnisse in Santa Teresa und somit denen eines

globalisierten Zeitalters.

20 Bolaño zitiert in seinem Essay die Übersetzung von Antonio MARTÍNEZ SARRIÓN, der ennui mit tedio

übersetzt; Bolaño entscheidet sich in der Folge aber für aburrimiento (vgl. BOLAÑO 2003: 151).

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2. SANTA TERESA ALS KRISTALLISATIONSPUNKT DER GLOBALISIERUNG

2.1 MIGRATION UND NOMADISIERUNG

Die fiktionale Welt, die Bolaño insbesondere im vierten Teil von 2666 konstruiert, ist eine, die

der faktischen Welt der Globalisierung, wie wir sie in Kapitel 1 besprochen haben, in geradezu

dokumentarischer Weise entspricht. Ein Großteil der vielen Subjekte, die sich in dieser

fiktionalen Welt um Santa Teresa bewegen, sind Migranten. In diesem Kapitel soll das

Phänomen der Migration in Santa Teresa im Sinne eines Symptoms der Globalisierung, also als

Ausdruck, aber auch als Motor von Globalisierung, genauer betrachtet werden. Dafür sollen

zunächst die Folgen der Migration zum einen für die Migranten selbst, nämlich ein steigendes

Maß an Unzugehörigkeit, zum anderen für die –verfehlten– Ermittlungen im vierten Teil des

Romans aufgezeigt werden. Anhand der zumeist nicht gelingenden bzw. nicht erfolgenden

Identifizierung und Lokalisierung der Opfer bzw. Täter macht sich der schwindende Einfluss

staatlicher Strukturen bemerkbar. Anhand der in diesem Kapitel zu besprechenden Metapher

des Nomadischen stellt sich darüber hinaus die Frage nach den Machtverhältnissen in einem

globalisierten Zeitalter.

Typischerweise21 stammen die MigrantInnen in Santa Teresa entweder aus den südlichen

bzw. zentralen Bundesländern Mexikos wie Oaxaca, Zacatecas oder Querétaro oder aus einem

anderen mittelamerikanischen Land wie El Salvador, Guatemala oder Honduras. Santa Teresa

ist ein Anziehungspunkt für Migration aus dem Süden in den Norden, weil sich in der

Industriestadt viele Arbeitsplätze in den maquiladoras bieten; gleichzeitig ist Santa Teresa als

Grenzstadt das perfekte Sprungbrett in die USA:

[...] eran del estado de Hidalgo, en el centro de la república, y ambos emigraron al norte en 1985, en busca de trabajo. Pero un día el padre decidió que con lo que ganaba en las maquiladoras no iban a mejorar las condiciones de vida de su familia y decidió cruzar la frontera. Partió junto con otros nueve, todos del estado de Oaxaca. (2666: 503)

Luisa hablaba de emigrar a los Estados Unidos y que incluso tuvo tratos con un pollero, pero finalmente decidió quedarse en la ciudad. (2666: 656)

Viele der ankommenden Migranten verweilen nur temporär in Santa Teresa und ziehen bald

weiter, andere entscheiden sich, zumindest für einen Moment zu bleiben. Santa Teresa ist ein

Knotenpunkt multidirektionaler Migration; regional gebundene und informelle

Migrationsnetzwerke bieten die dabei nötige Absicherung für die Migranten. Die

internationale Migration, die von Santa Teresa in Richtung USA ausgeht, geschieht in den

meisten Fällen illegal, d.h. mit Hilfe eines pollero, d.h. eines Schleusers. Die migrierenden

Subjekte sind zudem meist indocumentados. Im vierten Teil wird dies anhand der toten

Protagonistinnen22 deutlich, die fast ausnahmslos keine ihre Nationalität oder Identität

bestätigenden Ausweispapiere an ihrem Körper tragen und deshalb in vielen Fällen

unidentifiziert bleiben: 21 Im Folgenden wird oft von typischen Fällen aus dem vierten Teil gesprochen, um strukturelle

Analogien in der Menge an Subjekten im vierten Teil aufzuzeigen. 22 Vgl. MUNIZ (2010: 35): „protagonismo de cadáveres“.

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No tenía pasaporte ni agenda ni nada que pudiera identificarla. (2666: 446)

La primera muerta de mayo no fue jamás identificada, por lo que se supuso que era una emigrante de algún estado del centro o del sur que paró en Santa Teresa antes de seguir viaje rumbo a los Estados Unidos. Nadie la acompañaba, nadie la echó en falta. (2666: 450)

Die Tatsache, dass die unbekannten Frauen weder durch schriftliche Dokumente noch durch

Personen, die sie kennen oder erkennen, identifiziert werden können, lässt die Ermittler

darauf schließen, dass diese zu Lebzeiten Migrantinnen waren und eventuell nur eine

Zwischenstation in Santa Teresa einlegten. Zum Teil migrieren sie ohne Begleitung und

werden von niemandem vermisst23. Meistens ist das der Moment, in dem sich der Fall schließt.

Als man den Finder einer weiteren unbekannten Leiche bittet, die Verantwortung für seinen

‚Fund‘ zu übernehmen, reagiert dieser folgendermaßen:

¿Como me voy a responsabilizar de esta mujer si ni siquiera sé cómo se llama? (2666: 448)

Der Mann sieht nicht ein, weshalb er sich für eine Person verantworten sollte, deren Namen er

nicht einmal kennt. Niemand mag sich identifizieren mit den nicht identifizierten Frauen.

Dadurch dass niemand sie kennt, will niemand für sie die Verantwortung übernehmen oder

gar mit ihr in Verbindung gebracht werden, aus Angst davor, in Probleme mit der Polizei zu

geraten: „nadie la conocía […] o bien nadie quería verse envuelto en problemas con la policía“

(2666: 531). Die fehlende Solidarität, die fehlende Identifikation der unmittelbar Anwesenden

mit den Toten, bedingt durch ihre Nicht-Identifizierung, entwurzelt, entkontextualisiert und

anonymisiert diese vollends24.

Die Entkopplung des Subjekts vom Raum in der Globalisierung mündet in ständiger, nie

endender Mobilität. Dem Subjekt wird aber eine Identität verliehen, indem es sich in einem

Kontext verorten lässt: Zugehörigkeit manifestiert sich über den Raum, in dem man sich

aufhält, verkehrt, und über das soziale Netz, das einen dort bestenfalls umgibt.

Unzugehörigkeit führt im schlimmsten Falle zu Identitätsverlust, zur Nicht-Existenz, zum

Niemand-Sein25, denn die durch Migration stattfindende Deterritorialisierung kann eine fatale

Migrationskette einleiten, der viele Frauen im vierten Teil zum Opfer werden: Sie führt in 23 Dem stehen einige Fälle in 2666 gegenüber, in denen die Frauen von Familienangehörigen zunächst

als vermisst gemeldet und später von ihnen identifiziert werden. 24 Solidarität und Identifikation sind dementsprechend die Mittel der Aktivistinnen gegen die

feminicidios von Santa Teresa und mögliche ‚Lösungsvorschläge‘: So konstatiert die fiktive PRI-Politikerin Esquivel Plata als zentrales politisches Problem Mexikos, dass die oberen Machteliten sich in keinster Weise mit dem Großteil der mexikanischen Bevölkerung identifizieren, es also keinen nationalen Zusammenhalt gibt: „Para mi familia, sépalo usted, los mexicanos de verdad éramos muy pocos. Trescientas familias en todo el país. Mil quinientas o dos mil personas. El resto eran indios rencorosos o blancos resentidos o seres violentos venidos de no se sabe dónde para llevar a México a la ruina.“ (2666: 739). Ähnlich wie Florita Almada, die von „mis hijas“ (2666: 547) spricht, fühlt auch Esquivel sich für alle namenlosen Opfer zugleich zuständig: „mi rabia fue adquiriendo una estatura, digamos, de masa, mi rabia se hizo colectiva o expresión de algo colectivo […] se veía a sí misma como el brazo vengador de miles de víctimas“ (2666: 782).

25 Eine ähnliche Beobachtung macht Fate im dritten Teil von 2666, als er sich kurz nach der Grenzüberquerung bei seiner Ankunft in Santa Teresa fragt: „¿Por qué no dije soy afroamericano? ¿Porque estoy en el extranjero? [...] ¿Eso significa que en algún lugar soy afroamericano y en algún otro lugar, por pura lógica, soy nadie?“ (2666: 359). Identität variiert je nachdem, in welchem Raum man sich befindet und welche Identitätsetikettierungen dort verfügbar sind.

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einen doppelten Tod, denn nicht nur ist ihr Körper tot, auch ihre Identität wird nie bestätigt,

ein die Seele aufrecht erhaltendes (christliches) Begräbnis wird ihnen verwehrt26. Somit sind

die toten Protagonistinnen Gegenpole zu den desaparecidos der Militärdiktaturen des Cono

Sur, deren Körper verschwunden ist, aber deren Identität in der Erinnerung der Angehörigen

fortbesteht. Die toten Protagonistinnen sind insofern aparecidos: Körper ohne Identität.

Soweit, was die ((Nicht-)Identifizierung der) Opfer angeht. Zur verfehlten Ermittlung

gehört aber auch die meist nicht mögliche Lokalisierung potenzieller Täter oder Hinweisgeber:

[…] se intentó dar con el paradero del afilador de cuchillos, [...] pero los esfuerzos fueron en vano. O cambió de oficio o se desplazó del oeste de Santa Teresa a las zonas sur y este o emigró de ciudad. (2666: 448f.)

Cuando fueron a buscarlo a la casa en donde vivía [...] ya se había marchado. (2666: 467)

La policía intentó ponerse en contacto con él, pero nadie supo dar una dirección fiable adonde escribirle. (2666: 492)

¿En donde trabajaba? En ninguna parte y en todas. [...] ¿De dónde sacaba el dinero? [...] de chambitas esporádicas, [...]. ¿En dónde vivía? [...] siempre se estaba cambiando de casa. (2666: 521)

La policía intentó localizarlos, pero parecía que la tierra se los había tragado. (2666: 720)

Die Subjekte sind plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Scheinbar problemlos wechseln sie

ihren Wohnort oder Arbeitsplatz, sie hangeln sich von einem Gelegenheitsjob zum nächsten,

eine Adresse besitzen sie nicht, vielleicht sind sie längst jenseits der Grenze. Die

multidirektionalen Migrationen, die von Santa Teresa ausgehen, und die mobilen Identitäten

der hier verkehrenden Subjekte erschweren die Ermittlung, die in den seltensten Fällen

gelingt. Lokalisierung bildet den Grundbaustein staatlicher Kontrolle. Die Migranten aber sind

für die Polizei nicht mehr greifbar, die als ausführendes Organ eines territorial agierenden

Staatsapparats seine Funktion nicht mehr erfüllt, denn, so Gilles DELEUZE und Félix GUATTARI:

L’État, c’est la souveraineté. Mais la souveraineté ne règne que sur ce qu’elle est capable d‘intérioriser, de s’approprier localement. (DELEUZE/GUATTARI 1980: 445)

Die umherziehenden Subjekte in Santa Teresa stellen die Souveränität des Staatsapparats

infrage, da dieser sie nicht mehr in sich ‚einschließen‘, sie sich nicht mehr zu Eigen machen

kann. Da sowohl die Opfer, als sie noch am Leben sind, als auch die Täter, als sie auf der

Flucht sind, stetig weiterziehen und an keinem Ort dauerhaft verweilen, lassen sie sich im

Sinne von DELEUZE/GUATTARI als Nomaden charakterisieren:

Le nomade […] va d’un point à l‘autre […]. […] même si les points déterminent les trajets, ils sont strictement subordonnés aux trajets qu’ils déterminent, à l’inverse de ce qui se passe chez le sédentaire. (DELEUZE/GUATTARI 1980: 471).

Die nomadische Bewegung läuft der territorial gebundenen Macht des (National-)Staates

zuwider, da diese auch auf der Sesshaftigkeit seiner Bewohner beruht. Die Nomaden

26 Vgl. dazu GIORGI (2013: 268f.) der in Bezug auf den vierten Teil von 2666 spricht von einer

„dislocación respecto de los lugares ‘propios’ del cuerpo muerto. [...] sin tumbas, sin cementerios, ni camposantos, ni mausoleos o necrópolis, sin lápidas ni epitafios; cuerpos desprovistos de rituales por los cuales la memoria del muerto se fija y se preserva, y donde su estatu social es reafirmado y, por así decirlo, certificado“.

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entkommen seinen ‚einschließenden‘ Tendenzen; in der Folge verliert er die Kontrolle über

seine Subjekte, da er sie nicht mehr verorten kann. Dieses transgressive und befreiende

Moment der nomadischen Bewegung27 wird in 2666 aber dadurch gebrochen, dass

(insbesondere die internationale) Migration zum Teil auch unterbunden bzw. reguliert wird

und somit nicht immer so frei stattfindet wie sie erscheint. So ist beispielsweise die Rede von

einem Rekordbrecher, der laut eigenen Angaben 345 Mal versucht, illegal in die USA

einzureisen, ebenso viele Male jedoch von der Migrationsbehörde aufgegriffen und

zurückgeschickt wird (vgl. 2666: 708). Er ist keine Ausnahme. Außerdem mögen die im vierten

Teil dargestellten Migranten zwar (mehr oder weniger bewusst) die Staatsmacht vor

Herausforderungen stellen und die Erosion des Nationalstaats in der Globalisierung durch

Migration und ihre selbstständige Organisationsform weiter vorantreiben, gleichzeitig folgen

sie aber einer anderen Macht: der globalen Ökonomie. Die Migranten, die nach Santa Teresa

kommen, sind angepasst an ein globales Marktsystem, das massenhafte Migrationen geradezu

zu fordern scheint:

[...] los cientos de mexicanos que cada día llegaban en busca de trabajo en las maquiladoras [...] los sueldos de hambre que se pagaban en las fábricas, [...] esos sueldos, sin embargo, eran codiciados por los desesperados que llegaban de Querétaro o de Zacatecas o de Oaxaca, cristianos desesperados, dijo el cura (2666: 474)

Aquí casi todas las mujeres tienen trabajo. Un trabajo mal pagado y explotado, con horarios de miedo y sin garantias sindicales, pero trabajo al fin y al cabo, lo que para muchas mujeres llegadas de Oaxaca o de Zacatecas es una bendición. (2666: 710).

Dass die in Santa Teresa gebotenen ‚Hungerlöhne‘ derart begehrt sind, ja geradezu ein Segen

für die ankommenden ‚verzweifelten Seelen‘ aus den armen Bundesstaaten darstellen, legt die

Widersprüche und Asymmetrien der Globalisierung offen; etwas zu begehren bedeutet dabei

nicht, sich frei dafür zu entscheiden. Wie frei ist ihre Wahl wirklich? Die quasi religiöse

Befreiung, die hier mit der Arbeit in einer maquiladora assoziiert wird, spricht eher für die

(innere) Getriebenheit der Massen von migrierenden Subjekten, die sich der Ausbeutung

ausliefern oder ihr ausgeliefert werden. Man könnte also behaupten, dass in der Globalisierung

der Markt etwas deterritorialisiert, was der Staat versucht zu territorialisieren28.

Dennoch treten die Machtinstanz Staatsapparat und die Dynamik des internationalen

Marktes in Santa Teresa nur scheinbar in Konflikt, denn fast gleichzeitig muss hervorgehoben

werden, dass die erschwerte Ermittlung, sowohl was die Identifizierung der Opfer als auch die

Lokalisierung der Täter angeht, in 2666 nicht ohne Ironie beschrieben wird. Davon zeugt zum

einen die frauenfeindliche Charakterisierung der Ermittler zu den feminicidios (vgl. 2666: 501;

689-692). Die verfehlten Ermittlungsversuche der Polizei werden zudem dadurch lächerlich

27 Vgl. HARDT/NEGRI (2000: 212), die aus DELEUZE/GUATTARIS Nomadismusmodell ein Protestmodell

machen: „Mobility and mass worker nomadism always express a refusal and a search for liberation: the resistance against the horrible conditions of exploitation and the search for freedom and new conditions of life“.

28 Auch DELEUZE/GUATTARI sprechen diese gegenläufigen Tendenzen von Kerbung durch den Staat und durch den ‚herkömmlichen Kapitalismus‘ an sowie von Glättung durch das freie Zirkulieren von Kapital der MNE und den globalen Kapitalismus an (vgl. DELEUZE/GUATTARI 1980: 614).

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gemacht, dass wichtige Fährten nicht verfolgt werden, die Ermittlungen halbherzig geführt

werden und so fast ausnahmslos ins Leere laufen. Dadurch, dass es lediglich Pro-Forma-

Ermittlungen sind, wird die Exekutive, d.h. die lokale Polizei Santa Teresas zu einer

Scheininstitution. Sie wird selbst zu einem strukturellen Akteur der Straflosigkeit und ist nicht

etwa ein zur Passivität verurteiltes Organ29.

In Santa Teresa gibt es zudem andere Machtinstanzen, die undurchsichtig erscheinen

und dennoch ihre eigenen punktuell wirkungsvollen Gesetze schaffen. Die Polizei kooperiert

mit diesen anderen Machtstrukturen vor Ort, die wirtschaftlicher Natur sind und in Richtung

Drogenökonomie und maquiladora-Industrie weisen. Da letztere zumindest in einigen Fällen

wie den Partyorgien in verlassenen ranchos direkt in die Straftat verwickelt ist, hat die Polizei,

deren Mitglieder zum Teil befreundet sind mit Narcos (z.B. die „compadres“ Pedro Rengifo,

Drogenboss, und Pedro Negrete, Polizeichef, vgl. 2666: 481), also gar kein Interesse an einer

tatsächlichen, wahrhaftigen Aufklärung der Fälle, höchstens an einer erfolgreichen, um die

Öffentlichkeit zu besänftigen. Als zur Unterstützung der örtlichen Ermittler der FBI-Ermittler

Albert Kessler eingeladen wird, wundert dieser sich, dass ihm der lokale Polizeichef Pedro

Negrete nicht vorgestellt wird (vgl. 2666: 756f.). Kesslers Besuch scheint nur für die Medien

und breite Öffentlichkeit inszeniert zu sein, es geht nicht um eine tatsächliche Aufklärung der

Fälle. Dafür spricht auch, dass der Fall, der ermittlungstechnisch einiges ins Rollen bringt und

bei dem die Täter per Selbstjustiz ‚bestraft‘ werden, ausnahmsweise der der Tochter eines

reichen und daher einflussreichen Mannes in Santa Teresa ist (Linda Vázquez, vgl. 2666: 642-

644; 655f.: „mataron a la hija de un hombre que tenía dinero“). Man kann sich also mit Recht

fragen, ob die Ermittlungen trotz der multidirektionalen Migrationen fruchtbarer sein

könnten, wäre die Polizei eben nicht strukturell beteiligt an der Straflosigkeit30.

Die Polizei agiert in Santa Teresa ohne Verpflichtung gegenüber einem höheren,

einheitlichen, transparenten Recht und wird von niemandem in dieser Hinsicht kontrolliert.

Die Abwesenheit des Staates bedeutet also nicht so sehr die physische Absenz staatlicher

Strukturen, vielmehr deren Verkommen zu Scheinfunktionen und die Abwesenheit eines

gültigen und bindenden Rechts zum Schutz der Bürger. Was ist DELEUZES/GUATTARIS

Staatsapparat also in der Globalisierung? Die Begrifflichkeit der ‚Erosion des Nationalstaats‘ ist

irreführend: in Santa Teresa stehen die (wirtschaftlichen) Interessen der lokalen Behörden in

keinerlei Konflikt zum scheinbaren Machtverlust des ‚Staates‘ (vgl. BURGOS JARA 2010: 462), der

hier sehr wohl noch präsent ist, jedoch zu einem Akteur unter vielen wird und seine Funktion

als Rechts- und Sozialstaat vernachlässigt. Insofern greifen die Erklärungsmuster ‚Korruption‘

und ‚Straflosigkeit‘ hier im Prinzip nicht mehr, da die Abweichung bereits die Norm(alität)

darstellt (vgl. HERLINGHAUS 2013: 231).

29 In einem Fall ist sie sogar Akteur der Straftat selbst (vgl. 2666: 624f.). 30 Hierzu könnte man die ‚Privatermittlungen‘ des Sheriffs Harry Magaña betrachten, der es schafft,

den potenziellen Täter von Lucy Anne Sander zu lokalisieren, dafür jedoch, quasi als Bestätigung der richtigen Fährte, höchstwahrscheinlich zur Strecke gebracht wird (vgl. 2666: 508-562, mit Unterbrechungen).

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Eine kurze Souveränitätskrise der Machttrias Industrie, Narcos und Polizei findet gegen

Ende des vierten Teils statt, als Juan de Dios Martínez durch die Eigentumsverhältnisse des

Viertels El Cerezal auf den plausiblen Verdacht kommt, dass die beiden Drogenbosse Pedro

Rengifo und Estanislao Campuzano in die Frauenmorde verwickelt sein könnten. Danach

findet ein geschlossenes Treffen der mächtigsten Männer Santa Teresas statt, neben Rengifo

und Campuzano sind das auch der Polizeichef Pedro Negrete und der presidente municipal

José Refugio de las Heras (vgl. 2666: 665-667). Von diesem Treffen erfährt man nicht mehr, als

dass es stattfindet und dass aus ihm die Einigung auf einen Sündenbock für den zuletzt

genannten Fall hervorgeht. So wird das Machtgeflecht in Santa Teresa benannt bzw.

aufgedeckt, jedoch nicht transparenter gemacht. Es wird auf die verschiedenen Akteure, auf

die die Macht aufgeteilt ist, hier verwiesen, Klarheit über deren Organisation wird aber nicht

geschaffen. Dadurch dass der Leser vom eigentlichen Gespräch der Machtelite ausgeschlossen

ist, verweist der Roman auf die Exklusivität von ‚Macht‘ und auf ihre systematische Opazität.

In diesem Kapitel ist zum einen deutlich geworden, dass durch die Nomadisierung der

Subjekte, die an keinem Ort mehr dauerhaft verweilen, und durch ihr ständiges Weiterziehen

die halbherzigen, offiziellen Bemühungen der Identifizierung der Opfer und Lokalisierung der

Täter erschwert wird. Der Einfluss des Staates auf die in Santa Teresa verkehrenden Subjekte

schwindet aber nur scheinbar, denn das Transgressive und Freiheitliche dieser Subjekte wird

dadurch eingeschränkt, dass sie der deterritorialisierenden Macht des Marktes gehorchen, in

deren Interesse auch der lokale Staatsapparat Santa Teresas agiert. Trotz der informellen

Netze, in denen die Subjekte verkehren, die auch eine dynamische Verwurzelung ermöglichen,

ist im vierten Teil aber eher der Fokus auf die Subjekte gelegt, die schon im Leben keinem Ort

mehr angehören, durch Migration entwurzelt werden und ihre Identität verlieren.

2.2 DIE PRODUKTIONSBEDINGTE ENTWERTUNG DES INDIVIDUUMS

Todos dejaremos de ser menos que polvo, mucho menos que aire o que ceniza, porque todos habremos descendido

al fondo de la nada, muertos sin ataúd.

Efraín Huerta: ¡Mi país, oh mi país! (1959)

In einer Stadt, in der alle mobil sind, sind territorialisiert, d.h. lokalisiert und lokalisierbar nur

diejenigen, die nicht mehr leben (vgl. ESPINOSA 2006: 78f.). Doch inwiefern kann der

identitätslose Körper noch als Subjekt bezeichnet werden? Der Prozess der

Entindividualisierung und Objektivierung der toten Protagonistinnen beginnt bereits im

Leben. Die systematische Anonymisierung und Entwertung des Individuums durchlaufen

mehrere Stadien: Von der Konfiguration des arbeitenden Körpers in der maquiladora über die

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strukturelle Gewalt, der diese Körper zum Opfer fallen und nach der sie entsorgt werden.

Diese Stadien wollen wir uns in diesem Kapitel genauer ansehen.

Die meisten Frauen, die tot in Santa Teresa aufgefunden werden, haben zuvor in einer

maquiladora gearbeitet. Wenn sie überhaupt Ausweispapiere bei sich tragen, dann sind das die

Firmenausweise einer Fabrik. Für die in Santa Teresa arbeitenden Subjekte stellt die

maquiladora ihr tägliches Umfeld dar, die maquiladora strukturiert ihren Alltag:

[...] todo dependía de los turnos en la maquiladora, que eran flexibles y obedecían a protocolos de producción que quedaban fuera de la comprensión de los obreros. (2666: 587)

Sólo una de las maquiladoras tenía cantina para los trabajadores. En las otras los obreros comían junto a sus máquinas o formando corrillos en cualquier rincón. (2666: 449)

Alles hängt von den Schichten in der Fabrik und den Produktionsprotokollen ab, deren

Organisation den Arbeitern aber verborgen oder unverständlich bleibt. Während die

maquiladora im Leben der Arbeiter den entscheidenden Faktor ausmacht, ist die konkrete,

einzelne Person des Arbeiters für die maquiladora unwichtig, wie es zum einen die Tatsache

bezeugt, dass nicht einmal Essen für sie bereitgestellt wird, zum anderen die Unzuverlässigkeit

der Arbeiterverzeichnisse und Arbeiterakten in den maquiladoras:

En la EastWest su ficha de trabajador se había perdido, lo que no era unusual en las maquiladoras, en donde el trasiego de trabajadores era incesante. (2666: 518)

Über das Verzeichnis könnten mögliche Täter identifiziert und lokalisiert, Opfer identifiziert

werden. Doch die maquiladoras können nicht nachweisen, wer bei ihnen arbeitet oder

gearbeitet hat. Angesichts der hohen Fluktuation (z.B. durch plötzlichen ‚Verlust‘ einer

Arbeiterin) und Anzahl von Arbeitern macht sich anscheinend keiner die Mühe, alle hier

Tätigen einzeln zu registrieren bzw. die Akten zu sortieren und zu konservieren. Oder jemand

hat Zugriff auf die Akten und lässt die entscheidenden Identitäten verschwinden, bevor die

Ermittler sie einfordern.

Dass der Arbeitsplatz keine Verantwortung für seine Arbeiter übernehmen möchte,

zeugt von der ‚Ethik‘ der maquiladoras bzw. ihrer Anti-Ethik, nach der Menschen nur Arbeiter,

ja nur produktive Körper sind, über die man aufgrund ihrer Verfügbarkeit frei verfügen kann.

Diese Anti-Ethik bestärkt die ohnehin schon durch Migration drohende Entkontextualisierung

und Unzugehörigkeit der ArbeiterInnen, für die weder von staatlicher noch von industrieller

Seite jemand aufkommen will und die in Santa Teresa keine (schützenswerten) Individuen

sind, sondern Teil einer anonymen Masse. Die maquiladoras sind strukturell entscheidend für

das Leben der Arbeiter, übernehmen selbst aber keine schützende Funktion für ihre

Mitarbeiter. Versuchen Arbeiter selbst, sich und ihre Kollegen zu schützen und dafür

geeignete Strukturen zu errichten, so wird dies obendrein bestraft:

[…] una de ellas desempleada en el momento de los hechos pues, según le contó a Juan de Dios, había intentado organizar un sindicato. [...] Me botaron por exigir mis derechos. El judicial se encogió de hombros. Le preguntó quién se iba a encargar del hijo de María Estela. Yo, dijo la sindicalista frustrada. (2666: 721f.)

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Wer eine Gewerkschaft gründen will, wird entlassen, mit Arbeitslosigkeit bestraft. Arbeiten

darf und kann nur wer sich dem rechtsfreien Leben anpasst. Das Zitat beleuchtet zudem noch

einmal, wie indifferent die Polizei gegenüber der Rechtlosigkeit in Santa Teresa ist. In dieser

Grenz- und Industrieregion, wo nichts ‚gratis‘ ist (vgl. 2666: 702), sind alle, was ihre Sicherheit,

was ihr Leben, ihre Familie betrifft, auf sich allein gestellt. Nur informelle Netze funktionieren

noch, was sich daran zeigt, dass die Gewerkschafterin sich um den Sohn ihrer getöteten

Kollegin kümmert.

Die einzige Sicherheit, die in Santa Teresa neben dieser informellen noch besteht, ist die

private Sicherheit, weshalb die wohl reichsten und so auch mächtigsten Männer der Stadt,

Pedro Rengifo, der Drogenboss, und Pedro Negrete, der Polizeichef, die besten Bodyguards

haben (Rengifo hat allerdings noch bessere). Die Opfer aber sind fast ausnahmslos arme und

marginalisierte Mädchen und Frauen, maquiladora-Arbeiterinnen, für die außer vielleicht ihrer

ebenso entmachteten Familie niemand ein Interesse daran hat, sich für sie einzusetzen, sie zu

schützen. Sie sind ‚nützlich‘ als produktive Körper, darüber hinaus wird ihnen kein Wert als

Mensch beigemessen (vgl. ROJAS/LÓPEZ DE ABAIDA 2012: 195). In Santa Teresa regiert das

Kapital, weshalb nur Reiche eine politische Identität haben, ein Leben, das geschützt wird, am

besten in den USA.

Der entrechtete und entmachtete Status der toten Protagonistinnen ist in vielen

Arbeiten zu 2666 der Anlass, den vierten Teil von 2666 mit Giorgio AGAMBENS Homo sacer-

Konzept in Verbindung zu bringen (vgl. BURGOS JARA 2010; ROJAS/LÓPEZ DE ABAIDA 2012;

GIORGI 2013). Tatsächlich entbehren die toten Protagonistinnen ähnlich wie AGAMBENS

homines sacri jeglicher politischer Identität, sie werden getötet, ohne dass ihr Mörder dafür

bestraft wird31. Nach AGAMBEN hat sich der Nationalstaat im Zuge der Erklärung der

Menschenrechte für den Schutz des menschlichen Lebens zuständig erklärt: „Die Erklärung

der Menschenrechte stellt die originäre Figur der Einschreibung des natürlichen Lebens in die

juridisch-politische Ordnung des Nationalstaates dar“ (AGAMBEN 2002: 136). Dadurch, dass der

moderne Nationalstaat erstmalig auch das nackte, d.h. das natürliche Leben (nicht nur das

politische Leben) in seine Verfassung aufnimmt, bindet dieser den Schutz dieses Lebens an

seine Territorialität und schließt damit unzugehörige Staatenlose und Flüchtlinge von diesem

Schutz aus (vgl. AGAMBEN 2002: 140). Diese fatale Doppelbödigkeit im System, die AGAMBEN

diachron vom römischen Recht bis zur Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten

Nationen aufarbeitet, lassen sich bedingt auf die fiktionale Situation in Santa Teresa

übertragen. Doch die Exklusivität eines würdigen Lebens, die Straflosigkeit und Rechtsfreiheit

betreffen hier längst nicht nur Staatenlose, sondern auch deterritorialisierte mexikanische

Staatsbürger auf mexikanischem Staatsgebiet. Auch wenn es angesichts einer globalisierten

Weltordnung und durch diverse Migrationen infrage gestellt wird, geht AGAMBEN immerhin

von einem, wenn auch territorial begrenzten, geltenden Recht aus. Dieses Recht wird in

31 Die Definition des homo sacer wird von AGAMBEN auf die folgende Formel gebracht: „homo sacer, der

getötet werden kann, aber nicht geopfert werden darf“ (AGAMBEN 2002: 18) [Kursiv im Original].

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Mexiko spätestens in der Globalisierung und zumindest in der Industrie- und Grenzregion

aber, wo der Nationalstaat keine alleinige Souveränität mehr genießt und in der Santa Teresa

sich verortet, zur Farce, zu einem leeren Mechanismus ohne Folgen.

Aus den durch den Globalisierungsprozess prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen in

Santa Teresa ergeben sich einige Überlegungen zu den Frauenmorden32, deren unberuhigender

und außerordentlicher Charakter ja, so 2666, gerade in ihrer ‚Modernität‘ begründet liegt bzw.

darin, dass sie in irgendeiner Weise mit der modernen Welt zu tun zu haben scheinen (vgl.

2666: 675). Dennoch ist Santa Teresa nicht gleichzusetzen mit den feminicidios, selbst wenn

diese in 2666 eine prominente Rolle spielen, ebenso wie die Lebens- und Arbeitsbedingungen

auch für die lebendigen Figuren in Santa Teresa gelten, wenngleich sie keine Protagonistinnen

in 2666 sind. Dass die maquiladoras indirekte Opfer fordern, wird angedeutet33. Auch wenn

das Wort Globalisierung selbst nicht fällt (eher ist die ‚Moderne‘ die Zielscheibe), ergibt sich so

doch eine Korrelation zwischen Globalisierung und den feminicidios, die Globalisierung bietet

die Umstände oder Bedingungen für die feminicidios. Im Folgenden wollen wir uns diese

Verbindungslinie genauer ansehen.

Wie wir bereits sehen konnten, wird den Frauen in Santa Teresa keine Sicherheit durch

den Staat oder ihren Arbeitsplatz geboten. Wie Yolanda Palacio, die Beauftragte für Sexuelle

Delikte in Santa Teresa, berichtet, ist Vergewaltigung in Santa Teresa an der Tagesordnung

(vgl. 2666: 704). Unter den ermittelnden Polizisten ist es bezeichnenderweise eine ungeklärte

Frage, ob es rein definitorisch in der Ehe Vergewaltigung geben kann (vgl. 2666: 548f.). Auch

die bereits erwähnten Frauenwitze der Polizisten illustrieren den allseits präsenten machismo

in Santa Teresa. In dem durch Globalisierung bedingten Klima der Schutzlosigkeit der v.a.

weiblichen Subjekte scheint eine machistisch motivierte Straftat geradezu begünstigt. Es

scheint, dass die Straflosigkeit die Straftat logisch bedinge, sie wird zum Antrieb, zu einem

motivierenden Umstand34.

Unter den effektiven Folgen von Globalisierung ergibt sich aber auch ein neues Motiv,

denn Globalisierung strukturiert die existenten Familiensysteme um. Durch die

Arbeitsmöglichkeiten brauchen viele Frauen, wirtschaftlich betrachtet, keinen Mann mehr. Sie

erstarken:

32 Im Hinblick auf die realen Frauenmorde von Cd. Juárez durchaus legitime Überlegungen: Vgl. dazu

MONÁRREZ/BEJARANO (2010: 46; 63f.), die in den prekären Bedingungen der maquiladora-ArbeiterInnen, in ihrer Austauschbarkeit und Unsichtbarkeit als Arbeitskraft sowie ihrer Instrumentalisierung zur Profit- und Effizienzsteigerung, kurzum in den Globalisierungstendenzen die idealen Umstände für die feminicidios sehen.

33 Vgl. „[...] la maquiladora EMSA, una de las más antiguas de Santa Teresa, que no estaba en ningún parque industrial sino en medio de la colonia La Preciada, como una pirámide de color melón, con su altar de los sacrificios oculto detrás de las chimeneas y dos enormes puertas de hangar por donde entraban los obreros y los camiones“ (2666: 564). Vgl. auch HERLINGHAUS (2013: 215-217), der unter den Motiven der feminicidios auch die (im Roman nicht ganz geklärte) Rolle der maquiladoras nennt.

34 Vgl. GONZÁLEZ RODRÍGUEZ (2002: 62), der von der Straflosigkeit als Aphrodisiakum für (potenzielle) Täter spricht.

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[...] ya no creía en la palabra de los hombres y trabajó duro e hizo horas extra y llegó incluso a vender tortas a sus propias compañeras de trabajo, [...] hasta que tuvo dinero suficiente para alquilar una casita en la colonia Veracruz (2666: 504)

Para qué queremos un hombre si nosotras solas ya trabajamos y nos ganamos nuestro sueldo y somos independientes? (2666: 586)

Estrella quería saber cosas de computadoras, quería aprender, quería progresar (2666: 588)

Die Geschäftstüchtigkeit der hier porträtierten Frauen (Mütter, Freundinnen von Opfern bzw.

im Falle von Estrella selber Opfer) in Santa Teresa führt zu ihrer Unabhängigkeit. Doch ihre

Emanzipation macht sie paradoxerweise wieder verwundbar: Die Unabhängigkeit der Frauen

führt in eine Maskulinitätskrise (vgl. HERLINGHAUS 2013: 222), die zu einem mögliches Motiv

für einen Frauenmord wird. Häusliche Gewalt geht eben nicht (nur) auf ein individuelles,

häusliches Motiv zurück, sondern basiert auf einem größeren Problem, auf einem

strukturellen, durch die Logik der Globalisierung bedingten Problem35. Genau dieses wird von

Seiten der Ermittlung zu vertuschen versucht und man ermittelt auf der Suche nach einem

(individuellen) Sündenbock mit individuellem Tatmotiv (oft genug erfolgreich) in Richtung

eines eifersüchtigen Ehemannes oder Freundes (vgl. BURGOS JARA 2010: 467f.). Auch die Suche

nach einem Serienmörder versucht, singuläre Individuen für die Gewalt verantwortlich zu

machen. Dennoch weist der vierte Teil durch seinen katalogisierenden Charakter ja gerade auf

analoge körperliche Spuren der Gewalt und Vergewaltigung hin, die implizieren, dass es sich

hier nicht um Einzeltaten handelt, sondern dass die Frauen die immer gleiche Struktur von

Gewalt erfahren. Tat und Täter bleiben abgesehen von einigen Emblemen wie dem Peregrino-

Auto im vierten Teil weitestgehend absent und bilden eine Leerstelle in der Erzählung, ebenso

wie der Akt der Vergewaltigung und Tötung, die ultimative Unterwerfung des Anderen, sein

Objekt-werden, ausgespart bleiben. Ebendiese Leerstelle lässt die Deutung zu, dass die Frauen

Opfer eines anonymen Systems und einer strukturellen Gewalt werden.

Im Tod spitzen sich all die genannten Tendenzen zu. Dafür spricht, wie und wo die

Frauenleichen von den Tätern ‚zurückgelassen‘ werden:

El último día de marzo unos niños pepenadores hallaron un cadáver en el basurero El Chile, en un estado de descomposición total. Lo que quedaba de él fue trasladado al Instituto Anatómico Forense de la ciudad (2666: 686)

Kinder, die auf und von der Müllhalde El Chile leben, finden eine schon vollständig verweste

Leiche, vermutlich eine von ihrem Mörder hier ‚entsorgte‘ Frau. Die Symbolik dieses Aktes ist

fast allzu evident und ihr Lebensweg steuerte schon darauf hin: Entwertete,

entkontextualisierte Subjekte, also in ihrem Leben verfügbare, anonyme, produktive, nützliche

Körper werden zu verderblichen Körpern ohne persönliche Geschichte, zu anonymen

Objekten der Betrachtung und schließlich zu einem unproduktiven und unnützen

Abfallprodukt. An einem Ort, wo der Mensch lediglich nach seiner Nützlichkeit bewertet wird

35 Diese Korrelation von wirtschaftlicher Unabhängigkeit und misogyner Gewalt lässt sich wiederum

durch die ‚Realität‘ bestätigen: Die Wahrscheinlichkeit häuslicher Gewalt ist höher unter maquiladora-Arbeinnen als unter Hausfrauen (vgl. STAUDT/ROBLES 2010: 76).

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und sein einziger Wert darin besteht, ein Mittel zu sein, wird er, beim Wegfall dieses Wertes,

unweigerlich zu Müll. Er ist nur noch körperliche Masse, die entsorgt werden muss:

No tenía papeles que facilitaran su identificación y nadie acudió a reclamar el cadáver, por lo que su cuerpo fue enterrado, tras una espera prudencial, en la fosa común. (2666: 631)

Cuando finalmente llegó el informe forense [...] ya nadie se acordaba de la desconocida, ni siquiera los medios de comunicación, y el cuerpo fue arrojado sin más dilaciones a la fosa común. (2666: 650)

Immer wieder betonen Figuren im vierten Teil, dass in Santa Teresa fast Vollbeschäftigung

herrscht, dass dies eine moderne, aufstrebende Stadt sei. Doch wo der (weibliche) Körper zum

Opfer von Gewalt und Vergewaltigung wird (nicht zuletzt auch in der Prostitution, wo er als

Ware gehandelt wird, oder in der snuff- und Porno-Industrie) sowie als austauschbarer

produktiver Körper in der Fabrik gehandelt wird, verkommt das Subjekt zum Objekt, das

zudem schnell in Vergessenheit gerät. All dies geschieht auf verstörende Weise in einem

Gebiet der ökonomischen ‚Liberalisierung‘, des Fortschritts und der vermeintlichen

Emanzipation.

2.3 DAS STADTBILD SANTA TERESAS IM ZEICHEN VON SEGREGATION UND EIGENSTÄNDIGER

TRANSFORMATION

Santa Teresa, „un puzzle que se hacía y se deshacía a cada segundo“ (2666: 752), ist eine Stadt,

die sich in ständigem Wandel befindet. Santa Teresa, ein „paisaje fragmentado o en proceso de

fragmentación constante“ (2666: 752) ist eine junge Stadt, die sich in jeglicher Hinsicht, sozial

und räumlich, neu strukturiert, neu gestaltet und durch den ständigen Zufluss der Migranten,

die wiederum durch die maquiladoras und die EPZ angezogen wurden, verändert. Santa

Teresa, „ese caos abandonado“ (2666: 752), ist eine Stadt, in der sich globale Tendenzen der

Migration und Urbanisierung verdichten.

Gemäß der Fokussierung des vierten Teils von 2666 auf die Marginalisierten und

Verwundbaren der globalisierten Gesellschaft wird auch in diesem Kapitel der Fokus auf der

unteren sozialen Schicht der Migranten und maquiladora-ArbeiterInnen liegen und ihrem

Lebensraum, der urbanen Peripherie. Wie manifestieren ihre Lebensbedingungen und die

Machtverhältnisse sich im (dafür emblematischen) Raum und inwiefern erschafft der Raum

bestimmte Lebensformen und -bedingungen? Dieses Kapitel möchte dabei zwei scheinbar

gegenläufige Tendenzen der ‚Architektur‘ Santa Teresas herausarbeiten: zum einen die durch

Globalisierung bedingte räumlich-soziale Segregation, zum anderen eine innerhalb

bestimmter Stadtteile entstehende, anarchisch anmutende Eigendynamik, die zur ständigen

Transformation des urbanen Raumes führt.

Es gibt klare Anzeichen, welcher sozialen Schicht Santa Teresas ein Bewohner

zuzuordnen ist, betrachtet man die colonia, die er bewohnt oder die Art und Weise, wie er sich

in der Stadt fortbewegt: „si tiene coche, no creo que viva en la Kino“ (2666: 465). Die colonia

Kino ist eine der vielen colonias Santa Teresas, in der die Bewohner so arm sind, dass sie sich

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kein Auto leisten können und daher eindeutig der „clase peatonal“ angehören: „la clase

peatonal, siendo algunos tan pobres que para dirigirse al trabajo ni siquiera tomaban el

autobús, prefiriendo hacer a pie el camino y así ahorrarse unas pocas monedas“ (2666: 661). Sie

versuchen sogar, auf öffentliche Verkehrsmittel zu verzichten und nur zu Fuß zu gehen. Selbst

mit öffentlichen Verkehrsmitteln aber sind die Distanzen innerhalb der Stadt enorm groß, die

Anbindung ans Zentrum von den peripheren colonias aus prekär:

Caminó tres cuartos de hora hasta la colonia Madero, en donde esperó media hora la llegada del autobús Avenida Madero-Avenida Carranza. Se bajó en la colonia Carranza y caminó en dirección norte, atravesando la colonia Veracruz y la colonia Ciudad Nueva hasta llegar a la avenida Cementerio, desde donde caminó en línea recta hacia su casa de la colonia San Bartolomé. En total, más de cuatro horas. (2666: 640)

Die Infrastruktur Santa Teresas gestaltet sich derart, dass man nur mit dem Auto schnell durch

die Stadt kommt. Die Fußgängerklasse ist im Hinblick auf ihre eingeschränkte Mobilität

marginalisiert. Somit sind die ehemals mobilen Migranten innerhalb von Santa Teresa zu

relativem Stillstand verurteilt.

Mit dem Auto hingegen lassen sich weite Teile der Stadt schnell durchziehen und

überblicken, wie es an den diversen ‚Außenperspektiven‘ der Besucher der Stadt deutlich wird.

Neben den vier Kritikern im ersten Teil ist das zum einen der FBI-Ermittler Kessler, der sich

bei seinem mehrtägigen Besuch in Santa Teresa stundenlang zunächst mit dem Taxi, dann mit

einem Polizeiwagen durch die ärmsten Stadtviertel fahren lässt. Kessler möchte der

Geographie der Stadt36 genauer auf den Grund gehen und die Orte besuchen, an denen die

meisten Frauenleichen gefunden werden. Nach seinen von Exotismus nicht ganz freien

Spritztouren durch die Elendsviertel kommt Kessler zu folgendem Schluss, den er in der

Pressekonferenz verkündet:

Caminar por estas calles, a plena luz del día, dijo a la prensa, da miedo. Quiero decir: a un hombre como yo le da miedo. Los periodistas, ninguno de los cuales vivía en aquellos barrios, asintieron. (2666: 756)

Am helllichten Tag zu Fuß durch die Viertel, in denen die clase peatonal wohnt und die

Kessler durch die Fensterscheibe des Autos betrachtet, zu laufen, bereite ihm, so Kessler,

Angst, so gefährlich seien sie. Die Journalisten, die vermutlich selbst nie in diesen Vierteln

zugegen sind, in jedem Fall nicht in ihnen wohnen, stimmen ihm in ihrem Unwissen zu. Dass

die Viertel, in denen die Bewohner kein Auto haben, für ‚Externe‘, also Angehörige einer

anderen Schicht, nicht begehbar sind, ist eine absurde Asymmetrie, die von der Gespaltenheit

der Gesellschaft Santa Teresas zeugt, von der Zwei-Klassen-Gesellschaft, die sich in räumlicher

Segregation widerspiegelt. Kessler ist sich dessen bewusst, indem er hinzufügt, dass sie

jedenfalls nicht für Menschen wie ihn, für Menschen seiner sozialen Schicht oder für US-

Amerikaner, zu Fuß begehbar seien.

Die Wahrnehmung der Stadt ist also an eine spezielle Perspektive gebunden. Eine

weitere Außenperspektive ist die Fates aus dem dritten Teil, der sich bei seiner Ankunft in

36 Vgl. dazu Bolaños Skizze vom fiktiven Santa Teresa (Abbildung 2 im Anhang).

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Santa Teresa in der Stadt orientieren möchte, aber nirgendwo einen Stadtplan des ständig im

Wandel begriffenen Santa Teresa und seines „trazado anárquico“ (2666: 452) auftreiben kann

(vgl. 2666: 345). Als er das erste Mal durch die Peripherie der Stadt fährt, hat er

dementsprechende, überraschende und ungeplante Eindrücke:

Cruzaron un barrio periférico a través de una telaraña de calles sin asfaltar y sin alumbrado eléctrico. Por momentos, después de rodear potreros y lotes baldíos donde se acumulaba la basura de los pobres, uno tenía la sensación de que estaban a punto de salir a campo abierto, pero entonces volvía a surgir otro barrio, esta vez más antiguo, de casa de adobe, alrededor de las cuales habían crecido chamizos hechos con cartón, con planchas de zinc [...] (2666: 347f.)

Die peripheren barrios scheinen nicht zu enden: Gerade wenn man denkt, nun ende die Stadt,

erscheint ein neues barrio ohne Beleuchtung und mit unbefestigten Straßen. Die

Beschaffenheit des Bodens ist meist das entscheidende Indiz für die Zuordnung zum reichen

oder armen Teil der Stadt: Asphaltierte Straßen finden sich ausschließlich in entwickelten,

wohlhabenden Vierteln37, calles de tierra hingegen sind ein Zeichen für das auch sonstige

Fehlen von Infrastruktur (öffentliche Beleuchtung, Elektrizität, Müllabfuhr, Abwasserkanäle,

fließendes Wasser usw.) in den peripheren Gebieten. Gebiete, die dennoch dicht wie ein Netz

bebaut sind. So lautet es an anderer Stelle: „sobresalían los techos de las casuchas“ (2666: 449).

Die prekären Häuser oder Hütten überschlagen sich, wuchern wie Unkraut, multiplizieren

sich. In einigen colonias kann dabei durchaus ein alter Stadtkern vorhanden sein: Davon zeugt

im obigen Zitat el adobe, der Lehm, ein dauerhaftes Material, das im Kontrast steht zu den aus

Zink und Pappkarton gebauten Häusern, denen ihre Zeitlichkeit und Fluktuation bereits

materiell eingeschrieben ist. Letztere scheinen spontan gewachsen zu sein, nicht für die Dauer

zu bestehen. Sie spiegeln die ständige Transformation der Stadt und die Mobilität ihrer

Bewohner wider, meist Migranten, die diese prekären Behausungen oft selbst gebaut haben:

„una casa que el mismo padre construyó con cartones y ladrillos sueltos y trozos de zinc“

(2666: 503). Man könnte den Selbstbau ihrer Behausung wie eine Freiheit betrachten, als

eigene Gestaltung und Organisation ihres Lebensraumes38. Doch nicht zuletzt dadurch, dass

die meisten ‚Funde‘ des vierten Teils in ebendiesen Vierteln stattfinden, ist es keine positive

Freiheit. Die Bewohner dieser anarchisch anmutenden Viertel, über die viel geredet und vor

37 Oder im Industriegebiet, was dafür spricht, dass Entwicklung und Zivilisation an Kommerz und

Industrie gebunden sind: „Los seis caminos estaban pavimentados y confluían en el Parque Industrial Arsenio Farrel“ (2666: 737).

38 Vgl. dazu RIBBECK (2002: 66): „Ob von Slums, Hütten- oder Stadtrandsiedlungen, von ungeplanten, improvisierten, spontan irregulären oder informellen Siedlungen die Rede ist, immer enthält schon die Terminologie eine bestimmte Sichtweise: die Armut der Bewohner, die räumliche und soziale Marginalisierung, die Behelfsmäßigkeit der Bauten, die planlose Gründung, die Ungesetzlichkeit der Landnahme, die Abweichung vom geltenden Planungs- und Baurecht. Noch in den 70er Jahren galten die ungeplanten Siedlungen in den Städten der ‚Dritten Welt‘ fast durchweg als Slum, Elends- oder Marginalsiedlung […]. Das explosive Stadtwachstum der 70er Jahre überrollte aber diese Sichtweise. Plötzlich wurde die positive Seite des improvisierten Bauens entdeckt, bis hin zu euphorischen Beschreibungen des kreativen Potenzials, das man in den Spontansiedlungen vermutete“. Ein rezentes Beispiel dieser ‚Idealisierung‘ bildet Doug SAUNDERS (2011), Arrival City: How the Largest Migration in History is Reshaping Our World, Toronto: Knopf.

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denen viel gewarnt wird, sind stigmatisiert und im ökonomischen wie im politischen Sinne

sich selbst überlassen.

Die entsprechenden colonias befinden sich zudem oft in unmittelbarer Nähe zur US-

amerikanischen Grenze:

[...] los barrios que lindaban con la frontera, la colonia México, justo al lado de El Adobe, que ya era Estados Unidos, [...] la colonia México y su avenida principal permanentemente sometida a los atronadores ruidos de los camiones y los coches que se dirigían al cruce fronterizo [...] (2666: 751)

[…] un descampado desde donde se podía ver Arizona y los caparazones de las maquiladoras del lado mexicano y las carreteras de terracería que conectaban éstas con la red de carreteras pavimentadas. (2666: 467)

Die Nähe zu den USA ist nicht nur visuell spürbar. Im ersten Zitat wird sie auch sprachlich

deutlich: In einem Satz ist man erst in Mexiko und dann plötzlich schon in den USA, die

sprachliche Kontiguität lässt die räumliche erahnen. Die grenznahe colonia México ist direkt

neben El Adobe gelegen. Beide Orte tragen interessante Namen: Der ‚letzte‘ Ort in Mexiko, als

ärmlich und chaotisch beschrieben, heißt (vielleicht synekdochisch) México, während El

Adobe trotz der unmittelbaren Nähe Welten entfernt zu sein scheint, denn die entwickelte

und reichere US-amerikanische Zwillingsstadt heißt adobe, was von der Beständigkeit des

Ortes, von seiner Dauerhaftigkeit zeugt. Dass die beiden grundverschiedenen Orte trotz ihrer

Trennung durch die Grenze dennoch miteinander verbunden sind, zeigt der nie endende

Grenzverkehr und sein Lärm, dem die Bewohner insbesondere der colonia México Tag und

Nacht ausgesetzt sind und der wohl in großen Teilen durch die Transporte der MNEs zustande

kommt. Aus Santa Teresa gehen ungepflasterte Straßen direkt über in das gepflasterte Netz

der USA und so werden die Asymmetrien der Globalisierung und die Selektivität des

Fortschritts deutlich39: Nicht alle profitieren gleichermaßen von den

Globalisierungsmaßnahmen, die zu großen Unterschieden zwischen den beiden

Nachbarländern führen, die sich in Santa Teresa direkt gegenüber stehen.

In den „gottverlassenen“ Vierteln (2666: 752) auf mexikanischer Seite, in die nicht einmal

die Polizei sich traut (vgl. 2666: 756), herrschen zudem oft lebensbedrohliche Bedingungen:

El Obelisco, que ni era propiamente un poblado ni tampoco llegaba a colonia de Santa Teresa y que era más bien un refugio de los más miserables entre los miserables que cada día llegaban del sur de la república y que allí pasaban las noches e incluso morían, en casuchas que no consideraban sus casas sino una estación más en el camino hacia algo distinto o que al menos los alimentara. Algunos no lo llamaban El Obelisco sino el Moridero. (2666: 628)

39 Hier werden die Parallelen zum realen Cd. Juárez wieder überaus evident, vgl. GONZÁLEZ RODRÍGUEZ

2002: „Ciudad Juárez resiente la asimetría económica de los dos países“ (29). Dabei könnte das im Folgenden beschriebene Viertel das reale Pendant zur colonia México sein: “Lomas de Poleo es un asentamiento paupérrimo de Ciudad Juárez, [...] su territorio consta de brechas que curvean la desolación y decora un mar de bolsas de plástico errátiles [...] La gente habita casas construidas con desechos, trozos de madera, lámina de metal o asbesto, alguna puerta metálica. [...] Desde Lomas de Poleo se observan las construcciones sólidas, el verdor, la tecnología esplendente que rodea a El Paso, Texas“ (25).

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Ein Viertel, das einem (lebendigen) Friedhof gleicht. Es wird erwähnt, als gefragt wird: „En qué

otro lugar de Santa Teresa podía haber niñas de diez años que nadie reclamara?“ (2666: 629).

El Obelisco, auf der untersten Stufe der urbanen Hierarchie, hat nicht einmal den Status einer

colonia, es ist ein Auffanglager für Migranten, für die El Obelisco nur eine weitere Station ihres

‚Hungerweges‘ ist, die aber gleich wieder sterben, anstatt ein neues Leben zu beginnen. An

diesem Ort sind ein Identitätsverlust und der frühe Tod, auch von Kindern, geradezu

vorprogrammiert.

Diese tödliche Geographie Santa Teresas wird deutlich in diversen Beschreibungen der

peripheren und teils informellen Spontansiedlungen, aber auch immer wieder in den

detaillierten Beschreibungen der illegalen Müllhalde El Chile:

El basurero no tiene nombre oficial, porque es clandestino, pero sí tiene nombre popular: se llama El Chile. Durante el día no se ve un alma por El Chile ni por los baldíos aledaños que el basurero no tardará en engullir. Por la noche aparecen los que no tienen nada o menos que nada. [...] los seres humanos que pululan solitarios o en pareja por El Chile [...] son escasos. Su esperanza de vida, breve. Mueren a lo sumo a los siete meses de transitar por el basurero. (2666: 466)

Die illegale Müllkippe erscheint wie ein Ungeheuer mit Eigenleben, das wächst und

umliegende Brachflächen verschlingt sowie Müllsucher hervorbringt, die sich quasi

symbiotisch mit dem Müll vereinen und daran bald sterben, ähnlich wie in El Obelisco.

Privates Leben, Industrie und Müll lassen sich in Santa Teresa nicht trennen. Schon im

vorangegangenen Kapitel wurde eine Stelle aus 2666 besprochen, in der eine Frauenleiche auf

El Chile gefunden wird. Das folgende Zitat beleuchtet, was sich noch alles hier findet:

En el basurero donde se encontró a la muerta no sólo se acumulaban los restos de los habitantes de las casuchas sino también los desperdicios de cada maquiladora. (2666: 449)

Auf der illegalen Müllhalde, die größer ist als die offizielle Müllhalde (vgl. 2666: 752) treffen

sich industrieller und kommerzieller Müll der maquiladoras mit privatem Müll und

menschlichem Leben, tot oder lebendig. Die Handhabung von Müll in Santa Teresa ist wohl

die umfassendste Metapher für die globalisierten Lebensbedingungen in dieser Stadt.

Öffentliche Entsorgungsdienste in der Stadt sind rar und wer es sich leisten kann, engagiert

private Dienste. Die niedrigsten der Niedrigen aber haben keine Entsorgungsdienste, im

Gegenteil, sie versorgen sich selbst mit Müll. Müll als Nutzloses, als Unverwertbares,

Wertloses, als Unproduktives steht im größten Kontrast zur sonstigen Konzentrierung auf

utilidad und Kapitalisierung in dieser Region, ist gleichzeitig aber unabdingbare Folge der

Produktion. Wo alles sich um Produktivität und Effizienz dreht, sind verwüstete und enorme

Müllhalden die Folge, Müllhalden, auf denen sich Privates und Öffentliches nicht mehr

trennen lassen, Müllhalden, die zu Friedhöfen werden und auch zum Bestandteil der

Geographie. Sie schreiben sich irreversibel in die Architektur ein, wie es sich am cerro Estrella

bemerkbar macht, einem Hügel, der aus Müll besteht, aus der Ferne aber wie ein natürlich

gegebener Berg aussieht (vgl. 2666: 386; 747).

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Die Reaktion der örtlichen Behörden, die Müllhalde abzutragen, macht die Übermacht

des Informellen überaus deutlich:

El alcalde de Santa Teresa decretó el cierre del basurero, aunque luego cambió la orden de cierre (su secretario le informó sobre la imposibilidad jurídica de cerrar algo que, a todos los efectos, nunca se había abierto) por la orden de demolición, traslado, destrucción de aquel sitio infecto en donde se infringían todas las leyes municipales. Durante una semana se mantuvo una vigilancia policial en las fronteras de El Chile y durante tres días unos pocos camiones de basura, auxiliados por los dos únicos camiones volquete de propiedad municipal, estuvieron trasladando los desechos hacia el basurero de la colonia Kino, pero, ante la magnitud del trabajo y la escasez de fuerzas para acometerlos, pronto cedieron. (2666: 581)

Santa Teresa wird längst nicht mehr vertikal organisiert, durch den Eingriff von Institutionen,

sondern horizontal, durch die informelle Selbstorganisation der Massen. Die anarchische

Eigendynamik der Stadt wird spätestens dann deutlich, als die Behörden sich gezwungen

sehen zu handeln, über die Dimensionen des abandono aber längst die Kontrolle und den

Überblick verloren haben. Sie kommen weder rechtlich noch konkret hinterher, soweit ist es

schon fortgeschritten, so sehr haben sich die Vorgänge schon entfesselt von den steuernden

Institutionen. Die Bestrebungen, die Müllhalde zu schließen, sind angesichts des Ausmaßes

völlig unrealistisch und kommen Scheinmaßnahmen gleich.

In der Geographie Santa Teresas, seinem Stadtbild, in der Beschaffenheit des Raumes,

zum Teil ganz buchstäblich des Bodens, manifestieren sich die Verhältnisse von Macht und

Subjekt in der Globalisierung, die Scheinfreiheit der Migranten und maquiladora-

ArbeiterInnen, ihre Ausgrenzung und (unfreiwillige) Selbstständigkeit. Dass die Tendenzen

der Globalisierung keine rein homogenisierenden sind, wurde in diesem Kapitel überaus

deutlich: Die Grenzen zwischen Arm und Reich sind nach wie vor deutlich vorhanden und

markiert. Das Neue aber ist, dass sie sich auf dem engsten urbanen Raum befinden, sich

räumlich annähern, globale und nationale Asymmetrien an ein und demselben Punkt sichtbar

werden. Dafür steht die spontane ‚Architektur‘ Santa Teresas paradigmatisch ein.

2.4 DIE METAPHYSIK DER GLOBALISIERUNG: WÜSTE UND VERWÜSTUNG

The city […] is only the desert in disguise.

Thomas Pynchon: V. (1963)

Wenn wir bislang über die räumlichen Transformationen im urbanen Raum Santa Teresas

sprachen, dann war damit immer impliziert, dass diese in irgendeiner Weise

menschengemacht sind. Der Mensch verändert den Raum beispielsweise durch Siedlungsbau

oder durch den Müll, den er produziert. Schaut man sich aber an, welche räumliche

Beschaffenheit diesen raumtransformierenden, auch verwüstenden Praktiken zugrunde liegt,

dann ändert sich die unilaterale Wirkung des Menschen auf seine Umwelt. In den Leerstellen,

die meist Fundorte sind, kommt eine bestimmte Natur zum Vorschein, auf die der urbane

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Raum Santa Teresas gebaut ist: die Wüste. Wir wollen uns diese ‚ökologischen Bedingungen‘

Santa Teresas, die Spezifizität der ‚Natur‘, auf denen die Industrialisierung und Globalisierung

fußen, genauer ansehen:

Amalfitano pensó que la naturaleza del noroeste de México, en aquel lugar preciso de su jardín quebrantado, era más bien exigua. Una mañana, mientras esperaba el autobús que lo llevaría a la universidad, se hizo el firme propósito de plantar césped o pasto, y también de comprar un arbolito ya un poco crecido en alguna tienda dedicada a tal menester, y de plantar flores a los lados. Otra mañana pensó que cualquier trabajo que se tomara encaminando a hacer más grato el jardín resultaría a la postre inútil, puesto que no pensaba quedarse mucho tiempo en Santa Teresa. (2666: 252)

Die Reflexionen des Neuankömmlings Amalfitano über die Geographie Santa Teresas sind

erhellend: Der Versuch, hier einen Garten anzubauen, scheitert. An einem Tag möchte er

gegen den Widerstand, den die hiesige karge Natur gegen ihre Domestizierung zu leisten

scheint, angehen, indem er Bäume und Gräser pflanzt. Doch der Versuch, im wahrsten Sinne

des Wortes Wurzeln zu schlagen, wird von Amalfitano an einem anderem Tag wieder

verworfen oder scheitert, da er nicht vorhat, hier tatsächlich sesshaft zu werden. Warum? Liegt

es an seinem (von seinem derzeitigen Aufenthaltsraum unabhängigen) Vorhaben, nirgendwo

dauerhaft zu verweilen oder ist es die natürliche Beschaffenheit des Grund und Bodens, auf

dem sein neues Haus steht, welche ihn zur Aufgabe zwingt? Die Natur des Raumes, in dem er

sich verortet, derzeit aufhält, begünstigt keine Sesshaftigkeit. Weiter lauten seine

Gedankengänge:

[...] ¿qué me impulsó a venir aquí? ¿Por qué traje a mi hija a esta ciudad maldita? ¿Porque era uno de los pocos agujeros del mundo que me faltaba por conocer? Porque lo que deseo, en el fondo, es morirme? (2666: 252)

Die tödliche Geographie Santa Teresas, von der im vorangegangenen Kapitel die Rede war,

beschränkt sich keineswegs nur auf die allerärmsten barrios der Stadt, sondern wird auch von

Mittelklässlern wie Amalfitano so wahrgenommen. Santa Teresa erscheint wie ein oder der Ort

zum Sterben. So denkt auch Lalo Cura angesichts der scheinbar unendlichen Wüste, die Santa

Teresa umgibt:

Vivir en este desierto, pensó Lalo Cura mientras el coche conducido por Epifanio se alejaba del descampado, es como vivir en el mar. La frontera entre Sonora y Arizona es un grupo de islas fantasmales o encantadas. [...] El desierto es un mar interminable. Éste es un buen sitio para los peces, [...] no para los hombres. (2666: 698)

Die Wüste als ein immenses Meer: In literaturhistorischer Perspektive ist dies keine neue

Metapher, dennoch verdeutlicht die Metapher an dieser Stelle, dass die Wüste ein

menschenfeindlicher Raum ist. Das sesshafte Menschengeschlecht gehört nicht hierher,

höchstens bewegliche Fische, denn in der Wüste kann man keine Wurzeln schlagen. Insofern

ist es auch nicht verwunderlich, dass die Szenerie der Leichen, die Kulisse der gefundenen

Körper, oft genug, neben peripheren barrios und Brachflächen, die Wüste Sonoras ist:

La primera mujer muerta del año 1994 fue encontrada […] en un desvío de la carretera a Nogales, en medio del desierto. (2666: 499)

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Oft werden die Leichen in der Wüste ‚entsorgt‘. Neben der urbanen und industriellen

Müllhalde wird so auch die Wüste zum Abfallort, zum Friedhof des globalisierten Santa

Teresa. Das nomadische, heimatlose Leben der Migranten endet bezeichnenderweise in der

anonymen, menschenleeren, einsamen Wüste. Die Kadaver verwesen und verderben hier

schnell, die Personen verlieren wörtlich und im übertragenen Sinne hier ihr Gesicht, ihre

Identität, werden von zopilotes, Aasgeiern, den Boten des Todes, angefressen. Die Wüste, so

heißt es an einer Stelle, umklammert Santa Teresa auf bedrohende Weise (2666: 716). Dies

zeigt sich sinnbildlich anhand Amalfitanos verödetem und zerrüttetem Garten:

Amalfitano […] volvió a salir al jardín devastado, donde todo era de color marrón claro, como si el desierto se hubiera instalado alrededor de su nueva casa (2666: 241)

Die Wüste kesselt Santa Teresa ein und scheint punktuell durch, wird immer wieder sichtbar,

arbeitet man nicht gegen sie an. Sand legt sich auf alle Bestrebungen der Domestikation,

Sesshaftigkeit und Zivilisation40. Die Wüste verlängert sich bis in die Übergangsräume, also in

die peripheren Gebiete der Stadt und erobert die Stadt zurück in ihren Zwischenräumen, also

in Brachflächen und freien, leeren Feldern in der Stadt41, wodurch die Stadt zu einer Art Vorort

der Wüste wird:

En la plaza había seis árboles, uno en cada extremo y dos en el centro, tan cubiertos de polvo que parecían amarillos. (2666: 449)

Ähnlich wie in Amalfitanos Garten ist auch bei dem Staub auf den Bäumen unklar, ob dies

Wüstensand ist oder Industriestaub der maquiladoras. Zu unterscheiden sind diese beiden

‚Elemente‘ ohnehin nicht mehr. Industriestadt und Wüste gleichen sich einander immer mehr

an. Die Industrialisierung produziert einen ähnlich ‚glatten Raum‘ wie die Wüste. Glatte

Räume im Sinne von DELEUZE/GUATTARI (1980) stehen ‚gekerbten Räumen‘ gegenüber,

Räumen der staatlich-institutionellen Organisation, der Kontrolle und Sesshaftigkeit, in denen

alles verortbar und registrierbar ist, nichts verschwinden kann. Was den urbanen Raum

klassischerweise charakterisiert, wird in der Industriestadt Santa Teresa zumindest in ihrer

anarchischen Peripherie wieder aufgehoben, also wieder geglättet. Die Stadt konvergiert so in

Richtung der Wüste und wird, ähnlich wie die Wüste, zu einem nicht kontrollierbaren, nicht

domestizierbaren, nicht eingrenzbaren, nicht einnehmbaren Terrain. Der Sand verweht jede

menschliche Spur. Santa Teresa wird zu einer urbanen Wüste, in der Subjekte zirkulieren,

ohne Spuren zu hinterlassen, die aber dennoch die Stadt ständig neu gestalten, mutieren

40 Diese Beobachtungen in 2666 entsprechen im Übrigen wiederum der realen, ökologischen

Beschaffenheit der Grenzregion: „a desert region impacted by a 100-year-old drought. […] Few would consider these ecological conditions suitable and hospitable for human settlements housing thousands of people throughout the borderland region“ (NÚÑEZ/KLAMMINGER 2010: 162). Dies scheint immer wieder durch: „The number of empty lots within colonias contributes to the accumulation of desert brush“ (NÚÑEZ/KLAMMINGER 2010: 154).

41 Vgl. OLIVIER (2014: 369): „el desierto no solo se halla en los alrededores sino que se esparce en esas raras remanencias suyas que son los baldíos, las colonias inconclusas, los basureros salvajes y [...], los parques industriales“.

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lassen ohne Institutionen, die dies steuern (vgl. DELEUZE/GUATTARI 1980: 601)42. Wüste und

Stadt bzw. Industrie gehen also ineinander über, zum einen was ihre Eigenschaften angeht,

zum anderen durch ihre unmittelbare räumliche Nähe, denn in den Ausläufen von Santa

Teresa beginnt bereits die Wüste: „el desierto, que se extendía al otro lado de la carretera“

(2666: 639).

Beide Orte, beide glatten Szenerien, werden wie bereits erwähnt zum Schauplatz der

Verbrechen und Leichenfunde43. Nicht umsonst werden diese Fundorte von den Ermittlern

Lalo Cura und Kessler aufgesucht, als ob die räumliche Beschaffung des Ortes das Motiv der

Tat erkennen ließe, diese in irgendeiner Weise erklären würde oder gar der Raum die Tat

bedingte bzw. die Frage des ‚warum‘ an die Frage des ‚wo‘ gebunden wäre (vgl. FARRED 2010:

700). Der Wüstenraum Santa Teresas erscheint paradigmatisch für das hier verübte

Verbrechen und so wiederholen sich Taten nicht nur insofern in ihrer Struktur, als vielen

Frauen die gleiche perfide Gewalt zugefügt wird, sondern auch in der ‚Wahl‘ des Tat- oder

Entsorgungsortes: „en un baldío junto a la preparatoria Morelos, ya se había cometido un

crimen“ (2666: 620). Einige Orte scheinen so prädestiniert für ein Verbrechen, dass diese

beginnen, sich hier zu wiederholen. Neben der Wüste und den urbanen Flächen und Lücken,

an denen die Wüste durchscheint, sind das auch die narcorranchos, die gegen Ende des vierten

Teils immer wieder erwähnt werden. Diese „ranchos vacíos“ (2666: 751) oder „casas

abandonadas“ (2666: 644), sind leerstehende (Bauern-)Häuser, die zu Orten der rituellen

Gewalt und des Verbrechens werden, in denen oder in deren Nähe später viele Frauenkörper

gefunden werden.

All diese Räume sind Leerstellen, die jeglicher sinngebender Instanz entbehren oder

diese unsichtbar machen, und werden zu Orten der Straflosigkeit und der Barbarei. Der leere

Raum ist geprägt von einer Gottlosigkeit und Schutzlosigkeit, wie Amalfitanos Eindruck von

Santa Teresa und Umgebung bestätigt:

[…] todo lo que había visto en el extrarradio de Santa Teresa y en la misma ciudad, imágenes sin asidero, imágenes que contenían en sí toda la orfandad del mundo, fragmentos, fragmentos. (2666: 265)

Santa Teresa trägt in sich alle Verwaisung der Welt, die Stadt, das sind Fragmente der

Haltlosigkeit. Diese emblematische Inszenierung Santa Teresas erinnert an einen mythischen

Urzustand der Welt, wie er im Alten Testament geschildert wird: „Und die Erde war wüst und

leer“ lautet der zweite Vers der Schöpfungsgeschichte44. Die extremen Auswirkungen der

Globalisierung, in der weite Flächen des Globus dem globalen Kapitalismus zur Verfügung

42 Vgl. auch HARDT/NEGRI (2000: 329): „The breakdown of the institutions, the withering of civil

society, and the decline of disciplinary society all involve a smoothing of the striation of modern social space“.

43 Die Fundorte der feminicidios von Cd. Juárez weisen ähnliche räumliche Eigenschaften auf, vgl. GONZÁLEZ RODRÍGUEZ (2002: 111): „Sus cadáveres persistían en aparecer en parajes desérticos o semidesérticos de la periferia de Ciudad Juárez. Siempre los mismos: Lote Bravo, Lomas de Poleo, Cerro Bola...“.

44 Vgl. Genesis 1,2. Zitiert wird aus der Lutherbibel von 1912.

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gestellt werden, führen dazu, dass die Leere und die Wüste die Welt wieder einzuholen

scheinen. „[...] aquella ciudad levantada en medio de la nada“ (2666: 243) erfährt Widerstand

durch die sie umgebende Wüstennatur, läuft Gefahr, von dem Nichts, auf dem sie gebaut ist,

wieder vernichtet zu werden. Diese durch wirtschaftlichen ‚Fortschritt‘ drohende Rückkehr

zu einem biblischen Urzustand ist das paradoxe Streben der Globalisierung, das Bolaño

offenlegt und mit dem absurden Streben des baudelaire’schen Reisenden verbindet. Die ganze

Welt wird durch menschengemachte Verwüstung zu einer monotonen Wüste oder ist längst

eine monotone Wüste, die wir uns vielleicht weigern, als solche anzuerkennen und

wahrzunehmen, die aber menschliche Bestrebungen immer wieder zunichte macht.

Was sich hier in der Grenzregion verbildlicht, steht sinnbildlich für ganz Mexiko und für

das Geheimnis der (globalisierten) Welt. „[L]a frontera, [...] ese territorio mítico entre Estados

Unidos y México“ (BOLAÑO 2004: 147) ist der Ausdruck einer vereinsamten und verwaisten

Welt. Trotz ihrer Spezifizität steht die Grenzregion paradigmatisch ein für den ganzen

Planeten. Die Situierung Santa Teresas erscheint kontingent und ist dennoch metaphorisch.

Santa Teresa wird dargestellt als in Raum und Subjekt, Geographie und Mensch völlig von der

Globalisierung gezeichnet und wird so zur Metapher der Globalisierung selbst. Sie verdeutlicht

die Verwüstung des Planeten durch ein bildliches apokalyptisches Szenario der globalen

Barbarei. Globalisierung und Wüste gehen in 2666 eine Verbindung ein, deren Folge

Monotonie und Homogenisierung sind.

Dass diese mythische, leere Region der Romanwelt eine „geografía tan real como

fantástica“ (GONZÁLEZ RODRÍGUEZ 2002: 86) zum Vorbild hat, macht sich auch in einem Gefühl

der Irrealität (vgl. HERLINGHAUS 2013: 209) bemerkbar, wie Fate sie, schon wieder auf US-

amerikanischem Gebiet, hat:

Al dejar atrás la frontera los pocos turistas que vieron por las calles de El Adobe parecían dormidos. Una mujer de unos setenta años, con un vestido floreado y zapatillas Nike, estaba arrodillada examinando unas alfombras indias. [...] Tres niños tomados de la mano contemplaban unos objetos que se exhibían en una vitrina. Los objetos se movían imperceptiblemente, pero Fate no pudo saber si eran animales o ingenios mecánicos. Junto a un bar unos tipos con pinta de chicanos y sombreros vaqueros gesticulaban e indicaban direcciones contrapuestas. Al final de la calle había unos galpones de madera y contenedores de metal en la acera y más allá estaba el desierto. Todo esto es como el sueño de otro, pensó Fate. (2666: 437)

Die asymmetrische, geradezu absurde Realität der Grenze: die Mischung und extreme Nähe

von US-amerikanischen Markenartikeln und indigenen, ‚exotistischen‘ Produkten; Tiere, die

ebenso mechanische Objekte sein könnten; die Orientierungslosigkeit der Menschen in dieser

Region, die alle in unterschiedliche Richtungen weisen; die Wüste im Hintergrund – all dies

lässt in Fate das Gefühl entstehen, dass nicht er es ist, der diese Dinge wahrnimmt, sondern

jemand anders. Diese verschobene Wahrnehmung bezieht sich nicht nur auf den Betrachter,

sondern auch auf das Objekt der Betrachtung und auf den Ort, an dem all dies

wahrgenommen wird. Ein Ort, der dieser ist, aber ebenso ein anderer sein könnte.

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3. SANTA TERESA IM SPIEGEL DER GLOBALITÄT

3.1 MOBILISIERUNG UND ENTPERSONALISIERUNG ALS WIEDERKEHRENDE MOMENTE DER

GESCHICHTE

Nach der Charakterisierung eines globalisierten Santa Teresa, in dem sich sinnbildlich die

Verwüstung des Planeten kristallisiert, stellt sich die Frage, inwiefern die Tendenzen der

Globalisierung, die sich hier lokal artikulieren, von globaler Dimension für die in 2666

konstruierte Welt sind. Die Paradigmatik des von der Globalisierung betroffenen Falls Mexiko

gilt insbesondere für den heutigen sog. ‚Globalen Süden‘ und somit für ehemalige Kolonien,

die im vergangenen Jahrhundert ‚Opfer‘ der Strukturanpassungsprogramme wurden. 2666

baut aber, neben dieser historisch evidenten Verbindungslinie, noch andere

Querverbindungen auf, die eher indirekter Natur sind, die Globalität von 2666 aber in

bedeutender Weise mit bestimmen. Wir wollen diese nun genauer untersuchen.

Um dabei auch die Gliederung dieser Arbeit weiterhin nachvollziehbar zu machen, sei

vorab erwähnt, wie sich das folgende Kapitel 3 gestaltet. Die beiden subjektbezogenen Kapitel

2.1 und 2.2 laufen zusammen in diesem Kapitel 3.1, das die Aspekte Mobilisierung bzw.

Deterritorialisierung und Entindividualisierung bzw. Entpersonalisierung, die in Santa Teresa

bereits deutlich wurden, anhand des in 2666 entworfenen historischen Panoramas in

ergänzender Weise wieder aufnimmt. In Kapitel 3.2 sollen die in Kapitel 2.3 und 2.4

thematisierten räumlichen Paradigma anhand des globalen Raums aktualisiert werden:

Inwiefern finden sich auch an anderen Orten, die parallel zu Santa Teresa konfiguriert werden,

ähnliche Strukturen der Gewalt und Verwüstung? Wenn Globalität also eine bestimmte,

historisch aktualisierbare Auffassung vom Zustand der Welt ist, dann findet sich in 2666

ebenso sehr eine kritische Auseinandersetzung mit ebendieser Globalität, der wir uns in

Kapitel 3.3 widmen wollen. Die oftmals wichtige Rolle von Fiktionen und Narrativen in dieser

Globalität wurde bereits im theoretischen Teil dieser Arbeit betont; vor diesem Hintergrund

wäre es undenkbar, wenn man nicht auf die Darstellungsweise von 2666 selbst eingehen würde

und auf ihre Implikationen für die Globalität von 2666. Diesen Versuch wollen wir in Kapitel

3.4 unternehmen.

Ist der Kolonialismus der Ursprung der globalen Gewalt? Die postkoloniale Perspektive

von MIGNOLO, die in Kapitel 1.3 besprochen wurde, scheint dies zu vermitteln. Wie aber

positioniert sich 2666 dazu?

An einer Stelle wird eine Analogie zwischen den Frauenvergewaltigungen in den 1990er

Jahren und den Massenvergewaltigungen der indigenen Frauen auf heutigem mexikanischem

Gebiet durch die spanischen Kolonialherren geschaffen (vgl. 2666: 365). Vergewaltigung

behauptet sich als historische Konstante, die ihren Ursprung in der Kolonialzeit und dem

Beginn der Mestizengesellschaft zu haben scheint. Auch in der Genealogie des Polizisten Lalo

Cura, eine sich über sechs Generationen erstreckende Vergewaltigungskette, beginnt die erste

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Vergewaltigung im Jahre 1865 durch einen Ausländer, einen belgischen Soldaten, welcher die

Kette von Gewalttaten einleitet (vgl. 2666: 693). Ähnlich wie in Gabriel GARCÍA MÁRQUEZ‘

Roman Cien años de soledad (1967) fungiert die Familiengenealogie hier als generelle Allegorie

auf die Nationalgeschichte (vgl. VALDIVIA 2013: 463). Während in Cien años de soledad die zu

beobachtende Gewalt aber klar eine neoliberale bzw. neokoloniale ist (bzw. diese beiden nicht

mehr zu trennen sind) und sich auf die koloniale Ursprungsgewalt zurückführen lässt, die der

Dynamik von Ausbeuter und Ausgebeutetem gehorcht, sind die Rollen in 2666 nicht mehr so

eindeutig verteilt. Die Komplexität der Gewalt verdichtet sich am Grenzraum USA/Mexiko, wo

mehrere Akteure auf undurchsichtige Weise agieren (vgl. VALDIVIA 2013: 465), und wo

außerdem nicht aus einer Nationalperspektive erzählt wird. Aus diesem Grund ist auch der

Versuch, Bolaño für die postcolonial theory zu ‚gewinnen‘, wie es beispielsweise BALKAN (2010,

2013) und FARRED (2010) tun, nicht fruchtbar. Kolonialismus ist in 2666 ein Aspekt unter

vielen45, jedoch nicht der alles determinierende Faktor wie in Cien años de soledad.

Sehr viel auffälliger sind die in 2666 geflochtenen Verbindungen und Analogien von

historischen Situationen, deren Zusammenhang auf den ersten Blick nicht evident erscheint

(vgl. ELMORE 2008: 265; FARRED 2010: 690). Dabei sind es insbesondere der Zweite Weltkrieg

und der Holocaust, die von Bolaño immer wieder als indirekte historische Wegbereiter der

Geschehnisse in Santa Teresa ins Feld geführt werden. Das ist nicht erst in 2666 der Fall: In El

Tercer Reich (2010) beispielsweise wird die Militärgeschichte des Zweiten Weltkriegs als eine

den Globus modifizierende Kraft spielerisch verhandelt und das Dritte Reich fast schon

verschwörungstheoretisch oder mythifizierend als „phantasmatischer Ursprung jeder Gewalt“

(DÜNNE/HANSEN 2014: 271) gesehen, dessen Totalitarismus sich im Lateinamerika der

Militärdiktaturen wiederholt. In 2666 werden, insbesondere durch die Juxtaposition des

vierten und des fünften Teils, zwischen dem Zweiten Weltkrieg (1939-1945) und dem globalen

Kapitalismus der 1990er Jahre Parallelen gezogen, deren gemeinsame Strukturen wir uns im

Folgenden näher ansehen wollen46.

Mobilität behauptet sich in 2666 als Konstante in der Menschheitsgeschichte. So sind

nicht nur in der Gegenwart die vier Kritiker aus dem ersten Teil überaus mobil47, ebenso wie

45 So werden an verschiedenen Stellen Kolonialismus-Episoden collagenartig oder als Zitate

eingearbeitet. Der Afroamerikaner Fate liest zur Sklavengeschichte (vgl. 2666: 334f.); Amalfitano zur Kolonialgeschichte Chiles, gleichbedeutend mit dem Ende des bis dato genutzten Kommunikationsmittels der Telepathie (vgl. 2666: 276-287).

46 Auch DELEUZE/GUATTARI (1980: 582) sprechen von den Analogien von Kapitalismus und Krieg, die beide zunehmend zu Materialkämpfen werden: „[…] la guerre suit évidemment le même mouvement que celui du capitalisme: de même que le capital constant croît proportionnellement, la guerre devient de plus en plus ‘guerre de matériel’, où l’homme ne représente même plus un capital variable d’assujettissement, mais un pur élément d’asservissement machinique“.

47 Mit Ausnahme von Morini, der an den Rollstuhl gefesselt ist, aber genau darunter auch zu leiden hat. Seine erzwungene Immobilität verrät viel über die Mobilität, die in der gegenwärtigen europäischen Identität dazugehört: Nachdem sein Arzt ihm von der Reise nach Mexiko abrät, verfällt er in substanzbedrohende Resignation: „su propia imagen […] se iba diluyendo de forma gradual e incontenible, como un río que deja de ser río o como un árbol que se quema en el horizonte sin saber que se está quemando“ (2666: 145). Man denke auch an den General Entrescu und seine Aussage: „lo

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Amalfitano und Fate, es wird auch auf verschiedene Momente der Migration in der Geschichte

verwiesen, beispielsweise auf die Migration nach Buenos Aires Ende der 1920er Jahre (vgl.

2666: 36) oder am Beginn des fünften Teils auf das Ende des Ersten Weltkriegs, das Hans

Reiters Vater von einem Ort in den nächsten katapultiert. Neben diesen kürzeren Passagen

wird im fünften Teil immer wieder der Vormarsch der militärischen Divisionen im Zweiten

Weltkrieg (z.B. Reiters Division, vgl. 2666: 835) beschrieben, die den Raum einnehmen, ihn

kerben und gleichzeitig glätten, da sie die Bewohner der Ortschaften deterritorialisieren,

indem sie sie vertreiben oder zur Flucht zwingen. Der Zweite Weltkrieg erscheint in der

Globalität von 2666 wie der Beginn der erzwungenen Massenmobilität. So ist die Rede von

„campesinos que se movían constantemente“ (2666: 846) und entleerten, verlassenen Dörfern

als Folge davon, wie z.B. in dem fiktiven und für Hans Reiters Biographie wichtigen Dorf

Kostekino am Dnepr:

La mayor parte de las casas estaban abandonadas, según algunos porque los aldeanos habían huido ante la irrupción del ejército alemán, según otros porque el ejército rojo los había enrolado a fuerza. [...] Una noche, [...] Reiter escuchó una versión distinta: los aldeanos ni habían sido enrolados a la fuerza ni habían huido. El despoblamiento era consecuencia directa del paso por Kostekino de un destacamento del Einsatzgruppe C, los cuales procedieron a eliminar físicamente a todos los judíos de la aldea. (2666: 882)

Weshalb Kostekino keine Einwohner mehr hat, wird auf verschiedene Möglichkeiten

zurückgeführt. Geographisch eingekesselt zwischen Wehrmacht und Roter Armee, sind die

hauptsächlich jüdischen Einwohner entweder geflohen oder vom eigenen Heer eingezogen

worden. Die dritte Möglichkeit ist, dass die Bewohner des wahrscheinlich ukrainischen Dorfes

Kostekino einer der Einsatzgruppen Hitlers unter der Führung Heinrich Himmlers zum Opfer

fielen, jener ‚Sondereinheiten‘, die mobil oder stationär für die Vernichtung von Juden, Roma,

Kommunisten und anderen vom Nationalsozialismus Verfolgten insbesondere in den

osteuropäischen Ländern eingesetzt wurden48. Fest steht, dass von den ursprünglichen

Bewohnern Kostekinos, darunter Borís Ansky, jedes Lebenszeichen fehlt.

Der Krieg selber wird als ein hoch technologisierter, schwer bewaffneter Kampf

beschrieben, so dass der Wehrmachtssoldat Hans Reiter vollkommen überrascht ist, als er

Opfer einer Attacke durch Faustschläge eines polnischen Soldaten wird: Nie hatte er sich eine

solche direkte Konfrontation ‚von Mann zu Mann‘ vorgestellt, immer nur medial kanalisierte

Angriffe mit einer Waffe (vgl. 2666: 836f.). Diese im wahrsten Sinne des Wortes

unmenschlichen Dimensionen des Krieges sind tatsächlich nur dann realisierbar, wenn die

schlichte Begegnung von Angesicht und Angesicht nicht mehr stattfindet. Die

Entmenschlichung wird auch deutlich anhand der florierenden nervösen Krankheiten und der

vielen Soldaten, die durch die Ausmaße des Krieges und der Vernichtung wahnsinnig werden.

importante era moverse, la dinámica del movimiento, lo que equiparaba a los hombres y a todos los seres vivos“ (2666: 850f.).

48 Die Einsatzgruppe C operierte in der nördlichen und mittleren Ukraine (vgl. Abbildung 3 im Anhang).

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Borís Anskys Tagebücher, die Reiter in einem Versteck im Kaminsims des Hauses in

Kostekino findet, machen den Soldaten Hans Reiter bekanntlich zum Schriftsteller

Archimboldi. An diesem Schlüsselpunkt in Reiters Biographie wird dieser endgültig zum

Deserteur, da ihm bewusst wird, dass der Jude Ansky, von dem jede Spur fehlt, theoretisch von

ihm hätte getötet werden können:

[...] vio a Ansky en sueños. Lo vio caminar por el campo, de noche, convertido en una persona sin nombre, que dirigía sus pasos hacia el oeste, y también lo vio morir a balazos. Durante varios días Reiter pensó que había sido él quién le había disparado a Ansky. Por las noches tenía pesadillas horribles que lo despertaban y lo hacían llorar. [...] Una noche soñó que volvía a estar en Crimea. [...] Disparaba su fusil en medio de múltiples humaredas que brotaban aquí y allá como géiyseres [sic]. Después se ponía a caminar y encontraba a un soldado del ejército rojo muerto, boca abajo, con un arma todavía en la mano. Al inclinarse para darle la vuelta y verle el rostro temía [...] que aquel cadáver tuviera el rostro de Ansky. Al coger el cadáver por la guerrera, pensaba: no, no, no, no quiero cargar con este peso, quiero que Ansky viva, no quiero que muera, no quiero ser yo el asesino, aunque haya sido sin querer, aunque haya sido accidentalmente, aunque haya sido sin darme cuenta. (2666: 921f.)

Reiter träumt, wie Ansky sich als Soldat der Roten Armee durch die Kriegslandschaft bewegt

und in der immensen dunklen Szenerie zu einer namenlosen Person wird, die er zufällig,

geradezu unbemerkt, ohne sich darüber bewusst zu werden und ohne es zu wollen, hätte töten

können oder tatsächlich getötet hat. Ausgerechnet diese Ziel- und Absichtslosigkeit, die

anonyme Masse an Gegnern ohne Gesichter oder ohne identifizierbare Gesichter (und Reiter

weiß dabei nicht einmal, wie Anskys Gesicht aussieht) steht in fundamentalem Widerspruch

zum einzigartigen Wesen und reichen Innenleben Anskys, dem Reiter durch die Lektüre seiner

Tagebücher begegnet und welches Reiter von seinem Wunsch zu sterben abbringt. Das ist der

reale Albtraum eines Krieges, der das Menschsein ausschaltet, Menschen bzw. Körpern ihre

Identität nimmt und Soldaten dazu zwingt, eben dieses Menschliche auszuschalten, um den

Befehlen zu gehorchen und die Masse an Tötungen vorzunehmen. Die Entpersonalisierung des

Todes im Krieg wird auch am folgenden Zitat deutlich:

Reiter adquirió la costumbre de contemplar a los muertos como quien contempla una parcela en venta o una finca o una casa de campo y luego registrar sus bolsillos por si tenían algo de comida guardada. (2666: 923)

Die unbekannten, fremden Leichen werden wie zum Teil der Landschaft oder des Bodens. Sie

werden zu reiner Materie ohne Gesicht oder Identität, zu letzten Quellen der Nützlichkeit.

Reiter betrachtet sie wie leblose Objekte. In seiner Indifferenz werden sie zu unbedeutenden

Gegenständen, die nach und nach verschwinden.

Wie aber ist das Töten, das das Menschliche zu übersteigen scheint, organisatorisch

möglich? Welches System verbirgt sich hinter der Vernichtung? Im fünften Teil wird die

Binnenerzählung des eichmannartigen Funktionärs Sammer alias Zeller eingeschaltet (vgl.

2666: 938-960), der erzählt, wie ihm, der eigentlich in einem polnischen Dorf Arbeitskräfte für

die Fabriken des Deutschen Reichs bereitstellt, zur Zeit des Zweiten Weltkrieges plötzlich und

unerwartet eine Gruppe von rund 500 osteuropäischen Juden untersteht. Der Zug, in dem sie

ankommen, soll eigentlich nach Auschwitz fahren und kommt fälschlicherweise bei ihm an.

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Sammer ist von seinem neuen, ungeplanten und nicht eindeutigen ‚Befehl‘, der außerhalb

seines eigentlichen Aufgabenbereichs liegt, überfordert, da er sonst nicht mit der

‚Handhabung‘ von Juden betraut ist. So tut sich plötzlich eine Leerstelle im System auf, über

die Sammer sich mit dem Bürgermeister Tippelkirsch berät:

–¿Cómo vamos a devolverlos? –dije–. ¿Tengo acaso un tren a mi disposición? ¿Y en caso de tenerlo: no debería ocuparlo en algo más productivo?

El alcalde sufrió una especie de espasmo y se encogió de hombros. –Póngalos a trabajar –dijo. –¿Y quién los alimenta? ¿La administración? No, señor Tippelkirsch, he repasado todas

las posibilidades y sólo hay una viable: delegarlos a otro organismo. –¿Y si, de forma provisional, le prestáramos a cada campesino de nuestra región un par de

judíos, no sería una buena idea? –dijo el señor Tippelkirsch–. Al menos hasta que se nos ocurriera qué hacer con ellos.

Lo miré a los ojos y bajé la voz: –Eso va contra la ley y usted lo sabe –le dije. –Bien –dijo él–, yo lo sé, usted también lo sabe, sin embargo nuestra situación no es

buena y no nos vendría mal un poco de ayuda, no creo que los campesinos protestaran –dijo.

–No, ni pensarlo –dije yo. (2666: 945)

Für den überaus der Bürokratie verpflichteten Sammer steht fest, dass er, der sich für diese

Angelegenheit nicht zuständig fühlt, sich der Aufgabe möglichst schnell wieder entledigen

möchte und die Gruppe von Juden am besten einer anderen Behörde übergibt oder zurückgibt

– höchstwahrscheinlich, und er muss sich dessen bewusst sein, zu ihrer Vernichtung. Bei

diesem Grenzfall im System möchte Sammer sicher gehen, alles richtig zu machen und bloß

gegen kein Gesetz zu verstoßen, das ist ihm das Wichtigste. Gerade in dieser „bürokratischen

Sackgasse“ (vgl. ANDREWS 2014: 163) aber hätte er Handlungsspielraum und könnte so das

Leben der Juden retten, in Form des Vorschlags von Tippelkirsch, doch der innere Zwang,

‚korrekt‘, also dem Recht und der nationalsozialistischen Ideologie entsprechend zu handeln,

sind ihm wichtiger als Menschenleben, zumindest das Menschenleben der homines sacri der

Nazi-Ideologie, den Juden. Er denkt dabei gar nicht an die Menschen hinter der Bezeichnung

‚Juden‘, ja er muss das Menschliche an ihnen ausblenden, um ‚produktiv‘ zu denken, die

vorgegebene Ordnung zu realisieren und die Ziele des Krieges zu vertreten. Interessant ist,

dass er dabei überaus kühl wirkt, während Tippelkirsch, der eine relativ humane Möglichkeit

vorschlägt, gesundheitlich am Abgrund steht. Die Juden, deren Nationalität im Übrigen unklar

bleibt, sind lebendige Überbleibsel eines Systems und werden in der Sammer-Episode wie

unproduktive Reste behandelt, denen jedes Menschsein abgesprochen wird.

Aus diversen Telefonaten, die Sammer führt, geht hervor, dass niemand sich für die

Juden ‚verantwortlich‘ fühlt und so wird Sammer schließlich unmissverständlich aufgetragen,

sie selbst zu vernichten. Dieser rechtfertigt sich später gegenüber Reiter damit, dass er die

Juden nicht eigenhändig umgebracht hätte, sondern Andere damit beauftragte. Gerade diese

Aussage entschuldigt ihn aber nicht, sondern macht seine Schuld noch viel gravierender, da er

die Last und Entfremdung für die menschliche Psyche und Physis durch die Ideologie, die mit

der massenhaften Vernichtung einhergehen, an Andere delegiert. Die von ihm Beauftragten

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geben nach ca. 300 Tötungen auf, da sie körperlich zu erschöpft von der ‚Aktion‘ sind. Es wird

klar, dass Verbrechen in diesem Ausmaß und in dieser Geschwindigkeit das Menschliche

übersteigen und nur dann möglich sind, wenn der Mensch sich auf Maschinen und mediale

Zwischenschübe verlässt und eine direkte Konfrontation von Angesicht zu Angesicht

vermieden wird.

Die Sammer-Episode demonstriert, wie wirkungsvoll Narrative der Produktivität und

Ordnung sein können, so sehr, dass Menschen andere Gruppen von Menschen nach dem Grad

ihres Nutzens und ihrer Produktivität beurteilen, ihnen das Menschsein abgesprochen wird

und sie so zu namenlosen Objekten werden. Sammer ist Handlanger dieses Systems, das in

diesem Punkt strukturelle Ähnlichkeiten zum globalen Kapitalismus, wie er sich in Santa

Teresa artikuliert, aufweist und gibt somit dem System, nach dem die anonymen maquiladoras

in Santa Teresa operieren, ein Gesicht. Auch hier sind die maquiladora-Arbeiterinnen eine

segregierte und marginalisierte Gruppe von Menschen, die auf ihre Produktivität reduziert

werden und denen darüber hinaus kein allgemeiner oder individueller menschlicher Wert in

der gegenwärtigen Gesellschaft zugesprochen wird. Demnach werden sie nicht geschützt und

verfallen spätestens im Tod der endgültigen Wertlosigkeit und sind nur noch körperliche

Masse.

Die Schilderung der Entvölkerung in der Kriegslandschaft der Ukraine der 1940er Jahre

im fünften Teil, die casas abandonadas in Kostekino, vervollständigen zudem das Bild der

Romanwelt, das im vierten Teil insbesondere die Ankunftsorte und Zielstationen der

Migranten zeigt, ihre Herkunftsorte in den zentralen und südlichen Bundesländern Mexikos

aber außen vor ließ. Die zentrale Leerstelle der Täter im vierten Teil wird zwar im fünften Teil

nicht explizit gefüllt, dennoch lässt die Sammer-Episode erkennen, wie Menschen im Sinne

eines unmenschlichen Systems agieren können bzw. die Ausführung an andere Menschen oder

Maschinen delegieren. Die Globalität von 2666 und dabei insbesondere die Puzzlestücke des

vierten und fünften Teils suggerieren also, dass in der dargestellten Welt Sammer bzw. das

System, für das er steht, der symbolische Täter der Frauenmorde in Santa Teresa sein könnte.

Über Entmenschlichung, Produktivitätswahn und die Verbindung von Produktion und

Vernichtung wird zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der Globalisierung in Santa Teresa die

wohl auffälligste globale Gewaltlinie in 2666 gezogen. Die Frage, ob der Zweite Weltkrieg

wirklich der ‚Ursprung‘ jeder Gewalt ist oder ob sich hier etwas kristallisiert oder reproduziert,

was schon vorher vorhanden war, beantwortet dabei weder der Text noch sein Kontext. Es

scheint aber, dass die analogen Strukturen der dargestellten Gewalt Konstanten der

Menschheitsgeschichte sind, die zu jeder Zeit an jedem Ort stattfinden und wiederkehren, sich

ständig aktualisieren können, sei es im Mexiko der Kolonialzeit oder der 1990er Jahre, im

Polen oder der Ukraine der 1940er Jahre oder auch schon in der Antike: „los griegos […] vieron

el mal que todos llevamos dentro […] Usted dirá: todo cambia. Por supuesto, todo cambia, pero

los arquetipos del crimen no cambian, de la misma manera que nuestra naturaleza tampoco

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cambia“ (2666: 338). Dass die Globalität von 2666 nicht nationalhistorisch ausgerichtet ist,

sondern allgemein globalgeschichtlich, machen auch die weiteren in 2666 erwähnten

Analogien in der Geschichte und auf dem Globus deutlich. So wird von einem Land im Nahen

Osten gesagt: „En este país desaparecen miles de personas cada año y nadie intenta

encontrarlos“ (2666: 371). Oder über die Toten während der Pariser Kommune von 1871, über

die niemand eine Träne vergoss, da sie sich „en los extramuros de la sociedad“ (2666: 338)

befanden und daher nicht zur Gesellschaft dazugehörten. Die vielen namenlosen Toten

erinnern an die anonymen Frauenleichen in Santa Teresa.

Die Delegation des menschlichen Lebens an die Bürokratie und an die Maschine, die

Invisibilisierung des Todes und Verbannung des Körperlichen aus dem Leben, deren logische

Folge die Abwesenheit des Leichnams bedeutet, wiederholen und steigern sich darüber hinaus

im ‚Zukunftsszenario‘ Santa Teresas, die USA der 1990er Jahre, exemplarisch am Tod von Fates

Mutter:

[...] acordaron que su madre sería incinerada y que la ceremonia, si todo marchaba por los cauces normales, tendría lugar al día siguiente, en la funeraria, a las 7 de la tarde. A las 7.45 todo habría acabado. [...] Después el señor Lawrence abordó delicadamente el asunto económico. (2666: 297)

3.2 PARALLELE ORTE DER GEWALT UND VERWÜSTUNG

„Todas las ciudades son parecidas“, behauptet Lola Amalfitano (2666: 218). Im Folgenden

wollen wir uns ansehen, wie die räumlichen Paradigma, die in Kapitel 2.3 und 2.4 in Bezug auf

Santa Teresa formuliert wurden, sich an anderen Orten der im Roman dargestellten Welt

wiederholen, aktualisieren oder ergänzen. Im vorangegangenen Kapitel wurde durch die Figur

der Wiederholung insbesondere ein Fokus auf die Zeit gelegt bzw. auf die Diachronie. In

diesem Kapitel werden die zu besprechenden Analogien, die 2666 eröffnet, eher über die

Technik der Parallelisierung geschaffen, also einer räumlichen Figur, in der Punkte an

verschiedenen Orten der Welt sich einander annähern bezüglich der an ihnen geschehenden

menschlichen Praktiken oder auch nur in einer ähnlichen Beschaffenheit des Bodens.

Parallelisierung kommt zum einen über die homogenisierenden Tendenzen und Praktiken der

Globalisierung zustande, die zu einer monotonen Geographie der Globalisierung und des

Kapitals führen, aber nicht erst – wie in „Le voyage“ sichtbar – seit der Globalisierung

bestehen. Zum anderen kann diese Globalität nur geschaffen werden über eine bestimmte

Betrachtungsweise des Subjekts, d.h. der Figuren in der Romanwelt.

Santa Teresa werden auf dem ganzen Globus Zwillingsstädte zugeschrieben. An einer

Stelle ist die Rede von „la gran ciudad que no dormía nunca“ (2666: 519), aber hier ist nicht

New York gemeint, sondern Santa Teresa. Neben dieser relativ positiv konnotierten Analogie

gibt es aber auch negativere. Die vom Zweiten Weltkrieg gezeichnete und auf der Halbinsel

Krim liegende Stadt Sewastopol wird ähnlich wie das Santa Teresa der 1990er Jahre

beschrieben:

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En las inmediaciones de la ciudad, junto a las trincheras rusas, se hacinaban los cuerpos destrozados de los soldados alemanes y rumanos. [...] La ciudad, a lo lejos, era una mole negra con bocas rojas que se abrían y se cerraban. Los soldados la llamaban la trituradora de huesos [...] (2666: 880)

Sewastopol erscheint wie ein Moloch, der Menschenleben verschlingt, Tote produziert und

sichtbar macht. Die Stadt gleicht einem Friedhof von Kriegsopfern und toten Soldaten, ähnlich

wie Santa Teresa, wo ebenso in der Peripherie (Frauen-)Leichen gefunden werden und überaus

sichtbar sind.

Auch andere reale Städte der Gegenwart werden, wenn auch weniger ausführlich,

parallel zu Santa Teresa konstruiert. So ist die Rede von „los campos oscuros y [... las]

carreteras solitarias y los respectivos e interminables suburbios que rodeaban París y Madrid“

(2666: 62). Die nie endende Peripherie gibt es nicht nur in Santa Teresa, sondern auch in

anderen ‚modernen‘ Städten, wo sie in solitäre Felder und glatte Räume übergeht. Die Wahl

des Adjektivs respectivos impliziert auch, dass die jeweiligen Auswüchse der einzelnen Städte

analog zu denken sind. Urbanisierung erscheint als paradigmatisches Produkt der

Globalisierung und der globalen Kapitalakkumulation. Ebenso in der Passage, die Thessaloniki

beschreibt:

[...] se podía apreciar un cerro pelado, de color marrón amarillento, y un edificio de oficinas coronado por el anuncio comercial de una inmobiliaria que ofrecía chalets en una zona presumiblemente próxima a Salónica. La urbanización (aún no construida) ostentaba el nombre de Residencias Apolo (2666: 55)

Das hier beschriebene Stadtbild Thessalonikis erinnert stark an das Erscheinungsbild Santa

Teresas, wo Brachflächen der Bebauung und dem Kommerz zur Verfügung gestellt werden und

die Stadt durch Industrialisierung immer weiter wächst. Das einzige örtliche Spezifikum ist der

kommerzielle Name der angekündigten Wohnungen, Apoll, der dem Wohnbaugebiet, das

theoretisch in jedem industrialisierten Land auf der Erde so stehen könnte, ein authentisches

Lokalkolorit verleihen soll. Die Beschreibung der europäischen Städte der Gegenwart macht

die Tendenzen der Angleichung der Globalisierung sichtbar.

Ebenso wie die Orte selbst scheinen sich auch die sich hier abspielenden Gewalttaten auf

geradezu unheimliche Weise einander anzugleichen, ja anzunähern. So wiederholt sich die

Episode, in der Pelletier und Espinoza einen Taxifahrer in London zusammenschlagen und

derer Liz Norton Zeugin wird, kurze Zeit später mit anderen Akteuren in ähnlicher Weise für

Norton, die die Szene aus ihrem Hotelfenster betrachtet, in Mexiko-Stadt, wo diese Gewalt

bereits als Normalität oder Routine bezeichnet wird (vgl. 2666: 103-110; 147f.). Die Gewalt, die

alle Menschen heimsuchen kann, selbst die gebildeten und europäischen

Literaturwissenschaftler Pelletier und Espinoza im 20. Jahrhundert, stellt hier das Bindeglied

der Globalität von 2666 dar. Die Komposition des Romans lässt Norton zwei Gewaltakte an

verschiedenen Punkten der Welt direkt hintereinander miterleben: Die Romanwelt wird durch

diese universalen Gewalttaten zusammengezogen.

Dass die Weltkomposition von 2666 eine entscheidende Leerstelle lässt, wurde bereits

erwähnt: Die Täter oder Mörder der feminicidios von Santa Teresa bleiben weitestgehend

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ausgespart, es gibt keine endgültige Aufklärung der Morde (vgl. LÜCKE 2011: 46). Damit

verpflichtet Bolaño sich zum einen dem Realismus, denn auch in der Realität wurden die

Frauenmorde von Ciudad Juárez bekanntlich nicht aufgeklärt (vgl. ANDREWS 2014: 167).

Bolaños englischer Übersetzer Chris ANDREWS betont aber, dass die Leerstellen, die „gaps“ in

Bolaños Erzählung bewusst offen gehalten werden: „to answer them would be to shut down a

motor of writerly invention and dry up a source of readerly curiosity“ (ANDREWS 2014: 169). Für

Andrews sind die Lücken konstituierend für Bolaños Schreibweise und machen die Spannung

seiner Texte aus, sie sind nicht nur realistisch, sondern auch strategisch. Das würde bedeuten,

dass das secreto del mundo eben ein Geheimnis bleiben soll (vgl. ANDREWS 2011; ESPINOZA

2006) und dass der Leser zwar darüber rätseln darf, der Text aber keine Lüftung des

Geheimnisses bietet. Die Aussage, dass sich in Santa Teresa das Geheimnis der Welt verberge,

wäre somit keine analytische, sondern eine mythifizierende, eine das Weltgeschehen

enthüllende und zugleich verklärende Aussage (vgl. LÜCKE 2011: 50; 52). Diese strategische

Verdunklung (vgl. ELMORE 2008: 289) ist zweifelsohne Bestandteil von Bolaños Erzähltechnik

und seiner Romanwelt.

Verweilt man aber bei der Feststellung dieser Leerstelle und beharrt man auf der Unlogik

der Gewalt, befindet man sich in perfektem Einvernehmen mit der Scheininstitution der

Polizei in Santa Teresa: „el judicial le dijo que no intentara buscarles una explicación lógica a

los crímenes“ (2666: 701). Die Zusammenhänge, auf die 2666 verweist, ohne sie je ganz

aufzudecken, sind komplex. Guadalupe Roncal erzählt Fate von einem Journalisten, ihrem

Vorgänger, der nach sieben Jahren schließlich die Machenschaften hinter den Frauenmorden

durchschaut hatte und alles verstand, als Bestätigung für sein Wissen aber umgebracht wurde

(vgl. 2666: 378).

Im letzten Kapitel haben wir bereits darüber gesprochen, wie das lückenhafte Bild im

vierten Teil, seine ‚dunklen Flecken‘, durch die Charakterisierung eines Mörders in Form von

Sammer sowie durch die Schilderung der verlassenen Heimat der Vertriebenen im fünften Teil

zunehmend komplettiert wird. Diese ‚ergänzende Technik‘ ergibt sich maßgeblich aus dem

vierten und fünften Teil, da der fünfte Teil die Leerstellen des vierten Teils implizit schließt49.

Eine weitere entscheidende Ergänzung betrifft die Beschreibung der räumlichen Bedingungen

des Verbrechens. In Kapitel 2 dieser Arbeit wurde insbesondere auf die Fundorte von Leichen

Bezug genommen, da durch die Aussparung des Vorgangs des Frauenmordes selbst im vierten

Teil der Tatort meist unbekannt bleibt, der nicht der Fundort sein muss. Wiederum bietet die

Sammer-Episode ergänzende Parallelen, indem sie Einblick in die im vierten Teil fehlende

Täterperspektive gibt: Nachdem ihm aufgetragen wird, die Juden selbsttätig zu vernichten, ist

Sammer auf der Suche nach einem ‚idealen‘ Ort der Vernichtung, nach einem Tatort, und so

lässt er sich eine Stunde lang durch die Peripherie des polnischen Dorfes fahren:

El chofer nos condujo hacia las afueras del pueblo. Durante una hora estuvimos dando vueltas por carreteras comarcales y antiguos senderos de carromatos. […] A unos quince

49 Vgl. auch HERLINGHAUS (2013: 208): Der vierte und fünfte Teil spiegeln einander.

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kilómetros del pueblo había una hondonada [...] Era un sitio apartado, lleno de pinos, de tierra oscura. [...] El sitio no estaba alejado de la carretera. (2666: 951)

Die Suche nach einer geeigneten Niederung ist schließlich erfolgreich. Interessant ist, dass der

anvisierte Ort zum einen abgeschieden und isoliert ist, zum anderen direkt angebunden an die

Fahrbahn. Diese räumlichen Bedingungen werden auch von den Tätern in Santa Teresa

gewählt, wo die Wüste direkt hinter der Autobahn beginnt. In der Wüste Sonoras verweht der

Sand dabei die menschlichen Spuren; in Polen bedeckt der Schnee die bereits gefüllten Gräber:

La nieve había borrado el más mínimo rastro de los judíos. [...] parecía que en el fondo de la hondonada ya no había sitio para nada más. Sin embargo, al final [...e]ncontramos un lugar vacío (2666: 955f.)

Die Suche nach einem Vernichtungsort ist die Suche nach einem leeren Ort, d.h. einem von

Menschen nicht genutzten oder bebauten Terrain. Doch während in Santa Teresa, wo der

Wüstenwind die Leichen verwesen und schnell verschwinden lässt, die geographischen

Bedingungen den Tätern zuträglich sind, ist der die menschlichen Spuren verbergende Schnee

in Polen ein Hindernis für das Unterfangen, da die leeren Stellen nicht mehr als solche zu

erkennen sind und die noch zu folgenden ‚Begräbnisse‘ somit erschwert werden. Das über

Nacht geschaffene Grab scheint voll zu sein und die Natur macht dem Vorhaben einen Strich

durch die Rechnung, leistet Widerstand gegen ihre Nutzung. Die Schneelandschaft ist ein

glatter Raum nach DELEUZE/GUATTARI, da der Mensch ihn sich nicht zu Eigen machen kann.

Während man sich im vierten Teil fragt, wer all die Frauenleichen auf den Brachflächen

der Stadt oder in der Wüste ‚verteilt‘, und mit den immer gleichen, analogen Strukturen und

Spuren der Gewalt zurücklässt, wird der Leser hier Zeuge einer strategischen (wenn auch nicht

gelingenden) Planung der monotonen Massenvernichtung. Auch wenn bei den feminicidios in

Santa Teresa nie endgültig geklärt wird, ob es sich um eine verantwortliche Person à la

Sammer oder ein Kollektiv oder einzelne Individuen oder Imitationstäter (sog. copycats)

handelt, so inszeniert die Gesamtkomposition des Romans über Analogien doch das

Massengrab in der polnischen Schneelandschaft als einen komplementären Pol zu den

‚Gräbern‘ in der mexikanischen Wüste, die aber nur noch nach vollendeter Tat aus der aus der

Perspektive der Ermittler gefunden werden.

Welches Zukunftsszenario erwartet Santa Teresa? Auch dafür gibt es in 2666 Visionen.

Fate reist noch vor seiner Reise nach Santa Teresa nach Detroit, der brachliegenden

Industrieregion:

El barrio parecía un barrio de jubilados de la Ford y de la General Motors. Mientras caminaba iba mirando los edificios, de cinco o seis pisos, y sólo veía a viejos sentados en las escaleras o fumando acodados en las ventanas. [...] El bar estaba junto a un lote baldío lleno de malezas y de flores silvestres que ocultaban los cascotes del edificio que se levantaba allí. (2666: 306f.)

In Detroit, dem ehemaligen Standort der Autoindustrie, hat sich die vormalige

Geschäftstüchtigkeit in die Lethargie ehemaliger Arbeiter verwandelt. Die Natur holt sich in

den brachliegenden Flächen ihren Raum zurück und verdeckt dabei gleichzeitig die Ruinen

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der ehemaligen Industriegebäude. Diese fast barock anmutende Szenerie verleitet Fate dazu,

im späteren Dialog mit Chucho Flores, die aktuellen Entwicklungen in Santa Teresa kritisch zu

betrachten:

–Ésta es una ciudad completa, redonda –dijo Chucho Flores– . Tenemos de todo. Fábricas, maquiladoras, un índice de desempleo muy bajo, uno de los más bajos de México, un cártel de cocaína, un flujo constante de trabajadores que vienen de otros pueblos, emigrantes centroamericanos, un proyecto urbanístico incapaz de soportar la tasa de crecimiento demográfico, tenemos dinero y también hay mucha pobreza, tenemos imaginación y burocracia, violencia y ganas de trabajar en paz. Sólo nos falta una cosa –dijo Chucho Flores.

–Petróleo, pensó Fate, pero no lo dijo. –¿Qué es lo que falta? –dijo. –Tiempo –dijo Chucho Flores–. Falta el jodido tiempo. ¿Tiempo para qué?, pensó Fate. ¿Tiempo para que esta mierda, a mitad de camino entre

un cementerio olvidado y un basurero, se convierta en una especie de Detroit? (2666: 362)

Bereits in Kapitel 2.2 wurde angerissen, wie sich in 2666 der Mythos der modernen,

aufstrebenden Stadt mit der tödlichen Geographie Santa Teresas vermengt. Chucho Flores

erscheint hier wie der fortschrittswillige, globalisierungsbejahende Prototyp, der mit der

Fortschrittsskepsis des US-Amerikaners Fate konfrontiert wird, welcher die Folgen der

Industrialisierung kurz zuvor in Detroit gesehen hat. Für Chucho Flores gehören die Armut

und Drogenökonomie, die klaffenden Unterschiede zwischen Arm und Reich, auf

unspektakuläre und gewöhnliche Weise zur Realität50: Eine Aussage, die angesichts der

prominenten Rolle der Mordserie in Santa Teresa beschönigend, evtl. ironisch, wenn nicht

aber übermäßig provokativ daherkommt. Für Chucho Flores befindet sich Mexiko auf dem

richtigen Weg der Entwicklung, der ihm zufolge über wirtschaftliche Aktivität bestritten wird

und lediglich mehr Zeit benötigt. Betrachtet man die Situationen der beiden Länder USA und

Mexiko auf einer vergleichbaren linearen Skala, könnte man sagen, dass ihre Entwicklung

zeitlich verschoben ist: Die USA hatte ihre Industrieblütezeit bereits bzw. hat ihre Industrie

nach Mexiko ausgelagert. Daher meint Fate, dass Santa Teresa das gleiche Schicksal wie

Detroit erwartet, wenn nicht bereits ein schlimmeres erleidet: Er sieht in dieser Stadt eine

Mischung aus Friedhof und Müllhalde.

Für die Globalität von 2666 bedeutet dies, dass nicht nur die ‚internen‘ Folgen der

Globalisierung, die wir uns in Kapitel 2 genauer angesehen haben, dargestellt werden. Es

werden auch über eine transnationale Perspektive die asymmetrischen, ungleichen Zustände

auf dem Globus offengelegt. Ähnliche globale Tendenzen bedeuten keine vollständige

Homogenisierung als Resultat, wie es die kontrastierende Darstellung von Santa Teresa und El

Adobe, die, obwohl sie direkt beieinander liegen, unendlich different erscheinen, bezeugt.

Gleichzeitig aber werden auch scheinbar entfernte Situationen entweder simultan oder

historisch verschoben parallelgeführt, um fehlende Aspekte einer Situation in neuer Weise

50 Ebenso wie gesagt wird, dass man in Mexiko an bestimmte Morde ‚gewöhnt’ sei: “Las muertes

habituales, [...] las usuales, gente que empezaba festejando y terminaba matándose [...] muertes que no asustaban a nadie.” (2666: 675).

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ergänzend zu beleuchten. Dabei kontrastieren verschiedene Sichtweisen auf die sich

annähernden Städte, die zu eigenen globalparadigmatischen Mikrokosmen werden, da sie alle

Akteure der Globalisierung in sich vereinen.

An dieser Stelle wird also deutlich, dass die hergestellten Parallelen in 2666 zum einen

durch die Gesamtkomposition des Romans entstehen, aber nicht ohne die einzelnen Figuren

bestehen. Analogien kommen zum einen durch die homogenisierenden Tendenzen der

Globalisierung zustande, gleichzeitig konstituieren sie sich über eine subjektive

Wahrnehmungserfahrung, die entscheidend ist für den Eindruck von Ähnlichkeit. Dies zeigt

sich deutlich bei Fate, der auf seinem Weg nach Santa Teresa durch die Wüste ein déjà-vu-

Erlebnis hat:

En el extremo más alejado del valle creyó discernir una luminosidad. [...] Una caravana de camiones moviéndose con gran lentitud, las primeras luces de un pueblo. O tal vez sólo su deseo de salir de quella oscuridad que de alguna manera le recordaba su niñez y adolescencia. Pensó que en algún momento, entre una y otra, había soñado con ese paisaje, no tan oscuro, no tán desértico, pero ciertamente similar. Iba en un autobús, con su madre y una hermana de su madre, y hacían un viaje corto, entre Nueva York y un pueblo cercano a Nueva York. Iba junto a la ventana y el paisaje invariablemente era el mismo, edificios y autopistas, hasta que de pronto apareció el campo. (2666: 343)

Dass die ‚kapitalistische Landschaft‘, bestehend aus Autobahnen und Gebäuden, in der US-

amerikanischen/mexikanischen Grenzregion eine ähnliche ist wie die des Bundesstaats New

York, ist hier nur eine Komponente der Analogie. Es ist insbesondere Fates Blick aus dem

Autofenster, der ihn an seinen Blick aus dem Busfenster in seiner Kindheit erinnert. Ihm

erscheint eine Fata Morgana des Lichts in der Dunkelheit, die die beiden Situationen

verbindet. Die Ähnlichkeitserfahrung bezieht sich auf eine zurückliegende Traumlandschaft,

die das, was er in diesem Moment betrachtet und wahrnimmt, bereits antizipiert hatte.

Es ist also Teil der Globalität in 2666, zum einen verschiedene Globalitäten der einzelnen

Figuren in sich zu vereinen und zum anderen zu betonen, dass diese Globalitäten durch eine

bestimmte Wahrnehmungshaltung zustande kommen, die wiederum maßgeblich durch

bestimmte Transportmedien geprägt ist. So heißt es über Kesslers Sichtweise:

El mundo, en realidad, es pequeño, pensaba a veces Albert Kessler, sobre todo cuando iba en avión, en un asiento de primera o de business. (2666: 725)

Aus der bequemen Perspektive eines Erste-Klasse-Sitzes im Flugzeug erscheint einem die

ganze Welt zugänglich und über das Medium des Flugzeugs und seine Perspektive überdies

klein. Ebendiese Zugänglichkeit kommt über die Transportmedien der Globalisierung

zustande und spricht über die Art des Tourismus und des Reisens, wie sie im Zeitalter der

Globalisierung praktiziert wird, nämlich die Zugänglichkeit von Orten gegen Bezahlung. In

Santa Teresa lässt Kessler sich bekanntlich im Taxi durch die peripheren Stadtgebiete

kutschieren und kommt darüber zu dem Schluss, dass sie gefährlich sind. Liz Norton im ersten

Teil reist nach diversen Autofahrten durch Santa Teresa schnell wieder aus „esa horrible

ciudad“ (2666: 187) ab.

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Die Wechselwirkung von Horror und Monotonie (vgl. GALDO 2005: 28f.), der

ausgewählten Motive aus dem Baudelaire-Motto, wird an diesen Außenperspektiven auf Santa

Teresa deutlich. Sowohl die Gleichheitserfahrung bzw. die Wahrnehmung von Monotonie als

auch die Horrorszenarien und -konstrukte der fremden Orte (Fates, Nortons, Kesslers)

kommen über die distanzierte Wahrnehmungs- und Betrachtungsweise aus einem

Transportmedium (Bus, Flugzeug, Taxi, Auto) zustande. Somit aktualisiert sich die Tourismus-

und Fortschrittskritik aus „Le voyage“ in der Globalität von 2666 insofern, als die im Gedicht

geschilderten enttäuschenden Analogien und Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Orten

auf der Welt durch die Nutzung bestimmter Transportmittel überhaupt erst zustande

kommen. Enttäuschung selbst ist eine Frage der Wahrnehmung, der Betrachtung und der

Erwartungshaltung. Gleichzeitig schafft der globale Kapitalismus, durch Verfügung über Orte

und ihre kommerzielle Nutzung, sich einander ähnelnde Orte, sodass diese nur als homogen

wahrgenommen werden können.

In den folgenden Kapiteln werden wir hieran anknüpfen: Zum einen wird deutlich, dass

die Frage der Wahrnehmung nicht nur ein Kritikpunkt in 2666 ist, sondern auch Ansatzpunkt

für gedachte Alternativen. Im übernächsten Kapitel wird deutlich werden, dass die

Medienproblematik in 2666 sich durchaus nicht nur auf Transportmedien reduziert.

3.3 DIE (UNAUFHALTSAME?) ÖKONOMISIERUNG DES LEBENS

Die Quantifizierung des Raumes führt also zu ähnlichen räumlichen Erscheinungsbildern rund

um den Globus. Bedeutet die Entstehung und Wahrnehmung von Ähnlichkeiten aber auch,

dass das Innenleben der Subjekte sich immer mehr einander angleicht, wie HARDT/NEGRI es

mit der in Kapitel 1.3 besprochenen Verinnerlichung des Ökonomischen meinen? Wie

aktualisiert sich die Globalität in 2666 angesichts der Globalisierung? Interessant ist, dass 2666

einen Fokus auf scheiternde Figuren legt, die darüber hinaus die einzigen sind, die Kritik am

bestehenden Zustand der (fiktionalen) Welt äußern. Während in den beiden vorangegangenen

Kapiteln die Gesamtkomposition des Romans bezüglich der Konstruktion von Globalität im

Vordergrund stand, kommen in diesem Kapitel vorrangig die einzelnen Globalitäten

verschiedener Figuren zur Sprache.

Die Erzählung eines Obdachlosen, die Morini auf einer Londoner Parkbank hört, über

seine frühere Arbeitserfahrung in einer Tassenfabrik im ersten Teil soll uns erste

Anhaltspunkte für die Erörterung der kapitalistischen ‚Moral‘ liefern:

[…] pasó a explicarle que él, hacía tiempo, tuvo un trabajo en una empresa que se dedicaba a fabricar tazas, [...] unas tazas con leyendas insulsas, y que un día, seguramente debido a la demanda, cambió radicalmente los lemas de las tazas y además empezó a incluir dibujos junto a los lemas, dibujos sin colorear al principio, pero luego, gracias al éxito de esta iniciativa, dibujos coloreados, de índole chistosa pero también de índole erótica.

–Incluso me aumentaron el sueldo –dijo el desconocido–. [...] Los trabajadores trabajábamos más a gusto. Los encargados también trabajaban más a gusto y el jefe se veía feliz. Pero al cabo de un par de meses de estar produciendo esas tazas yo me di cuenta de que mi felicidad era artificial. [...] me sentía más desdichado que antes de que me subieran

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el sueldo. [...] Se me agrió el humor, me había vuelto más violento que antes, cualquier tontería me enojaba, empecé a beber. Así que [...] finalmente llegué a la conclusión de que no me gustaba fabricar ese determinado tipo de tazas. [...] Un día me enfrenté con uno de los encargados. Le dije que estaba harto de fabricar esas tazas idiotas. [...] Me preguntó si prefería hacer las tazas que hacíamos antes. Eso es, le dije. [...] ¿Te dan más trabajo las tazas nuevas? En modo alguno, le dije, el trabajo es el mismo, pero antes las jodidas tazas no me herían como ahora me hieren. [...] ¿Y qué demonios las hace tan distintas, aparte de que ahora son más modernas?, dijo Andy. Justamente eso, le respondí, antes las tazas no eran tan modernas [...]. Al día siguiente pedí mi liquidación y me marché de la empresa. (2666: 72f.)

Die Geschichte des unbekannten Obdachlosen erzählt den Werdegang eines am Rande der

Gesellschaft stehenden Individuums. Die Dynamiken von Wachstum, Produktion und

Beschäftigung in einem Unternehmen werden von allen Fabrikmitarbeitern positiv

aufgenommen und wohlwollend akzeptiert, außer von ihm. Die Produktentwicklung passt sich

an die Mechanismen des Marktes an: Das Design wird geändert, es kommen Zeichnungen

hinzu und die Tassen werden koloriert, gemäß der Nachfrage und zur Profitsteigerung. Doch

er entfremdet sich von den neuen Tassenmodellen, die an die Gesetze des Marktes gebunden

sind. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sein Gehalt erhöht wird. Im Gegenteil:

Während alle anderen Arbeiter glücklich darüber scheinen, immer mehr zu arbeiten und dafür

entlohnt zu werden, wird er unglücklich. Sein professioneller ‚Abstieg‘ ist daran gebunden,

dass er sich nicht an die neue Produktionsweise der Tassen anpassen kann. Diese mangelnde

Anpassungsfähigkeit an die Dynamiken des Marktes sowie die Fähigkeit, sich vom

hergestellten Produkt entfremden zu können, wirken in einer globalisierten Welt

unverständlich, in der wirtschaftlicher Erfolg ein von vielen geteiltes Ziel darstellt. Doch

gerade das Scheitern macht die Geschichte des Londoner Obdachlosen, einem

Marginalisierten der kapitalistischen Gesellschaft, so interessant. Nicht zuletzt sehen wir hier

anhand der mangelnden Identifikation, anhand der produktionsbedingten Entfremdung auch,

wie und warum jemand beginnt, gewalttätig zu werden.

Dieser ‚existenzielle Kapitalismus‘, mit dem man sich entweder identifiziert oder nicht,

wird auch an anderen Stellen des Romans beschrieben. So ist von einem lethargischen

Ladenbesitzer im ersten Teil die Rede, dem der Misserfolg auf das Gemüt schlägt:

A veces el proprietario, de tan deprimido que estaba, se quedaba a dormir en la tienda. No estaba deprimido, por supuesto, por los ruidos o gemidos del fantasma, sino por cómo le iba el negocio, al borde de la ruina. (2666: 133)

Das Leben dieses Ladenbesitzers ist völlig gezeichnet von seinem wirtschaftlichen Misserfolg,

dies führt aber dazu, dass er gar kein Leben außerhalb seines Geschäfts mehr führt, er schläft

sogar an seinem Arbeitsplatz, wird lethargisch und deprimiert. Mit dem fantasma ist der Geist

seiner Großmutter gemeint, der sich in seinem Haus in Form von Geräuschen und Wehklagen

bemerkbar macht. Er klagt, da er in dem Haus, in dem die Großmutter früher lebte, nichts

mehr wiedererkennt und die moderne Einrichtung ihm vulgär erscheint.

Dieser Ladenbesitzer steht in 2666 nicht alleine da mit seinen Wahnvorstellungen.

Amalfitano ist wohl das ausführlichste Beispiel einer am Rande des Wahnsinns stehenden

Figur, d.h. einer Figur, die Angst davor hat, wahnsinnig zu werden und sich dessen bewusst ist.

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Nicht nur begegnet ihm sein Vater in Form eines Geistes, eines Nachts hat er auch einen

Traum, in dem ihm Boris Jelzin erscheint und zu ihm spricht:

La vida es demanda y oferta, u oferta y demanda, todo se limita a eso, pero así no se puede vivir. Es necesaria una tercera pata para que la mesa no se desplome en los basurales de la historia, que a su vez se está desplomando permanentemente en los basurales del vacío. (2666: 291)

Jelzin, der laut 2666 letzte kommunistische Philosoph (vgl. 290), spricht sich in Amalfitanos

Traum dafür aus, dass es unmöglich sei zu leben, wenn lediglich die wirtschaftlichen Faktoren

Angebot und Nachfrage das Leben bestimmen. Es ist eine weitere Komponente im Leben

vonnöten, damit, metaphorisch gesprochen, der Tisch des Lebens nicht auf die Müllhalde der

Geschichte und somit auf die abgründige Müllhalde der Leere fällt. Um ein würdiges und

bedeutsames Leben zu führen und um erinnert zu werden, nicht in Vergessenheit zu geraten,

um nicht in Anonymität, ins Nichts zu (ver-)fallen, ist ein drittes Standbein notwendig.

Ausgehend von dieser Kritik können wir andere Entwürfe von Globalität in 2666

betrachten, andere Weltanschauungen, die sich gegen die kapitalistische Norm in der

Globalisierung wenden. Einige Figuren aus 2666 verkörpern alternative Kosmovisionen. Im

vierten Teil ist das vor allem Florita Almada, die im Fernsehen auftritt und dort von ihren

Visionen erzählt oder sogar auf Sendung Visionen hat, die außerdem offen und kritisch die

Gewalt gegen Frauen und die Straflosigkeit in Santa Teresa anprangert. Wie bereits in Kapitel

2.1 erwähnt, ist sie eine der wenigen, die sich mit den toten Protagonistinnen identifiziert und

solidarisiert und sie als „mis hijas“ (2666: 547) bezeichnet. Florita Almada, Autodiktatin und

Heilerin, ist für die einen heilig, für die anderen eine verrückte Alte. Sie erzählt im Fernsehen

auch von ihrem Leben, sie begann als Viehhändlerin und reiste somit durch ganz Mexiko:

Era una oportunidad única para ver el mundo. Para fijarse en otros paisajes, que aunque parecían el mismo, si uno los miraba bien, con los ojos bien abiertos, resultaban a la postre muy distintos de los paisajes de Villa Pesqueira. Cada cien metros el mundo cambia, decía Florita Almada. Eso de que hay lugares que son iguales a otros es mentira. (2666: 538)

Florita Almadas Sicht auf die Welt ist eine ganz andere als die des baudelaire’schen Reisenden51

und auch als die im vorangegangenen Kapitel thematisierte Sicht auf die Welt Albert Kesslers.

Sie nimmt nirgendwo monotone Ähnlichkeiten wahr. Wenn man genau hinsehe, bemerke

man die großen Unterschiede zwischen den einzelnen Orten und die Diversität der Welt.

Floritas Aussage macht klar, dass die Erfahrung von Ähnlichkeit nicht nur eine Frage der

Wahrnehmung, sondern insbesondere eine Frage der oberflächlichen Wahrnehmung ist.

Florita Almada legt aber auch nicht weite Strecken mit dem Flugzeug oder im Taxi zurück,

sondern geht über „caminos de terracería o por sendas de animales y por atajos que bordeaban

aquellas montañas intrincadas“ (2666: 538), also langsam und von Dorf zu Dorf, eine

entschleunigte Form des Reisens, die es ihr ermöglicht, den Menschen und der Landschaft

tatsächlich zu begegnen. Es ist zu betonen, dass hier aber von keinem konstruierten

51 Dennoch gleicht eine ihrer Visionen stark den zentralen Begriffen des Baudelaire-Mottos: „Dijo que

había visto mujeres muertas y niñas muertas. Un desierto. Un oasis. […] Una ciudad. Dijo que en la ciudad mataban niñas“ (2666: 545).

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Regionalismus die Rede ist, der der Monotonisierung kommerziell entgegengehalten werden

soll, sondern von natürlichen Unterschieden der Beschaffenheit der Welt.

Auch äußert Florita sich zum Thema des aburrimiento in Verbindung mit horror:

[…] mirar cara a cara al aburrimiento era una acción que requería valor y que Benito Juárez lo había hecho y que ella también lo había hecho y que ambos habían visto en el rostro del aburrimiento cosas horribles que prefería no decir. (2666: 542)

Sich dem ennui wirklich zu stellen, sei eine mutige Tat, denn in seinem Gesicht verbirgt sich

ein unsagbarer Horror. Wiederum wird hier die Technik der Verdunklung von Bolaño

eingesetzt. Welches ist dieser Horror? Ist es das Nichts, der Abgrund, die Nicht-Existenz? Der

Mörder Sammer behauptet, wie ihn mitten inmitten der Tötungsaktionen ein Gefühl von

aburrimiento überkommt (vgl. 2666: 950). Die eindimensionale, oberflächliche Wahrnehmung

führt in eine grausame Monotonie. Florita Almada hält dem ihre Bejahung des Lebens

entgegen und trägt somit religiöse, wenn nicht christliche Züge, nicht umsonst wird sie

bezeichnend La Santa genannt und wie die Schutzheilige von Santa Teresa gehandelt, der

Stadt, die, wie sie sagt, vom Teufel besessen ist (vgl. 2666: 546). Auch an anderer Stelle des

Romans wird gesagt, dass, sofern man an Gott glaube, Menschen nicht einfach so

verschwinden, sich auflösen, zu Nichts werden können (vgl. 2666: 527). Eine interessante

Verbindungslinie könnte sich dazu ergeben mit dem sog. Büßer, der zu Beginn des vierten

Teils Kirchen beschmutzt.

Das Fehlen einer Religion und damit verbunden einer Ethik wird auch von Fate

wahrgenommen, der beklagt, dass in seinem Leben das ‚Heilige‘ fehle:

¿Veo lo sagrado en alguna parte? Sólo percibo experiencias prácticas, pensó Fate. Un hueco que hay que llenar, hambre que debo aplacar, gente a la que debo hacer hablar para poder terminar mi artículo y cobrar. (2666: 399)

Fate, der aus wirtschaftlichen Gründen Journalist wurde und nicht, wie er eigentlich wollte,

Schriftsteller, kann überall nur nützliche und praktische Entscheidungen und Erfahrungen

wahrnehmen. Wenn er Menschen interviewt, dann ist dies nur Mittel zum Zweck, kein

wirkliches Gespräch, sondern sein Broterwerb. Das das Nützliche übersteigende Spirituelle,

das Sakrale, das Heilige fehlen in seinem Leben, wo alles auf Zweckmäßigkeit und Effizienz

ausgerichtet ist.

Ähnlich äußert sich der ehemalige Künstler Edwin Johns, der sich zum Zeitpunkt der

Erzählung in einer Schweizer Nervenklinik aufhält, wo er von den Kritikern im ersten Teil

aufgesucht wird. Er führt die Zufälligkeit als entscheidende Komponente des menschlichen

Lebens ins Feld und hält diese seinem praktisch orientiertem Freund entgegen:

Mi amigo [...] creía en la humanidad, por lo tanto creía en el orden [...]. En el fondo hasta es posible que creyera en el progreso. La casualidad, por el contrario, es la libertad total a la que estamos abocados por nuestra propia naturaleza. La casualidad no obedece leyes y si las obedece nosotros las desconocemos. La casualidad, si me permite el símil, es como Dios que se manifiesta cada segundo en nuestro planeta. (2666: 123)

Johns entschuldigt sich für seine religiöse Metapher, die aus der Mode gekommen ist.

Zufälligkeit bedeute, so Johns, die Relativierung des Menschen, seiner Fähigkeiten und seines

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linearen Strebens. Zufälligkeit bedeute, das Verlangen nach Fortschritt sowie die Beherrschung

des Lebens und der Welt aufzugeben und die eigene Unwissenheit anzuerkennen. Die einzige

Allmacht sei Gott. Diese Auffassung Johns steht konträr zur Voraussetzung, die MIGNOLO dem

Kolonialismus zugrunde legt, nämlich dem Drang nach Beherrschung des Globus auf der

Grundlage einer fiktiven, menschengemachten, linearen Skala. Dass der Mensch sich selbst das

Recht eingeräumt hat, frei über die Natur zu verfügen, wird an einer ganz anderen Stelle des

Romans wieder deutlich, die indirekt auf den Kolonialismus Bezug nimmt. Hier reisen

französische Anthropologen nach Borneo und begegnen dort einer Gruppe von Indigenen. Es

ist eine Passage aus Borís Anskys Tagebuch:

Los indígenas no plantaban nada. Los que el bosque quisiera darles ya se lo daría y lo que no quisiera darles les estaría vedado para siempre. Su simbiosis con el ecosistema en el que vivían era total. Cuando cortaban las cortezas de algúnos árboles para utilizarlas de suelo de las cabañitas que construían, en realidad estaban contribuyendo a que los árboles no enfermaran. Su vida era similar a la de los basureros. Ellos eran los basureros del bosque. (2666: 914f.)

Die hier beschriebenen Indigenen führen ein völlig alternatives, von der kapitalistischen Norm

abweichendes Leben. Sie passen ihre Lebensweise (für die Franzosen unverständlicherweise,

denn auch wenn hier nicht mehr von der Epoche des Kolonialismus die Rede ist, so führen die

Anthropologen hier doch zivilisatorische Absichten im Schilde) ihrem Lebensraum an, nicht

umgekehrt. Nicht etwa sind sie es, die Müll produzieren, vielmehr ernähren sie sich von den

Abfällen des Waldes. Dass hier wiederum die Müllmetapher bemüht wird, ist eine eindeutige

Anspielung auf die urbane Müllhalde Santa Teresa. Die ‚Müllmänner‘ des Waldes in Borneo

wirken wie Helden der Erzählung, da sie selber Müll verwerten und sich eben nicht über die

Natur des Raumes hinwegsetzen oder ihre eigenen Nützlichkeitswege bauen, wie in Santa

Teresa, wo die Natur Widerstand leistet gegen diese menschlichen Bestrebungen. Die

Indigenen tun Nützliches für ihre Umwelt und erhalten sich somit selbst.

Nachhaltigkeit und soziales Handeln gegenüber der eigenen Umwelt wird wiederum in

einer ganz anderen Zeit und Epoche in 2666 thematisiert, im Detroit der 1990er Jahre in Form

von Barry Seaman, der sich kritisch zum kapitalistischen Streben äußert. Der ehemalige

Gefängnishäftling und afroamerikanische Aktivist wird von Fate im dritten Teil aufgesucht, der

Zeuge seiner Predigt in der Kirche wird:

[...] no estaba de acuerdo en la forma en que gastaban su dinero los pobres, sobre todo los pobres afroamericanos. Me hierve la sangre, dijo, cuando veo a un chulo de putas paseándose por el barrio a bordo de una limousine o de un Lincoln Continental. No lo puedo soportar. Cuando los pobres ganan dinero deberían comportarse con mayor dignidad, dijo. Cuando los pobres ganan dinero, deberían ayudar a sus vecinos. Cuando los pobres ganan mucho dinero, deberían mandar a sus hijos a la universidad y adoptar a uno o más huérfanos. (2666: 317)

Was Seaman hier anprangert, ist die Art und Weise, wie sich Neureiche verhalten, nachdem sie

zu Geld gekommen sind. Ihm zufolge verhalten sie sich nicht würdevoll, sondern stellen ihren

neu erworbenen Reichtum viel zu ostentativ zur Schau und wollen sich so von den Armen

abheben, zu den sie ja selbst einmal gehörten. Sie wollen demonstrieren, dass ihnen, nachdem

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sie zu Reichtum gekommen sind, nun die Welt gehöre. Vielmehr sollten sie sich aber mit

ihnen identifizieren, sie sollten ihren Nächsten helfen, Kinder adoptieren und in Bildung

investieren.

Nach dieser Collage diverser alternativer Entwürfe und Globalitäten quer durch den

Roman stellt sich die Frage nach der sie einenden Gesamtglobalität, die die 2666 ausmacht.

Alle Figuren, die in diesem Kapitel zu Wort kamen, sind in irgendeiner Weise gesellschaftlich

marginalisiert oder stehen am Rande des Wahnsinns. Ein Obdachloser sowie der verrückt

gewordene Künstler Edwin Johns im ersten Teil; der esoterische und an Stimmen und

Wahnvorstellungen leidende Philosophieprofessor Amalfitano im zweiten Teil; ein ehemaliger

Häftling und Afroamerikaner namens Barry Seaman sowie der Afroamerikaner Fate im dritten

Teil; die TV-Heilige Florita Almada im vierten Teil; der Jude Borís Ansky im fünften Teil.

Allesamt üben sie nicht nur Kritik am kapitalistischen und nutzenorientierten System der

Globalisierung, sondern verweisen auf ihre Weise allesamt auf eine höhere alternative

göttliche oder gottähnliche Instanz, die in all ihrer Leben zu fehlen scheint. Mit dieser Instanz,

bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger, ist das Soziale und Ethische verbunden, der

Einklang mit der Natur, weshalb viele Aussagen der genannten Figuren religiös anmuten.

Es ist dabei wohl kein Zufall, dass es hauptsächlich verrückte, kranke, an

Wahnvorstellungen leidende und außenstehende Personen sind, die Kritik üben und

gleichzeitig immer Gefahr laufen, nicht ernst genommen, indem ihre Aussagen ins Irrationale

abgedrängt werden. Bei ihnen wird der existenzielle Kapitalismus besonders sichtbar. Auch

während des Zweiten Weltkrieges haben diejenigen Soldaten Nervenleiden, die angesichts der

Dimensionen des Krieges verzweifeln; im globalisierten Zeitalter sind es diejenigen, die nicht

produktiv und effizient denken und handeln. Somit werden die Norm und der vorherrschende

Diskurs der Anpassung an den (wirtschaftlichen) Fortschritt insbesondere anhand der in

dieser Hinsicht scheiternden Figuren in 2666 erkennbar. Die Komposition der fiktionalen Welt

in 2666 und die Globalität des Romans machen zudem deutlich, dass die Paradigma der

gegenwärtigen Welt nicht erst seit der Globalisierung bestehen. Die Globalität in 2666 ist aber

auch ein Gegenmodell zu dieser vorherrschenden kapitalistischen Moral, ein ethischer

Diskurs, der jedoch auf verlorenem Posten steht in der Globalisierung, in der die Kritik an

Globalisierung nur noch aus den Mündern von Verrückten stammt.

3.4 GLOBALITÄT UND FIKTION

„Sólo la poesía está fuera del negocio“ (2666: 288f.), lautet es an einer Stelle des Romans.

Glaubt man dieser Aussage, würde dies bedeuten, dass selbst Romane sich nicht ausnehmen

können von der Kommerzialisierung, ebenso wie die Kunst im Allgemeinen. In diesem Kapitel

wollen wir uns die Überlegungen zur Rolle der Kunst im Allgemeinen und zur Funktion des

literarischen Textes in 2666 genauer untersuchen, um ihre Bedeutung für die dem Roman

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eigene Globalität zu begreifen. Dazu werden wir zunächst die Kunst- und Medienreflexion in

2666 beleuchten, um schließlich ausführlicher auf die Darstellungsweise des Romans,

insbesondere des vierten Teils, einzugehen, bei dem sich die Frage nach der Ethik (in der

Ästhetik) stellt. Während es also bislang vor allem um die Globalität in der Fiktion, nämlich

des Romans 2666 ging, ist nun die Frage, welche Rolle der Fiktion in der Globalität zukommt.

Die Wahrnehmung der Realität durch die Figuren in 2666 wird, wie bereits thematisiert,

zum einen geprägt durch die Transportmittel, in denen sie sich, die Welt betrachtend,

fortbewegen. Gleichzeitig wird die dargestellte Realität auch als Produkt medialer

Darstellungen präsentiert. Die Prägung durch mediale Darstellungen, insbesondere filmische,

ist bei den Figuren in 2666 so stark, dass die Realität eher wie ein Abbild der Fiktionen wirkt

als andersherum. So betrachtet Fate die Abschiedsszene zwischen Amalfitano und seiner

Tochter Rosa „como si fuera una película“ (2666: 433). Und auch die Ermittlung zu den

Frauenmorden ist geprägt durch mediale Imagination: „Tenemos un asesino en serie, como en

las películas de los gringos“, behauptet der Gerichtsvollzieher Ernesto Ortiz Rebolledo (2666:

588f.). Auch Kessler nimmt bei seiner Taxifahrt durch die Elendsviertel die Dinge gemäß seiner

filmischen ‚Bildung‘ wahr. So malt er sich aus, in einem der Viertel sei eine Atombombe

gefallen und äußert sich folgendermaßen über die zombiehaften Bewohner dieses Viertels: „los

afectados no cuentan porque han enloquecido o porque están muertos, aunque caminen y nos

miren, ojos y miradas salidos directamente de una película del oeste, del lado de los indios o de

los malos, por descontado“ (2666: 752f.).

Darüber hinaus finden sich, wie gewöhnlich bei Bolaño, denkt man beispielsweise an

Carlos Wieder aus Estrella Distante (1996), diverse Überlegungen zur ambivalenten Rolle der

Kunst: Das gilt nicht nur für die Beeinflussung der subjektiven Wahrnehmung der Welt,

sondern auch für konkretere Implikationen. Eine Art historischer ‚Vorgeschmack‘ auf den

vierten Teil von 2666, obwohl er in der Reihenfolge des Romans danach kommt, ist das Werk

des Künstlers Conrad Halder, über den gesagt wird, dass er nur Bilder von toten Frauen male

(vgl. 2666: 853). Auch andere literarische, utopische Entwürfe ähneln später auf unheimliche

Weise der dargestellten Realität oder scheinen diese vorwegzunehmen:

En tres horas, Ivánov escribió su primer cuento de ciencia ficción. Se titulaba El tren de los Urales y un niño, que viajaba en un tren cuya media de velocidad era de doscientos kilómetros, contaba con su propia voz aquello que pasaba ante sus ojos: fábricas relucientes, campos bien trabajados, aldeas nuevas y modélicas constituidas por dos o tres edificios de más de diez pisos, visitadas por alegres delegaciones extranjeras que tomaban buena nota de los progresos logrados para aplicarlos después en sus respectivos países. (2666: 889)

Diese kommunistische Zukunftsutopie aus dem Russland nach der Revolution 1917 soll das

Leben in Russland 1940 darstellen. Fortschritt und Produktivität spielen in diesem

kommunistischen Imaginarium interessanterweise eine ebenso große Rolle wie in der

kapitalistischen Realität, wie wir sie in diversen Epochen und verschiedenen Orten der

Geschichte, insbesondere in Santa Teresa, haben sehen können, ebenso das Bestreben anderer

Länder, denselben Weg von Entwicklung einzuschlagen. Ivánov wird gefeiert für seine

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„fórmula del futuro“, für seine „visiones arcádicas“ (2666: 891). Wie nah diese arkadisch-

bukolischen Fantasien jedoch am Schrecken sind, wird kurze Zeit später in anderem Kontext

erwähnt, eine Stelle, die ebenso wie die Nacherzählung der Science-Fiction-Erzählung aus

Borís Anskys Tagebuch stammt: „una película […] que empezaría de forma bucólica y que poco

a poco se iría convirtiendo en una película de horror“ (2666: 913).

Ebenso wie die Kunst also eine Art ‚Mitschuld‘ an der gegenwärtigen Situation trägt,

wird sie aber auch immer wieder zu ihrem Opfer. So berichtet beispielsweise wiederum Ansky,

wie Gustave COURBETS Gemälde Le retour de la conférence (1863) von einem reichen Katholiken

zuerst gekauft und dann verbrannt wird (vgl. 2666: 912). Die Kunst kann durch ihre

Kommerzialisierung zum Opfer ebendieser Kommerzialisierung werden, steht ohne Schutz da,

ist ihrem Besitzer ausgeliefert.

Die Rolle der Literatur im Allgemeinen in 2666 ist ambivalent. Barry Seaman spricht sich

in seiner Predigt noch für das Lesen als einzige wirklich sinnvolle Tätigkeit im ansonsten

korrumpierten und effizienzorientierten Leben aus (vgl. 2666: 326); Archimboldi und sein

Œuvre hingegen werden im ersten Teil eher als ein Opfer der eifrigen, geradezu wütigen

Literaturwissenschaftler dargestellt; Borís Anskys Tagebücher hingegen sind der einzige

Lichtblick für den Soldaten Hans Reiter im fünften Teil und bringen ihn von seinem Wunsch

ab, im Krieg einen sicheren Tod zu finden.

Wie aber steht es, neben diesen unterschiedlichen Referenzen auf ‚fremde‘ Werke, um

den Roman 2666 selbst bzw. seine literarische Form? Das über 1100 Seiten lange Werk fällt,

auch da es Bolaños einziges Werk von dieser Größe ist, zunächst einmal durch seinen Umfang

auf. Nicht zuletzt deshalb und gemeinsam mit der Tatsache, dass es posthum erschien, wird es

wohl oft als Bolaños Meisterwerk bezeichnet. Stefano ERCOLINO (2014: 25-32) betont, dass die

sog. maximalist novels, zu denen er 2666 zählt, zum einen aus einer Spätphase des

Kapitalismus resultieren, zum anderen den oft enzyklopädisch anmutenden Versuch

unternehmen, die hyperkomplexe und chaotische Welt irgendwie zu greifen oder zu begreifen,

indem sie in die ‚Ordnung‘ des Romans überführt wird. Dementsprechend erhofft sich der

Leser, der im Kapitalismus ja auch ein Käufer ist, von einer maximalist novel, dass darin in

irgendeiner Weise die ganze Welt verhandelt wird oder vielleicht sogar das Geheimnis der

Welt wenn nicht aufgedeckt, so doch zumindest angesprochen wird.

Der ‚sensationellste‘ Teil von 2666 ist bekanntermaßen der vierte, zu dessen neutraler

Darstellungsweise bereits viele poetologische Überlegungen angestellt wurden, die aber in die

unterschiedlichsten Richtungen weisen. Wir wollen uns diese ‚Interpretationen‘ der

provokanten Darstellungsweise des vierten Teils von 2666 abschließend ansehen. Dabei stehen

sich eine ethische Lesart und eine weniger ethische Lesart gegenüber.

Zur ‚Verteidigung‘ des vierten Teils könnte man sagen, dass die Darstellung Bolaños

lediglich eine überaus realistische ist. Denn anonyme Leichenfunde stehen in einigen Teilen

der Welt an der Tagesordnung. Doch obwohl wir uns der Realität ‚ferner Länder‘ bewusst sind,

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ist ein Fund nach dem anderen im vierten Teil schockierend für den Leser, der in den meisten

Fällen wohl kein maquiladora-Arbeiter ist und sich als Anhänger der Menschenrechte versteht.

Diese Rezeption wurde von Bolaño sicherlich mitbedacht. Warum hält der Schock trotz

unseres Wissens über die Welt an? Das liegt wohl daran, dass das Leben von Romanfiguren,

literaturhistorisch betrachtet, wenn nicht schützenswert, dann doch zumindest bedeutsam ist.

2666 aber ist die endgültige Einfahrt der Literatur in das nackte Leben derjenigen anonymen

und schutzlosen Körper, die jeglicher politischer Identität und Relevanz entbehren und bislang

in den seltensten Fällen zu Romanfiguren wurden.

Vor dem Hintergrund der Asymmetrie zwischen der kruden Realität und der (vielleicht

weltfremden) literarischen Realität lässt sich auch der folgende historische Exkurs Kesslers

besser verstehen, der seinem Gesprächspartner, der sagt, wir hätten uns an den Tod gewöhnt,

entgegnet, dass dies schon immer der Fall war:

No queríamos tener a la muerte en casa, en nuestros sueños y fantasías, sin embargo es un hecho que se cometían crímenes terribles, descuartizamientos, violaciones de todo tipo, e incluso asesinatos en serie. [...] Todo pasaba por el filtro de las palabras, convenientemente adecuado a nuestro miedo. ¿Qué hace un niño cuando tiene miedo? Cierra los ojos. [...] Las palabras servían para ese fin. [...] las palabras solían ejercitarse más en el arte de esconder que en el arte de develar. (2666: 337-339)

Chroniken des 19. Jahrhunderts haben laut Kessler eine Sprache gefunden, die die gewalttätige

Realität verschleiert und die Angst der Leute reduziert. Niemand möchte den Tod bei sich

zuhause haben, von ihm heimgesucht werden. Wie also sollen journalistische und literarische

Texte vom Tod berichten? Sie schaffen es in irgendeiner Weise, dass ihre Worte dabei helfen,

die Augen vor der Gewalt zu verschließen. Auch sehr viel später im Roman ist die Rede davon,

wie sog. obras menores Teil einer großen Camouflage seien (vgl. 2666: 984).

Wie genau diese Verschleierungstechnik vonstatten geht, wird nicht gesagt, jedoch gibt

uns eine Chronik des Argentiniers Roberto ARLT eine Idee davon, was Bolaño hier vielleicht

meint. So heißt es bei ihm:

[…] la palabra se descubre tartamuda, impotente. Los hechos del pasado y del presente no guardan relación entre sí. Han variado las velocidades. Ejemplo: 1914. Un documental cinematográfico de Lovaina. Letrero de la época: ‘Aquí murieron quinientos civiles’.

1940. Un documental cinematográfico de Ámsterdam. Letrero del momento: ‘Aqui murieron cien mil civiles’.

Quinientos…cien mil…Qué relación guardan entre sí estas dos cifras? Ninguna. (ARLT 1940: 567)

Die journalistische Berichterstattung kennt nur Zahlen als Mittel, um auf die Toten zu

verweisen. Zahlen machen die realen Toten in ein anderes Medium ‚exportierbar‘, die Zahl

alleine gibt die Massen an Toten wieder. Jedoch werden die Quantifizierung und die abstrakte

Zahl den Umständen nicht gerecht. Wo das Wort machtlos erscheint, Sprachlosigkeit herrscht,

wird auf Zahlen ausgewichen, die aber die Repräsentationsproblematik nur verschärfen.

Ist der vierte Teil von 2666 also der Versuch, eine Sprache oder Darstellungsweise der

Gewalt zu finden? Ist die Katalogisierung, wie HERLINGHAUS (2013: 214) sagt, ein Gegenentwurf

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zum (nicht existenten) vorherrschenden Diskurs über den Tod? Will, wie BORSÒ (2012: 227f.)

meint, 2666 wirklich Lebenszeichen der anonymen Körper aufdecken, ein Antlitz à la LEVINAS

rekonstruieren? Möchte 2666 die toten Frauen aus dem (globalen) Vergessen retten? Gelingt

es 2666, die unerzählbaren Tatsachen (vgl. BALMACEDA 2010: 327) zu erzählen? Immerhin wird

der Roman der Forderung Amalfitanos gerecht, eine obra maestra solle „ese aquello que nos

atemoriza a todos“ enthalten sowie „sangre y heridas mortales y fetidez“ (2666: 290)52.

Doch ist die Sprache des vierten Teils bekanntlich eine, die die nüchterne,

wissenschaftliche Sprache der Forensik imitiert. Eine Sprache, mit der Zeitgenossen der

Diktaturen des Cono Sur (darunter Bolaño selbst) bestens vertraut sind, da sie in der

Berichterstattung über die durch die Militärdiktatur Verschwundenen eingesetzt wurde (vgl.

MUNIZ 2010: 36). Vielerorts wird betont, dass es gerade diese in 2666 bemühte Sprache ist, die

eine Distanz zu den toten Protagonistinnen schafft: Es herrscht ein sezierender, distanzierter,

objektivierter, abstrahierender Blick, eine geradezu in sich gewalttätige Sprache (vgl. WALKER

2010: 106f.). Die Körper der Frauen werden für den Leser so selber zum Objekt der Betrachtung

durch die Erzählweise. Angesichts der Masse an Fällen gewöhnt sich der Leser an die Leichen

(vgl. BALMACEDA 2010: 332).

Die ständige Wiederholung mit kargen Details ist dem Anspruch der Vollständigkeit,

dem Realismus verpflichtet, doch für den Leser bleibt dadurch eine anonyme, die immer

gleiche Gewalt aufweisende Masse von Toten im Kopf, zu denen in den seltensten Fällen eine

tiefergehende, individuelle Geschichte geboten wird und so verliert der Leser selbst den

Überblick, die Fälle multiplizieren sich. Diese anti-narrative Technik (vgl. HERLINGHAUS 2013:

212) führt zur Abstumpfung des Lesers selbst angesichts der sich stetig reproduzierenden,

monotonen Gewalt, distanziert uns vom Verbrechen, anstatt es uns näher zu bringen (vgl.

MUNIZ 2010: 41) und am schlimmsten: Sie distanziert uns von den Schicksalen selbst. Der vierte

Teil wird zu einem Horror, der zu allem Unglück auch noch beginnt, uns streckenweise zu

langweilen. Somit vollzieht der Leser ungewollt das, was ihn an 2666 eigentlich schockiert: Er

blättert weiter, vergisst die Identität der einzelnen Figuren, zu sehr ähneln sie sich, zu sehr

reproduziert sich hier die immer gleiche Gewalt. Ein ennui, der auch durch die Perspektive auf

die Masse entsteht.

Nicht zuletzt kann man soweit gehen, zu behaupten, dass 2666 selbst (zumindest

ästhetisches) Kapital aus dieser Darstellungsweise schlägt. So wie Fate aus dem Material der

harten Realität eine sensationalistische Reportage machen möchte (vgl. 2666: 373), muss man

sich fragen, inwiefern die die Gewalt reproduzierende Darstellungsweise nicht selbst als

52 Interessant in diesem Kontext ist auch die Stelle, in der der Mann, der Hans Reiter alias Archimboldi

die Schreibmaschine verkauft, erzählt, wie er seinem großen Schriftstelleridol in Form eines Pathologie-Mitarbeiters der Universität wieder zu begegnen glaubt und ihm das folgende erzählt: „[...] trabajar en la morgue sin duda lo llevaría a reflexiones atinadas o por lo menos originales acerca del destino humano. [...] Aquel marco, dije extendiendo los brazos y abarcando todo el depósito, era en cierta manera el lugar ideal para pensar en la brevedad de la vida, el lo insondable que resulta el destino de los hombres, en la futilidad de los empeños mundanos“ (2666: 988).

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‚spektakulärer Roman‘ davon profitiert. An einer Stelle wird der kinematographische Charakter

der Frauenmorde selbst betont (vgl. 2666: 675). Es gibt im Roman darüber hinaus den

Verdacht, dass hinter den Frauenmorden die sog. snuff-Industrie stehen könnte, also die

Aufzeichnung realer Morde (vgl. 2666: 669-681). Snuff überwindet den

Repräsentationscharakter der Kunst und die damit verbundene Problematik, da die ‚Kunst‘

nicht mehr nur die Ausstellung des Verbrechens ist, sondern das Objekt der Darstellung selbst

beinhaltet (vgl. VALDIVIA 2013: 485; TOPCZEWSKA 2012: 6). Gilt das auch für die ‚gewalttätige

Sprache‘ von 2666, deren Romanstoff die körperlichen Objekte der Leichen sind (vgl.

TOPCZEWSKA 2012)? Fest steht, dass die Realität viele Möglichkeiten der avantgardistischen

Darstellungsweise bietet, sodass der Drang selbst nach Fortschritt, Steigerung und

Überbietung in 2666 eingeschrieben ist, was aber durch den Verweis auf die ambivalente Rolle

der Kunst reflektiert wird.

Ist Bolaños Inszenierung also ethisch oder unethisch, ist sie anklagend oder selber

verwickelt in die dargestellte Gewalt? Wir können abschließend nur auf die

Unentscheidbarkeit darüber verweisen: Bolaño spielt mit der Unentschlossenheit des Lesers,

wie er das, was er liest, zu bewerten hat. Die schwankende Ethik in der Globalisierung

manifestiert sich somit nicht nur auf thematischer, sondern auch auf diskursiver Ebene.

Enthüllung und präzise Sprache führen zu keiner Klarheit, trotz minutiöser Aufdeckung

herrscht am Ende doch Ratlosigkeit über die Geschehnisse, ihre Umstände und ihr Verhältnis

zum Geheimnis der Welt.

ABSCHLIEßEND: Al borde del abismo

Wird das Geheimnis der Welt, auf das in 2666 verwiesen wird, abschließend also aufgedeckt

oder verdeckt? Man könnte sagen, beides zugleich, denn obwohl wir eine geradezu

enzyklopädische Überfülle an einsehbaren Informationen und Fakten vorliegen haben, scheint

das Essentielle doch verborgen. Die Namen diverser, potentieller Täter der Frauenmorde

werden genannt, die analogen Spuren weisen fast zu offensichtlich in Richtung der in Santa

Teresa ansässigen Industrie und Drogenökonomie, aber gleichzeitig entziehen sich diese

jeglicher Schuldfrage und lassen die Vermutungen haltlos dastehen. So erscheint das

übermäßig Sichtbare zugleich unerreichbar, absurd und unwahrscheinlich; der

Hyperrealismus und die Hypervisibilität des vierten Teils verdunkeln, verwirren, wirken irreal.

Diese Undurchdringlichkeit, auch der Machtverhältnisse, verdeutlicht die zugängliche und

doch verborgene Informations- und Wissensstruktur des globalisierten Zeitalters.

2666 blickt auf eine unmenschliche Menschheitsgeschichte zurück und dabei auf ein

besonders unmenschliches 20. Jahrhundert, wobei Santa Teresa zu einem transnationalen

Emblem des Fortschrittswahns und somit der Tendenzen der Globalisierung wird. Die Folgen

der globalisierten Wirtschaftspolitik manifestieren sich in omnipräsenter Migration und

Mobilität, in der Entmenschlichung der Produktion, in der Trennung und gleichzeitiger Nähe

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von Arm und Reich im urbanen Raum (die Grenzregion Mexiko/USA symbolisiert dabei eine

besondere Verdichtung und unmittelbare Nähe der asymmetrischen Welten zueinander)

sowie in der menschengemachten, räumlichen Umgestaltung des Globus, die in der

Verwüstung und Vermüllung des Lebensraums mündet.

Ein Streifzug durch die Globalgeschichte und ihre Verbrechen gibt Anhaltspunkte für die

Situation in Santa Teresa und auch für die hier stattfindende Gewalt an Frauen, die symbolisch

für die Selbstzerstörung des Menschen steht, da dieser durch sein lineares Streben nach

Fortschritt und nach Produktivität überall auf dem Globus und zu jeder Zeit unmenschliche

Systeme schafft, die über exzessive Gewalt verbunden werden. Die Komposition der fiktionalen

Welt und die Globalität des Romans 2666 deuten dabei immer wieder auf den in der

unveränderlichen menschlichen Natur tief verankerten Hang zur Gewalt hin, der nicht erst seit

der Globalisierung besteht. Somit ist Bolaños Werk nicht nur eine Kritik am kapitalistischen

System und an dessen paradoxalem liberalen Impetus, sondern auch Zeugnis einer negativen

Anthropologie.

Wenngleich alle Menschen das Potenzial zu Gewalttaten haben, ohne dabei

ausgesprochen ‚böse‘ zu wirken, so gibt es im Roman doch einzelne Figuren, die aus dem

negativen Menschenbild herausstechen: Es sind die kritischen Stimmen innerhalb des

Romans, die aber allesamt entweder dabei sind, zu verstummen, zu erkranken oder als

verrückt stigmatisiert zu werden, die also in der im Roman 2666 dargestellten Welt zu den

Verlierern gehören. Diese Fokussierung des Romans auf die Marginalisierten der globalisierten

Gesellschaft wird wohl am deutlichsten anhand der anonymen Masse von toten

Protagonistinnen, denen selbst keine Möglichkeit mehr gegeben ist, für sich zu sprechen bzw.

ihre individuelle Geschichte zu erzählen, die sie vor dem Vergessen bewahren könnte.

Es lässt sich abschließend konstatieren, dass nicht etwa die in 2666 dargestellte Realität

und Präsenz von exzessiver Gewalt ein Novum ist, sondern vielmehr die Art der Darstellung

und die entsprechende Wahrnehmung des Lesers, der so selbst mit der Routine und

Anonymität von Gewalt in Berührung kommt. Die globale Sicht auf das Elend entfremdet

derart, dass der moderne Horror vor dem ennui zu einem ennui des Horrors wird. Der Roman

und sein Leser verorten sich inmitten der Werte-Freiheit der globalisierten Gesellschaft.

Bolaños Nihilismus konstatiert die klaffende Lücke, die die Abkehr von politischen Idealen

hinterlässt, ein identifikatorisches Vakuum ohne Nationalismus, aber auch ohne soziale

Entwürfe, eine globale Gesellschaft, in der die Frage der Ethik, auch der Ethik der Ästhetik, die

er austestet und mit der er experimentiert, noch ungeklärt ist, aber sich bedrohlich nah am

Rande des Abgrunds bewegt.

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ABBILDUNGEN

Abbildung 1: Mexiko größter Kreditnehmer des IWF in den Jahren 1987 bis 1992 Quelle: „Kurs auf die Krise“, in: LE MONDE DIPLOMATIQUE (2011), Atlas der Globalisierung. Das 20. Jahrhundert, Berlin: Le monde diplomatique/taz, 71.

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Abbildung 2: Bolaños Skizze des fiktiven Santa Teresa

Quelle: Juan INSUA, Hrsg. (2013), Archivo Bolaño 1977 – 2003 [Katalog zur Ausstellung 2013 im

Centre de Cultura Contemporània de Barcelona], Barcelona: Diputació, 106f.

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Abbildung 3: Einsatzgebiet der Einsatzgruppe C Quelle: „Der Zweite Weltkrieg“, in: LE MONDE DIPLOMATIQUE (2011), Atlas der Globalisierung. Das 20. Jahrhundert, Berlin: Le monde diplomatique/taz, 29.

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71

ERKLÄRUNG

Hiermit erkläre ich an Eides statt, dass ich diese Masterarbeit selbstständig verfasst und keine

anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt habe. Die Stellen meiner Arbeit,

die dem Wortlaut oder dem Sinn nach anderen Werken und Quellen, einschließlich der

Quellen aus dem Internet, entnommen sind, habe ich in jedem Fall unter Angabe der Quelle

als Entlehnung kenntlich gemacht. Dasselbe gilt sinngemäß für Tabellen, Karten und

Abbildungen. Diese Arbeit habe ich in gleicher oder ähnlicher Form oder auszugsweise nicht

im Rahmen einer anderen Prüfung eingereicht.

Ich versichere zudem, dass der Text der elektronischen Fassung mit dem Text der vorgelegten

Druckfassung identisch ist.

Köln, den 13.08.2015

Leyla Bektaş