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Schicksal zwischen Herz und Krone

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Helen Perkins Band 7

Schicksal zwischen Herz und Krone von Helen Perkins

Yvonne Daladier – verstrickt in die Wirren um Napoleon.

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Die Sonne war eben erst hinter dem karstigen Gipfel des Monte Ro­tondo aufgestiegen, als eine schmale Mädchengestalt sich bereits in eiliger Geschäftigkeit zwischen dem Haupthaus und der sich anschlie­ßenden Kellerei des Weingutes bewegte. Yvonne Daladier, die erst neunzehnjährige Tochter des bekannten, französischen Generals Jean-Jaques Daladier, hatte das Frühstück gerichtet und wollte ihren Vater ins Haus rufen. Der General, der vor knapp vierzehn Jahren die revolu­tionären Truppen Napoleon Bonapartes angeführt hatte, war längst nicht mehr im Dienst des kleinen Korsen, der es mittlerweile so weit gebracht hatte. Daladier, ein eingeschworener Republikaner, glaubte nach wie vor an die Ideale, für die er einst gekämpft hatte. Er lehnte die Veränderungen im Frankreich des beginnenden neunzehnten Jahr­hunderts ab, besonders die anmaßende Selbstverherrlichung, mit der Napoleon das Land beherrschte. Deshalb hatte er sich bereits vor Jah­ren ein Weingut auf Korsika gekauft und war mit seiner Tochter Y­vonne vom französischen Festland hierher übersiedelt. Der Weinbau war für den General nie zu einer Leidenschaft geworden, doch er hatte sich an das beschauliche Landleben gewöhnt und genoss es, Yvonne, die ihrer früh verstorbenen Mutter sehr ähnelte, an seiner Seite zu wissen. Das bedeutete jedoch nicht, dass er sich völlig aus dem politi­schen Leben zurückgezogen hätte, im Gegenteil. Auf Gut ›Cyprés‹ wa­ren Gäste stets willkommen, vor allem die alten Freunde des Generals, die seine politische Auffassung teilten und des Öfteren für mehrere Tage auf Besuch kamen. So verlor Daladier nie den Anschluss an das öffentliche Leben in Paris, auch wenn er bereits seit Jahren keinen Fuß mehr in die Hauptstadt Frankreichs gesetzt hatte. An diesem zeitigen Herbstmorgen hielt er sich nicht ohne Grund in der Kellerei auf. Julien, sein Kellermeister, schwärmte von dem leichten Tafelwein, den man im letzten Jahr angesetzt hatte und der nun seine volle Reife erreicht hatte. Der General konnte dem nur zustimmen; er genoss bereits das zweite Glas, als Yvonne in der Tür zur Kellerei erschien. Der General, ein hoch gewachsener und noch immer imponierender Mann Ende der Fünfzig, strich sich ein wenig verlegen den gepflegten grauen Schnauz. Er liebte seine Tochter von Herzen, doch er bedauerte zugleich, dass

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sie für seine kleinen Schwächen so gar keine Nachsicht zeigte. Auch darin glich sie ihrer Mutter; leider.

»Papa, ich bitte dich!« Yvonne baute sich vor ihrem Vater auf, die Hände in die Hüften gestemmt. Auch wenn sie ihm kaum bis zur Schulter reichte, war er doch gewillt, die Waffen zu strecken, denn er konnte seiner zauberhaften Tochter nie etwas abschlagen. »Drüben wartet das Frühstück und du hast nichts anderes zu tun, als hier he­rumzustehen und dich zu betrinken«, schimpfte sie streng.

»Julien, muss denn das sein?« Ein blitzender Blick aus himmel­blauen Augen traf den betagten Kellermeister, entlockte ihm aber nur ein leises Schmunzeln. Man konnte guten Gewissens behaupten, dass auf ›Cyprés‹ jedes männliche Wesen - zumindest ein wenig - in das schöne Mädchen vernarrt war. Der alte Julien bildete da keine Aus­nahme. Und Yvonne war ja auch bildschön; schlank und gut gewach­sen, mit glänzenden kastanienbraunen Locken und den blauesten Au­gensternen, die man sich nur vorstellen konnte. Allerdings besaß sie auch ein sehr ausgeprägtes Temperament, das manchmal sogar als auffahrend zu beschreiben war.

Der Kellermeister erklärte deshalb nun beschwichtigend: »Wir ha­ben nur den neuen Wein verkostet, Mademoiselle. Es besteht gar kein Grund...« Er konnte nicht weiter sprechen, denn sie schnitt ihm kur­zerhand das Wort ab und behauptete: »Diese Verkostungen kenne ich nur zu gut. Bitte, Papa, sei jetzt vernünftig und komm herüber ins Haus. Ich möchte mich nicht schon am frühen Morgen mit dir streiten. Zumal wir später Gäste erwarten...«

Der General schmunzelte. »Es ist, wie Julien sagt; wir haben nur eine kleine Kostprobe genommen, um festzustellen, ob wir das neue Tröpfchen bereits unseren Gästen anbieten können.«

Yvonne bedachte ihren Vater mit einem misstrauischen Blick und wollte wissen: »So? Und wie schmeckt er? Gut genug für unsere Besu­cher?«

»Ich habe nicht viel probieren können«, flunkerte Jean-Jaques, ohne rot zu werden. »Aber ich denke schon, dass er seine Aufgabe erfüllen wird.« Er warf dem Kellermeister noch einen verschwöre­rischen Blick zu, ehe er seiner Tochter nach draußen folgte. Yvonne

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wartete im Wirtschaftshof auf ihren Vater, um sich zu vergewissern, dass er auch tatsächlich zum Frühstück erschien. Wie sie so im Licht des frühen Morgens vor ihm stand, im einfachen Gewand und mit ge­löstem Haar, wurde es dem General kurz ein wenig wehmütig ums Herz. Er lächelte seiner Tochter angedeutet zu und stellte fest: »Du wirst mit jedem Tag schöner, Yvonne. Ich habe es kaum bemerkt, aber in den vergangenen Monaten bist du zu einer Frau erblüht, die jeden Mann in Entzücken versetzen wird. Ich hoffe nur, du triffst deine Wahl noch nicht zu bald und verlässt deinen armen, alten Vater...«

Sie lachte amüsiert und auch ein wenig abfällig. »Daran denke ich gewiss noch lange nicht. Bisher ist mir nämlich kein Mann begegnet, der mich wirklich hätte beeindrucken können. Das mag daran liegen, dass ich ein so großes Vorbild habe.« Sie hängte sich an seinen Arm und der General lächelte geschmeichelt. »Das hört man gerne. Aller­dings hatte ich den Eindruck, dass du dich mit Victor Carnait in letzter Zeit recht gut verstanden hast. Ein junger Mann von Stand und Bil­dung, der...«

»Du brauchst ihn mir gar nicht schmackhaft zu machen«, scherzte Yvonne ironisch. »Victor ist ein netter Kerl, ich schätze ihn als Freund, weil er nicht so überheblich und von sich selbst überzeugt ist wie die meisten jungen Männer. Aber das ist auch schon alles.«

»Wirklich?« Der General schien seiner Tochter nicht so recht zu glauben. »Ich kann mir nicht helfen, aber ich habe da einen ganz an­deren Eindruck.«

»So? Und willst du mir vielleicht auch erklären, wie du dazu kommst?«, wollte Yvonne leicht irritiert wissen.

Sie hatten das Frühstückszimmer betreten, dessen Fenster nach Osten hinausgingen, um die Morgensonne einzufangen. Hier herrschte ein sanftes goldenes Licht, das die rustikale Einrichtung aus dunklem Holz einladend und freundlich wirken ließ.

Der General ließ sich am Kopf der Tafel nieder und lächelte seiner Tochter verschmitzt zu. »Jedes Mal, wenn Victor in deine Nähe kommt, haben seine Augen etwas Verträumtes. Ich kann mir nicht helfen, aber ich vermute, er ist in dich verliebt.«

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Yvonne errötete leicht, worüber sie sich selbst am allermeisten är­gerte und erwiderte dann heftiger als nötig: »Wenn dem wirklich so ist, werde ich ihn wohl mal in seine Schranken weisen müssen.« Sie schenkte Kaffee ein und reichte dem Vater ein Croissant. »Ich kann es nicht leiden, wenn man in meiner Gegenwart Dackelaugen und dumme Komplimente macht.«

Der Vater lachte herzlich. In vielen Dingen war seine Yvonne eben doch noch ein Kind. Aber er ahnte auch, dass der Tag nicht mehr fern war, wenn sie ihre letzten Eischalen abwarf und ihr Herz sich der Liebe öffnete. »Bitte, verschrecke mir den armen Victor nicht«, bat er schließlich begütigend. »Vielleicht irre ich mich ja und es ist nur eine ganz harmlose Freundschaft nach deinem Geschmack. Der junge Mann hat es nicht verdient, ob einer bloßen Vermutung meinerseits abge­kanzelt zu werden.«

»Du hältst mich wohl für eine Furie«, stellte Yvonne ein wenig ge­kränkt fest. »Keine Angst, ich weiß schon, wie man sich benimmt. Und ich weiß auch, dass der junge Carnait dein uneingeschränktes Wohl­wollen besitzt.«

Daladier konnte das nicht bestreiten. »Victor ist wie ein Sohn für mich, das stimmt. Ich habe mit seinem Vater Schulter an Schulter ge­kämpft. So etwas verbindet.«

Das junge Mädchen sagte nichts, doch es dachte sich seinen Teil. Die Geschichten aus der Revolutionszeit waren Yvonne fremd und er­schienen ihr beinahe irreal. Sie war damals noch ein Kind gewesen, hatte den Umsturz und die folgenden Wirren kaum bewusst miterlebt. Doch sie wusste, wie viel ihrem Vater dieser Abschnitt seines Lebens bedeutete und respektierte dies.

»Sag, Papa, warum bist du nach der Revolution nicht in Paris ge­blieben? Ich höre immer wieder, wie man dir gewisse politische Ta­lente nachsagt. Du hättest doch sicher in die neue Regierung eintreten können, oder?«

»Es hing mit dem Tod deiner Mutter zusammen«, erzählte der General zögernd. »Nachdem ich Gabrielle verloren hatte, war Paris mir verhasst. Kein Platz, keine Straße, die nicht voller Erinnerungen gewe­sen wäre.«

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»Aber es war nicht nur das, oder?« Yvonne schaute ihren Vater offen und fragend an. »Du hättest dir auch ein Weingut in der Cham­pagne oder im Bordeaux kaufen können...«

»Ja, das mag wohl sein.« Er musterte seine Tochter nachdenklich. Bislang hatte er mit Yvonne nie über Politik gesprochen, sie stets aus allem herauszuhalten versucht. Doch er musste wohl einsehen, dass sie auch in dieser Beziehung allmählich erwachsen wurde. Deshalb fuhr er nun vorsichtig fort: »Es war gerade die Politik, die mich vom Festland vertrieben hat. Alles, wofür wir gekämpft haben, wofür Freunde, ja, Brüder gefallen sind, hat der kleine Korse nach und nach verraten. Was im vergangenen Jahrzehnt aus unserem Land geworden ist, entspricht längst nicht mehr den Zielen der Revolution. Im Gegen­teil; wir haben die Bourbonen nicht aufs Schafott geführt, um jetzt einen korsischen Diktator zu ertragen.«

»Aber gibt es denn keine gemäßigten Kräfte in der Regierung, die ihm Paroli bieten können?«, fragte Yvonne interessiert.

Ihr Vater bedachte sie mit einem überraschten Blick; wie es schien, dachte sie nicht zum ersten Mal über diese Dinge nach. Spon­tan fragte er: »Hast du mit Victor drüber gesprochen?«

»Auch. Aber ich habe den Eindruck, dass er sich nicht sehr für Po­litik interessiert. Und er sagt immer, es sei besser für mich, nicht zu viel darüber nachzudenken.«

Der General lächelte schmal. »Damit hat er wohl gar nicht so Un­recht. Napoleon ist mächtig und er baut seine Stellung nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa kontinuierlich aus. Es hat wenig Sinn, sich darüber Gedanken zu machen, was wäre wenn.«

»Deshalb bist du hierher gekommen«, folgerte Yvonne ein wenig enttäuscht. Sie hatte gehofft, mehr zu erfahren. Und sie wurde zudem den Verdacht nicht los, dass der Vater ihr einiges verheimlicht hatte. Dinge, die sie nicht wissen sollte...

»Ja, deshalb habe ich Paris verlassen«, bestätigte er. »Aber jetzt sollten wir von etwas anderem sprechen. Ich möchte nachher einen Ritt durch die Weinberge machen. Begleitest du mich?«

»Sicher. Das tue ich gern.« Sie erwiderte das Lächeln, das er ihr schenkte, doch die Enttäuschung wollte nicht vollends aus ihrem Her­

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zen weichen. Denn Yvonne war fest davon überzeugt, dass der Vater sie noch immer nicht in alles einweihte, was ihm wichtig war. Hielt er sie denn nach wie vor für zu jung, sah er noch immer das kleine Mäd­chen in ihr, das sie gewesen war, als sie nach ›Cyprés‹ gekommen waren? Oder hatte sein Schweigen andere, schwerwiegende Gründe? Sie beschloss, Victor Carnait danach zu fragen. Er wollte sie an diesem Nachmittag besuchen kommen...

*

»Sind Sie sicher, dass es sich dabei nicht nur um ein Gerücht handelt? Momentan wird viel geredet und nur wenig entspricht der Wahrheit...« Der junge Leutnant trat in den Schatten einer Säule, während sein Gesprächspartner sich ihm kaum näherte. Er blieb hinter einem Mau­ervorsprung fast verborgen. Morgennebel verbargen ihn zudem vor den Augen des anderen. Ganz in der Nähe sang eine Amsel, während das hohle Echo der exerzierenden Männer vom nahen Appellplatz sich an den hohen Mauern der Kaserne brach. Der Leutnant nahm seine Mütze ab und klemmte sie unter den Arm. Sein dunkles Haar umrahm­te ein gut geschnittenes Männergesicht, in dem die tiefblauen Augen bestachen. Sie blickten ebenso ernst wie klug in die Welt.

»Ich habe meine Quellen«, erwiderte endlich sein Gegenüber im Schatten. Und ich würde mich nicht wegen einer Lüge in Gefahr bege­ben. Das sollten Sie wissen.«

Der Leutnant nickte nachdenklich. Was der Mann sagte, klang lo­gisch. Aber es konnte ebenso gut eine Falle sein. Es wäre nicht die erste ihrer Art und gewiss nicht die letzte, so er sie vermied. Doch er war bereit, das Risiko einzugehen. »Ich werde die Informationen wei­tergeben. Über geeignete Schritte haben andere zu entscheiden«, be­schloss er knapp. Mit einer geübten Bewegung setzte er seine Uni­formmütze wieder auf und wandte sich zum Gehen. Der andere warte­te, bis er fort war. Erst dann entfernte auch er sich. Es war gefährlich, sich mit zu vielen Menschen sehen zu lassen. Man wusste nie, wer einen beobachtete und welche Folgen dadurch auf einen zukamen. Die

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Zeiten waren unsicher, der Herbst 1803 eine Zeit brodelnder und flir­render Zweifelhaftigkeit. Und jeder musste sehen, wo er blieb...

Leutnant Victor Carnait verließ am frühen Nachmittag mit einem Urlaubsschein die Kaserne in Paris. Doch dies war nicht alles, was er bei sich trug. Das Wissen um Dinge, deren Gesamtheit dem Normal­bürger zu jener Zeit verborgen blieb, war sein wichtigstes Gepäck. Und es befand sich gut verwahrt - in seinem Kopf...

Als er den Zug nach Toulon bestieg, wurde er das Gefühl nicht los, verfolgt zu werden. Napoleon hatte seine Spitzel überall. Und überall witterte der kleine Korse Gegner, Feinde und Verschwörungen. Ganz Unrecht hatte er damit wohl nicht, denn es hatte bereits einige Atten­tate auf sein Leben gegeben. Am Weihnachtsabend des Jahres 1800 war er nur knapp einer Bombe entgangen. Mehrere Versuche, ihn di­rekt anzugreifen, waren bereits im Keim erstickt Worden. Ein Einzel­kämpfer hatte eine ausgeklügelte Zündvorrichtung an einem Halte­punkt der großen Militärparade auf den Champs-Elysées angebracht, die allerdings im entscheidenden Moment versagt hatte.

All diese Männer, meist tapfere Vorkämpfer der Revolution, waren hingerichtet worden. Leutnant Carnait dachte mit Hochachtung an sie, wusste er doch, dass diese Soldaten gewesen waren wie er, Ehren­männer und keine hinterhältigen Verräter, wie der Erste Konsul Frank­reichs es gerne hinstellte. Sein eigener Vater war dem Rachedurst des Herrschers zum Opfer gefallen, allein weil er in den vagen Ruch ge­kommen war, selbst an der Planung eines Attentats beteiligt gewesen zu sein. Victor wusste, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Sein Vater war Bonaparte treu geblieben - bis in den Tod. Doch diese Hal­tung teilte sein Sohn nicht. Der junge Carnait stimmte mit General Daladier überein; Napoleon musste verschwinden. Nur ohne ihn konn­te Frankreich zu seiner wahren Blüte gelangen, die Fesseln der Bour­bonenherrschaft ebenso hinter sich lassen wie die Farce eines neuen Cäsarentums, das im Schädel des kleinen Korsen so unselig spukte.

Victor war entschlossen, diese Entwicklung zu unterstützen, nach Kräften und ebenso aktiv wie die anderen Angehörigen des geheimen Kreises, der sich regelmäßig auf Korsika traf. Der General war sein Vorbild, er blickte zu Daladier auf und bewunderte ihn. Ein wenig such­

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te der junge Leutnant in ihm wohl auch den für immer verlorenen Va­ter. Und nicht zuletzt, sein Herz trieb ihn immer wieder nach ›Cyprés‹, in die Nähe der zauberhaften Yvonne. Das schöne Mädchen hatte ihn auf den ersten Blick bezaubert. Damals, vor Jahren, als er mit seinem Vater das erste Mal nach Korsika gekommen war, hatte Yvonne freilich noch den Liebreiz eines Kindes ausgestrahlt. Er hatte sie wie ein Bru­der geliebt. Doch nun waren seine Gefühle gewandelt, er wünschte sich heimlich, sie zur Frau zu nehmen, sein Leben mit ihr zu teilen. Doch zu vieles stand dem entgegen. Während Victor die Gefühle eines erwachsenen Mannes in seiner Brust bewegte, war Yvonne noch naiv, in manchem direkt kindlich. Sie wollte von Liebe noch längst nichts wissen. Und welches Leben hätte er ihr an seiner Seite wohl bieten können? Er stand in Diensten des königlichen Leibregiments, sein Salär war bescheiden, sein Heim die Kaserne. Noch musste er sich gedul­den, musste warten, Zeit vergehen lassen. Auch wenn ihm dies alles andere als leicht fiel. Doch es hatte ihm nun einfach zu genügen, Y­vonne so häufig wie es eben ging, zu sehen, einzig in ihrer Nähe zu sein und dem zu harren, was er so sehr herbeisehnte. Das wurde ihm immer schwerer, aber er wusste auch, dass es keinen anderen Weg gab. Zudem waren die Zeiten unsicher. Jederzeit konnte er verhaftet werden, seine Existenz hing mehr als einmal nur an einem seidenen Faden. In dieser Lage durfte er keinen anderen Menschen an sich bin­den. Und wünschte er es sich auch noch so sehr...

Die Ankunft auf ›Cyprés‹ gestaltete sich für den jungen Leutnant jedes Mal wie Heimkommen. Der General begrüßte ihn herzlich und auch Yvonne schenkte ihm ein Lächeln. Als er dann mit Daladier unter der mächtigen Sumpfzypresse saß, die dem Weingut seinen Namen verliehen hatte, bei Brot, Schinken und Wein, fühlte er, wie der Druck, die Anspannung ihn langsam verließen. Das Doppelleben, das er in Paris zu führen gezwungen war, hinterließ seine Spuren, die nur all­mählich weichen wollten.

»Hast du Neues erfahren, Victor?«, fragte der General nach einer Weile. »Manus und die anderen haben sich bereits seit einer Weile nicht bei mir gemeldet. Sind Verhaftungen erfolgt?«

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»Nicht, dass ich wüsste. Aber es geht ein Gerücht um, von dem ich heute erst erfahren habe.« Er machte eine kurze Pause, senkte die Stimme und fügte dann seinen Worten hinzu: »Man sagt, der Korse will sich zum Kaiser krönen lassen.«

Daladier zuckte nicht mit einer Wimper. Seine Miene blieb ver­schlossen, er reagierte nicht unmittelbar auf diese Nachricht, die er doch als schockierend empfinden musste. Eine Weile herrschte Schweigen. Schließlich atmete der General schwer und erklärte dann: »Ich habe so etwas geahnt. Es ist nur der logische Schluss aus allem, was er bisher getan hat.«

»Sie nehmen es nicht ernst?«, wunderte Victor sich. »O doch, sehr sogar. Aber ich kann nicht behaupten, dass es mich

erstaunen würde; im Gegenteil.« Der junge Leutnant erhob sich mit einem Ruck und marschierte

ein wenig auf und ab. Den Uniformrock hatte er abgelegt, denn es war warm, die Luft, die vom Meer her kam, ein wenig feucht. Carnait machte eine gute Figur in den schmalen Hosen und dem hellen Hemd. Der General dachte ein wenig wehmütig an die Zeit, als er selbst so jung und voller Pläne gewesen war. Damals hätte er sich nicht ausma­len können, wohin diese Pläne ihn einst führen würden; ins selbst ge­wählte Exil, zu Heimlichkeiten, schließlich in eine Verschwörung, die kommen musste, folgte er seinem Gewissen und tat, was er für Frank­reich als das Beste ansah.

»Ich erinnere mich an die Hochachtung, mit der mein Vater stets von ihm sprach«, sagte Victor nach einer Weile in die Stille. »Er glaub­te an ihn, an seine Treue den Idealen der Revolution gegenüber. Wie konnte er sich nur so irren?«

Jean-Jaques lächelte schmal. Seine Augen blickten über das ei­gentümlich wilde und doch liebliche Land, während er sinnierte: »Wir alle haben an ihn geglaubt. Es war eine Frage absoluter Treue, sonst hätten wir nie siegen können. Doch die Zeiten haben sich geändert. Friede und Macht korrumpieren. Es gehört sehr viel Charakterstärke dazu, den Verlockungen der Selbstverherrlichung zu widerstehen. Bonaparte hatte sie nicht. Und viele haben zu spät erkannt, wohin sein Hang zur Selbstdarstellung uns alle führen würde.« Er schaute den

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jungen Mann ernst an. »Wenn das Gerücht der Wahrheit entspricht -und daran zweifle ich keine Sekunde - werden wir handeln müssen. Manus und Couchard sollten in den nächsten Tagen herkommen. Ich denke, ich werde mit ihnen darüber sprechen.«

»Wäre es nicht klüger, abzuwarten?«, gab Victor zu bedenken. »Übereilte Aktionen haben schon zu vielen das Leben gekostet. Und ich möchte nicht erleben, dass Sie in Gefahr geraten.«

Daladier lächelte. »Mein Junge, wir sind beide Soldaten. Und du weißt wie ich, was das bedeutet. Unsere Verpflichtung gilt in erster Linie dem Vaterland. Ich gehe davon aus, dass wir tun werden, was nötig ist, um es zu schützen.«

Carnait nickte stumm. Ihm wollte nicht gefallen, wie die Dinge sich entwickelten. Doch er hätte es auch nicht gewagt, dem General zu widersprechen. Das verbot sich ihm von selbst.

Yvonne erschien nach einer Weile und brachte frischen Wein. Der General zog sich zurück, angeblich war er müde, doch Victor verstand, dass er ihm diese Zeit mit seiner Tochter gönnte. Und dafür war er wirklich von Herzen dankbar.

Das schöne Mädchen gab sich allerdings sehr nachdenklich. »Was ist Ihnen, Yvonne? Haben Sie Kummer?«, fragte der junge

Mann nach einer Weile, in der sie ihn kaum angesehen und nicht ein­mal gelächelt hatte. »Ich vermisse Ihr zauberhaftes Lächeln.«

»Mir ist nicht danach zumute«, entgegnete sie und suchte seinen Blick. »Sagen Sie, Victor, sind Sie immer ehrlich zu mir?«

Diese Frage verblüffte ihn. »Selbstverständlich. Es käme mir nie in den Sinn, sie zu beschwindeln«, versicherte er ernst.

»Dann sagen Sie mir, was mit meinem Vater los ist. In letzter Zeit wirkt er häufig bedrückt, bekümmert. Er weicht mir aus, schützt Aus­reden vor. Ich spüre, dass etwas nicht stimmt. Und es macht mir Angst, dass er mich partout nicht einweihen will.«

Obwohl der junge Mann natürlich sehr gut Bescheid wusste, kam es ihm doch nicht in den Sinn, Yvonne die Wahrheit zu sagen. Er meinte, es sei zu gefährlich für sie, von Dingen zu wissen, die sie nicht verstand und die sie deshalb ängstigen mussten. »Nun, wenn Ihr Papa nicht mit Ihnen darüber sprechen will, so steht mir das erst recht nicht

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zu«, entgegnete er diplomatisch. »Vermutlich machen Sie sich ganz unnötige Sorgen...«

»Ach, Victor, ich bitte Sie!« Yvonne schüttelte enttäuscht den Kopf. »Sie wissen doch mehr. Warum wollen Sie nicht aufrichtig sein und mir die Wahrheit sagen? Was ist denn so schlimm, dass ich es nicht wissen soll?«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, behauptete er abweisend. Sie musterte ihn forschend, schließlich erhob sie sich und ließ ihn

kühl wissen: »Wenn Sie mich für so dumm und naiv halten, dass Sie sich nicht mal die Mühe machen, mich ein wenig geschickter zu be­schwindeln, haben wir uns wohl nichts mehr zu sagen! Leben Sie wohl, Monsieur!« Sie wandte sich zum Gehen, doch auch Victor hatte sich erhoben. Seine Hand fasste ihre und er suchte ihren Blick. Für ein paar verwirrende Momente fühlte Yvonne ihr Herz unruhig und auch sehn­süchtig schlagen. Dann aber machte sie sich von ihm los und blitzte ihn böse an.

»Seien Sie nicht beleidigt, ich bitte Sie!« Der junge Leutnant sprach eindringlich und auch ungewohnt sanft zu ihr. »Sie wissen, dass Ihr Vater ein wichtiger Mann ist, ein Mann, der vieles bewegt hat. Die Politik, der er offiziell den Rücken gewandt hat, lässt ihn längst nicht kalt. Er sorgt sich um Frankreich. Und er sorgt sich auch um Sie, um Ihre Sicherheit...«

»Das verstehe ich nicht.« Yvonne schaute ihr Gegenüber ab­wägend an. »Was meinen Sie damit? Wieso sollte mir hier Gefahr dro­hen?« Sie merkte, dass er ihr schon wieder nicht antworten wollte und forderte: »Nun sprechen Sie auch weiter, nachdem Sie damit begon­nen haben. Oder fehlt Ihnen der Mut?«

Es zuckte fast unmerklich um seine schmalen Lippen, entschlossen ließ er sie wissen: »Ich kann und will nicht mehr dazu sagen. Wenn Ihr Vater schweigt, hören Sie auch von mir kein Wort.«

»Dann sind Sie sein Sklave?« Sie lächelte abfällig. »Ich hatte bis­lang eine höhere Meinung von Ihnen.«

»Yvonne, machen Sie es mir doch nicht so schwer!«, bat er un­willig. »Sie wissen, ich bin Ihr Freund und möchte nicht, dass Ihnen

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ein Leid geschieht. Können Sie das nicht einfach glauben und die Din­ge auf sich beruhen lassen?«

Sie betrachtete ihn eine Weile sinnend, schließlich schüttelte sie entschieden den Kopf und erklärte: »Das entspricht nicht meiner Art. Ich will wissen, was gespielt wird. Gut, schweigen Sie. Ich werde es auch so herausfinden.« Damit drehte sie sich um und verschwand hoch erhobenen Hauptes im Haus. Victor blieb bekümmert zurück. Zum ersten Mal, seit sie einander kannten, war Yvonne ihm wie eine Fremde erschienen. Und er wusste nicht, was er tun oder sagen konn­te, um dies wieder zu ändern...

*

Am nächsten Tag verließ der junge Leutnant Korsika wieder von Ajac­cio aus mit der Fähre. Zuvor saß er noch lange mit dem General in dessen Arbeitszimmer und besprach das weitere Vorgehen.

Daladier war dafür, dass Victor sich zunächst ruhig verhielt, wei­terhin Augen und Ohren aufsperrte und ihm unverzüglich alles mitteil­te, was für ihre Sache von Bedeutung sein konnte. Damit war der jun­ge Mann einverstanden.

Obwohl Yvonne sich große Mühe gab, etwas von dem zu er­haschen, was die Männer miteinander sprachen, wollte es ihr doch nur gelingen, ein paar Bruchstücke des Gesprächs mitzuhören, die zu­sammengenommen keinen rechten Sinn ergaben. Das junge Mädchen war enttäuscht und ärgerlich. Dass der Vater sie noch wie ein Kind behandelte, konnte sie ja vielleicht verstehen. Doch sie hatte zumin­dest von Victor etwas mehr Entgegenkommen erwartet. Schließlich gab er stets vor, ihr Freund zu sein. Entsprechend kühl fiel denn auch der Abschied aus. Victor war enttäuscht, weil er nicht mehr die Gele­genheit gehabt hatte, Yvonne allein zu sprechen. Ihr schien das nichts auszumachen, was ihn noch zusätzlich deprimierte. Nachdem er abge­fahren war, mahnte der General seine Tochter: »Du hättest ruhig ein bisschen freundlicher zu Victor sein können. Oder hat er dir Veranlas­sung gegeben, ihm zu zürnen?«

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»Ja, das hat er. Aber ich möchte nicht darüber sprechen«, erwi­derte sie dickköpfig.

Jean-Jaques gab sich damit nicht zufrieden. »Was ist vorgefallen zwischen euch? Du hast doch sonst auch keine Geheimnisse vor mir, Yvonne«, erinnerte er sie misstrauisch.

»Jetzt vielleicht doch«, kam es trotzig von ihr. »Schließlich hast du auch Geheimnisse vor mir, Papa. Und solange sich das nicht ändert, werde ich schweigen.«

Der General musterte seine Tochter nachdenklich, schwieg aber. Er ahnte, worauf sie hinaus wollte, doch zugleich war ihm auch klar, dass er diesen Missklang in ihrer bis dato harmonischen Beziehung hinnehmen musste. Es gab keine andere Möglichkeit, wollte er seine Tochter nicht in Gefahr bringen. Und das war wirklich das Letzte, was der General wollte...

In den nun folgenden Tagen verlief das Leben auf ›Cyprés‹ in den gewohnt ruhigen Bahnen, während sich in Paris die Vorzeichen für ein ungewöhnliches Ereignis verdichteten. Victor Carnait traf seinen In­formanten, der ihn davor warnte, sich in der Nähe des Präsidentenpa­lastes aufzuhalten. Eine schwer zu greifende Unruhe lag über der Stadt, schien die Menschen niederzudrücken und lastete sogar auf dem streng geregelten Alltag in der Kaserne. Nicht zum ersten Mal dachte Victor daran, seinen Abschied zu nehmen. Als Zivilist hätte er mehr für ihre Sache erreichen können und nicht so im Schlaglicht der Polizei gestanden. Doch der General hatte ihm eingeschärft, sich ruhig zu verhalten, jetzt keine Veränderungen vorzunehmen. Und daran hielt er sich natürlich. Zudem waren seine Gedanken bei Yvonne. Ihr abwei­sendes Verhalten bei seinem letzten Besuch machte ihm noch immer zu schaffen und die Frage, ob er ihr vielleicht doch mehr hätte sagen sollen, quälte ihn. Natürlich war es besser für sie, nichts von den poli­tischen Entscheidungen zu wissen, die auf ›Cyprés‹ heimlich gefällt wurden. Doch andererseits wollte er ihr Vertrauen nicht verlieren. Schließlich war es die Basis für alles, worauf sie später gemeinsam aufbauen konnten...

Knapp eine Woche war vergangen, seit der junge Leutnant auf Korsika gewesen war, als in den frühen Morgenstunden eine starke

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Detonation Paris erschütterte. Es dauerte nur wenige Minuten, bis au­ßerplanmäßig geweckt wurde. Und kaum eine Viertelstunde später setzte sich Carnaits Division bereits in Marsch, um den Präsi­dentenpalast abzuriegeln. Ein erneutes Attentat also!

Während des Marsches zum Palast dachte Victor darüber nach, wie dies wohl zustande gekommen sein mochte. Sein Informant muss­te demnach Kontakte zu vielen Untergrundkämpfern haben. Allerdings war er nicht willens, ihm gegenüber diese Kontakte offen zu legen. Der junge Leutnant war der Überzeugung, dass durch eine gezielte Zu­sammenarbeit aller demokratischen Kräfte ein erkleckliches Gegenge­wicht zur Macht Napoleons hätte entstehen können. Doch dieser Weg schien leider versperrt. Hinzu kamen die Gefahren durch undichte Stel­len, Spione und Überläufer. Es war wohl am besten, so weiterzuma­chen wie bisher. Zwar blieb dem Widerstand auf diese Weise eine effi­zientere Schlagkraft verwehrt, doch das Risiko für den einzelnen dafür auch relativ gering.

Am Ziel angekommen, konnte Carnait feststellen, dass die Bombe einen recht großen Sachschaden am Präsidentenpalast angerichtet hatte. Das hohe, schmiedeeiserne Tor, das das Grundstück abschloss, war von der Wucht der Detonation aus den Grundfesten gerissen und ein Stück auf die Straße geschleudert worden. Am Portal gähnte ein mannshohes Loch in der Wand aus hellem Naturstein. Blumentröge lagen zerbrochen umher, dazwischen Steinfiguren und die Hand einer Statue, die wie ein groteskes Memento mori über der Krone eines Ro­senstämmchens hing.

Es sah nach einem Erfolg für die Gegner des Ersten Konsuls aus, doch der äußere Schein täuschte, wie meist. Bereits am frühen Vor­mittag zeigte Napoleon sich den Massen; unverletzt und bester Dinge. Und am Nachmittag wurde die Nachricht publik, die bislang nur ein geflüstertes Gerücht gewesen war: Der einstige Revolutionär und selbst ernannte Neuerer Frankreichs wollte sich mit eigener Hand die Kaiserkrone aufs Haupt setzen.

Carnait kehrte an diesem Tag niedergeschlagen in die Kaserne zu­rück. Sicher würden bis zum Abend bereits die ersten Schnellurteile gegen die tatsächlichen oder angeblichen Urheber dieses Anschlags

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ergangen sein. Er musste den General informieren, verspürte aber wenig Neigung, mit solchen Nachrichten im Gepäck Richtung Korsika aufzubrechen. Besser, er wartete noch eine Weile, bis er Daladier wie­der besuchte. Vielleicht geschah ja in der Zwischenzeit ein Wunder und die Dinge wendeten sich doch noch zu Ungunsten des Potenta­ten...

*

»Ach, Mimi, ich bin ganz unruhig. In den vergangenen Tagen er­reichen uns so viele Gerüchte vom Festland. Aber niemand besucht uns mehr. Und Papa gibt sich schweigsamer denn je.«

Die betagte Köchin von ›Cyprés‹ tätschelte Yvonne Daladier müt­terlich die Wange und lächelte ihr aufmunternd zu, während sie fort­fuhr, Feigen für eine Nachspeise zu putzen. »Du machst dir viel zuviel Gedanken, mein Kind. Allerdings, dass der junge Carnait sich rar macht, sollte dich schon beunruhigen.«

Das schöne Mädchen bedachte die Köchin mit einem zweifelnden Blick. »Sag mal, Mimi, willst du mich vielleicht ärgern?«

»Das käme mir nie in den Sinn. Ich habe nur Augen und Ohren und weiß, was hier vor sich geht. Auch wenn ich nicht die Klügste bin, erkenne ich doch, wenn zwei Menschen zusammen gehören.«

»Und du meinst, dass Victor und ich... Ach, das ist ja lächerlich!« Yvonne wusste nicht recht, worüber sie sich mehr ärgern sollte, über Mimis dummes Gerede oder darüber, dass sie gerade errötet war... »Wir sind nur Freunde. Und zurzeit nicht mal besonders gute Freunde, weil er mir gegenüber etwas verschweigt. Und das kann ich gar nicht leiden!«

»Nun hör mir mal zu, Kindchen.« Die Alte legte die abgearbeiteten Hände kurz in den Schoß, während sie eindringlich mahnte: »Was die Herren so besprechen, ist nicht für deine Ohren gedacht. Glaube mir, es geschieht nur zu deinem Besten, wenn du nicht alles erfährst. Heut­zutage kann es sehr gefährlich sein, zu viel zu wissen. Du kennst doch Eduard, den Sohn der Blanchis, nicht wahr?«

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Yvonne überlegte kurz, dann nickte sie zustimmend. Das Ehepaar Blanchi lebte schon seit Jahrzehnten auf ›Cyprés‹, sie hatten das Gut verwaltet, während es zum Verkauf stand und waren heute noch die Hausmeister. Ihr Sohn war etwas älter als die Tochter des Generals. »Ja, ich kenne ihn flüchtig.«

»Sicher ist dir nicht aufgefallen, dass er seit einer ganzen Weile verschwunden ist...«

Yvonne stutzte. »Wenn ich jetzt darüber nachdenke, muss ich dir zustimmen, Mimi. Hat er ›Cyprés‹ verlassen?«

»Nicht freiwillig. Auch er war neugierig und mischte sich in Dinge ein, die ihn eigentlich nichts angingen. Er schloss sich den Revolu­tionären an, wollte gegen Napoleon kämpfen. Und er endete im Ker­ker.«

Yvonne erbleichte. »Wie schrecklich! Was hat er denn getan?« »Nicht Viel. Er verteilte Flugblätter und wurde dabei erwischt.« Die

Köchin beugte sich ein wenig vor und musterte das schöne Mädchen eindringlich. »Du siehst, in der heutigen Zeit muss man sehr aufpas­sen, sehr vorsichtig sein. Du solltest froh sein, dass dein Vater und auch der junge Carnait dich beschützen, Yvonne. Glaube mir, es ist nur zu deinem Besten!«

Die Tochter des Generals dachte noch eine ganze Weile über das nach, was Mimi ihr anvertraut hatte. Dass der junge Blanchi im Kerker saß, hatte sie nicht gewusst. Doch was er getan hatte, gab wohl An­lass dazu, ihn festzunehmen. Dagegen konnte reines Wissen doch nicht so gefährlich sein...

In den folgenden Tagen reisten einige alte Freunde des Generals an. Edouard Manus kam aus Paris, Paul Couchard von seinem Landgut nahe Marseille und Francois Pichet tauchte quasi aus dem Nichts auf, hatte es doch schon vor Monaten geheißen, er sei tot und begraben.

»Totgesagte leben länger«, scherzte der hagere Mann jenseits der Sechzig und sprach dabei fleißig dem deftigen Essen zu. »Leider trifft das auch auf unseren lieben Bonaparte zu.«

Daladier bedachte seinen alten Freund und Weggefährten mit ei­nem strengen Blick, woraufhin dieser die Schultern hob und ver­sicherte: »Wir sind doch ganz unter uns.«

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»Wo ist eigentlich der junge Carnait? Er wird doch mit dieser un­seligen Sache beim Präsidentenpalast nichts zu tun haben«, wollte Manus unbehaglich wissen. Er war der Älteste von allen und stets von einer bedächtigen Besonnenheit durchdrungen, die manchem seiner Freunde als sehr enervierend erschien.

Der General winkte ab. »Unsinn, so dumm ist Victor nicht. Er wird kommen, aber erst, wenn er wieder unauffällig Urlaub nehmen kann. Momentan ist es in Paris am sichersten für ihn.«

»Wie werden wir nun vorgehen?«, fragte Manus offen. »Der Herr in Paris hat uns eine Vorgabe gegeben, die wir schon der Höflichkeit halber erwidern müssen...«

Der General schmunzelte kurz, wurde aber gleich wieder ernst. »Ich möchte erst Carnaits Ankunft abwarten, bevor wir in medias res gehen. Er kann uns über den aktuellen Stand der Dinge informieren. Erst dann ist zu entscheiden, wie wir diesen Affenzirkus in Paris ver­hindern können.«

»Es heißt, sogar der Heilige Vater wird anreisen«, erzählte Cou­chard. Er war ebenfalls General im Ruhestand, doch sein Sinn für Poli­tik war von jeher stärker ausgeprägter gewesen als sein strategisches Denken. »Wenn dem so ist, hat er eine wirklich starke Rückende­ckung.«

»Das Volk wird ihn nicht tragen«, war Daladier überzeugt. »Die Masse schweigt«, meinte Pichet mit einem säuerlichen Lä­

cheln. »Darauf können wir uns nicht verlassen. Wir müssen rechtzeitig handeln. Wenn er erst einmal die Kaiserkrone trägt, können wir nichts mehr ausrichten...«

Yvonne, die beim Auftragen des Essens geholfen hatte, war die ganze Zeit in der Halle auf und ab gegangen. Sie wollte hören, was drinnen gesprochen wurde, doch die Bemerkungen der Herren im Ess­zimmer ängstigten sie tatsächlich sehr. Und der Gedanke, dass ihr ei­gener Vater sich womöglich in Gefahr begab, bloß um die politischen Verhältnisse im Land zu ändern, versetzte sie sogar in Panik. Am liebs­ten hätte sie sofort mit ihm gesprochen, doch sie wusste, dass sie sich nicht einmischen durfte. Wenn nur Victor hier gewesen wäre! Sicher hätte er ihr beigestanden, obwohl sie bei seinem letzten Besuch nicht

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sehr nett zu ihm gewesen war. Doch was, wenn er sich bereits in Ge­fahr befand? Ihr Herz pochte unruhig gegen die Rippen, Furcht erfüllte es. Und sie sehnte die Ankunft des jungen Carnaits herbei, um wenigs­tens sicher sein zu können, dass ihm nichts geschehen war.

*

Tatsächlich dauerte es noch fast eine Woche, bis der junge Leutnant nach ›Cyprés‹ kam. Yvonne hatte sich in diesen Tagen große Sorgen gemacht und immer wieder vergeblich versucht, etwas über Victors Schicksal zu erfahren. Als er dann vor ihr stand, wäre sie ihm vor Freu­de und Erleichterung am liebsten um den Hals gefallen. Doch natürlich tat sie dies nicht; schließlich sollte er nicht wissen, wie sie mittlerweile zu ihm stand...

Doch er sah das freudige Aufleuchten in ihren Augen und dabei wurde ihm ganz warm ums Herz.

Gern ließ er es sich gefallen, dass sie ihn mit einem späten Frühs­tück bewirtete und hörte dabei aufmerksam ihren Erzählungen zu. Doch eigentlich betrachtete er nur ihr schönes Gesicht, das er so lange schmerzlich hatte vermissen müssen...

»Die Herren sind alle zu einem gemeinsamen Spaziergang aufge­brochen«, ließ sie ihn schließlich wissen. »Zu Mittag werden sie aber wieder hier sein. Ich glaube, es wird Sie nicht verwundern, wenn ich Ihnen verrate, dass man schon sehnsüchtig auf Sie gewartet hat, Vic­tor.«

»So?« Er lächelte verschmitzt. »Sie vielleicht auch?« Er hatte nur scherzen wollen, doch Yvonne errötete und senkte die Lider. Un­vermittelt kam ihn etwas wie ein lieblicher Hauch, eine Ahnung dessen an, was vielleicht bereits in ihrem jungen Herzen erblühte. Er mochte es kaum glauben und zugleich empfand er eine unbändige Freude bei diesem Gedanken. Allerdings blieb es ihm in der jetzigen Situation ver­sagt, nur seinem Gefühl zu folgen. Der junge Leutnant wusste, wie viel auf dem Spiel stand. Er durfte kein Herz an das seine binden, er muss­te Geduld haben, auf eine Zukunft hoffen, die vielleicht irgendwann kam...

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»Ich freue mich, dass Sie hier sind«, gab Yvonne nun betont ge­lassen zu. »Ich habe in den vergangenen Tagen viel an Sie denken müssen, Victor, denn ich fühlte mich sehr allein und verlassen ohne Ihre Freundschaft und Unterstützung.«

Er warf ihr einen leicht irritierten Blick zu. »Stimmt etwas nicht? Solange ich zurückdenken kann, haben Sie sich an der Seite Ihres Va­ters stets wohl und geborgen gefühlt. Sollte dies nun etwa anders ge­worden sein?«

»Nun, es gibt Dinge, die mich ängstigen«, gestand sie ihm leise ein. »Bitte, weisen Sie mich nicht gleich zurück, wenn ich Sie frage, ob meinem Vater Gefahr droht. In letzter Zeit hörte ich von Absprachen, die... mich verunsichert haben. Ich sehe die alten Freunde meines Vaters mit anderen Augen, denn es scheint, als plane man etwas, das... Nun, wie soll ich sagen, das gefährlich werden könnte.«

Victor musterte das schöne Mädchen mit verschlossener Miene. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Daladier seine Tochter in die wahre Natur ihrer Unterredungen eingeweiht hatte. Yvonne musste ge­lauscht, sich ihr Wissen zusammen stibitzt haben. Doch sie wusste definitiv etwas. Und er wollte sie nicht noch einmal vor den Kopf sto­ßen, indem er sie einfach abspeiste.

»Sie wissen von den Vorgängen auf dem Festland? Nicht zum er­sten Mal hat man versucht, Napoleon zu beseitigen.«

»Ich hörte davon. Doch was hat das mit Papa zu tun? Er selbst kämpfte an der Seite des kleinen Korsen. Ich bin überzeugt, er würde nie etwas tun, das diesem Mann schaden könnte. Auch wenn er nicht mit allem einverstanden ist, was in Paris auf sein Geheiß hin ge­schieht.«

Carnait zögerte kurz, ehe er eindringlich erklärte: »Sie sollten nicht nach diesen Dingen fragen, Yvonne. Je weniger Sie wissen, desto besser. Nur soviel: Unser Land steht am Scheideweg. In den nächsten Monaten wird sich entscheiden, wohin wir alle gehen: In die Zukunft oder in den Untergang. Mit den herrschenden Verhältnissen bleibt wohl nur Letzteres. Das haben weisere Männer lange vor mir erkannt. Und deshalb muss getan werden, was die Lage erfordert. Ohne Rück­sicht auf das eigene Leben.«

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»Sie wollen sagen...« Yvonne hielt es nicht mehr auf ihrem Platz. Aufgewühlt und verängstigt lief sie im Salon hin und her und versuchte dabei vergeblich, ihre Gedanken zu ordnen. Endlich wurde sie ein we­nig ruhiger. Doch die Furcht vor dem Kommenden schnürte ihr noch immer die Kehle zu.

»Bitte, Victor, versprechen Sie mir etwas: Schützen Sie meinen Vater. Er ist der einzige Mensch, den ich auf der Welt habe. Und ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass ich ihn verlieren soll, bloß um einer politischen Machtfrage willen.«

Der junge Leutnant hatte bereits eine Antwort auf der Zunge, als die Tür zum Salon geöffnet wurde und der General erschien. Er zeigte sich freudig überrascht, Victor zu sehen und bat ihn gleich, sich der Herrenrunde anzuschließen, die von ihrem Spaziergang zurück war. Yvonne stand blass und stumm abseits. Ehe der junge Carnait dem General folgte, wandte er sich noch einmal an sie. Mit großem Ernst versicherte er: »Ich will alles tun, um das Leben Ihres Vaters zu schüt­zen, Yvonne. Sie wissen es vielleicht, er ist mir selbst wie ein Vater geworden. Und ich möchte es nicht erleben, dass dem General etwas geschieht. Wenn nötig, werde ich sein Leben mit dem Meinen verteidi­gen.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ er den Salon. Yvonne aber starrte wie leblos vor sich hin. Die Worte, die ihr aufgewühltes Herz hatten beruhigen sollen, peinigten es nur umso mehr. Und sie konnte nicht einmal sagen, warum.

*

Der junge Leutnant gab den Herren offen Auskunft über alles, was sich in Paris abgespielt hatte. Schließlich beendete er seinen Bericht mit dem Rat: »Wir sollten momentan gar nichts tun. Durch den letzten Anschlag sind Polizei und Geheimdienst in höchster Alarmbereitschaft. Ich glaube nicht, dass sich in nächster Zeit viel erreichen lässt.«

Daladier nickte langsam. Seine Miene war ernst, angespannt. Und als er schließlich sprach, klang seine Stimme gepresst. »Ich kann Ih­nen nur zustimmen, Victor, denn Sie wissen am allerbesten die Lage in

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Paris einzuschätzen. Allerdings bleibt uns nicht mehr sehr viel Zeit. Nachdem bekannt gegeben wurde, dass die Kaiserkrönung bereits im kommenden Jahr durchgeführt werden soll, müssten wir eigentlich sofort handeln...«

»Davon kann ich nur strikt abraten«, erklärte Carnait vehement. »Die Lage ist unübersichtlich, Feind von Freund kaum zu unterschei­den. Zudem verdichten sich die Anzeichen, dass auch in unserer Orga­nisation undichte Stellen...«

»Ich bitte Sie, Carnait, das ist doch nichts Neues!«, unterbrach Pi­chet den jungen Mann unwillig. »Es gibt keinen Kämpferbund, keine Geheimorganisation, in der nicht auch Spitzel ihr Unwesen treiben. Es wäre naiv, etwas anderes zu glauben. Und das ist eigentlich auch nicht des Pudels Kern. Die Frage lautet doch: Wo und wann können wir wirklich effektiv zuschlagen? Und die sollten Sie uns beantworten kön­nen, junger Mann.«

»Momentan nirgends«, kam es spontan von Victor. Pichet warf dem General einen wenig erfreuten Blick zu, dieser

stellte besonnen fest: »Wenn Victor uns zur Vorsicht mahnt, geschieht dies nur zu unser aller Wohl.« Er wandte sich an den jungen Leutnant. »Allerdings können wir in dieser Situation nicht in erster Linie an uns selbst denken. Die Zeit ist reif für ein Zeichen. Und wir werden es set­zen.«

Carnait wirkte alles andere als begeistert. Zögernd gab er zu: »Vielleicht würde sich eine Möglichkeit bieten, aber es ist alles noch recht ungewiss...«

Während die Herren diskutierten und Pläne schmiedeten, ging Y­vonne Mimi in der Küche zur Hand. Das junge Mädchen war sonst sehr interessiert an der Zubereitung von Speisen und zeigte sich zudem gelehrig. An diesem Tag aber war Yvonne mit den Gedanken ganz woanders. Und die gutmütige Köchin meinte, den Grund dafür auch genau zu kennen.

»Nun ist er ja hier, gesund und munter und es gibt keinen Grund mehr, sich Sorgen zu machen«, merkte sie mit einem verschmitzten Lächeln an.

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Das schöne Mädchen warf ihr einen leicht irritierten Blick zu, dann aber zeigte sich eine kleine, steile Unmutsfalte zwischen Yvonnes schön geschwungenen Augenbrauen und sie mahnte die Köchin: »Mi­mi, hör auf, dich über mich lustig zu machen!«

»Das käme mir nie in den Sinn, mein Kind«, versicherte diese dar­aufhin ein wenig verstimmt. »Ich habe nur gesehen, wie deine Augen leuchteten, als der junge Leutnant vor unserer Tür stand. Und was man sieht, das darf man doch wohl sagen, oder?«

Yvonne lächelte ein wenig. »Ach, Mimi, ich wünschte, es wäre al­les so einfach. Ich habe viel über unser letztes Gespräch nachgedacht und es kommt mir tatsächlich so vor, als ob du nicht ganz Unrecht hättest. Victor bedeutet mir schon sehr viel. Aber das ist im Moment nicht das Wichtigste...« Sie lief unruhig in der Küche auf und ab. »Et­was geht vor. Und ich frage mich, was es ist...«

»Aber darüber haben wir doch schon einmal gesprochen. Es ist nicht gut, sich so viele Gedanken zu machen. Die Herren wissen schon, was sie tun. Und sie werden uns gewiss nicht um Erlaubnis fra­gen.«

»Ja, wahrscheinlich ist es so.« Yvonne hob mit einer resignierten Geste die schmalen Schultern. »Trotzdem wäre es vielleicht manchmal besser, sie würden es tun...«

Bis zu Victor Carnaits Abreise blieb Yvonne nicht viel Gelegenheit, mit dem jungen Mann zu sprechen. Beinahe seine gesamte Zeit ver­brachte er mit dem General und seinen Freunden. Das junge Mädchen fühlte sich ausgeschlossen, zudem beherrschte eine zitternde Beunru­higung ihr Herz und ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Als der Leutnant sich dann verabschieden wollte, schien es Yvonne, als seien die Würfel gefallen.

Sie forschte im vertrauten Gesicht des Freundes nach einem An­haltspunkt, einem Hinweis auf das, was geschehen sollte, doch es wollte ihr nicht gelingen, hinter sein Geheimnis zu kommen.

»Bitte, Victor, geben Sie gut auf sich acht«, bat sie ihn deshalb eindringlicher denn je. »Und kommen Sie so bald zurück wie irgend möglich.«

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Er versprach es, ein langer Händedruck musste genügen, seine unterschwelligen Gefühle anzudeuten. Dann war er fort und Yvonne spürte zu ihrer Bestürzung Tränen in sich aufsteigen.

Der General gab sich in den nun folgenden Wochen schweigsamer und verschlossener denn je. Yvonne versuchte zunächst noch, an sei­nen Gedanken und Plänen teilzuhaben. Doch sie musste bald erfahren, dass dies nicht mehr möglich war. Das gute Einvernehmen zwischen Vater und Tochter litt in dieser Zeit. Und das junge Mädchen musste bekümmert feststellen, dass sein Vater nichts tat, um diese Entwick­lung zu verhindern...

Der Winter war mild auf Korsika, doch Stürme machten die Pas­sage zum Festland unsicher, weshalb kein Besucher mehr seinen Weg nach ›Cyprés‹ fand. Auch der junge Carnait machte sich rar. Immer wieder fragte Yvonne den Vater nach dem Freund, doch der General vertröstete sie auf den Frühling.

»Wenn die Fähre wieder regelmäßig verkehrt, wird unsere Isola­tion gewiss durchbrochen werden«, meinte er leichthin. »Und Victor wird uns dann auch wieder besuchen kommen.«

»Ach, Papa, ich wünschte, es wäre schon soweit«, seufzte das junge Mädchen. »Aber zugleich fürchte ich mich auch davor...«

Jean-Jaques musterte seine Tochter fragend. »Wie meinst du das, Liebes? Steht etwas zwischen Victor und dir? Gibt es Dinge, die ich wissen sollte?«

Yvonne musterte den Vater nachdenklich. »Eigentlich nicht. Doch ich mache mir Sorgen um ihn. Er wird doch in Paris keine Dummheiten machen?«

Der General lächelte schmal. »Keine Angst, Victor ist ein kluger junger Mann. Du musst dich nicht um ihn sorgen.«

»Aber ich tue es trotzdem! Papa, bitte...« Daladier schien mit den Gedanken schon wieder ganz woanders zu

sein. Er reagierte nicht mehr auf die Worte seiner Tochter, warf statt­dessen einen langen, ernsten Blick auf den Kalender. Yvonne brannte eine Frage auf der Zunge, doch sie schwieg. Es hatte ja doch, keinen Sinn, der Vater hatte Geheimnisse vor ihr, die er scheinbar um nichts in der Welt offenbaren wollte.

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*

Anfang März erschütterte erneut ein Bombenanschlag Paris. Niemand wurde verletzt, doch der Sprengkörper, der dem Ersten Konsul des Landes zugedacht gewesen war, richtete an dessen privater Residenz erheblichen Sachschaden an. Sofort traten Polizei und Geheimdienst in Aktion. Leutnant Carnait, der über die Aktion bestens informiert gewe­sen war, verhielt sich völlig unauffällig. Innerlich brannte er jedoch darauf, den General über das erneute Missglücken eines Attentats zu informieren. Es war gewiss nur eine Frage der Zeit, bis eine Spur nach Korsika führte...

Victor ahnte allerdings nicht, wie bald dies geschehen sollte. Die Polizei hatte rasch mehrere Dutzend Verdächtiger verhaften und zu strengen Verhören in die Bastille schaffen lassen. Darunter befand sich auch ein junger Mann, Julien Pichet, der Neffe Francois Pichets. Er war über wirre Umwege in die Widerstandsbewegung geraten, hatte sich bislang kaum bewährt oder hervorgetan. Unglücklicherweise war er im Hause des Onkels lange ein und ausgegangen und wusste recht gut über die verzweigten Beziehungen zwischen den alten Kämpfern Be­scheid.

Als er Richard Columbin, dem Polizeichef von Paris, vorgeführt wurde, war er willens und auch in der Lage, alles auszuplaudern, was dieser zu hören verlangte, um seinen eigenen Hals zu retten. Columbin hatte lange auf eine solche Möglichkeit gewartet, ein ›Wider­standsnest‹, wie er es nannte, zu zerschlagen.

»Wenn du redest, Pichet, wirst du es nicht bereuen«, versicherte er mit einem eisigen Lächeln. »Belügst du mich, bist du bereits um einen Kopf kürzer, wenn auch erst auf dem Papier...«

»Ich sage alles, was ich weiß!«, versicherte der blasse Jüngling rasch und eifrig. »Und das ist nicht wenig...«

»So.« Columbin musterte ihn mit seinen scharfen, schmalen Au­gen. Er sah deutlich die Todesangst in seinem Blick und er wusste aus Erfahrung, dass dieses Gefühl beinahe jeden Mund öffnete. Zudem war es ein Garant für die Wahrheit. »Also rede!«

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Pichet ›packte aus‹. Er nahm kein Blatt vor den Mund und erzählte alles, was ihm in den Sinn kam. Dabei dachte er weder an das Schick­sal seines Onkels, noch an die anderen Männer, die viel gewagt hat­ten, um Frankreich zu befreien. Julien Pichet wollte seinen eigenen Kopf retten. Alles andere war ihm egal.

»Du behauptest also, dass dein Onkel, sowie Manus und Couchard sich regelmäßig auf Korsika getroffen haben, um eine Verschwörung gegen den französischen Staat auszuarbeiten.«

»Ja, General Daladier ist der Rädelsführer. Er... hält alle zu­sammen und ist auch für die Planungen zuständig«, bestätigte der junge Pichet rasch.

»Und woher bezieht er seine Informationen? Immerhin ist Dala­dier seit langen Jahren im Ruhestand. Er lebt weitab vom Schuss. Wie hält er sich über die aktuelle politische Lage auf dem laufenden?«, wollte der Polizeichef misstrauisch wissen. Langsam fragte er sich, ob Pichet ihm nicht nur einen Haufen Lügen auftischte, um frei zu kom­men.

»Es gibt einen Kurier, der hier in Paris lebt, ihn regelmäßig be­sucht. Mein Onkel sprach von ihm, nannte aber keinen Namen.«

»Und das soll ich dir glauben?« »Es ist die Wahrheit! Ich kenne den Kurier nicht.« »Aha, nun nehmen wir mal an, das stimmt. Wie sieht es nun mit

diesem Attentat aus? Hat der General es geplant und durchführen las­sen? Stehst du auch in seinen Diensten?«

»Ich... nein, ich hatte direkt nie etwas mit ihm zu tun. Aber ich bin durch meinen Onkel über alles informiert.« Er gab sich unterwürfig. »Sie werden meinen guten Willen doch nicht unberücksichtigt lassen, oder? Immerhin habe ich viel gewagt und alle Brücken hinter mir ab­gebrochen mit meiner Aussage...«

Columbin lächelte verächtlich. »Das hast du in der Tat, Pichet. Doch ich finde, ein Mann ohne Rückgrat wie du verdient es nicht, wei­ter zu leben. Du bist weder ein Widerständler, noch bist du der Repu­blik treu. Stattdessen hängst du dein Fähnchen in den Wind. Menschen wie du sind mir zuwider.« Mit einem kurzen Wink rief er zwei Wächter herbei, die den Gefangenen packten.

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Pichet jammerte: »Sie brechen Ihr Wort, so war das nicht abge­macht, ich... habe alles getan, was Sie wollten und dafür können Sie mich jetzt nicht...«

»Raus mit ihm!«, forderte Columbin ungehalten. »Ich will ihn nicht mehr sehen.«

Julien Pichet zeterte und jammerte, bis die schwere Tür des Ver­hörzimmers sich hinter ihm schloss. Mit den beiden Wächtern hatte auch einer der Schreiber den Raum verlassen. Der Polizeichef merkte es nicht, seine Gedanken bewegten sich in anderen Gefilden. Wie lan­ge hatte er warten müssen, bis er endlich greifbare Beweise in die Hand bekommen hatte. Nun aber konnte er gegen die alten Kämpfer der Revolution vorgehen. Und er war fest entschlossen, jeden weiteren Widerstand auszumerzen, bevor Bonaparte den Kaiserthron bestieg!

*

»Mein Name ist nicht genannt worden?« Victor Carnait starrte auf den Schatten, der sich hinter einer Säule nahe des Appellplatzes der Ka­serne verbarg. Sein Informant war außerplanmäßig aufgetaucht. Und er wirkte überaus unruhig, gehetzt. Mit einer Antwort ließ er sich Zeit, schien zunächst in alle Richtungen zu starren, um sicher zu sein, dass niemand ihn verfolgt hatte oder jetzt beobachtete. Seine flüsternde Stimme erschien Victor an diesem Tag heiser vor Aufregung.

»Der junge Pichet kennt Ihren Namen nicht. Doch es ist wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis Columbin auch das erfährt. Und dann sind vielleicht nicht nur Sie geliefert...«

»Ich danke Ihnen«, murmelte Carnait knapp, dann wandte er sich zum Gehen. Er wusste, was er nun zu tun hatte.

Der Informant fragte: »Werden Sie Paris verlassen? Ich denke, es wäre das Beste für uns alle...«

»Je weniger Sie wissen, desto besser«, war alles, was der junge Leutnant noch sagte, bevor er über den großen Platz in der Kaserne verschwand. Victor hatte bereits seit Tagen mit einer ähnlichen Ent­wicklung gerechnet. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis einer der Verhafteten zu reden begann. Der Polizeichef von Paris hatte seine

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Methoden, das war allgemein bekannt. Victor unterdrückte ein leises Gefühl der Panik, das kurz aber heftig in seinem Innern aufgeflammt war. Er musste nun kühlen Kopf bewahren, sonst war alles verloren.

Mit gemessenem Schritt steuerte er seine Räume an. Es verbot sich von selbst, einen Urlaubsschein zu beantragen. Zudem war es überflüssig, denn der junge Mann wusste, dass er die Kaserne an die­sem Tag zum letzten Mal verlassen würde. Nach den Ereignissen der vergangenen Tage gab es kein Zurück mehr für ihn. Im Grunde war er darüber froh, ein klarer Schnitt konnte helfen, sein Leben wieder in die richtigen Bahnen zu lenken. Kurz kehrten seine Gedanken zu Yvonne zurück. Am liebsten wäre er sofort nach Korsika aufgebrochen, denn er ahnte, dass es auf jede Stunde ankam. Wenn Columbin tatsächlich die Namen aller Verschwörer kannte, würde er kaum zögern, seine Hä­scher auszusenden. Die Vorstellung, den General in Ketten zu sehen und Yvonne... Victor verbot sich solch lähmende Gedanken. Er musste sich nun voll und ganz auf das konzentrieren, was vor ihm lag.

Das Mittagessen nahm er wie an jedem Tag in der Offiziersmesse ein. Ein Freund sprach ihn auf einen gemeinsamen Kasinobesuch am Abend an und er sagte scheinbar spontan zu. Am frühen Nachmittag verließ der junge Leutnant dann unter einem Vorwand die Kaserne. Er hatte nur wenig Gepäck nahe dem Eingang deponiert. Es musste ge­nügen, denn alles andere wäre zu auffällig gewesen.

Als Victor dann den Zug nach Toulon bestieg, tat er es mit einem Gefühl der Beklommenheit. Er wusste, dass hier und jetzt ein Kapitel seines Lebens endete. Doch die Zukunft erschien ihm ungewiss und düster. Zum ersten Mal fragte er sich ernsthaft, ob er das Richtige tat. Aber eine Antwort darauf konnte er nicht finden. Jedenfalls nicht in dem aufgewühlten Seelenzustand, in dem er sich befand...

Die Reise zum Meer wurde für den jungen Mann zu einem seltsa­men Erlebnis. Er hatte seine Uniform gegen zivile Kleidung getauscht, war in den Strom der Reisenden untergetaucht, der ihm zugleich Schutz und Sicherheit bot. Doch das ungute Gefühl, beobachtet und verfolgt zu werden, wollte einfach nicht weichen. Im Zug hielten sich auffallend viele unauffällige Männer auf. Victor war überzeugt, es mit Agenten der Geheimpolizei zu tun zu haben. Obwohl er sich eigentlich

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relativ sicher fühlen konnte, schwebte er doch zumindest in der Ge­fahr, als Deserteur entlarvt und festgesetzt zu werden. Und dann wür­de es für Columbin nur noch eine Fingerübung darstellen, ihn als den Kurier zu entlarven, der General Daladier mit allen nötigen, politischen Informationen aus der Hauptstadt versorgt hatte. Trotz des unguten Gefühls und der Nervosität, die daraus erwuchs, verlief die Fahrt nach Toulon für Victor allerdings ohne Zwischenfall. Er atmete jedoch erst auf, als er die Fähre betrat, die ihn nach Korsika bringen sollte. Sie hatte noch nicht lange ihren Dienst wieder aufgenommen, die Winter­pause war erst seit zwei Wochen vorbei. Es war ein trüber, regneri­scher Tag, die See rau und tückisch. Einigen Damen wurde übel und auch der junge Leutnant war froh, als er wieder festen Boden unter den Füßen spürte.

Auf ›Cyprés‹ wusste man nichts von seinem Besuch. Nach außen hin ging das beschauliche Landleben seinen gewohnten Gang. Doch Carnait spürte, dass die Auswirkungen der Ereignisse in Paris bis hier­her vorgedrungen waren. Als er am Klingelstrang zog, öffnete ihm erst nach einer ganzen Weile Yvonne. Sie starrte ihn einen Moment lang fassungslos an, dann fiel sie ihm um den Hals - und weinte. Da war Victor restlos überzeugt, dass er zu spät kam.

»Wo ist der General?«, fragte er mit belegter Stimme. »Ist bereits Polizei hier?«

Yvonne löste sich von ihm und schnäuzte sich verschämt. Dann ließ sie ihn wissen: »Manus und Pichet waren gestern hier, sie sind auf der Flucht und haben Papa gebeten, sie zu begleiten. Ich glaube, sie wollen nach Spanien. Aber er weigert sich, will Korsika nicht verlassen. Gestern sagte er: ›Wenn der kleine Korse etwas von mir will, soll er sich hierher begeben. Ich gehe nirgendwo hin.‹ Was soll denn bloß werden?«

»Ich rede mit ihm«, beschloss Carnait. »Wie es aussieht, hat einer der Verhafteten geplaudert. Der Polizeichef von Paris weiß alles. An einer Flucht wird also kein Weg vorbeiführen. Ich habe bereits be­fürchtet, dass man mich hier erwarten würde. Aber wie es scheint, ist Columbin doch nicht der Schnellste.«

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Yvonne biss sich auf die Lippen. Verzweifelt flehte sie: »Bringen Sie Papa dazu, zu fliehen. Ich habe ja nicht gewusst, wie gefährlich die Lage wirklich ist. Durch seinen Starrsinn wird er sich noch selbst zugrunde richten...«

Victor nickte knapp, dann betrat er das Haus. Er fand den General in dessen Arbeitszimmer, wo er über diversen Papieren saß. Das Er­scheinen des jungen Mannes schien ihn nicht im Mindesten zu überra­schen.

»Da ist eine Menge zu ordnen, bevor man geht«, sagte er nach ei­ner knappen Begrüßung. »Hinzu kommt, dass ich noch nicht so bald damit gerechnet habe.«

»Wir müssen Korsika verlassen, all das hier ist unwichtig.« Er wies auf die Papiere, die den Schreibtisch aus schwerem Holz bedeckten. »Es heißt nun, das eigene Leben retten, denn unser Plan wurde verra­ten.«

»Ich wusste, dass du schlechte Nachrichten bringst, Victor. Sind sie uns bereits auf den Fersen?«

»Das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Im Zug waren einige verdächtige Visagen. Aber da Pichets Neffe dieses Weingut als die Zentrale der Verschwörer preisgegeben hat, ist es wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis Polizei und Soldaten auftauchen werden. Und dann sollten wir fort sein...« Er musterte den General verständnislos, der anscheinend nichts von einer Flucht hielt. Es war, wie Yvonne gesagt hatte, er blieb stur und dickschädelig bis zum Schluss.

»Ich bleibe. Aber ich möchte, dass du mit Yvonne die Insel ver­lässt. Noch in dieser Stunde.« Jean-Jaques bemerkte, dass Victor ihm widersprechen wollte und mahnte ihn deshalb streng: »Auch wenn du deinen Uniformrock abgelegt hast, Junge, bleibst du doch im Herzen Soldat. Ich gebe dir den Befehl, mit Yvonne die Insel zu verlassen. Du bist mir für ihr Leben und Wohlergehen verantwortlich. Weiß Colum­bin, in welchem Verhältnis du zu uns stehst?«

»Nein, aber...« »Das ist gut. Es darf keine Spur von mir zu euch führen. Ich will

unter allen Umständen vermeiden, dass dieser Schweinehund meine Tochter in die Finger bekommt. Deshalb muss ich bleiben. Ich vertraue

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dir, Victor, aber, verzeih wenn ich so offen bin, wenn es darum geht, die Verhöre zu überstehen, vertraue ich nur mir selbst.«

»General, Sie dürfen sich nicht freiwillig in Columbins Hände be­geben«, mahnte Carnait eindringlich. »Sie sind für uns alle Vorbild und Symbol. Sie sind unsere Hoffnung auf ein freies Frankreich. Ohne Sie wird die Widerstandsbewegung verschwinden. Und das ist genau das, was Bonaparte will.«

Es zuckte leicht um Daladiers Mund, als er mit bitterer Stimme er­widerte: »In diesem Punkt muss ich ihm den Gefallen tun, seinen Wil­len zu erfüllen. Es ist leider der einzige Weg. Und nun müssen wir uns trennen, Victor.« Er reichte dem jungen Mann die Hand, die dieser zögernd nahm. »Ich vertraue dir das Leben meiner Tochter an, Junge. Bringe sie in Sicherheit, denn sie hat von all dem nichts gewusst und soll nicht unter dem zu leiden haben, war ihr Vater getan hat.«

Carnait wollte ein letztes Mal widersprechen, doch der Blick, mit dem der General ihn maß, verbot es ihm. Er nickte stumm, trat dann zurück und salutierte knapp. Ohne ein weiteres Wort verließ der junge Leutnant den Raum. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt, das Herz pochte schmerzhaft gegen die Rippen. Mit jeder Faser seines Körpers spürte er, dass er einen Fehler beging. Es war falsch, den General auf ›Cyprés‹ zurückzulassen. Victor ahnte, dass Yvonne ihm dies vielleicht niemals verzeihen würde. Er selbst konnte es sich ja nicht verzeihen. Doch Daladier hatte entschieden, er wollte es so. Und Victor meinte, es stehe ihm nicht zu, die Entscheidung des Generals zu unterlaufen. Er musste tun, worum dieser ihn gebeten hatte. Auch wenn es ihm vollkommen zuwider ging.

*

Yvonne hatte mit unruhigem Herzen auf den Ausgang dieses schick­salhaften Gesprächs gewartet. Unermüdlich war sie in der Küche auf und ab marschiert, während Mimi ihren Pflichten nachging. Die betag­te Köchin ahnte, dass sich Schlimmes über ihrer aller Köpfe zusam­menbraute. Doch sie schwieg, denn sie wusste dem Mädchen weder Rat noch Trost.

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»Oh, Mimi, was soll nur werden, wenn Victor Papa nicht umstim­men kann?«, brach es nach einer ganzen Weile voller Verzweiflung aus Yvonne heraus. »Er sagt, dass sie Papa verhaften werden. Ach, das ist alles wie ein böser Traum!«

»Sicher wird es nicht so schlimm werden«, versuchte die Alte un­geschickt, das Mädchen zu trösten. »Nie und nimmer werden sie es wagen, den General zu verhaften. Das kann ich mir einfach nicht vor­stellen!«

»Ich wünschte, du hättest recht«, murmelte Yvonne mit brüchiger Stimme. »Aber die Zeiten ändern sich. Heutzutage schneller als jemals zuvor, sagt Papa. Und wenn sie keinen Respekt mehr vor ihm haben, wenn...« Sie verstummte, als sich ein fester Schritt über den Gang der Küche näherte. Yvonne hätte ihn immer und überall wieder erkannt. Sie stand hoch aufgerichtet und wie erstarrt mitten im Raum, als Victor erschien. Seinem blassen, ernsten Gesicht glaubte sie bereits die schlechte Nachricht anzusehen. Und sie sollte sich nicht geirrt haben, denn er bat sie hastig: »Packen Sie, Yvonne, in wenigen Minuten müs­sen wir schon das Haus verlassen. Die Zeit drängt!«

»Und Papa?« Sie wartete auf eine Antwort, die nicht kam. Da ent­schied sie: »Dann bleibe ich auch! Ohne Papa werde ich nirgendwohin gehen. Bitte, sagen Sie ihm das, Victor!«

»Ich bitte Sie, dafür ist jetzt keine Zeit mehr. Die Geheimpolizei ist uns auf den Fersen. Wir müssen sofort...«

»Ich bleibe!« Sie verschränkte trotzig die Arme vor der Brust und blitzte den jungen Mann so entschlossen an, dass er kurz zögerte. »Und Sie können mich nicht zwingen, zu gehen.«

In diesem Moment geschahen gleichzeitig zwei Dinge: Weiter ent­fernt, aber deutlich hörbar, fielen Schüsse. Und der General erschien mit versteinerter Miene. Als er seine Tochter gewahrte, fuhr er Carnait an: »Wieso seid ihr noch hier? Hört ihr das? Es sind seifte Truppen, die hier einen Kleinkrieg gegen uns anfangen.« Er starrte Yvonne böse an. »Bist du nur störrisch oder auch dumm? Weißt du nicht, was ge­schieht, wenn Columbin dich in seine Hände bekommt? Willst du mir diese Schuld aufladen?«

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»Papa, bitte!« Yvonne griff nach den Händen des Vaters, doch er wehrte sie ab, herrschte sie an: »Verschwinde endlich! Victor hat sein Leben riskiert, um uns zu warnen. Willst du es ihm so schlecht dan­ken?«

Sie starrte ihn mit tränennassen Augen an, bemerkte kaum, wie der junge Leutnant sie an der Hand nahm und mit sich zog. Yvonne war wie gelähmt, der Schrecken, der so plötzlich und unerwartet über sie hereingebrochen war, machte es ihr unmöglich, zu reagieren. Sie setzte automatisch einen Schritt vor den anderen, immer wieder such­te ihr Blick den Vater, doch er war in seinem Arbeitszimmer ver­schwunden, ohne sich noch einmal umzusehen. Sie hatten das Haus durch die Hintertür verlassen. Erst als Yvonne den leichten Frühlingsre­gen spürte, der ihr Haar und ihre Haut netzte, kam sie wieder halb­wegs zu sich. Sie versuchte, ihre Hand aus der Victors zu ziehen, doch er hielt sie eisern fest.

»Lassen Sie mich los, ich will nicht fort!«, begehrte sie auf. Die Schüsse hatten sich bereits genähert, eine unheimliche Ruhe senkte sich zwischen den Salven über das Land, das ohne Vorwarnung von etwas Fremdem heimgesucht worden war. Nicht einmal mehr die Vö­gel zwitscherten in den Bäumen.

»Nehmen Sie endlich Vernunft an, Yvonne«, forderte Victor streng. Da sie sich ihm noch immer widersetzte, suchte er mit ihr De­ckung unter einer uralten, ausladenden Stileiche. Hier waren sie für den Moment in Sicherheit; zumindest solange, bis er Yvonne be­greiflich gemacht hatte, dass es hier um ihr Leben ging.

Er schaute ihr fest in die Augen, während er sie wissen ließ: »Ihr Vater hat mir Ihr Leben anvertraut. Wir müssen fliehen, es gibt nur diesen einen Weg. Wenn der Polizeichef von Paris uns erwischt, wer­den wir verurteilt und hingerichtet.« Er hatte mit Absicht so offen und brutal gesprochen.

Yvonne starrte ihn an, als halte sie ihn für wahnsinnig. »Und Pa­pa? Wird er denn...«

»Er hat beschlossen, sich zu stellen. Gott allein weiß, ob seine Entscheidung richtig ist. Eines aber ist gewiss: Er wollte Sie damit

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schützen, Yvonne. Und Sie dürfen ihm diesen Wunsch nicht versagen. Er könnte es nicht ertragen, Sie in der Hand des Feindes zu wissen.«

»Ich begreife das alles nicht«, nuschelte sie kleinlaut. »Wir sind doch alle Franzosen. Wie ist es da möglich...«

»Wir können jetzt nicht länger darüber sprechen. Sehen Sie, dort drüben rollen die ersten Mannschaftswagen an. Das Gut wird bald um­stellt sein. Und dann kann niemand mehr von hier entkommen. Ich beschwöre Sie, Yvonne, vertrauen Sie mir. So, wie Sie es früher getan haben. Ich habe Ihrem Vater geschworen, Sie zu beschützen. Aber das kann ich nur, wenn Sie nun mit mir kommen!«

Sie musterte ihn unsicher, voller Angst und Verzweiflung. Dann warf sie einen langen Blick zurück. Schließlich ging ein Ruck durch ihren schlanken Leib. Auch wenn es Yvonne schien, als reiße man ihr das Herz bei lebendigem Leibe heraus, sie musste dem Wunsch des Vaters entsprechen. Nur dann konnte sein Opfer einen Sinn haben. Sie ahnte, was es ihn kosten würde, ihr Leben bewahrt zu haben. Und sie konnte es weder akzeptieren noch gutheißen. Aber darüber wollte sie später nachdenken. Viel später...

*

Im letzten Moment gelang es Yvonne und Victor, ›Cyprés‹ zu verlas­sen. Im Hafen von Ajaccio warteten sie auf die Dunkelheit. Das Wetter schien mit ihren Plänen im Bunde, denn der Regen hatte sich ver­stärkt, die Abenddämmerung kam früh.

»Wir nehmen die letzte Fähre«, entschied Victor. »Wenn uns je­mand fragt, haben wir einen Besuch bei Verwandten gemacht. Kennen Sie eine Bauernfamilie in der Nähe, die für uns bürgen würde, auch wenn es nicht der Wahrheit entspricht?«

Yvonne gab ihm nicht gleich eine Antwort, ihr Gesicht drückte all den Schmerz und die Qual aus, die ihre Flucht ohne den geliebten Va­ter ihr bereiten musste.

»Yvonne, bitte, denken Sie nach!«, drängte er sie. »Ich, ja... die Familie Dubois. Sie leben etwa eine halbe Stunde

Wegs von ›Cyprés‹ entfernt. Alfonse Dubois ist meinem Vater zu Dank

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verpflichtet, weil er ihm einmal eine größere Summe geliehen hat, nach einer Missernte.«

»Dubois, also schön.« Victor nickte angedeutet. »Sprechen Sie auf der Fähre mit niemandem und sehen sie auch keinen anderen Passa­gier an. Möglich, dass Geheimpolizei patrouilliert, um uns aufzustö­bern. Haben Sie mich verstanden, Yvonne?«

Sie schaute ihn gequält an. »Was werden sie mit Papa machen? Bitte, Victor, sagen Sie mir...«

»Yvonne!« Er packte sie bei den Schultern und starrte sie zwin­gend an. »Bitte, versuchen Sie, das jetzt zu vergessen. Wenn wir auf­fallen, ist alles vorbei. Ich habe Ihnen versprochen, dass wir später über alles sprechen. Und das werden wir. Nur jetzt müssen Sie sich ganz normal benehmen, hören Sie?«

»Ich kann nicht«, jammerte sie. »Papa...« Victor bemerkte die Fähre, die sich dem Landungssteg näherte.

Einige Menschen standen im Regen und warteten. Der Hafen war nur spärlich mit vereinzelten Gaslaternen erhellt. Es schien ungefährlich und doch...

Er legte einen Arm um Yvonnes Schulter und suchte ihren Blick. »Halten Sie durch. Wenn wir auf dem Festland sind, werden wir uns in einem einfachen Gasthaus einmieten und den Morgen abwarten. Bitte, vertrauen Sie mir.«

Sie wollte ihm widersprechen, doch sie spürte, dass es keinen Sinn hatte. Victor war gezwungen, so zu handeln. Und im Grunde ihres Herzens vertraute sie ihm. Zu seiner grenzenlosen Erleichterung nickte sie angedeutet und ging dann neben ihm her zur Fähre. Es herrschte nicht viel Betrieb. Die wenigen Passagiere versammelten sich wegen des schlechten Wetters unter Deck. Der junge Carnait blickte aufmerk­sam in die müden Gesichter der einfachen Landleute. Er war bald si­cher, dass sich unter ihnen kein Geheimpolizist oder Agent verbarg. Doch er blieb aufmerksam und aufs äußerste angespannt. Erst als die Fähre im Hafen von Toulon anlegte, fiel ein wenig von seiner Erregung von ihm ab. Er nahm Yvonnes Hand und führte sie bedächtig über den Steg an Land. Einmal nur schaute sie zurück und er meinte trotz der

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Dunkelheit den Schmerz in ihren schönen Augen zu sehen. Dann folgte sie ihm ohne zu zögern, aber auch ohne ein Wort...

Victor suchte eine einfache Schänke in einer schmalen Gasse nahe dem Hafen aus, wo er ein Zimmer für sie mietete. Yvonne war zu Tode erschöpft, doch sie konnte keine Ruhe finden. Blass und stumm wan­derte sie in der kleinen Kammer auf und ab, bis der junge Mann sie bat, sich niederzulegen.

»Sie müssen sich ausruhen, Yvonne, ich bitte Sie... Wenn wir morgen Weiterreisen, werden Sie all Ihre Kraft brauchen.«

Sie schüttelte nur den Kopf, blieb vor dem schmalen Fenster ste­hen und starrte wortlos über die regennassen Dächer der anderen Häuser zum Hafen hinunter.

Irgendwo dort draußen lag Korsika. Und ›Cyprés‹. Yvonne konnte nicht verhindern, dass sich Tränen in ihren Augen sammelten. Sie be­merkte kaum, dass der junge Leutnant neben sie trat und sie be­gütigend bat: »Legen Sie sich ein wenig nieder, Yvonne. Sie werden sehen, wie wohl Ihnen das tun wird.«

»Wo wollen Sie schlafen?«, fragte sie automatisch, ohne den Blick vom Hafen zu wenden.

»Ich werde wachen. Es ist durchaus möglich, dass in der Nacht Polizei die Schenken durchsucht. Dann müssen wir fliehen...«

»Ach, Victor, ich begreife das alles nicht! Bis vor kurzem haben wir doch auf ›Cyprés‹ ein ganz normales Leben geführt. Wie ist es nur möglich, dass ich mich plötzlich wie eine Verbrecherin fühle, völlig entwurzelt, hoffnungslos...«

Er schwieg, denn er spürte, dass sie nur eines brauchte, um sich zu beruhigen: Zeit. Wenn er nun von dem sprach, was sie in die jetzi­ge Lage gebracht hatte, würde sie es nicht verstehen. Und vermutlich hätte er sie damit nur in noch größere Verzagtheit gestürzt.

Nach einer Weile wandte Yvonne den Blick und schaute Victor of­fen an. Er sah den Schmerz, die Verzweiflung in ihren klaren Augen. Und es tat ihm unendlich weh, ihr nicht helfen zu können. Außer ein paar nichts sagenden Trostworten hatte er ihr momentan nichts zu bieten. Ihr bisheriges Leben war zerstört. Und was die Zukunft bringen würde, konnte niemand sagen.

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»Sie haben mir versprochen, über das zu reden, was passiert ist«, erinnerte sie ihn hartnäckig. »Bitte, sagen Sie mir, wie es zu all dem kommen konnte. Ich will versuchen, einen Sinn in dem zu sehen, was hier geschieht.«

»Bitte, Yvonne, stellen Sie jetzt noch keine Fragen. Ruhen Sie sich aus, versuchen Sie, an nichts zu denken. Nur dann haben wir eine Chance, hier unbemerkt herauszukommen.«

»Aber, Victor...« Er drehte sich von ihr weg, griff nach seiner Jacke. »Ich muss

noch einmal fort. Bitte, verschließen Sie die Tür fest hinter mir. Ich werde nicht lange fortbleiben.«

»Nein, gehen Sie nicht, lassen Sie mich nicht allein!«, flehte das schöne Mädchen ängstlich.

Doch Carnait hatte etwas Bestimmtes im Sinn. Er wollte versu­chen, zu erfahren, was sich auf ›Cyprés‹ abgespielt hatte. Vielleicht hatte er Glück und traf auf einen geschwätzigen Landarbeiter, der ei­nem Pastis oder zweien nicht abgeneigt war. »Keine Angst, ich bin bald zurück«, versprach er noch einmal, dann ging er und ließ Yvonne allein. Das junge Mädchen ließ sich mit einem erstickten Seufzer aufs Bett sinken. Ganz isoliert fühlte Yvonne sich, von allen verlassen und zutiefst mutlos. Wenn Victor nur tatsächlich bald zu ihr zurückkehrte! An eine andere Möglichkeit wollte sie gar nicht erst denken...

Währenddessen hatte sich auf ›Cyprés‹ ein Drama eigener Art ab­gespielt. Nach dem Aufmarsch von Polizei und Soldaten war Richard Columbin höchstpersönlich erschienen, um General Daladier mit den ihm vorliegenden Beschuldigungen zu konfrontieren und eigenhändig festzunehmen.

Der General dachte nicht daran, Widerstand zu leisten. Er glaubte sich selbst im Recht und war nicht gewillt, sich von den herrschenden Mächten zum Kriminellen stempeln zu lassen. Allerdings fiel es ihm nicht leicht, Columbins anmaßender Art ruhig und gelassen zu begeg­nen.

»Sie sind ein Gefangener, um Ihre Lage einmal präzise in Worte zu fassen«, erinnerte der Polizeichef ihn abwertend. »Und als solcher haben Sie mir Rede und Antwort zu stehen. Nun, fügen Sie sich in Ihr

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Schicksal, Monsieur le General, oder muss ich zu anderen Mitteln grei­fen, um Sie zur Vernunft zu bringen.«

Daladier lächelte schmal. »Ich bin vernünftig, vernünftiger als ich jemals war. Und ich sehe keine Veranlassung, mich vor einem bel­lenden Köter zu fürchten.«

Es zuckte kurz um Columbins schmalen Mund, seine stechenden Augen schienen sein Gegenüber durchbohren zu wollen. Doch der Po­lizeichef hatte sich erstaunlich gut in der Gewalt. Ein tückisches Lä­cheln erschien sogleich auf seinem blassen Gesicht und er versicherte: »Sie werden noch bereuen, mir mit so viel Hochmut begegnet zu sein. Meine Männer sammeln zur Stund alle Verräter und sonstigen verab­scheuungswürdigen Subjekte ein, die an diesem neuerlichen Anschlag auf alles, was uns heilig ist, Anteil hatten. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Ihr ›erlauchter‹ Kreis sich wieder vollständig zusammenfindet. Und zwar in den Mauern der Bastille. Und es hat noch nie ein Mann gelebt, der diesen Ort unbeschadet an Leib und Seele wieder verlassen hätte. Sie werden reden, Daladier.« Er grinste wölfisch. »Und ich kann zuhören...«

Der General verzichtete auf eine Erwiderung, er musterte sein Ge­genüber nur abfällig.

Columbin schlug die Augen nieder und seufzte leise. Er fühlte sich hier in gewisser Weise unterlegen. In Paris würde das anders sein. Schließlich hatte er schon Könige und Prinzen mit seinen Verhörme­thoden gebrochen. Warum sollte es sich in diesem Fall anders verhal­ten? »Ich mache Ihnen ein letztes Angebot, mon General, um Ihnen zu beweisen, dass ich Sie als Person durchaus zu würdigen weiß. Ver­raten Sie mir den Namen des Kuriers, der Sie mit den nötigen Informa­tionen aus Paris versorgt hat. Und sagen Sie mir, wo Ihre Tochter sich aufhält. Dann will ich über eine bessere Unterbringung nachdenken als eine gewöhnliche Gefängniszelle. Es liegt bei Ihnen, sich das Leben auch jetzt noch ein wenig leichter zu machen...«

Daladier lächelte abfällig. Columbin glaubte, seine Antwort bereits zu kennen, noch ehe er sie aussprach. »Sie werden von mir nichts hören, ob Sie nun mit Zuckerbrot oder Peitsche hinter mir stehen, Co­lumbin. Ich habe Ihnen nichts zu sagen.«

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»Nun gut.« Er lächelte hinterhältig. »Es hätte mich, ehrlich gesagt, auch ein wenig enttäuscht. Unser Spiel beginnt ja gerade erst. Und ich möchte schon etwas davon haben...«

*

Sehr zeitig am nächsten Morgen weckte Victor Yvonne aus wirren Träumen. Sie musterte ihn zunächst erschrocken, dann empört. Im ersten Impuls wollte sie ihn fragen, was er in ihrem Schlafzimmer zu suchen hatte. Dann aber erinnerte sie sich an den vergangenen Tag. Mit all seinen Schrecken traf er sie und hatte eine nahezu nie­derschmetternde Wirkung auf das junge Mädchen. Es war also alles geschehen, sie hatte es nicht geträumt. Ein zittriger Seufzer entrang sich ihrer Brust und sie barg das Gesicht in den Händen in der naiven Hoffnung, der Wirklichkeit so entfliehen zu können. Sie wollte nicht hören, nichts sehen; das Leben, wie sie es gekannt hatte, war ihr ent­rissen worden und sie blieb zutiefst verängstigt und unsicher zurück.

Victor nahm ihre Hände behutsam in seine und mahnte sie: »Wir müssen aufbrechen. Ich habe zwei Billets nach Paris, der Zug fährt in einer halben Stunde.«

»Wie spät ist es?«, fragte Yvonne, während sie sich mühsam er­hob. Sie fühlte sich zerschlagen und ganz am Ende.

»Gleich halb sechs.« »Warum so früh? Sicher ist jetzt kaum Betrieb, wir fallen viel eher

auf«, gab sie zu bedenken, doch der junge Leutnant war anderer Mei­nung.

»Ich habe gestern Abend erfahren, dass Columbin auf Korsika ist. Gewiss wird er heute mit seinen Gefangenen nach Paris zurückkehren wollen. Und wir tun gut daran, ihm zuvor zu kommen.«

»Der Polizeichef?« Yvonne machte eine beklommene Miene. »Ist es üblich, dass er bei einer solchen Verhaftung dabei ist?«

»Kaum. Er verlässt Paris sonst nie. Sie sehen, dies ist kein ge­wöhnlicher Fall. Ihr Vater ist nicht nur für uns eine Symbolfigur. Co­lumbin will seinen Sieg über die Gegner Napoleons auskosten. Aber jetzt beeilen Sie sich bitte, damit wir den Zug noch erreichen...«

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Sie fuhren dritter Klasse, um nicht aufzufallen. Der Wagen mit den einfachen Holzbänken war beinahe überfüllt mit Arbeitern, Bauern, die zum Markt fuhren und zwielichtigen Gestalten, die Victor besonders im Auge behielt. Wie es schien, hatte Columbin seine Spitzel aber noch nicht überall verteilt. Doch sie mussten sehr vorsichtig sein, wollten sie nicht Gefahr laufen, durch Unachtsamkeit entdeckt und verhaftet zu werden.

Obwohl Carnait überzeugt war, dass der General seinen Namen niemals preisgeben würde, musste er doch damit rechnen, dass der Polizeichef über kurz oder lang erfahren würde, wer der Kurier aus Paris war. Columbin war berüchtigt für seine Verhörmethoden. Und auf ›Cyprés‹ hatten nicht nur die Daladiers gelebt...

»Wohin gehen wir in Paris?«, fragte Yvonne nach einer ganzen Weile und unterbrach so den Fluss von Victors wenig erklecklichen Gedanken. Er gab ihr nicht gleich eine Antwort, denn ihm wurde nun klar, dass er selbst noch nicht wirklich darüber nachgedacht hatte. Seine überstürzte Abreise, die heimliche Flucht aus der Kaserne, all das hatte ihm keine Möglichkeit gelassen, Vorkehrungen für die Zu­kunft zu treffen.

»Wir halten uns in den einfachen Vierteln auf und bleiben mög­lichst unauffällig. Ich werde versuchen, Ausreisepapiere zu besorgen, damit wir Frankreich verlassen können.«

»Frankreich verlassen?«, wiederholte Yvonne erschrocken. »Aber das kann ich nicht. Es war schlimm genug, Papa auf ›Cyprés‹ allein zu lassen. Ich werde unter gar keinen Umständen fortgehen, ohne zu wissen, wie es ihm geht, oder zu versuchen, ihm zu helfen.« Sie wirkte nun sehr entschlossen. »Versuchen Sie erst gar nicht, mir das auszu­reden, Victor. Sie können nicht von mir verlangen, dass ich Papa noch einmal im Stich lasse.«

»Das verlange ich ja gar nicht«, kam es unwillig von ihm. »Der General hat so entschieden. Und ich habe mich, ebenso wie Sie, in seinen Entschluss zu fügen.«

»Das will ich aber nicht.« Sie wirkte so trotzig wie ein unver­nünftiges Kind. »Es wäre Wahnsinn, Papa einfach seinem Schicksal zu

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überlassen. Ich dachte, es gäbe außer Ihnen noch andere Männer, denen Frankreich am Herzen liegt. Das können Sie ja nun beweisen.«

Carnait bedachte das junge Mädchen mit einem warnenden Blick. »Sie sollten lieber schweigen. Oder wollen Sie mit Gewalt auffallen?«

»Na und? Es ist mir egal!« Sie wollte aufspringen, doch er hielt sie fest und forderte streng: »Nehmen Sie sich auf der Stelle zusammen, Yvonne. Oder ich bin gezwungen, Sie zur Vernunft zu bringen. Egal, mit welchen Mitteln.«

Sie starrte ihn fassungslos an. »Sie drohen mir? Was bilden Sie sich eigentlich ein, Sie...«

Victor packte ihre Hand und zerrte sie nach draußen. Auf der Plattform zwischen den Abteilen der dritten und zweiten Klasse herrschte er sie an: »Werden Sie endlich erwachsen, Yvonne! Dies hier ist kein Spiel und keine Marotte von mir. Es geht um unser beider Le­ben. Hätte Ihr Vater Sie nicht rechtzeitig fortgeschickt, würden Sie jetzt als Gefangene in Columbins Transport reisen. Und zwar in die Bastille. Vielleicht haben Sie schon mal davon gehört, wie die Attentä­ter dort behandelt werden. Und das gilt ebenso für ihre Familien. Sip­penhaft nennt man das!«

»Sie... lügen! Columbin hätte mir nichts getan. Ich weiß ja von nichts! Papa hat mich nur weggeschickt, weil er Angst um mich hatte. Und das war falsch.«

Der junge Mann betrachtete sein Gegenüber mit einem schwer zu verstehenden Ausdruck in den tiefblauen Augen. In diesem Moment fragte er sich, ob es ihm wohl jemals gelingen würde, Yvonne die Wahrheit so plastisch vor Augen zu führen, dass sie endlich begriff, in welcher Lage sie sich befanden. Momentan sah es jedenfalls nicht da­nach aus. Da hätte er sogar mit Engelszungen reden können, ohne je etwas zu erreichen...

»Also, was schlagen Sie vor? Sollen wir uns der Polizei stellen?«, fragte er ironisch.

Ihr hübsches Gesicht verschloss sich, kühl erwiderte sie: »Ich bin nicht so naiv und dumm, wie Sie vielleicht glauben. Natürlich können wir uns nicht stellen. Wie sollen wir denn dann noch etwas für Papa tun? Aber Sie kennen doch viele Menschen in Paris, die auf unserer

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Seite stehen. Sicher können die uns helfen. Gemeinsam befreien wir Papa und...«

Victor wandte sich ab, sie griff nach seinem Arm, wollte wissen: »Was ist Ihnen? Sind Sie zu feige, um einen solchen Plan durchzu­führen? Ach, ich wünschte, ich wäre ein Mann, dann würde ich die Dinge selbst in die Hand nehmen und...«

»Seien Sie endlich still, Yvonne. Sie wissen ja nicht, was Sie re­den. Es grenzt an ein Wunder, dass wir unbehelligt so weit gekommen sind. Sie haben keine Ahnung, wie die Stimmung in Paris ist. Man darf niemandem trauen, muss ständig damit rechnen, es mit einem Spion zu tun zu haben.«

»Dann... gibt es niemanden, der uns helfen wird?« »Wir dürfen keine Hilfe annehmen. Wäre ich allein, würde ich das

anders sehen. Aber die Gefahr ist einfach zu groß, dass wir zusammen auffliegen, ich Ihnen nicht mehr helfen kann.«

Yvonne blickte eine Weile schweigend auf die liebliche Landschaft des Rhônetales, schließlich erklärte sie bedrückt: »Es tut mir leid, dass ich Ihnen so viel Kummer bereite, Victor. Ich weiß, Sie sind immer mein bester Freund gewesen. Doch es ist nicht richtig, was Sie nun für mich wagen. Ich... schäme mich und fühle mich ganz dumm.«

»Dazu besteht kein Grund«, versicherte er begütigend und drück­te leicht ihre Hand. »Ich bin hier, weil ich schon früher etwas wagen wollte. Die Carnaits finden sich nur schwer mit einer Ungerechtigkeit ab. Was ich Ihrem Vater in die Hand versprochen habe, war ganz selbstverständlich für mich.«

»Aber Sie sind doch Soldat. Haben Sie nicht geschworen, Napole­on treu zu dienen? Wie können Sie mit dieser Lüge leben?«

»Mein Vater war wie der Ihre ein Vorkämpfer der Revolution. Auch er musste miterleben, wie aus einer gerechten Idee Egoismus und Größenwahn erwuchsen. Trotzdem wäre es ihm nie in den Sinn ge­kommen, sich gegen den Ersten Konsul zu stellen. Er blieb dem treu, was gewesen ist, ohne zu begreifen, wie die Dinge sich verändert hat­ten. Obwohl er unpolitisch war, klagte man ihn der Verschwörung an und verurteilte ihn. Er blieb Napoleon treu bis in den Tod. Ein sinnloser Tod, der alles, wofür mein Vater gelebt hat, ad absurdum führte.«

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»Deshalb wollen Sie die Dinge ändern. Aus Rache?« »Am Anfang war es das vielleicht. Ich wollte dem Mann, der mei­

nen Vater auf dem Gewissen hatte, so viel Schaden wie möglich zufü­gen. Aber als ich Ihren Vater näher kennen lernte, begriff ich, dass er Recht hatte; in jeder Hinsicht. Ich wurde zum überzeugten Demokra­ten und damit zugleich zum Revolutionär...«

Yvonne hatte ihm aufmerksam zugehört, nun warf sie zögernd ein: »Ich glaube, ich verstehe Sie, Victor. Doch was können wir nun noch ausrichten? Alle Anschläge sind missglückt. Die meisten Männer rechter Gesinnung sind verhaftet oder tot. Hat es überhaupt noch ei­nen Sinn, an die Demokratie zu glauben?«

»Das hat immer einen Sinn«, versicherte er ihr ernsthaft. »Frei­heit, Brüderlichkeit, Gleichheit. Die Grundsätze der Revolution werden sich auf Dauer durchsetzen. Es ist ganz undenkbar, dass wir, nachdem wir so weit gekommen sind, wieder ins Mittelalter zurückfallen. Ich verbiete mir selbst, daran auch nur zu denken. Napoleon kann Frank­reich nicht zerstören. Doch es liegt an uns, den Schaden, den er an­richten wird, in Grenzen zu halten. Dafür haben wir alle gekämpft, auch Ihr Vater, Yvonne.«

Sie wischte sich flüchtig über die Augen. »Ich wünschte, ich könn­te jetzt bei ihm sein. Ich fühle mich so feig, weil ich fortgelaufen bin, statt ihm beizustehen. Auch wenn er es so wollte. Ach, Victor, wenn wir ihm nur helfen könnten...«

»Sie sprechen mir aus der Seele, Yvonne. Doch momentan kön­nen wir nichts tun.« Er nahm ihre Hand sanft in seine. »Vertrauen Sie mir, ich will Sie beschützen, so gut ich kann. Und wenn es auch nur die geringste Möglichkeit gibt, dem General zu helfen, werde ich sie ergreifen...«

*

Victor Carnait wusste, dass seine Worte nur Wunschdenken waren. Er hatte Yvonne beruhigen, aber auch sein eigenes Gewissen zum Schweigen bringen wollen. Denn er fühlte sich selbst wie ein Feigling. Statt bei den Männern zu sein, deren Kampf auch der Seine gewesen

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war, befand er sich auf der Flucht, entwurzelt, heimatlos. Wie ein Schatten, den einzig der Wille zu überleben Umtrieb. Er schob solche Gedanken beiseite, so gut es ging, doch in der Nacht, wenn er ruhelos auf die Stille lauschte, die ihn umgab, kehrten sie unbarmherzig zu­rück.

Am Tage aber musste er Yvonne Halt und Zuversicht vermitteln. Und das tat er nach Kräften. Sie hatten Paris am frühen Vormittag erreicht und sich in einer winzigen Schenke nahe dem Bois de Bou­logne eingemietet. Das schmale, hohe Haus war baufällig, der Wirt ein schmieriger, fetter Kerl mit einem verschlagenen Blick. Yvonne hatte aufgeatmet, als sie die Tür der winzigen Kammer hinter sich schließen konnte. Die Angst um den geliebten Vater war der viel greifbareren Furcht vor Spitzeln und Geheimpolizei gewichen und ließ sie kaum noch zur Ruhe kommen. Sie warf einen langen Blick aus dem Fenster und meinte, überall verdächtige Personen herumschleichen zu sehen. Victor hatte sie eine Weile allein gelassen. Und als er schließlich zu­rückkehrte, war seine Miene sehr ernst und verschlossen. Yvonne ahn­te nichts Gutes.

»Was ist geschehen? Bitte, Victor, sagen Sie mir die Wahrheit«, bat sie eindringlich.

Er zögerte. Die Nachrichten, die die Gazetten beherrschten, waren bedrückend. Und sein Treffen mit einem Mittelsmann, der ihnen zur Ausreise hatte verhelfen sollen, war beinahe zum Desaster geworden. Im letzten Moment hatte der junge Leutnant einer Verhaftung entge­hen können. Wie es schien, zog die Schlinge sich enger um sie zu­sammen, ohne dass er etwas dagegen hätte tun können. Zudem wur­de er den Eindruck nicht los, verfolgt zu werden.

»Victor, hören Sie nicht?« Yvonne suchte seinen Blick. »So spre­chen Sie doch! Was war draußen los?«

»Ich...« Er verstummte, als zaghaft an ihre Zimmertür geklopft wurde. Sie tauschten einen fragenden Blick, Carnait legte einen Finger auf die Lippen und trat vorsichtig neben die Tür. Er wartete ein paar Sekunden. Als das Klopfen sich wiederholte, riss er die Tür mit einem Rück auf.

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Die Person, die davor gestanden hatte, erschrak fast zu Tode. Sie wurde kreidebleich, wich stolpernd einen Schritt nach hinten und wäre gefallen, hätte der junge Mann sie nicht im letzten Moment zu fassen gekriegt.

Yvonne riss ungläubig die Augen auf. »Mimi? Bist du das wirklich? Aber das ist ganz unmöglich...«

Die alte Köchin hatte Tränen in den Augen, als sie das Mädchen umarmte. Victor schob die beiden ins Zimmer und schloss die Tür, um Aufsehen zu vermeiden. Eine Weile lagen Mimi und Yvonne sich wei­nend in den Armen.

Dann wischte die alte Frau sich verschämt über die Augen und murmelte: »Ich danke dem Herrgott, dass es dir gut geht, mein Kind. Mein Lebtag hätte ich nicht mehr damit gerechnet, dich wieder zu se­hen.«

»Aber wie kommst du hierher? Bitte, erzähle!«, forderte Yvonne ungeduldig und zog Mimi auf einen Stuhl, sie selbst nahm zu ihren Füßen Platz und betrachtete die gute Alte so andächtig wie eine Er­scheinung aus einer anderen Welt.

Die Köchin musste erst ihre Gedanken ordnen. Sie atmete tief und fing an zu berichten: »Nachdem du fort warst, ist es ganz schlimm geworden auf ›Cyprés‹. Soldaten kamen, Polizisten und ein Mann, der mir nicht ganz geheuer war. Er hat den General mitgenommen. Und wir anderen mussten auch alle das Gut verlassen. Keine Seele ist dort geblieben. Nicht einmal mein Herdfeuer konnte ich löschen. Gebe Gott, dass ›Cyprés‹ nichts geschieht, es ist doch unser aller Zuhause.«

Victor bedachte Yvonne mit einem kurzen Blick und sah die Weh­mut in ihren Augen.

»Wohin wurdet ihr gebracht?«, forschte das Mädchen weiter. »Nach Paris, in ein Gefängnis. Aber es war nicht die Bastille, die

kenne ich von einem Ausflug hierher.« Mimi seufzte bekümmert. »Den General habe ich nicht mehr gesehen. Es heißt, er sitzt in der Bastille und wird streng verhört. Keine Angst, mein Kind, deinem Vater wird nichts geschehen. Er hat sich nie im Leben etwas zuschulden kommen lassen. Sie werden ihn freilassen müssen, davon bin ich fest über­zeugt!«

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»Wie hast du uns gefunden, Mimi?« »Nun, wir waren nicht lange dort in dem Gefängnis. Man hat uns

gedroht, uns eingeschüchtert. Und man sagte uns, dass wir nie wieder nach ›Cyprés‹ zurückkehren dürfen. Dann waren wir frei... Ich lief eine Weile durch die Straßen, denn ich wusste ja nicht, wohin. Plötzlich sah ich den Leutnant Carnait. Ich dachte erst, ich hätte mich getäuscht. Aber ich bin ihm einfach nachgelaufen. Ach, ich glaube, der Himmel hat meinen Schritt gelenkt!«

»Ja, das kommt mir auch so vor«, murmelte Yvonne mit dünner Stimme. »Und Papa? Wie wird es ihm ergehen...« Sie schaute Victor fragend an, dieser schwieg aber mit verschlossener Miene.

»Kann ich denn bei dir bleiben, mein Kind? Zumindest fürs erste? Ich weiß ja nicht, wohin. Mein ganzes Leben habe ich deiner Familie gedient. Und nun bin ich ganz entwurzelt, heimatlos.« Sie schluchzte leise, der Leutnant griff in sein Wams und förderte einen Geldschein hervor. Yvonne wusste, was das bedeutete, doch sie wollte es nicht hinnehmen. Mimi erschien ihr wie ein altvertrautes Stück Heimat in der Fremde, bedroht von tausend Gefahren. Sie wollte und konnte sich nicht so schnell wieder von der guten Alten trennen.

Deshalb sagte sie nun rasch: »Natürlich bleibst du hier, fürs erste jedenfalls. Ich werde mich um dich kümmern.«

»Yvonne...« Carnait schüttelte angedeutet den Kopf. »Sie wissen doch, dass wir nicht mehr lange hier bleiben können.«

Mimi senkte den Blick. »Ich werde gehen, wenn ich dir zur Last falle, mein Kind. Das wollte ich nicht. Und vielleicht ist es auch besser so. Du bist in Gefahr, das musst du wissen!« Sie sprach nun sehr ein­dringlich. »Der Polizeichef hat uns allen eingeschärft, dich sofort zu melden, wenn wir dich sehen. Und du weißt, dass nicht jeder, der auf ›Cyprés‹ gearbeitet hat, treu zu der Familie Daladier steht. Ich... wer­de gleich gehen.« Sie schüttelte den Kopf, als Victor ihr das Geld ge­ben wollte. »Nein, das nehme ich nicht. Sie werden es selbst brau­chen, Monsieur. Ich wünsche euch beiden von Herzen Glück. Möge der liebe Herrgott euch behüten!« Sie drückte Yvonne kurz an sich und verließ dann rasch das Zimmer.

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Das junge Mädchen stand eine Weile wie erstarrt, dann sagte sie vorwurfsvoll: »Wir hätten sie nicht gehen lassen dürfen, das war falsch. Sie hat doch keinen Menschen und weiß nicht, wohin. Was hät­te es schon geschadet...«

»Yvonne, ich fürchte, Sie sind sich des Ernstes unserer Lage noch immer nicht voll bewusst«, hielt Victor ihr streng entgegen. »Wir müs­sen sofort umziehen, unsere Spur verwischen.«

»Aber Mimi würde nie...« »Glauben Sie im Ernst, sie kann schweigen, wenn Columbin sie ins

Verhör nimmt? Unter seinen Methoden sind die tapfersten Männer zusammengebrochen. Und selbst wenn Mimi uns nicht verrät, wäre es möglich, dass hinter jedem Angestellten des Gutes ein Spion her ist. Wir dürfen keine Zeit verlieren...«

»Wie war Ihr Treffen mit dem Mittelsmann? Werden wir die Pässe bekommen?«, fragte sie unsicher.

Der junge Leutnant tat unbeteiligt. »Bald«, log er, denn er ahnte, dass Yvonne nicht noch eine schlechte Nachricht verkraften konnte. Wie es allerdings weitergehen sollte, wusste er nicht.

*

Eine Woche verging, während der Carnait nichts erreichte. Er versuch­te es über alle nur möglichen Wege, doch überall traf er nur auf Hin­dernisse und Sackgassen. Die Situation wurde immer bedrückender. Mittlerweile waren sie in ein noch schäbigeres Wirtshaus direkt an der Seine umgezogen. Finstere Gestalten lungerten auf dem Gang, Yvonne traute sich überhaupt nicht mehr, das Zimmer zu verlassen. Jedes Mal, wenn Victor sie allein ließ, stand sie Todesängste aus.

Währenddessen sammelte Richard Columbin eifrig Aussagen und Beweise, um den Strick, der bereits sinnbildlich um den Hals des Gene­rals lag, immer enger zu ziehen. Victor bemühte sich, die Schlagzeilen der Gazetten vor Yvonne zu verheimlichen. Doch es gelang ihm nicht immer. Und er spürte, wie sehr sie litt...

Beinahe zehn Tage waren nun vergangen, seit die beiden Flüch­tenden nach Paris gekommen waren, als das Blatt sich endlich zu

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wenden schien. Der junge Leutnant traf durch Zufall einen Kameraden wieder, den er bislang eher flüchtig gekannt hatte.

Leutnant Robert deVille ging unbefangen auf ihn zu, benahm sich, als sei nichts vorgefallen und bot Carnait an, ein Stück Wegs mit ihm zu gehen. Dieser nahm nur zögernd an. Als sie im Bois de Boulogne außer Reichweite anderer Spaziergänger waren, erklärte deVille direkt: »Du hattest großes Glück, dass du ausgerechnet mir über den Weg gelaufen bist, Victor. Der Rest der Meute ist scharf darauf, dich vor dem Ehrengericht zu sehen. Und du weißt ja, wie das gewöhnlich en­det...«

»Demnach siehst du die Dinge anders«, schloss der junge Mann. DeVille lächelte. »Du trägst Zivil, das heißt, deine Angelegenheiten

gehen mich nichts mehr an. Was geschehen ist, war deine Ent­scheidung. Wie ich dazu stehe, ist unwichtig. Aber ich habe in dir im­mer einen Ehrenmann gesehen, Carnait. Deshalb meine Frage: Brauchst du Hilfe?«

Er wusste nicht recht, ob er dem anderen vertrauen konnte. DeVil­le hatte sich nie sonderlich hervorgetan. Victor konnte ihn nicht ein­schätzen. Doch er meinte, ein vertretbares Risiko einzugehen, wenn er die Hand ergriff, die sich ihm da helfend entgegenstreckte. Ob wirklich oder vermeintlich, würde sich zeigen.

»Ich möchte Paris verlassen«, ließ er vage anklingen. »Gibt es momentan einen unauffälligen Weg hinaus?«

»Nur Paris oder Frankreich überhaupt?« Victor zögerte mit einer Antwort, was dem anderen bereits alles

sagte. »Du brauchst natürlich Reisepapiere. Hast du deine Legitimation mitgenommen, als du die Kaserne verlassen hast?«

»Ja, alle wichtigen Papiere habe ich bei mir. Nur werden sie mir nichts nützen, wenn ich versuche, die Grenze zu überqueren. Mein Name steht natürlich auf der Fahndungsliste.«

»Natürlich.« DeVille grübelte eine Weile schweigend. Schließlich erklärte er: »Ich habe da vielleicht eine Idee. Mein Bruder besitzt am Montmartre ein kleines Hotel. Er kennt alle möglichen Leute und wäre vielleicht in der Lage, dich mit einem entsprechenden Mittelsmann in Kontakt zu bringen. Was meinst du?«

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»Wenn du das für mich tun willst, Robert, wäre ich dir natürlich sehr dankbar. Nur...«

»Du vertraust mir nicht.« Er lächelte schmal. »Würde ich in deiner Lage vermutlich auch nicht tun. Pass auf, wir machen es fol­gendermaßen: Wir treffen uns morgen zur gleichen Zeit hier. Dann kann ich dir vielleicht schon mehr sagen. Einverstanden?«

Carnait drückte dem ehemaligen Kameraden die Hand. »Ich danke dir, ganz egal, ob du etwas erreichen wirst oder nicht. Nicht jeder hät­te in dieser Situation so großmütig reagiert.«

Davon wollte Robert deVille allerdings nichts hören. Er winkte nur ab und riet Victor: »Pass auf dich auf. Wir sehen uns.«

Auf dem Rückweg zum Gasthof überlegte der junge Leutnant, ob er Yvonne von der Begegnung erzählen sollte. Noch war es ganz un­gewiss, ob dabei überhaupt etwas herauskam. Vielleicht war deVille nur ein Schwätzer, der sich wichtig tun wollte. Oder aber er würde ihn morgen in eine Falle führen, die mit seiner Verhaftung endete. Dass der Leutnant ihm ehrlich helfen wollte, erschien eher unwahrschein­lich. Trotzdem blieb Victor nichts weiter, als diesen Strohhalm zu er­greifen, egal, wie es ausging. Den Luxus, einfach abzuwarten, konnte er sich nicht leisten...

Yvonne erwartete ihn bereits ungeduldig. Sie sah seiner Miene an, dass etwas geschehen war und fragte sofort danach.

Nur zögernd berichtete er von der Begegnung im Bois de Bou­logne. Das junge Mädchen war weniger skeptisch.

»Vielleicht sympathisiert er ja heimlich mit unseren Zielen«, mein­te sie optimistisch und bezog sich dabei ganz selbstverständlich mit ein. »Und will uns deshalb helfen.«

»Es könnte genauso gut eine Falle sein«, gab Victor zu bedenken. »Wir dürfen niemandem trauen.«

»Dann werden Sie nicht hingehen?« »Doch, ich muss. Vielleicht ist es unsere einzige Chance, an Reise­

papiere zu kommen. Ich werde sehr vorsichtig sein.« »Soll ich Sie nicht begleiten?« »Auf keinen Fall. Wenn ich verhaftet werden sollte, darf keine

Spur zu Ihnen führen, Yvonne.«

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»Aber Victor...« »Es geht nicht anders. Bitte, seien Sie vernünftig!« »Victor, das hat doch keinen Sinn!« Yvonne legte eine Hand auf

seinen Arm und schaute ihn beschwörend an. »Was soll allein aus mir werden? Haben Sie vergessen, was mein Vater sagte?«

»Ich tue alles, um Ihr Leben zu schützen. Aber ich muss dieses Ri­siko eingehen«, entgegnete er ernsthaft und nahm ihre beiden Hände in seine. »Sie müssen mir vertrauen. Ich glaube, es gibt nur diesen einen Weg. Wenn ich Glück habe, werde ich Reisepapiere erhalten. Dann können wir Frankreich verlassen, in die Schweiz gehen. Dort sind wir fürs erste sicher.«

Sie schaute ihn schweigend an, er bemerkte die Furcht in ihren Augen, aber auch die stille Zuneigung, die wie ein warmes Licht in ihrem Blick brannte. Wie gern hätte Victor Yvonne da in seine Arme genommen und zu ihr von seiner Liebe gesprochen. Doch er durfte es nicht. Keiner konnte sagen, ob sie morgen noch zusammen waren. Und wenn er verhaftet wurde...

»Also gut, machen wir es so«, erwiderte sie endlich mit dünner Stimme und wandte sich dann ab. Ganz seltsam war es Yvonne ums Herz und es war nicht nur die Angst vor der Zukunft, die sie be­herrschte...

Wie verabredet erschien Robert deVille am nächsten Tag am Treffpunkt. Victor beobachtete ihn zunächst eine Weile aus einem Ver­steck heraus, um sicher zu gehen, dass er allein war. Als er sich davon überzeugt hatte, trat er auf den ehemaligen Kameraden zu und be­grüßte ihn per Handschlag.

»Ich habe mit meinem Bruder gesprochen«, erklärte er knapp. »Und er ist in der Lage, das Nötige zu vermitteln. Allerdings verlangt der ›Lieferant‹ eine recht erkleckliche Summe dafür.« Er nannte den Preis, der Carnait nicht überraschte. Es war keine Seltenheit, dass zwielichtige Profiteure aus der Notlage anderer Kapital schlugen.

»Ich kann das Geld beschaffen. Wie lange wird es dauern?« »Zwei Tage. Reisepapiere und eine neue Identität.« »Das ist akzeptabel. Es gibt nur noch etwas, das zu berücksichti­

gen wäre: Ich möchte als verheirateter Mann reisen.«

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DeVille zeigte sich erstaunt. »Ich sehe, du hast mehr als ein Ge­heimnis, alter Junge. Doch das sollte kein Problem sein. Ich werde nachher gleich mit meinem Bruder reden.«

»Robert, ich... hätte noch eine Frage.« Carnait musterte sein Ge­genüber nachdenklich. »Warum tust du das alles? Du begibst dich selbst in Gefahr, das ist dir doch wohl bewusst...«

»Du traust mir nicht.« DeVille lächelte schmal. »Wäre ich in deiner Lage, würde ich vielleicht ebenso reagieren. Aber ich kann dir deine Frage nicht beantworten. Vielleicht möchte ich einfach einmal im Le­ben das Richtige tun, nicht nur Befehle geben und empfangen. Ver­stehst du?«

»Ich denke schon. Auf jeden Fall danke ich dir.« Er drückte dem Leutnant zum Abschied die Hand.

Dieser übergab ihm einen Zettel mit der Nummer eines Postfa­ches. »Die Papiere werden dir dorthin zugestellt. Das Geld solltest du bis morgen da deponieren. Ich denke, damit ist alles geklärt, nicht wahr?«

Carnait nickte, er betrachtete den Zettel einen Moment lang nach­denklich, dann stellte er fest: »Ich stehe in deiner Schuld, Robert. Viel­leicht werde ich mich irgendwann dafür revanchieren können.«

»Schon gut. Viel Glück.« Ohne sich noch einmal umzusehen, ging der Leutnant davon, Victor Carnait tat es ihm gleich. Nun hieß es, ab­warten. Noch zwei Tage, dann waren sie vielleicht frei.

*

Yvonne überstand die Wartezeit erstaunlich gelassen, während Victor immer ungeduldiger wurde. Er schien überzeugt, dass sie am Ende doch noch in eine Falle tappen würden. Doch das junge Mädchen glaubte es besser zu wissen.

»Hätte Ihr Freund uns verraten wollen, wäre dies längst gesche­hen«, meinte sie sachlich. »Er wollte uns tatsächlich nur helfen, wie er gesagt hat. Sie werden sehen, Victor, ich behalte Recht. Morgen holen Sie die Reisepapiere. Und dann können wir Frankreich verlassen.« Die­

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se letzten Worte hatte sie allerdings nur leise und zögernd ausgespro­chen. Carnait ahnte den Grund.

»Wir können nichts für den General tun«, fasste er in Worte, was sie so sehr belastete. »Aber wenn wir in der Schweiz entsprechende Kontakte knüpfen, könnte es uns eher gelingen.«

»Ich wünschte, Sie hätten recht«, murmelte sie bekümmert. »A­ber die Schlagzeilen sind grausam. Ganz Frankreich scheint in meinem Vater einen Verbrecher zu sehen. Er hat es nicht verdient, öffentlich gedemütigt zu werden.«

»Sie dürfen sich nicht darum kümmern, was die Gazetten schrei­ben, Yvonne«, riet er ihr nachdrücklich. »Diese Schmierereien haben doch nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Der Name Daladier wird in Frankreich immer einen guten Klang haben, dessen bin ich mir sicher.«

Sie bedachte ihn mit einem dankbaren Blick, murmelte: »Wenn wir nur nicht fort müssten. Es fällt mir trotz allem schwer, mein Hei­matland zu verlassen. Und ich glaube, dass es Ihnen nicht anders er­geht, nicht wahr?«

»Gewiss. Was ich getan habe, geschah für Frankreich. Aber uns bleibt momentan leider keine andere Wahl als das Exil...«

Sehr zeitig am nächsten Morgen machte Victor Carnait sich auf den Weg zum Hauptpostamt. Er wollte da sein, wenn die Pforten sich öffneten, denn dann war meist sehr viel Betrieb. So hoffte der junge Mann, nicht aufzufallen.

Ob die Papiere deponiert worden waren, diese Frage hatte ihn be­reits die gesamte letzte, schlaflose Nacht beschäftigt. Doch dies war ja nur der erste Schritt zu ihrer endgültigen Flucht. Waren sie gut genug gemacht, um an der Grenze nicht aufzufallen? Und vor allem: Würden sie für die Einreise in die Schweiz taugen? Victor betrat die Hauptpost mit pochendem Herzen. Überall waren Menschen, hinter den eben geöffneten Schaltern bildeten sich sofort Schlangen. Der junge Leut­nant näherte sich so unauffällig wie möglich den Postfächern, die an einer Wand gegenüber den Schaltern angebracht waren. Er war ange­spannt bis ins Letzte, rechnete ständig damit, dass sich ihm eine Hand auf die Schulter legte und sich deVilles vermeintliche Hilfe doch noch als Falle entpuppte.

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Doch nichts dergleichen geschah. Victors Hand zitterte leicht, als er den Schlüssel ins Schloss steckte und ihn drehte. Die schmale Tür schwang auf - und ein verschlossener Umschlag kam zum Vorschein. Ohne ihn näher zu betrachten, ließ der junge Mann ihn in die Innenta­sche seiner Jacke gleiten und wandte sich zum Gehen. Er meinte, aus dem Augenwinkel heraus, eine Person wahrzunehmen, die zu ihm her­überstarrte. Aber als er den Blick wandte, fiel ihm nichts Verdächtiges auf. Rasch verließ er das Postgebäude und kehrte über einige Umwege zum Gasthof zurück, wo Yvonne ihn bereits mit fieberhafter Unruhe erwartete.

Als er das kleine, schäbige Zimmer betrat, atmete sie hörbar auf. Sofort forschte sie in seiner Miene, doch er erklärte: »Ich habe etwas aus dem Postfach geholt. Wir müssen erst sehen, ob es das ist, worauf wir gewartet haben.«

»Wo ist es?« Sie biss sich auf die Lippen. »Oh, Victor, wenn nur alles gut geht...«

Trotz allem musste er ein wenig schmunzeln, denn ihre Reaktion berührte sein Herz, war sie doch von beinahe kindlicher Aufregung geprägt. Er öffnete geschickt den Umschlag und förderte ein Reise­dokument zutage, das täuschend echt aussah. Der Lieferant hatte sich sein Geld verdient, denn dies hier war eine brillante Fälschung, vom Original kaum zu unterscheiden.

»Monsieur Guy Deneuve und seine Gattin Susanne«, las er lang­sam vor. »Merken Sie sich die Namen gut, Yvonne. Von nun an dürfen wir nur noch sie benutzen, um uns nicht zu verraten.«

»Ja, Guy«, erwiderte sie mit einem angedeuteten Lächeln. »Und wir müssen uns duzen. Sonst nimmt uns keiner das Ehepaar ab.«

Er musste trotz allem lachen, wurde aber gleich wieder ernst. »Ich wünschte, ich könnte dir das alles ersparen. Aber wenn wir in Sicher­heit sind, dann...«

Sie schüttelte den Kopf, senkte den Blick. »Bitte, keine Verspre­chen, keine Pläne. Noch sind wir in Paris. Und allein der Himmel weiß, ob wir es jemals unbeschadet verlassen können...«

Am nächsten Morgen machten Yvonne und Victor sich auf die ge­fahrvolle Reise mit Ungewissem Ausgang. Noch einmal sah das junge

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Mädchen überall in den Straßen die Spottschriften auf seinen Vater, las die gemeinen Lügen und Diffamierungen, die einen großen Patrioten diskreditieren sollten. Sie schlug die Augen nieder, wollte nichts mehr sehen und hören. Als sie die Stadtgrenze hinter sich ließen, hatte Y­vonne das Gefühl, ihr Herz müsse brechen. Victor schien zu spüren, wie sie fühlte, denn er nahm wortlos ihre Hand und hielt sie ganz fest. Trost lag in dieser Berührung, wenn sie auch den Schmerz und die Trauer, die Yvonnes Herz beherrschten, nicht ganz fortnehmen konn­te.

Der junge Leutnant hatte die Fluchtroute minutiös ausgearbeitet: Sie reisten mit dem Zug bis Bourg in Burgund und würden den Rest der Strecke bis zur Grenze zu Fuß zurücklegen. Victor wusste, was er Yvonne damit zumutete, denn der Weg war lang und strapaziös. Doch es war die sicherste Art, die Grenze zu erreichen. Und direkt dahinter lag Genf, das sie dann wieder mit der Eisenbahn erreichen konnten. Während der Zug sich von Paris entfernte, behielt Carnait die Mitrei­senden in der näheren Umgebung genau im Auge. Wie es schien, war unter ihnen kein Angehöriger der Geheimpolizei oder Spitzel. Die meis­ten Menschen sahen harmlos aus, doch man durfte sich nicht auf den äußeren Anschein verlassen, das hatte der General Victor mehr als einmal eingeschärft.

Der junge Mann warf Yvonne einen kurzen Blick zu. Sie saß neben ihm, schien aber in Gedanken ganz woanders zu sein. Und es gehörte nicht viel Phantasie dazu, sich auszumalen, an wen sie dachte und welche Gefühle sie beherrschten.

In der Nähe von Dijon tauchte plötzlich Polizei auf. Victor bedeu­tete seiner Begleiterin mit einer knappen Geste, sich schlafend zu stel­len. Während er die Reisepapiere vorzeigte, wollte der Beamte von ihm wissen, was er in Bourg vorhabe.

»Meine Frau und ich besuchen Verwandte«, behauptete er und wunderte sich selbst am meisten darüber, wie glatt ihm die Lüge von der Zunge ging. »Meine Schwägerin erwartet demnächst ein Kind und Susanne möchte dabei sein, wenn es soweit ist, Sie verstehen? Die Schwestern haben sich immer sehr gut verstanden.«

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»Soso«, machte der Polizist und gab die Papiere zurück. »Sie wis­sen, dass erst vor kurzem ein Anschlag auf den Ersten Konsul dieses Landes verübt wurde?«

Victor wurde eine Nuance blasser. Überzeugend erregte er sich: »Nicht zu fassen, soweit hat es ja kommen müssen. Es ist eine Schan­de, wenn man bedenkt, dass diese Verräter auch Franzosen sein sol­len...«

»Sie gehören vielleicht unserem Staat an, aber nicht unserer Nati­on«, stellte der Beamte richtig. »Seien Sie stets vorsichtig, wenn Sie mit Fremden sprechen, Monsieur Deneuve. Und falls Ihnen etwas ver­dächtig vorkommt, melden Sie es umgehend. Das ist Ihre Bür­gerpflicht.«

»Gewiss, ich werde Augen und Ohren offen halten«, versicherte Carnait und dachte dabei: Das hätte ich sowieso getan...

Erst als der Polizist gegangen war, entspannte Victor sich ein we­nig. Er blickte zu Yvonne, die ihn blass und verschreckt ansah. Beru­higend strich er über ihren Arm und lächelte ihr ein wenig zu. Da wur­de auch sie wieder etwas ruhiger.

Am späten Nachmittag erreichten sie Bourg. Das Wetter hatte sich gebessert, der Himmel war klar und wolkenlos, doch die Luft recht kalt. Bourg lag in den Bergen des Franche-Comté, auf einer Höhe von über fünfhundert Metern. Der Frühling hatte hier noch keinen Einzug gehalten und Yvonne fror in ihrem recht dünnen Reisemantel.

»Wir müssen uns wärmere Kleidung verschaffen«, entschied Vic­tor. »Der Weg bis zur Grenze ist noch weit. Und es steht nicht fest, ob wir in einem Gasthof übernachten können.«

»Willst du damit sagen, dass wir im Wald schlafen sollen?« Diese Vorstellung ging für Yvonne eindeutig zu weit. »Aber es gibt hier wilde Tiere und...«

»Vielleicht finden wir ja einen Gasthof«, erwiderte Victor leicht unwirsch. »Doch wir müssen auf alles gefasst sein. Komm, dort drüben ist ein Schneider. Wir werden sehen, was er zu verkaufen hat...«

Yvonne seufzte bekümmert auf. Wenn sie daran dachte, welch mühsamer und gefahrvoller Weg nun auf sie wartete, wäre sie am liebsten auf der Stelle umgekehrt. Sie war weder schwach noch ängst­

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lich. Und auf ›Cyprés‹ hatte sie für zwei gearbeitet. Doch dies hier war etwas ganz anderes. Die Angst saß ihr beständig im Nacken. Und das schlechte Gewissen dem Vater gegenüber ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Es war wie ein nie enden wollender Alptraum, aus dem sie einfach nicht erwachen konnte...

Victor bestellte bei dem einzigen Schneider am Ort zwei warme Mäntel, die bereits am nächsten Tag fertig gestellt werden sollten. Der Mann murrte, aber da der Fremde gut zahlte, legte er eine Nacht­schicht ein. Am nächsten Morgen setzten die Flüchtenden dann ihren Weg fort.

Der junge Leutnant gab sich Mühe, seine Begleiterin aufzu­muntern, doch sie machte es ihm nicht leicht. Einmal blieb sie einfach stehen und rief: »Ich wünschte, ich wäre in Paris geblieben! Oder bes­ser noch auf ›Cyprés‹! Ich hätte Papa niemals im Stich lassen dürfen. Das hier führt ja doch zu nichts!«

»Ich bringe dich in Sicherheit, das habe ich deinem Vater in die Hand versprechen müssen«, hielt Victor ihr ernst entgegen. »Und ich pflege meine Versprechen zu halten!«

Yvonne schwieg. Doch sie spürte, dass sie am Ende ihrer Kraft war und vielleicht auch ihrer Hoffnung...

Der Fußmarsch zur Grenze wurde zur Nagelprobe. Mehr als einmal wollte Yvonne einfach aufgeben. Jedes Mal redete Victor ihr solange zu, bis sie ihren Weg fortsetzte. Als sie den Grenzposten schließlich erreichten, weigerte sie sich jedoch strikt, Frankreich zu verlassen.

»Ich kann es nicht, Victor, versteh doch! Ich habe das Gefühl, dass ich niemals werde zurückkehren können, wenn ich jetzt gehe. Bitte, lass uns hier bleiben, irgendwo...«

»Das geht nicht, es ist unmöglich. Bitte, Yvonne, vertrau mir«, be­schwor er sie. »Wir müssen diese Grenze überqueren. Nur dann sind wir in Sicherheit!«

Sie stand mit ausdrucksloser Miene da, starrte auf den gut hun­dert Meter entfernten Posten inmitten der Natur, hoher Tannen und Kiefern und es war ihr, als müsse ihr Leben hier enden. Eine schreckli­che Angst schüttelte sie, zugleich nagte die Unsicherheit an ihrem Her­zen. Machte sie einen Fehler, wenn sie diese Grenze überschritt oder

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wenn sie blieb? Konnte es überhaupt noch eine Rettung für ihren Vater geben und wenn ja, würde sie ihm helfen können?

»Yvonne, hör auf zu träumen«, mahnte Victor sie. »Wir müssen gehen, bitte!«

»Susanne«, verbesserte sie ihn automatisch. »Mein Name ist jetzt Susanne, Guy.«

Er betrachtete sie abwartend. Als sie ihm schließlich das Gesicht zuwandte, meinte er, darin endlich die Entschlossenheit sehen zu kön­nen, die ihr auf dem langen Fußmarsch anscheinend verloren gegan­gen war.

»Komm.« Er nahm ihre Hand, sie steuerten den Grenzposten an, der ganz verlassen wirkte. Nur ein einziger Beamter schien in dem kleinen Häuschen zu sitzen. Victor nahm keine Gefahr wahr, er war überzeugt, den besten, den sichersten Weg gewählt zu haben. Seinen Fehler erkannte er zu spät...

Als der Zöllner die Reisepapiere prüfte, erschienen ohne Vorwar­nung, aus dem Nichts wie es aussah, Soldaten und umstellten die bei­den Flüchtenden im Handumdrehen. Carnait griff nach seiner Pistole, kam aber nicht mehr dazu, sich zu verteidigen. Ein Soldat schlug sie ihm blitzschnell aus der Hand, dann legte man ihm Handschellen an.

Yvonne erlebte all dies wie einen schrecklichen Alptraum. Obwohl sie die ganze Zeit unterschwellig mit etwas Ähnlichem gerechnet hatte, war sie nun doch wie erstarrt vor Schrecken. Ein junger Offizier trat zu ihr und musterte sie kalt.

»Mademoiselle Daladier, ich muss Sie auffordern, mir zu folgen. Monsieur Columbin erwartet Sie in Paris.« Er machte eine kurze Geste in Richtung einer Kutsche, die nun aus der Deckung einiger großer Kiefern gerollt kam. Yvonne warf Victor einen entsetzten Blick zu, die­ser war nicht in der Lage, zu reagieren. Im nächsten Moment hatten die Soldaten ihn fortgebracht.

Der Offizier legte eine Hand um Yvonnes Arm und führte sie zu der Kutsche. Willenlos stieg sie ein, denn sie ahnte, dass nun alles aus war. Ihre Flucht endete in dieser elenden, menschenleeren Gegend am Ende der Welt. Und damit alle Hoffnung...

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*

Auf der Rückreise nach Paris machte Victor Carnait sich die schlimms­ten Vorwürfe. Warum war er nicht aufmerksamer, misstrauischer ge­wesen? Ihre im Voraus geplante Festnahme legte den Schluss nahe, dass sie bereits seit Paris beobachtet worden waren. Wieso hatte er es nicht bemerkt? Er zermarterte sich das Hirn, ohne eine Antwort finden zu können. Die einzig schlüssige Erklärung aber lag auf der Hand: Co­lumbin hatte alles aufgefahren, um sie zu fassen. Ihre Festnahme musste für den Polizeichef von Paris ein besonderer Triumph sein.

Victor versuchte, den Gedanken an Yvonne zu verdrängen, doch es wollte ihm nicht immer gelingen. Während er von zwei Wachen flankiert auf der harten Holzbank der dritten Klasse im Zug nach Paris saß, fragte er sich, wie es ihr wohl ergehen mochte. Er hoffte von Her­zen, dass Columbin zumindest ihr gegenüber Gnade walten lassen würde. Schließlich hatte Yvonne von nichts gewusst, war ahnungslos gewesen bis zu jenem Tag, an dem ihr Leben unvermittelt in Scherben gegangen war...

Ein junger Offizier befehligte die Wachmannschaft, die einzig die Aufgabe hatte, Victor Carnait sicher nach Paris zu bringen. Der Leut­nant sprach ihn mehrere Male an, doch er gab sich abweisend, bis Carnait schließlich um etwas zu trinken bat.

Der Offizier reichte ihm einen Flachmann, in dem sich erstklassiger Kognak befand. Als Victor sich bedankte, erklärte der andere abfällig: »Eigentlich zu schade für einen Verräter und Deserteur. Aber wenn ich bedenke, was Sie in Paris erwartet, Monsieur, will ich großzügig sein.«

»Haben Sie uns die ganze Zeit verfolgt?«, fragte Carnait. »Wir nicht. Unsere Aufgabe war es, Sie am Pass abzufangen und

festzusetzen. Die eigentlichen Ermittlungen hat die Geheimpolizei ü­bernommen. Sie hätten wissen müssen, dass Sie nicht weit kommen. Aber Ihr Plan war nicht schlecht...«

»Wissen Sie, was mit Mademoiselle Daladier geschehen wird?« »Darüber sollten Sie sich weniger Gedanken machen als über Ihr

eigenes Schicksal. Ihnen ist doch wohl klar, was es bedeutet, sich un­

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erlaubt von der Truppe zu entfernen. Von Ihrer Beteiligung an diesem unsäglichen Anschlag ganz zu schweigen...«

»Es hätte wohl wenig Sinn, Ihnen meine Motive auseinanderzu­setzen«, meinte Victor und senkte den Blick. »Mein Schicksal ist be­siegelt und ich beschwere mich nicht. Wenn nur Yvonne in Sicherheit wäre...«

»Sie lieben das Mädchen?« Victor nickte stumm, der andere ließ seinen Flachmann verschwin­

den und kehrte auf seinen Platz in einigem Abstand zu dem Gefange­nen zurück. Für Carnait war dieses Verhalten sehr aufschlussreich; der andere wollte ihm nicht verraten, welches Schicksal Yvonne zugedacht war. Doch er konnte es sich auch so lebhaft vorstellen...

Am frühen Abend wurde Victor Carnait in die Bastille gebracht. Er atmete auf, als man ihn in eine Zelle führte, in der sich General Dala­dier, Edouard Manus, Paul Couchard und Francois Pichet aufhielten. Nachdem die Wachen sich entfernt hatten, begrüßte der General den jungen Mann per Handschlag. Er schien trotz allem erfreut, Victor wie­der zu sehen. Doch dieser las auch sehr deutlich die Frage und den Vorwurf in den Augen seines Gegenübers.

»Erzählen Sie uns, wie es Ihnen ergangen ist«, forderte Pichet ungeduldig. »Und vor allem, wie ist die Stimmung draußen? Wie hat die Öffentlichkeit auf unsere Verhaftungen reagiert?«

»Die Schlagzeilen sprechen gegen uns. Doch das ist ja nichts Neues. Columbin hat seinen gesamten Apparat in Bewegung gesetzt, um uns zu finden...«

»Und Yvonne?« Jean-Jaques musterte den jungen Leutnant mit verschlossener Miene.

»Wir... haben versucht, bei Bourg die Grenze zu passieren. Leider habe ich nicht bemerkt, dass wir die ganze Zeit beschattet wurden. Es gab keine Chance mehr, zu entkommen, Columbin ließ blitzschnell zuschlagen.« Er senkte den Blick. »Ich weiß nicht, wohin sie Yvonne gebracht haben, doch ich denke, sie wird auch hier sein, in der Bastil­le...«

Eine Weile herrschte betretenes Schweigen, schließlich raffte der General sich auf, zu erklären: »Wir haben bereits über einen Ausbruch

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gesprochen. Bislang hat sich uns keine Gelegenheit geboten, doch ich denke, nun ist dieses Thema spruchreif.«

»Daladier, Sie wollen Ihre Tochter retten. Aber ist das nicht ein bisschen naiv? Glauben Sie im Ernst, dass uns so ein Coup gelingen würde? Columbin weiß sehr genau, was er tut«, gab Pichet zu beden­ken.

Der General blickte nachdenklich vor sich hin. »Sie glauben, er hat Yvonne sozusagen als Lockvogel in seiner Gewalt?«

»Davon bin ich überzeugt. Wir müssen sehr geschickt und äußerst vorsichtig vorgehen. In diesem Fall haben wir tatsächlich nur eine Chance. Wenn sie vertan ist, bleibt uns nur, aufrecht in den Tod zu ge­hen, den der Erste Konsul uns ja aller Wahrscheinlichkeit nach zu­gedacht hat.«

Daladier nickte. »So sehe ich es auch. Also, lassen Sie uns überle­gen, wie wir vorgehen können...«

Später am Abend suchte Victor noch einmal die Nähe des Gene­rals. Schuldgefühle plagten ihn und er suchte sich zu rechtfertigen. Doch davon wollte dieser nichts wissen.

»Du hast alles versucht, mein Junge. Es grenzt an ein Wunder, dass ihr euch so lange vor Columbins Häschern habt verbergen kön­nen. Ich mache dir keinen Vorwurf.«

»Aber ich mache mir selbst Vorwürfe!«, entgegnete der junge Mann bedrückt. »Ich habe Yvonne einen schlechten Dienst erwiesen. Wenn ich daran denke, dass sie sich jetzt in der Gewalt dieses Blut­hundes befindet, könnte ich auf der Stelle die Beherrschung verlieren und...«

»Nicht, Victor, damit ist niemandem geholfen. Die Wachen halten sich zwar im Hintergrund, doch du solltest nicht vergessen, dass auch hier die Wände Ohren haben. Wir müssen sehr vorsichtig sein.« Er räusperte sich. »Nach allem, was mir bereits hier widerfahren ist, er­warte ich nur noch eines vom Leben: Die Rettung meiner Tochter. Und ich zögere nicht, diese noch einmal in deine Hände zu legen.«

»General...« »Du hast keinen Grund, an dir selbst zu zweifeln, wenn ich es

nicht tue, mein Junge. Ich weiß, ich verlange Unmögliches. Doch ich

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werde nur mit meinem irdischen Dasein abschließen können, wenn ich Yvonne in Sicherheit weiß.«

*

Für Yvonne war die Rückreise nach Paris ungleich strapaziöser gewe­sen. Columbin hatte angeordnet, Carnait im Zug zu befördern, wäh­rend die junge Frau mit der Kutsche reisen musste. So dauerte es bei­nahe einen ganzen Tag länger, bis die Gefangene ebenfalls die Bastille erreichte.

Der Polizeichef erwartete sie bereits. Als Yvonne zögernd und ängstlich seinen Verhörraum betrat, gab er sich zuvorkommend, rückte ihr den Stuhl und bot ihr sogar eine leichte Mahlzeit an, um sich zu stärken. Das schöne Mädchen war deutlich gezeichnet von den Strapa­zen, die hinter ihm lagen. Trotzdem wollte Yvonne Columbin nicht ver­trauen. Er war ihr vom ersten Moment an zuwider gewesen. Und sie spürte, dass seine schleimige Art unecht war, er dahinter nur seine wahren Absichten verbarg.

Nachdem sie ein wenig gegessen hatte, richtete er das Wort an sie. Bis dahin hatte er nur hinter seinem protzigen Schreibtisch geses­sen, die Fingerspitzen gegeneinander gelegt und hatte sie schweigend beobachtet.

»Nun, Mademoiselle Daladier, da Sie sich stärken konnten, werden Sie willens und auch in der Lage sein, vernünftig mit mir zu sprechen.« Er fixierte sie genau. »Und mir ein paar einfache Fragen zu beantwor­ten, nicht wahr?«

Sie senkte den Blick, denn sie konnte es nicht ertragen, in seine kalten, verschlagenen Augen zu sehen. »Ich wüsste nicht, welche Fra­gen ich...« Sie verstummte, denn er hatte unvermittelt mit der flachen Hand auf die Tischplatte geschlagen, dass es knallte. Yvonne zuckte zusammen und warf ihrem Gegenüber einen verschüchterten Blick zu.

Columbin lächelte schmal. »Wir wollen doch hier keine Spielchen spielen. Sie wissen sehr genau, worum es geht. Ihr Vater ist ein Lan­desverräter, ihm gebührt der Strick. Und der Kerl, mit dem Sie unter­wegs gewesen sind, ist nicht um einen Deut besser. Falls Sie es also

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nicht vorziehen, ebenfalls in dieser Gesellschaft zu sterben, werden Sie sich nun kooperativ zeigen. Haben wir uns verstanden?«

Yvonne atmete tief durch. Plötzlich überkam sie eine nahezu un­heimliche Ruhe. Bislang hatte sie alles, was ihrer unvermuteten Ver­haftung gefolgt war, wie einen bösen Alptraum erlebt, halb ohn­mächtig vor Furcht, ja, Todesangst. Nun aber, da sie Columbin gegen­übersaß und in seine kalten Augen blickte, wusste sie, dass sie nur eine Chance hatte: Sie durfte diesem Mann nicht nachgeben, musste Stärke zeigen, wollte sie nicht untergehen. Und auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie sie sich gegen ihn behaupten sollte, wollte sie es doch zumindest versuchen.

»Ich habe Ihnen nichts zu sagen, Monsieur. Außer vielleicht fol­gendem: Mein Vater war sein Leben lang ein aufrechter Mann, ein wahrer Patriot und Demokrat. Da ist nichts, wofür er sich schämen müsste. Und Leutnant Carnait hat in ihm stets sein Vorbild gesehen. Sollte dieses Land, das auch meine Heimat ist, es für nötig halten, sol­che Männer zu töten, dann gehe ich freudig mit ihnen in diesen Tod. Denn dann lohnt es sich nicht mehr, hier weiterzuleben.«

Columbin hatte ihr mit ausdrucksloser Miene zugehört, nun zeigte er allerdings eine Reaktion, die für ihn bezeichnend war; er klatschte in die Hände und stellte ironisch fest: »Bravo, Mademoiselle. An Ihnen ist ein Demagoge verloren gegangen.« Unvermittelt wurde er ernst. »Allerdings sollten Sie sich nicht einbilden, dass Sie mich damit beein­drucken können. Glauben Sie denn im Ernst, dass mir Ihr Leben etwas bedeutet? Sie sind nur aus einem einzigen Grund hier.« Er grinste kalt. »Als Fliege, die den Fisch locken soll...«

»Was wollen Sie damit sagen? Sie haben doch alle verhaftet, die nicht Ihrer Gesinnung sind. Auf wen warten Sie denn noch?«

Er schwieg eine Weile mit einem viel sagenden Schmunzeln, schließlich entschied er: »Sie können es ruhig erfahren, denn für Sie führt kein Weg mehr aus diesen Mauern... Die Verschwörer waren dumm genug, ein Attentat auf Bonaparte zu verüben. Und sie werden auch dumm genug sein, Sie befreien zu wollen. Bislang habe ich gegen Carnait nicht viel in der Hand. Aber das... wird ihm das Genick bre­chen.« Er lachte amüsiert wie über einen besonders gelungenen Spaß.

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»Wie können Sie nur... Sie widern mich an!« Yvonne sprang auf und wollte den Raum verlassen, doch Columbin riet ihr: »Sparen Sie sich die Mühe, vor der Tür steht eine Wache. Falls Sie es allerdings vorziehen, in eine Zelle gebracht zu werden, statt hier weiter mit mir zu plaudern...«

Das schöne Mädchen straffte sich. Stolz ließ Yvonne den Poli­zeichef wissen: »Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen. Und ich würde es tatsächlich vorziehen, allein in einer Zelle zu sitzen, statt Ihre An­wesenheit ertragen zu müssen!«

Es zuckte verräterisch um Columbins Mund, doch er ließ sich mit keiner Regung anmerken, welche Gefühle ihn beherrschten. Nur seine Stimme klang noch schneidender als sonst, als er nach den Wachen rief und befahl: »Bringt sie weg, ich will sie nicht mehr sehen! Und... schafft mir Carnait her!«

Yvonne, die eben noch bereitwillig den Raum hatte verlassen wol­len, zögerte nun doch. Der Polizeichef bemerkte es und fügte seinem Befehl noch hinzu: »Und achtete darauf, dass sie ihn nicht zu Gesicht bekommt!«

*

Die Sonne war eben erst aufgegangen und übergoss die wilde, aber auch liebliche Umgebung von ›Cyprés‹ mit einem goldenen Licht. Y­vonne war bereits auf den Beinen, sie fütterte die Hühner und sam­melte Eier fürs Frühstück ein. Ein Blick zum klaren Morgenhimmel sag­te dem Mädchen, dass es wieder ein schöner Tag werden würde. Viel­leicht kam Leutnant Carnait ja zu Besuch... Yvonne lächelte versonnen. Summend verließ sie den Hühnerstall und strebte wieder auf das Haupthaus zu, als sie unvermittelt etwas wie ein kalter Hauch streifte. Sie blieb stehen, schaute sich um. Alles schien wie immer zu sein. Hat­te sie sich denn geirrt? Lauschend verharrte sie, blickte dabei auf­merksam über den Hof, die angrenzenden Felder, bis hinüber zu dem Hain aus tiefgrünen Zypressen, der dem Gut seinen Namen gegeben hatte.

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Urplötzlich wurde Yvonne klar, dass hier etwas nicht stimmte. Es war die Stille, die so vollkommen war, dass sie beinahe laut erschien. Kein Vogel sang, die Hühner gaben keinen Laut von sich, nicht mal ein Lüftchen regte sich. Noch einmal und diesmal schon stärker, streifte sie die Kälte wie eine Vorahnung auf kommendes Unheil. Doch Yvonne wollte nichts sehen und nichts hören. Ihr Unterbewusstsein sperrte sich gegen die grausame Realität, in die sie unter gar keinen Umstän­den zurückkehren mochte. Dass ihr aber gar nichts anderes übrig blieb, zeigte sich bereits im nächsten Moment. Urplötzlich näherte sich ihr eine lange Karawane von Kutschen. Jede von einem Rappen mit Trauerflor gezogen. Yvonne bemerkte, dass es keine Kutscher gab, die Pferde die Wagen von selbst in den Hof zogen. Und dann erkannte sie, was sich in den offenen Wagen befand: Särge. Das junge Mädchen schauerte zusammen, wich zurück. Da fühlte Yvonne sich von hinten gepackt. Und eine Stimme, die eindeutig dem Polizeichef von Paris gehörte, herrschte sie an: »Sie werden doch nicht weglaufen wollen, Mademoiselle Daladier! Sehen Sie nur hin, sie alle sind tot. Und das ist einzig Ihr Verdienst. Sie haben sie mir an den Galgen geliefert!«

Yvonne wollte ausweichen, fortlaufen, doch Columbin hielt sie ei­sern fest. Und im nächsten, schrecklichen Moment sah sie, wie die Särge sich öffneten. Männer stiegen heraus, an deren Hälse noch die abgeschnittenen Stricke hingen, mit denen sie gehängt worden waren. Ihre Gesichter waren bleich und ausdruckslos. Doch in allen meinte Yvonne, nur das eine zu lesen: Den Wunsch nach Rache. Und sie kannte jedes dieser Gesichter nur zu genau: General Daladier, Edouard Manus, Paul Couchard, Francois Pichet und - Victor Carnait!

»Ihre Seelen klagen Sie an, Mademoiselle«, hechelte Columbin in ihrem Rücken. »Stellen Sie sich Ihrer Schuld!«

»NEIN!« Yvonne begann, sich aus Leibeskräften gegen den eiser­nen Griff ihres Peinigers zu wehren. Sie weinte und schrie - und er­wachte endlich aus diesem schrecklichen Alptraum, der einfach kein Ende hatte nehmen wollen.

Zitternd, mit tränennassen Wangen und rasendem Puls lag sie auf der einfachen Holzpritsche in ihrer Zelle und starrte mit weit auf­gerissenen Augen in die Dunkelheit der Nacht. Niemals zuvor hatte

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Yvonne einen so grausamen Alptraum durchleiden müssen. Nicht ein­mal auf ihrer Flucht mit Victor war sie so verzweifelt, so hoffnungslos gewesen.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich wieder einigermaßen be­ruhigt hatte. An Schlaf war in dieser Nacht allerdings nicht mehr zu denken. Mit offenen Augen lag Yvonne auf ihrem Lager und versuchte, an nichts mehr zu denken. Doch es gelang ihr nicht; immer wieder sah sie vor ihrem geistigen Auge die Männer, die sie in ihrem Traum ange­klagt hatten. Seit Columbin ihr gesagt hatte, dass sie hier als sein Kö­der dienen sollte, war sie einfach nicht mehr zur Ruhe gekommen. Sie hatte fieberhaft nach einer Fluchtmöglichkeit gesucht, doch einsehen müssen, dass diese nicht existierte.

Das grausame Spiel, das der Pariser Polizeichef plante, würde di­rekt vor ihrer Nase ablaufen, ohne dass sie auch nur den geringsten Einfluss darauf hatte...

In den nun folgenden Tagen ließ Columbin Yvonne schmoren. Sie wurde weder verhört, noch durfte sie ihre Zelle verlassen. Das spär­liche Tageslicht, das durch einen hohen schmalen Spalt im Mauerwerk fiel, reichte kaum aus, um den Tag von der Nacht zu unterscheiden. Das junge Mädchen verlor nach und nach jedes Zeitgefühl. Zugleich befiel eine immer größere Furcht Yvonne. Wie mochte es ihrem Vater gehen? Und Victor? Waren sie überhaupt noch am Leben...

Dieser letzte Gedanke bedrückte sie besonders. Die Vorstellung, alle geliebten Menschen verloren zu haben, war für Yvonne uner­träglich. In solchen Momenten war sie nahe daran, sich selbst ganz aufzugeben. Aber dann erinnerte sie sich an das, was Columbin ihr gesagt hatte: Dass sie als Köder dienen sollte, um Victor noch schlim­merer Verbrechen anklagen und hinrichten zu können. Wenn er sie nicht angelogen hatte, sprach dieser Plan eigentlich dafür, dass der junge Leutnant noch lebte.

Yvonne war verzweifelt, wenn sie an Victor dachte. Ihr Herz ge­hörte ihm. Und nun bereute sie, ihm dies nicht gesagt zu haben. Viel­leicht war die gemeinsame Flucht, diese kurze Zeitspanne, alles gewe­sen, was ihnen vom Schicksal vergönnt war. Und sie hatte diese Zeit

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verstreichen lassen, war verzweifelt gewesen, unglücklich und voller Angst. Wenn sie Victor nur noch einmal hätte sehen können...

Yvonne wusste nicht, wie viele Tage und Nächte verstrichen wa­ren, als ihre Zelle geöffnet wurde. Männer kamen, sie brachten Fa­ckeln, die das Mädchen blendeten. Ängstlich wich Yvonne zurück, da hörte sie eine Stimme, die sie freundlich bat: »Fürchte dich nicht, mein Kind, wir wollen dir nichts Böses. Du kannst diesen unwirtlichen Ort nun verlassen...«

Sie blinzelte, um den Mann, der sich ihr nun näherte, besser er­kennen zu können; und meinte, zu träumen. Es war ein Priester in ei­nem dunklen Talar. Sein rundes Gesicht war vertrauen erweckend. Und die klugen Augen hinter der kleinen Brille wirkten gut und ehrlich. Trotzdem blieb Yvonne vorsichtig. Wer konnte sagen, ob dies nicht wieder einer von Columbins gemeinen Tricks war...

»Yvonne Daladier, du kennst mich nicht, doch ich muss dich trotz­dem bitten, mir zu vertrauen«, sprach der Mann weiter. »Ich bin Pére Albert. Und ich habe die Aufgabe, dich an einen Ort zu bringen, wo es dir gut gehen wird. Willst du mir folgen?«

»Ist das ein Traum?«, fragte Yvonne verwirrt. Der Priester lächelte mild. »Nein, es ist die Wirklichkeit. Komm,

mein Kind, wir dürfen keine Zeit verlieren.« Er streckte ihr die Hand hin und sie zögerte nur einen Moment, bis sie ihre hineinlegte.

Mit unsicheren Schritten folgte Yvonne dem Geistlichen. Sie verließ die Zelle, den langen dunklen Gang und legte den gesamten Weg zu­rück, den sie bei ihrer Einlieferung hier hatte gehen müssen. Noch immer schien es ihr, als träume sie nur. Aber Pére Alberts Hand fühlte sich sehr real an. Eines aber schien ihr seltsam: Die Wachen, die bei ihrer Ankunft überall gestanden hatten, waren verschwunden. Also doch nur ein Traum?

»Bitte, Pére, sagen Sie mir, wohin Sie mich bringen«, bat sie noch einmal und verhielt ihren Schritt, als das Haupttor in Sichtweite kam. »Ich gehe nicht mit Ihnen, wenn Sie mir nicht verraten, was dies hier zu bedeuten hat. Und ob nicht Monsieur Columbin dahinter steckt...«

Der Geistliche schmunzelte ein wenig. »Keine Sorge, mein Kind, ich verachte den kläffenden Köter ebenso wie du, Gott möge mir ver­

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zeihen. Ich bringe dich zu jemandem, der dir viel zu sagen und zu ge­ben hat. Mehr darf ich dir leider nicht verraten. Nur soviel: Dich erwar­tet dort draußen das Leben. Also zögere bitte nicht und ergreife deine Chance. Die Wachen werden nicht ewig wegschauen. Und es würde mich sehr betrüben, könnte ich meine Aufgabe nicht erfüllen...«

»Wenn Sie mir die Wahrheit sagen, dann lassen Sie uns meinen Vater und Leutnant Carnait mitnehmen«, bat sie eindringlich.

Doch der Pére schüttelte bedauernd den Kopf. »Das geht leider nicht. Nur du allein darfst die Bastille verlassen. Aber wir müssen uns jetzt beeilen. Ich bitte dich noch einmal, mein Kind, vertraue mir! Es ist wirklich nur zu deinem Besten!«

Yvonne war innerlich ganz zerrissen, sie wusste nicht, was sie tun sollte. Auf der einen Seite bot sich ihr hier die Möglichkeit, diesem Hor­ror endlich zu entfliehen, ihre Freiheit wiederzuerlangen. Doch zugleich musste sie ihren Vater und Victor im Stich lassen. Und sie wusste nicht, ob sie dies noch einmal übers Herz brachte.

Im nächsten Moment wurde Yvonne diese schwere Entscheidung dann aber auf unwiderrufliche Weise abgenommen. Eine Kutsche hielt im Gefängnishof, der Richard Columbin entstieg. Er eilte ins Haus, oh­ne sie zu bemerken. Sein Anblick aber machte dem jungen Mädchen ganz deutlich, dass sie nicht noch einmal seiner kalten Grausamkeit ausgeliefert sein wollte. Ohne weiter nachzudenken folgte sie dem Geistlichen, der ihr rasch in eine Kutsche half. Bereits im nächsten Moment ging es im Galopp davon. Yvonne aber wurde plötzlich von einer diffusen Angst ergriffen, doch noch erwischt und zurück in die Zelle gebracht zu werden. Deshalb nahm sie nichts um sich herum wahr, nicht einmal, dass die Kutsche, in der die entfloh, ein königliches Wappen schmückte.

*

Der General musterte Richard Columbin geringschätzig. »Sie haben nichts in der Hand. All Ihre Beweise basieren nur auf Mutmaßungen und dem Gerede eines verängstigten jungen Mannes, der sein Leben retten will. Damit werden Sie vor Gericht nicht bestehen können.«

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»So?« Der Polizeichef lächelte maliziös. »Das werden wir noch se­hen.« Er wirkte an diesem Morgen fahrig und unsicher, wie Daladier ihn noch nie erlebt hatte. Der General wurde den Verdacht nicht los, dass etwas zu seinen Gunsten geschehen war. Er fragte sich bloß, was...

»Sie sollten Ihre Niederlage einsehen und uns auf freien Fuß set­zen, Monsieur. Alles andere kann nur zu Ihrer Blamage werden.« Da­ladier musterte sein Gegenüber genau. »Ich habe fast den Verdacht, dass Sie dies bereits eingesehen haben.«

»Sie irren sich, in jeder Beziehung. Mein Beweismaterial reicht aus, um Sie gleich zweimal aufknüpfen zu lassen. Und seien Sie versi­chert: Ich werde im rechten Moment nicht zögern!«

»Das glaube ich gern. Doch eine Farce von Verhandlung wird die Menschen noch mehr gegen Sie und Ihresgleichen aufbringen. Viel­leicht denken Sie mal darüber nach.«

»Nun habe ich aber endgültig genug!« Columbin schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, dass es knallte. Den General konnte er damit allerdings nicht einschüchtern. »Ich werde bis zur Verhandlung alle Beweise beibringen, die nötig sind.« Er lächelte abschätzig. »Und was mir noch fehlt, liefern Sie mir!«

Daladier schüttelte mitleidig den Kopf. »Wie kommen Sie bloß auf einen solch absurden Gedanken? Wir stehen auf ganz verschiedenen Seiten, Monsieur. Und daran wird sich nichts ändern.«

»Ach nein? Und was würden Sie sagen, wenn Ihre Tochter unter Ihrem uneinsichtigen Starrsinn zu leiden hätte?« Columbin registrierte mit Genugtuung, dass seine Worte verfingen. »Ich warne Sie, mon General! Yvonne ist in meinen Händen. Und ich werde nicht zögern, sie unter Druck zu setzen, falls Sie sich nicht endlich kooperativ zei­gen.«

Der General war blass geworden. »Sie wagen es nicht...« »Wollen wir eine Wette abschließen?« Der Polizeichef von Paris

lachte leise. »Sie würden verlieren, glauben Sie mir.« Victor Carnait erwartete die Rückkehr des Generals in die ge­

meinsame Zelle bereits ungeduldig. Als Daladier erschien, fragte der junge Mann sofort: »Hat er etwas über Yvonne gesagt?«

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Jean-Jaques fuhr sich mit einer resignierten Geste durchs Haar. »Nur Drohungen, aber ich fürchte... er wird sie wahr machen. Viel habe ich dem nicht mehr entgegenzusetzen.«

»Hören Sie zu!« Carnait schaute sein Gegenüber zwingend an. »Es gibt ein Gerücht, das besagt: Yvonne ist frei.«

»Wie... ist das möglich?« »Am frühen Morgen ist ein Geistlicher aufgetaucht. Er kam in ei­

ner Kutsche mit dem Wappen der Bourbonen. Und er nahm Yvonne mit. Ich hielt es zunächst für eine Lüge, aber...«

»Mit dem Wappen der Bourbonen, sagst du?« Daladier wurde blass.

»Ja, aber sagt Ihnen das etwas?« Victor war erstaunt. Der General schwieg eine Weile mit verschlossener Miene. Schließ­

lich atmete er tief durch und behauptete: »Wenn es wirklich das Bour­bonenwappen war, dann stimmt die Geschichte. Ich hätte allerdings niemals damit gerechnet, dass von dieser Seite etwas kommen würde. Schon gar nicht in der jetzigen Situation.«

Carnait verstand überhaupt nichts mehr. Er musterte den General verwirrt. »Wollen Sie mir nicht erklären, was Yvonne mit dem abge­setzten König zu tun hat?«

»Ich kann dir nur soviel sagen: Wenn sie sich in dieser Gesell­schaft befindet, ist sie tatsächlich in Sicherheit.«

*

Die Kutschfahrt ging eine ganze Weile über Land, nachdem man Paris verlassen hatte. Yvonne wunderte sich, dass sie an der Stadtgrenze nicht aufgehalten wurden. Und sie fragte sich zudem, wohin Pére Al­bert sie bringen würde. Ihm diese Frage zu stellen, schien müßig. Er beantwortete all ihre Fragen nur mit einem freundlichen, aber unver­bindlichen Lächeln. Wie es schien, wollte er seinem Auftraggeber nicht vorgreifen.

Doch wer mochte das sein? Yvonne hatte in Frankreich keine le­benden Verwandten mehr, dessen war sie sicher. Und die Gegend, in die sie fuhren, war ihr zudem unbekannt. All dies - ihre Befreiung, die

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Worte des Geistlichen, die mehr Andeutung als Erklärung waren und nicht zuletzt die Fahrt über Land verwirrten und verunsicherten sie.

»Sagen Sie, Pére, was ist das hier für ein Landstrich?«, fragte sie schließlich nach einer ganzen Weile vorsichtig. »Ich war noch nie hier, kenne mich nicht aus...«

Der Geistliche lächelte angedeutet. »Wir haben eben Fontaine­bleau passiert und werden am frühen Nachmittag unser Ziel erreichen; Schloss Besanscourt bei Orleans. Sicher haben Sie schon davon ge­hört, Mademoiselle Yvonne, es ist ein Loire-Schloss.«

»Ja, ich... habe den Name schon einmal gehört. Aber lebt dort nicht der Prinz de Lirsac, der Sohn des abgesetzten Königs?«

Pére Albert nickte angedeutet, sagte aber weiter nichts. Auch Yvonne schwieg, denn sie machte sich über diese Neuigkeit

ihre eigenen Gedanken. Auch wenn sie keine Ahnung hatte, was der Prinz von ihr wollte, eines stand nun doch fest: Sie befand sich in der Gesellschaft von Menschen, die gegen den derzeitigen Machthaber eingestellt waren. Und das bedeutete vielleicht, dass noch nicht alles verloren war...

Der Rest der Fahrt verlief schweigend. Während der Pater in sei­ner Bibel las, schaute Yvonne aus dem Fenster der Kutsche und be­trachtete die frühlingshafte Landschaft, die langsam lieblicher wurde. Dabei spürte sie, wie ihr das Herz immer schwerer wurde, wenn sie an ihren Vater und Victor dachte.

Sicher war ihr Verschwinden mittlerweile entdeckt worden. Und der Gedanke, dass die beiden Menschen, die ihr am meisten im Leben bedeuteten, dafür zu leiden hatten, presste ihr das Herzblut ab. Wenn sie nur etwas hätte tun können! Doch sie war ja selbst wie ein Spiel­ball des Schicksals, Mächten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, die sie weder kannte noch einzuschätzen vermochte.

Als die Kutsche schließlich ihr Ziel erreichte, schaute das junge Mädchen sich mit staunenden Augen um. Zwar wusste Yvonne, dass die Schlösser entlang des berühmten Flusses für ihren Prunk und ihre Prachtentfaltung bekannt waren. Doch der Anblick, der sich ihr hier bot, war trotzdem atemberaubend.

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Das Schloss bestand aus einem Haupt- und zwei Nebenflügeln und war im verspielten Stil des Barock errichtet worden. Die Umgebung spiegelte dies ebenso wider: Die große Parkanlage war im Stil eines Parterre de Broderie gehalten und sehr gepflegt. Vor dem Hauptportal stieg eine Fontäne aus einem steinernen Becken, zu beiden Seiten der hohen Türen wachten majestätische Löwen aus Stein, die das Wappen der Bourbonen in ihren Tatzen hielten. Zwei livrierte Diener nahmen die Ankommende in Empfang, ein Dritter bat sie freundlich, ihr zu fol­gen. Sie warf Pére Albert einen unsicheren Blick zu, dieser erklärte: »Es hat schon alles seine Richtigkeit, Mademoiselle, keine Angst. Ich sehe später wieder nach Ihnen und werde Ihnen dann auf all Ihre Fragen Rede und Antwort stehen.«

Yvonne folgte dem Bediensteten also über Treppen und Gänge und schließlich in ein prachtvolles Gastzimmer, in dem er sie allein ließ. Sie schaute sich neugierig um. Für eine Weile vergaß das junge Mäd­chen seine mehr als unklare Lage, genoss es einfach, die schöne, fremde Umgebung zu erkunden.

An der Stirnseite des Raums befand sich eine bodentiefe Fenster­tür, die hinaus auf einen schmalen, geschwungenen Balkon führte. Man hatte hier einen herrlichen Blick weit ins Land hinein. Am Horizont sah Yvonne die Häuser von Orleans, etwas näher glitzerte das Wasser der Loire in der Frühlingssonne. Der weitläufige Park mit seinen wie gestickt wirkenden Beeten aus Buchsbaum und hellem Kies, unterbro­chen von Figuren und großen Wasserbecken ließ das ganze wie eine Märchenlandschaft erscheinen. Ein wenig fühlte Yvonne sich tatsäch­lich wie im Märchen. Und doch wusste sie sehr genau, dass es keinen Grund zum Träumen gab. Denn die Wirklichkeit sah ganz anders aus...

Ein leises Klopfen an der Tür ließ sie herumfahren. Ein Dienst­mädchen erschien und bat freundlich, ihr zu folgen. Sie führte Yvonne in ein luxuriöses Badezimmer, dessen Mitte eine große Wanne mit warmem, köstlich duftendem Wasser bildete. Das Dienstmädchen woll­te Yvonne beim Entkleiden helfen, doch sie zögerte und fragte: »Was hat das zu bedeuten? Wieso soll ich baden?« Da sie nicht gleich eine Antwort erhielt, stellte sie klar: »Ich werde nichts tun, wenn ich nicht weiß, warum!«

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Auch wenn das Bad sie noch so sehr lockte, sie wollte sich doch nicht widerspruchslos einer Situation fügen, die sie nicht verstand und die ihr trotz allem noch immer ein leises Unbehagen verursachte.

Das Dienstmädchen erklärte: »Sie müssen baden und sich um­ziehen, Mademoiselle. Vorher wird der Prinz Sie nicht empfangen.«

»Der Prinz? Was will er von mir?« »Bitte, Mademoiselle! Ich bekomme Schwierigkeiten, wenn ich

meine Aufgabe nicht erfülle...« »Also schön.« Yvonne seufzte leise. Wie es schien, musste sie sich

gedulden. Pére Albert hatte ihr schließlich versprochen, ihr Rede und Antwort zu stehen. Und nach der Zeit im Gefängnis erschien ihr ein solches Bad sowieso wie ein Geschenk des Himmels...

Eine Weile später, das Dienstmädchen hatte Yvonne neue Kleider gebracht, sie auch frisiert und dann allein gelassen, erschien der Geist­liche wieder. Er stand einen Moment verblüfft auf der Schwelle und musterte Yvonne intensiv. Sie erwiderte seinen Blick irritiert.

Lächelnd kam er da auf sie zu und erklärte: »Sie müssen mir mein ungebührliches Verhalten verzeihen, Mademoiselle. Doch als ich Sie eben sah, da erinnerten Sie mich sehr an eine hohe Dame, die leider nicht mehr unter uns weilt. Um genauer zu sein, an die Schwester des Prinzen Jospin...«

»An die Prinzessin Marie? Aber, Pére, ich bitte Sie!« »Nein, nein, eine gewisse Ähnlichkeit besteht schon. Und das ist ja

auch nicht verwunderlich. Nach den verwandtschaftlichen Banden zu urteilen, von denen ich Sie nun unterrichten will.«

Yvonne verstand nichts, sie starrte den Geistlichen ungläubig an. »Was... wollen Sie damit andeuten? Bitte, erklären Sie mir endlich, was dies alles hier zu bedeuten hat!«

»Gewiss. Bevor Sie den Prinzen sehen, müssen Sie die Wahrheit kennen. Und ich will sie Ihnen auch gerne anvertrauen: Nun, ich muss ein wenig ausholen, um meine Geschichte zu erzählen. Als Ludwig XVI ein junger Mann war, noch nicht den Thron bestiegen hatte, zeichnete er sich durch seine Reiselust, seinen Bildungshunger, aber auch durch seine amourösen Abenteuer aus. Die jungen Damen im ganzen Land lagen ihm zu Füßen, denn sein Charme war sprichwörtlich. So blieben

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auch gewisse Folgen dieser Romanzen nicht aus, will sagen, der junge Prinz wurde schon lange vor seiner Eheschließung Vater. Und leider nicht nur einmal. Unter den Schönen des Landes, die seinem Charme erlegen waren, war auch eine junge Dame namens Marie Josefine du Pein.«

»Meine Mutter!«

»Ja, so ist es. Sie war damals bereits mit dem jungen Leutnant Daladier verlobt. Er tolerierte ihren Fehltritt, sie heirateten wie geplant. Und er wusste, dass das Kind, das sie unter dem Herzen trug, nicht von ihm war...«

»Mon Dieu, Sie meinen...« Yvonne schüttelte heftig den Kopf. Sie war aufgefahren und wich nun vor dem Geistlichen zurück, als habe sie den Leibhaftigen persönlich vor sich. Denn was er ihr da eben er­zählt hatte, das war ganz einfach viel zu ungeheuerlich, um es zu glauben...

»Bitte, beruhigen Sie sich, Mademoiselle. Ich spreche die Wahr­heit, dessen können Sie versichert sein. Und auch wenn General Dala­dier Ihnen gegenüber nie über Ihre wahre Abstammung sprach - was freilich aus gutem Grund geschah - so ist er doch über alles in­formiert.«

»Sie wollen sagen, mein Vater ist gar nicht mein Vater? Und der König... Nein, ich kann das nicht glauben! Das alles ist so... phanta­stisch. Es klingt wie ein Märchen, das einfach nicht wahr sein kann.« Sie fuhr sich nervös an die Stirn.

Pére Albert gab Yvonne Zeit. Er konnte nachvollziehen, wie sehr seine Worte sie in Verwirrung und Aufruhr stürzen mussten.

Schließlich, als das junge Mädchen sich gefasst hatte, fuhr er be­sonnen fort: »Sie sind die leibliche Schwester des Prinzen Jospin. Und da Ihre Mutter ebenfalls von Stand war, erschien es uns wün­schenswert und wahrscheinlich, dass die Verhältnisse in diesem Land mit Ihrer Unterstützung bald geändert werden können. Deshalb Ihre Befreiung, deshalb die Fahrt hierher. Und nur deshalb haben Sie die Wahrheit über Ihre Herkunft erfahren.«

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»Sie wollen sagen, wären die Verhältnisse in Frankreich anders, hätte ich niemals erfahren, wer ich wirklich bin und woher ich stam­me?«

»Wohl kaum. General Daladier sah dies nicht als nötig an. Er war Ihr Vater, hat Sie aufgezogen, sich nach dem Tod Ihrer Mutter um Sie gekümmert. Ihnen zuliebe kaufte er ›Cyprés‹, um Ihnen eine Heimat zu geben, weit ab von den Intrigen und Machenschaften in Paris. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, Sie zu verletzen oder Ihnen wis­sentlich Kummer zuzufügen.«

»Sie wissen gut Bescheid über mein Leben.« »Wir haben Sie stets im Auge behalten.« Der Geistliche lächelte

versöhnlich. »Dies alles muss Ihnen hinterhältig und sehr berechnend vorkommen. Doch sehen Sie, Mademoiselle Yvonne, die Bourbonen haben ein Erbrecht auf den französischen Thron. Und Prinz Jospin kann nicht hinnehmen, dass ein korsischer Emporkömmling sich die Kaiserkrone aufsetzt. Dagegen muss etwas unternommen werden. Und Sie können versichert sein, dass dies wirklich nur zum Besten Frankreichs geschieht. Wären Sie also willens, uns zu unterstützen und den Plan, der bereits in allen Einzelheiten besteht, mit zu tragen?«

Yvonne ließ sich Zeit mit einer Antwort. Endlich stellte sie fest: »Ich bin noch immer bestürzt und verwirrt, wenn ich an das denke, was Sie mir heute offenbart haben, Pére. Zudem wurde ich von Gene­ral Daladier im Geiste der Revolution erzogen. Ich habe daran ge­glaubt, dass Frankreich bald eine Demokratie sein wird, eine Republik. Nun wieder einen Bourbonen auf dem Thron zu sehen, bedeutet mehr als nur einen Schritt in die falsche Richtung. Doch davon will ich gar nicht sprechen.« Sie seufzte leise. »Ich verdanke Ihnen die Freiheit, mein Leben. Und ich darf wohl davon ausgehen, dass der General und seine Freunde unter der Herrschaft des Prinzen Jospin nichts zu be­fürchten hätten?«

Der Geistliche lächelte milde. »Sie greifen weit in die Zukunft vor, Mademoiselle. Was wir hier besprechen, sind noch Gebilde der Phanta­sie. Und niemand kann mit Sicherheit sagen, ob sie jemals Wirklichkeit werden.«

Das schöne Mädchen nickte. »Ich verstehe.«

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Pére Albert musterte sie nachdenklich. »Nun, wie lautet Ihre Ant­wort? Möchten Sie uns helfen?«

»Ich denke, als kleine Gegenleistung für meine Befreiung wäre das nicht zuviel verlangt. Doch ich möchte gerne zuvor erfahren, wie der Plan aussieht, der die Machtverhältnisse in Frankreich so grundle­gend ändern soll.«

»Es wird keine Revolution mit Pulverdampf und Toten, falls Sie das befürchten«, beteuerte der Pater. »Ich bin nicht befugt, über den genauen Plan zu sprechen, auch nicht mit Ihnen, Mademoiselle. Doch Sie können versichert sein, dass kein Schuss fallen wird, um den rechtmäßigen Anspruch des Prinzen Jospin auf den Thron Frankreichs durchzusetzen. Innerhalb der nächsten Wochen werden wir Frankreich wieder zu dem machen, was es einmal war: Eine grande Nation, die diesen Namen auch verdient.«

*

Richard Columbin tobte, als er erfuhr, was geschehen war. Der Polizei­chef von Paris war berüchtigt für seine Wutanfälle, doch der Zustand, in dem er sich nun befand, übertraf alles, was bislang da gewesen war. Es dauerte Stunden, bis er wieder einigermaßen ansprechbar war. Und dann nahm er die Revolutionäre um General Daladier in Ver­höre, die sich über die ganze Nacht erstreckten. Dass der General ihm auf den Kopf zusagte, was er eigentlich gar nicht hätte wissen sollen, brachte für Columbin schließlich das Fass zum Überlaufen.

»Die Gefangenen werden im Schnellverfahren abgeurteilt«, be­stimmte er und sandte einen Boten zu Napoleon. »Ich will sie endlich hängen sehen. Erst dann werde ich wieder in der Lage sein, mich zu beruhigen!«

Für den General bedeutete dies nur eines: »Wir müssen den Aus­bruch wagen. Wenn Napoleon zustimmt - und davon gehe ich aus, denn bislang hat er Columbin noch nie einen Wunsch abgeschlagen - bleibt uns keine Zeit mehr zu fliehen.«

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»Aber wie sollen wir vorgehen?«, fragte Pichet wenig optimistisch. »Die Wachen sind verstärkt worden. Keine Maus kommt ungesehen aus der Bastille.«

»Wir halten uns an unseren Plan.« Jean-Jaques Daladier wandte sich an den jungen Leutnant. »Ich möchte, dass du nach Schloss Be­sanscourt fährst und Yvonne dort herausholst. Ich habe nicht gegen die Bourbonen gekämpft, um meine eigene Tochter auf dem Thron zu sehen.«

Victor Carnait verstand kein Wort, doch der General winkte un­wirsch ab. »Jetzt ist keine Zeit für lange Erklärungen. Heute Nacht führen wir unseren Plan durch. Wer es schafft, darf sich um nichts und niemanden kümmern, nur um sich selbst. Jeder einzelne zählt. Kein falsches Mitleid.«

»Daladier, du klingst nicht sehr optimistisch«, hielt Couchard ihm entgegen. »Vielleicht ist es überhaupt sinnlos, was wir hier versuchen und du willst es nur nicht zugeben...«

»Dieser Fluchtversuch ist unsere einzige Chance«, unterstrich der General. »Jeder weiß, was er zu tun hat?« Er blickte in die blassen, mitgenommenen Gesichter der Männer, die viel durchlitten hatten. Alle nickten. »Gut, dann ruht euch jetzt aus. Wir müssen heute Abend alle unser Bestes geben...«

Kurz bevor das Abendessen gebracht wurde, brach Edouard Ma­nus mit einem scheinbar sehr schmerzhaften Krampf zusammen. Der General verlangte nachdrücklich medizinische Hilfe, drängte die Wa­chen, nichts zu versäumen.

»Oder wollt ihr diesen Mann vielleicht auf dem Gewissen haben?«, fragte er drohend.

Die beiden Wachmänner wechselten unsichere Blicke - und waren für die entscheidenden Momente unaufmerksam. Alles ging sehr schnell; Daladier und Carnait entwaffneten die Männer und sperrten sie in die Zelle. Dann begaben sie sich ohne Zögern auf den gefahrvol­len Weg nach draußen.

Es dauerte nicht lang, bis Alarm geschlagen wurde. Daladier und Carnait, die die Spitze bildeten, bedeuteten den Nachfolgenden, sich zu trennen.

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»Einzeln kommen wir besser voran.« Der General warf Victor ei­nen kurzen, intensiven Blick zu, dieser verstand. Im nächsten Au­genblick hatten sich auch ihre Wege getrennt. Noch wusste der junge Leutnant nicht, dass er seinen Gönner gerade eben zum letzten Mal gesehen hatte...

Als Columbin von dem Ausbruch erfuhr, befand er sich gerade auf dem Weg zu seiner Kutsche, um nach Hause zu fahren. Davon konnte nun natürlich keine Rede mehr sein. Der Polizeichef von Paris begab sich spornstreichs wieder in sein Büro, um von dort aus die Suche nach den Flüchtigen zu koordinieren. Es dauerte kaum eine halbe Stunde, bis Francois Pichet gestellt war. Er hatte versucht, die Bastille durch ein schmales Nebentor zu verlassen und war dabei den Hä­schern direkt in die Arme gelaufen. Edouard Manus wurde angeschos­sen, als er über eine Mauer klettern wollte. Paul Couchard gelang es, das Gefängnis zu verlassen. Doch er sollte bereits zwei Tage später wieder aufgegriffen werden. General Daladier stellte sich Columbin, der Victor Carnait auf den Fersen war. Nichts hatte ihn auf die Dauer hinter seinem Schreibtisch gehalten. Als er den General überwältigt sah, lachte er hämisch und stellte fest: »Damit ist Ihr Schicksal be­siegelt, Daladier. Das sollte Ihnen doch wohl klar sein.«

Hatte er gehofft, den General damit einschüchtern zu können, er sah sich getäuscht. Kühl hielt dieser ihm entgegen: »Wenn ich Victor damit zur Freiheit verholfen habe, soll es mir recht sein.«

»Für so dumm hätte ich Sie allerdings nicht gehalten.« Columbin schüttelte abfällig den Kopf. »Carnait wird in kürzester Zeit wieder mit Ihnen in der Zelle sitzen. Und dann...« Er starrte den General hasser­füllt an. »... geht alles ganz schnell...«

Währenddessen war es dem jungen Leutnant tatsächlich gelun­gen, zu entkommen. Er suchte auf direktem Weg ein Versteck auf, wo er seine Kleider tauschen und sich waschen konnte. Halbwegs menschlich fiel er so in den Straßen von Paris nicht auf. Auch nicht den Häschern, die der Polizeichef sofort ausgeschickt hatte. Und als Victor am späten Abend in einen Zug nach Orleans stieg, war seine Flucht bereits so gut wie gelungen...

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*

Yvonne warf dem Prinzen scheue Blicke zu. Seit Pére Albert ihr verra­ten hatte, dass Jospin de Lirsac ihr Halbbruder war, hatte sie versucht, diese Tatsache zu begreifen. Doch es wollte ihr einfach nicht gelingen. Und der Prinz trug auch nicht eben dazu bei, dass sie sich etwas siche­rer und ruhiger fühlte. Er gab sich ihr gegenüber sehr arrogant, un­nahbar und herablassend.

Während des Abendessens hatte er kein Wort mit ihr gesprochen. Sie hatte Zeit gehabt, sein edles Profil zu studieren, das blonde Haar, die rehbraunen Augen. Der Prinz war von hoher Geburt, das sah man auf den ersten Blick. Er war ein echter Bourbone. Doch Yvonne hatte sich vergeblich bemüht, eine Ähnlichkeit zwischen ihm und sich festzu­stellen. Vielleicht hatte der Pére sich ja geirrt, vielleicht war alles nur eine Verwechslung. Beinahe wünschte das junge Mädchen es sich. Denn die neue Situation, in die Yvonne ganz unvorbereitet hineingera­ten war, hatte nur auf den ersten Blick nach Freiheit ausgesehen. Was man von ihr erwartete, verlangte, war mehr, als sie geben konnte. Sie fürchtete sich davor, irgendeine Rolle in dieser Geschichte zu spielen, die doch eigentlich gar nichts mit ihr zu tun hatte.

Allmählich begriff das junge Mädchen, dass dies hier keine wirkli­che Veränderung zu ihrer Haft in der Bastille darstellte. Nur dass hier nicht ein Richard Columbin über ihr Leben, ihre Zukunft bestimmte, sondern der Prinz de Lirsac, der es nicht einmal für nötig hielt, sie ü­berhaupt eines Blickes zu würdigen.

Nach dem Essen hatte der Prinz sie gebeten, ihm nach draußen zu folgen. »Ich pflege jeden Abend einen Gang durch die Luft zu unter­nehmen«, ließ er sie mit leiser Stimme wissen. »Es tut den Nerven gut und bereitet auf die Nachtruhe vor.«

Yvonne sagte nichts, ihr fiel einfach nichts ein. Und sie wusste auch nicht, wie sie sich Jospin de Lirsac gegenüber verhalten sollte.

Eine Weile spazierten sie zwischen den gepflegten Parterres hin­durch, schließlich richtete der Prinz wieder das Wort an seine Be­gleiterin. Seine Stimme klang nun ernst und beherrscht.

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»Der Pére sagte mir, dass Sie daran denken, unsere Sache zu un­terstützen, Mademoiselle. Können wir also auf Sie zählen?«

»Ich bin wie mein Vater der Meinung, dass die Kaiserkrönung falsch wäre. Aber ich weiß auch nicht, wie ich Ihnen helfen könnte, Durchlaucht. Ich bin nur ein einfaches Mädchen...«

»Das sind Sie nicht und Sie wissen es«, widersprach er ihr streng. »Unser beider Vater war der rechtmäßige König von Frankreich. Und an uns ist es nun, wieder die richtige Ordnung im Land herzustellen. Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch, Sie spielen dabei keine wirklich aktive Rolle. Doch Sie werden meinen Ansprüchen Nachdruck verlei­hen. Ihre gesellschaftliche Stellung, Ihre Beziehung zu General Dala­dier, all das wird sich zu meinen Gunsten auswirken.«

»Und danach? Wie wird es weitergehen?« »Ich denke nicht so weit im voraus«, entgegnete er vage. »Doch

Sie können versichert sein, dass es nicht Ihr Schaden ist, stellen Sie sich nun auf die richtige Seite.«

Sie warf ihm einen fragenden Blick von der Seite zu, schwieg aber. Der Prinz ließ ihr Zeit. Nach einer Weile, sie hatten das Schloss wieder erreicht, verhielt er seinen Schritt und musterte sie aufmerksam. Sei­nem klugen Blick schien keine ihrer innersten Regungen verborgen zu sein. Und Yvonne ahnte, was die Damen seinerzeit so an seinem Vater angezogen hatte.

»Nun, Yvonne, was sagen Sie? Wollen Sie mir helfen, den Thron zurückzuerobern?«

»Und wenn ich es nicht tue? Würden Sie mich wieder in die Bastil­le schicken?«, fragte sie mutig.

Er lächelte. »Sie sind nicht meine Gefangene, um dies ein für alle Mal klarzustellen. Gewiss, wenn Sie mir Ihre Unterstützung versagten, würde das die Dinge für mich schwieriger machen. Doch es käme mir nie in den Sinn, Sie zu etwas zwingen zu wollen.«

»Und was wird in nächster Zeit geschehen?« »Sie bleiben eine Weile hier, so lange, bis in Paris alle Vorberei­

tungen getroffen sind. Dann begleiten Sie mich in die Hauptstadt.« Er bemerkte die Abwehr in ihren Augen und versicherte: »Sie müssen sich nicht fürchten, Ihnen droht dort in meiner Begleitung keine Ge­

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fahr. Ich werde meinen Anspruch auf den Thron öffentlich erheben. Es gibt eine Reihe von Würdenträgern, die mein Unterfangen positiv mit­tragen werden, wenn es an der Zeit ist. Die Öffentlichkeit wird durch gezielte Veranstaltungen auf unsere Seite gebracht. Alles andere ist nur noch eine Formsache.«

»Und die Armee?« »Auch dort haben wir Sympathisanten. Sie sehen, es ist alles

wohldurchdacht und geplant.« Er schaute sie abwartend an. »Nun fehlt nur noch Ihre Zustimmung, um den Plan in die Tat umzusetzen. Also, was sagen Sie?«

»Ich möchte mir noch ein wenig Bedenkzeit erbitten«, erklärte Yvonne besonnen. »Oder muss ich mich sofort entscheiden? Sie ver­stehen sicher, dass es mir nicht leicht fällt...«

»Wie gesagt, ich werde Sie weder drängen noch zu etwas zwin­gen, das Sie nicht möchten«, unterstrich der Prinz noch einmal. »Aber Sie sollten sich nicht zu viel Bedenkzeit nehmen. Die Ereignisse könn­ten uns sonst überrollen. Und der Plan, den wir verfolgen, ist dann vielleicht hinfällig...«

*

Yvonne erwachte mitten in der Nacht aus wirren Träumen. Sie lag eine ganze Weile mit weit geöffneten Augen da und starrte in die Dunkel­heit der späten Nacht. Dabei wusste sie nicht zu sagen, was sie ge­weckt hatte.

Mit einem leisen Seufzer setzte sie sich schließlich auf und ließ noch einmal die Ereignisse des vergangenen Tages vor ihrem geistigen Auge Revue passieren. Ihre Befreiung aus der Bastille, die Fahrt nach Besanscourt, die Gespräche mit Pére Albert und dem Prinzen Jospin, die ihrem Leben eine völlig neue Wendung gegeben hatten. All das hatte sie aufgewühlt und lange nicht zur Ruhe kommen lassen. Sie schrieb auch ihr jetziges Erwachen diesem Zustand zu. Dass es aller­dings ein Geräusch gewesen war, das sie aus dem Schlaf gerissen hat­te, wurde ihr im nächsten Moment bewusst. Denn da wiederholte es

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sich; es waren Schritte auf dem Kies vor ihrem Fenster, leise Worte, Geräusche...

Yvonne begann, sich zu fürchten. Was hatte das zu bedeuten? Wer schlich da mitten in der Nacht vor ihrem Fenster herum? Als sie ein Pferd leise schnauben hörte, war es um ihre Beherrschung ge­schehen. Sie war nun überzeugt, dass Columbins Häscher sie gefun­den hatten und - entgegen aller Beteuerungen ihrer jetzigen Be­schützer - sie zurück in die Bastille bringen würden!

Hastig sprang sie aus dem Bett, huschte zum Fenster, um einen vorsichtigen Blick nach draußen zu werfen. Zunächst sah sie gar nichts. Es war eine mondhelle Nacht, das fahle Licht des Him­melstrabanten ergoss sich über die formal gestalteten Beete, die kla­ren Wasserbecken und erleuchtete auch die nahe Loire. Das stille Band wirkte wie flüssiges Silber in dieser Frühlingsnacht. Yvonne meinte bereits, sich getäuscht zu haben und wollte zurück ins Bett, als sie direkt unter ihrem Fenster eine Bewegung wahrnahm. Und im nächs­ten Moment sprengte ein Reiter davon. Das junge Mädchen starrte dem Unbekannten, der es scheinbar sehr eilig hatte, verständnislos hinterher. Was hatte das zu bedeuten? Wohin wollte der Fremde um diese nachtschlafende Zeit? Sie konnte sich auf diese seltsame Beo­bachtung keinen Reim machen. Eines aber schien sicher: Es hatte sich nicht um einen von Columbins Leuten gehandelt. Das beruhigte Y­vonne einigermaßen.

Sie legte sich wieder ins Bett und beschloss, bevor sie in Mor­pheus' Arme abdriftete, mit Pére Albert über ihre Beobachtung zu sprechen. Dabei konnte sie nicht ahnen, dass es dazu nicht mehr kommen sollte...

Am nächsten Tag bekam Yvonne den Prinzen kein einziges Mal zu Gesicht. Pére Albert erklärte ihr, dass er viel zu tun habe und sich des­halb nicht um sie kümmern könne. Und auch der Geistliche war kurz angebunden, nicht mehr so freundlich wie am Vortag.

Yvonne traute sich deshalb nicht, von ihrer nächtlichen Beob­achtung zu sprechen. Der Pater überließ sie schließlich sich selbst und das junge Mädchen nutzte die Gelegenheit, um ein wenig durch den Park zu streifen.

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Unterschwellig spürte Yvonne, dass etwas in der Luft lag, eine kaum greifbare Spannung, deren Ursprung sie nicht kannte. Doch sie empfand diese als unangenehm und bedrückend.

Als sie schließlich zum Schloss zurückkehrte, stieg Pére Albert ge­rade in eine Kutsche, die sich eilig in Bewegung setzte. Yvonne wollte fragen, was das zu bedeuten habe, doch niemand gab ihr Antwort. Sie fühlte sich plötzlich sehr allein und fremd auf Besanscourt. Und sie fragte sich zugleich, ob sie jemals so etwas wie schwesterliche Zunei­gung für den Prinzen Jospin würde empfinden können. Momentan er­schien ihr das allerdings mehr als unwahrscheinlich.

Das Mittagessen musste Yvonne ganz allein auf ihrem Zimmer einnehmen. Und als sie am späten Nachmittag die Halle betrat, hatte sie das seltsame Gefühl, als sei das ganze Schloss menschenleer.

Also machte sie sich auf die Suche nach jemandem, den sie fragen konnte, was los war. Sie wollte gerade einen der Salons betreten, als sich eine Hand von hinten auf ihre Schulter legte und jemand flüsterte: »Yvonne, bewegen Sie sich nicht, kommen Sie einfach mit mir...«

Für ein paar Augenblicke meinte sie, nur zu träumen. Sie kannte diese Stimme - aber das war ja ganz unmöglich!

»Victor?« Ihre Stimme war nur ein Hauch, während sie ihm in den Dienstbotentrakt folgte. Hier waren sie allein und relativ sicher vor Entdeckung. Sie starrte ihn an wie eine Erscheinung, konnte nicht fas­sen, dass er tatsächlich vor ihr stand.

»Victor, wo kommen Sie her? Wie ist denn das möglich...« »Ich kann Ihnen jetzt nicht alles erzählen, Yvonne«, entgegnete

er knapp. »Nur soviel: Es gab einen Ausbruch. Ich weiß nicht, ob es den anderen auch gelungen ist, zu fliehen. Ihr Vater gab mir den Auf­trag, hierher zu kommen, um Sie zu befreien.«

»Mein Vater...« Sie lächelte so seltsam, dass Carnait sie fragte: »Stimmt etwas nicht? Was tun Sie überhaupt hier, Yvonne?«

»Das ist eine lange Geschichte. Und ich denke, dazu fehlt uns jetzt einfach die Zeit. Lassen Sie uns schnell von hier verschwinden, Vic­tor!«

Er betrachtete sie noch einen Moment lang intensiv, beinahe an­dächtig. Dann nickte er, nahm ihre Hand und verließ zusammen mit

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Yvonne das Schloss. Niemand hielt sie auf, während sie sich vom Ge­bäude entfernten und schließlich auch den Park verließen. Die seltsam menschenleere Atmosphäre herrschte auch in der Umgebung von Be­sanscourt und machte ihre Flucht beinahe irreal.

Als sie ein kleines Dorf erreichten, fragte das junge Mädchen sei­nen Begleiter: »Wohin gehen wir überhaupt?«

Carnait lächelte schmal. »Wenn ich das wüsste. Ich kenne mich hier nicht aus. Doch ich denke, es wird das Beste sein, wenn wir die Begegnung mit anderen Menschen meiden. Hier fällt jeder Fremde auf. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass der Bluthund in Paris dieses Mal meine Spur verloren hat.«

Yvonne schwieg. Sie musste unvermittelt an ihre gescheiterte Flucht nach Bourg denken. Sollte es ihnen wohl dieses Mal gelingen, ihre Freiheit zu behalten?

»Woran denken Sie?«, fragte Victor nach einer Weile. »An gar nichts«, behauptete sie. »Wie geht es meinem Vater? Bit­

te, erzählen Sie mir, Victor. Ich habe mir schreckliche Sorgen um Papa gemacht.«

»Als ich ihn das letzte Mal sah, war er gesund und munter. Aller­dings steht noch lange nicht fest, dass er die Bastille ebenfalls hat ver­lassen können. Er hat mir quasi zur Flucht verhelfen. Und ich fürchte, Columbin war in diesem Fall schneller...«

»Sie wollen sagen, Sie sind als einziger entkommen?« Yvonne biss sich auf die Lippen. »Mein Gott, was wird aus den anderen werden!«

»Ich habe das gewiss nicht gern getan«, unterstrich er ernst. »Ich wollte mit Ihrem Vater zusammen fliehen. Doch mir blieb keine Wahl. Und der General hat darauf gedrungen, dass ich hierher gelange, um Sie zu befreien. Nur... Seien Sie mir nicht böse, Yvonne, aber ich hatte nicht den Eindruck, als ob Sie auf Besanscourt wie eine Gefangene gehalten wurden.«

»Ihr Eindruck ist richtig.« Sie warf ihm einen fast scheuen Blick zu. »Man hat mich aus der Bastille befreit und hierher gebracht. Aus einem Grund, den ich nicht kenne. Nicht wirklich.«

»Aber auf Besanscourt lebt der Prinz de Lirsac. Welches Interesse hat er an Ihnen?«

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»Hat Papa Ihnen nichts gesagt, Victor?« »Er deutete an, dass Sie hier in Sicherheit seien. Doch die Vorstel­

lung schien ihm trotzdem nicht zu behagen. Und dann sagte er etwas sehr Seltsames, das ich nicht verstanden habe: Nämlich, dass er nicht gegen die Bourbonen gekämpft habe, um seine eigene Tochter auf deren Thron zu sehen. Wissen Sie, was das zu bedeuten hat?«

Sie schüttelte stumm den Kopf. Allerdings wurde es Yvonne ganz seltsam ums Herz. Denn die Worte des Freundes machten deutlich, dass Pére Albert ihr in allem die Wahrheit gesagt hatte: Der General kannte die wahre Abstammung seiner Tochter und hatte geschwiegen. Das junge Mädchen wusste nicht, wie es mit diesem Wissen umgehen sollte. Stellte dies nicht alles infrage, was Yvonne bislang für selbstver­ständlich gehalten hatte? Auch das Vertrauensverhältnis zu ihrem Va­ter...

»Vielleicht sollten Sie über das sprechen, was Sie bedrückt«, schlug der junge Leutnant nach einer Weile des Schweigens vor. »Manchmal hilft das...«

»Ja, mag sein. Aber nicht in meinem Fall.« Sie schaute ihn an und lächelte ein wenig. »Ich bin sehr glücklich, Sie zu sehen, Victor. Als ich in dieser feuchten Zelle sitzen musste, war ich sicher, dass wir uns niemals wieder treffen würden.«

»Ich habe immer daran geglaubt«, hielt er ihr ernsthaft entgegen. »Es war allein dieser Gedanke, der mich am Leben erhielt. Ich habe mir nämlich große Vorwürfe nach unserer Verhaftung gemacht. Das hätte nicht passieren dürfen. Schließlich hat Ihr Vater mir Ihr Leben anvertraut. Und ich habe es schlecht geschützt.«

»Sie haben alles getan, was Sie konnten«, widersprach sie ihm nachdrücklich. »Ich weiß das durchaus zu schätzen. Und dass Sie nun Ihr Leben riskiert haben, um mich zu retten, werde ich Ihnen niemals vergessen.« Vertrauensvoll schob sie ihre Rechte in seine Hand und für eine Weile hätte man Yvonne und Victor für ein ganz normales, junges Paar halten können, das einen gemeinsamen Abendspazier­gang unternahm...

*

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Eine Weile hielten Yvonne und Victor sich in der Umgebung von Orle­ans auf, dann überschlugen sich die Ereignisse: Der nächtliche Reiter, der Yvonne auf Besanscourt aus dem Schlaf geschreckt hatte, war ein Verräter gewesen, der für Columbin gearbeitet hatte. Zwar hatte er das junge Mädchen nicht verraten, wohl aber den Plan des Prinzen, die verlorene Macht für sein Haus wieder zu gewinnen. Der Polizeichef von Paris hatte - mit Napoleons Rückendeckung - einen Haftbefehl für Prinz Jospin ausstellen lassen und seine Häscher ausgesandt, um den letzten Spross der Bourbonen hinter Gitter zu bringen.

Doch Jospin de Lirsac hatte gute Kontakte zu den Herrschern ganz Europas. Noch ehe Columbins Leute seiner habhaft werden konnten, hatte er zusammen mit Pére Albert den Kontinent verlassen und sich unter den Schutz König Georg III von England begeben. Columbin tobte, doch er hatte keine Handhabe, seine Machtbefugnisse endeten an den Landesgrenzen. So musste er sich damit zufrieden geben, die Hinrichtung der Verräter um General Daladier für sich auszuschlachten.

Aus der öffentlichen Hinrichtung wurde eine Art Volksfest, das die Menschen in den Straßen von Paris einmal mehr für die Politik der herrschenden Macht einnehmen sollte. Doch kaum einer ließ sich täu­schen. Und nur wenige Schaulustige wollten den Tod der aufrechten Kämpfer für ein demokratisches Frankreich miterleben...

Carnait hatte in der Zwischenzeit beschlossen, nach Paris zurück­zukehren. Nur hier hatte er die nötigen Kontakte, um an Aus­reisepapiere zu gelangen. Yvonne folgte ihm nur zögernd. Es war wie ein Alptraum für sie, in die Stadt zu kommen, in der ihr Vater einen so grausamen, würdelosen Tod gefunden hatte. Lange Zeit war das junge Mädchen krank vor Kummer. Victor stand ihr bei, so gut er konnte. Zugleich bemühte er sich, ihre endgültige Flucht aus Frankreich minu­tiös zu planen. Dieses Mal sollte nichts schief gehen.

Columbin, der über die Pläne des Prinzen Lirsac informiert war, ging davon aus, dass dieser Yvonne mit sich nach England genommen hatte. Und dass Carnait es noch einmal wagen würde, nach Paris zu kommen, hielt er in seiner Überheblichkeit für ausgeschlossen. So leg­

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te er mit dem Tod von Daladier, Manus, Couchard und Pichet dieses Kapitel zu den Akten, überzeugt, auf ganzer Linie gesiegt zu haben.

Der Sommer kam und ging. Im beginnenden Herbst liefen die Vorbereitungen für Napoleons Kaiserkrönung auf vollen Touren. In der Zwischenzeit hatte Victor Carnait eine Arbeit als Stallbursche in einem Droschkenunternehmen angenommen. Yvonne hielt das für zu gefähr­lich, doch er wollte etwas verdienen, um ihre Fahrt nach Übersee zu finanzieren. Indessen hatte der junge Leutnant von Schiffen gehört, die willige Aussiedler in die neue Welt brachten. Die Passage war kost­spielig, doch die Aussicht auf ein Leben ohne Verfolgung und Angst schien es ihm wert zu sein. Yvonne war von dieser Idee nicht begei­stert, aber sie vertraute Victor und wusste, dass er das Richtige tun würde.

Sie hatte über einige Strohleute eine Kiste mit der Hinterlassen­schaft des Generals erhalten und eine Weile gebraucht, um alle Pa­piere durchzusehen. Darunter befand sich auch ein Brief, der an sie adressiert war. Und als Victor am Abend von der Arbeit kam, wartete sie schon ungeduldig darauf, ihm die nachgelassenen Zeilen vorlesen zu können.

»Meine liebe Yvonne«, hatte er geschrieben. »Wenn Du diesen Brief in Händen hältst, bin ich nicht mehr am Leben. Ich hoffe wirklich, dass mein Tod Dich nicht zu sehr schmerzt, um so mehr, als ich Dir nun ein Geständnis machen muss, das mir zu Lebzeiten einfach zu schwer wurde: Ich bin nicht Dein leiblicher Vater.«

Victor horchte auf. »Was soll das heißen?« Sie bedeutete ihm, zuzuhören und fuhr fort: »Ich habe Deine Mut­

ter wirklich sehr geliebt und ich denke, es ist nicht gelogen, wenn ich behaupte, dass sie das gleiche für mich empfand. Allerdings gibt es in jedem Leben Momente der Versuchung, der Verwirrung und Unsicher­heit. Einen solchen Moment erlebte Deine Mutter, als sie dem zukünf­tigen König Ludwig XVI begegnete. Sie verfiel seinem Charme, vergaß wohl alles, auch, dass wir bereits verlobt waren und ließ sich auf eine kopflose, unsinnige Affäre ein, die bereits nach wenigen Wochen ende­te. Der heißblütige Prinz wurde König, Deine Mutter und ich heirateten. Ich vergaß, was geschehen war, denn meine Liebe zu ihr gab mir dazu

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die Kraft. Allein, die Frucht dieser verbotenen Affäre ließ sich nicht übersehen. Denn Deine Mutter empfing ein Kind von diesem hochge­stellten Mann: Dich.« Yvonne verstummte und warf dem jungen Leut­nant einen unsicheren Blick zu.

Dieser hatte ihr die ganze Zeit mit verschlossener Miene zugehört. Nun fragte er ungläubig: »Soll das heißen, du bist die Tochter des letz­ten Königs von Frankreich?«

»Ich denke, die Worte sind eindeutig«, entgegnete sie sachlich und fuhr dann fort: »Allerdings habe ich in Dir stets mein Kind ge­sehen. Nie wäre es mir in den Sinn gekommen, Dich für den Fehltritt Deiner Mutter leiden zu lassen. Und dazu bestand ja auch nicht der geringste Anlass. Du bist mir stets eine Tochter gewesen, wie man sie sich nur wünschen kann. Ich habe Dich geliebt als mein eigenes Kind. Und daran wird sich niemals etwas ändern. Nun hoffe ich, dass Du mich trotz allem in guter Erinnerung behalten und nicht vergessen wirst. Für Deinen weiteren Lebensweg wünsche ich Dir alles Glück. Es grüßt und küsst Dich, meine kleine Yvonne, ein letztes Mal Dein Va­ter.«

Nachdem sie geendet hatte, herrschte eine ganze Weile Schwei­gen in den kleinen Raum. Victor hatte sich von seinem Stuhl erhoben und war hinter das schmale Fenster getreten, das einen Ausblick auf die Seine bot. Allerdings stand der Gasthof, in dem sie sich eingemie­tet hatten, in einem der billigen Viertel der Stadt. Man blickte hier nicht auf Parks oder gepflegte Uferpromenaden, sondern auf Unrat und halb verfallene, alte Häuser.

»Was sagst du dazu, Victor?«, fragte Yvonne ihn schließlich, da er gar keine Anstalten machte, sich zu äußern. Zunächst hatte sie sich über den Brief gefreut, war erleichtert gewesen, Carnait auf diese Wei­se die Wahrheit etwas einfacher beibringen zu können. Nun sah es allerdings so aus, als wolle er es ihr keineswegs einfach machen; im Gegenteil.

»Hast du davon schon früher gewusst?«, wollte er tonlos erfah­ren. »Schon, als du nach Besanscourt gebracht wurdest?«

»Nein, damals wusste ich noch nichts.«

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Er wandte sich ihr zu, Misstrauen funkelte in seinem Blick. Und plötzlich war Victor Carnait ihr ganz fremd. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dir das abnehme?«

»Victor, ich verstehe nicht...« »Als du aus der Bastille befreit worden bist, hat man dir ganz be­

stimmt gesagt, aus welchem Grund dies geschieht. Ich kann mir wirk­lich nicht vorstellen, dass du einfach mit einem wildfremden Menschen fort gegangen wärst, ohne zu wissen, wohin. Das war... doch ein ab­gekartetes Spiel. Und dein Vater hat es mit dem Leben bezahlt.« Er lächelte abfällig. »Oh, Pardon, der General ist ja nicht dein Vater ge­wesen.«

»Victor! Wie kannst du nur!« Sie war ehrlich entsetzt. Traute er ihr ernstlich zu, so skrupellos gehandelt zu haben? Sie mochte es nicht glauben. »Als Pére Albert mich aus der Zelle holte, sagte er mir nur, dass er es gut mit mir meine und mich zu Menschen bringen wolle, die mir Sicherheit bieten könnten. Hättest du ein solches Angebot viel­leicht abgelehnt?«

»Wenn es nur mir selbst gegolten hätte, sicher!« Sie starrte ihn wütend an. »Du hast jetzt leicht reden, nachdem

alles längst geschehen ist! Aber ich hatte Todesangst. Dieser Columbin hat mich dermaßen in Angst und Schrecken versetzt, dass ich alles dafür gegeben hätte, von diesem schrecklichen Ort zu fliehen. Kannst du denn das nicht verstehen?«

Er senkte den Blick, murmelte: »Verzeih mir, ich sollte dir wohl wirklich keine Vorwürfe machen.«

»Erst als ich auf diesem Schloss war, habe ich die Wahrheit erfah­ren. Der Prinz de Lirsac hat sich etwas davon versprochen, mich an seiner Seite zu haben. Ihm ging es nur um den Thron, ich habe dabei in keiner Sekunde gezählt. Sonst hätte er wohl nicht so Knall auf Fall das Land verlassen.«

»Und du... wolltest mit ihm gemeinsame Sache machen?« »Ich hatte mich noch nicht entschieden«, gab sie offen zu. »Viel­

leicht hätte ich bis zu einem gewissen Grad mitgespielt. Das weiß ich heute nicht mehr.«

»Er hat dich dazu gezwungen.«

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»O nein. Im Gegensatz zu den Leuten, die momentan in diesem Land die Macht haben, war Jospin stets höflich zu mir. Er hat mich ge­beten, ihn zu unterstützen. Doch er ließ mir die Wahl.«

»Das klingt nach Sympathie.« Er musterte sie forschend. »Ver­bindet dich etwas mit diesem Mann?«

»Er ist mein Halbbruder.« Sie schüttelte leicht den Kopf. »Ich kann es noch immer nicht wirklich begreifen. Es auszusprechen, macht diese Tatsache auch nicht realer. Doch es ist so. Wir hatten den glei­chen Vater. Obwohl ich trotz allem den General nach wie vor als mei­nen wirklichen Vater ansehe.«

Carnait lächelte schmal. »Ich habe nichts anderes erwartet.« »Es ist nicht leicht für mich, mit alldem umzugehen. Ich habe

noch immer nicht richtig verstanden, was dieser Brief für meine Zu­kunft bedeuten wird. Eines aber scheint mir ganz klar: Ich werde mei­ne Abstammung geheim halten. Dieser Brief sollte vernichtet werden.«

»Yvonne, bist du sicher, dass du das willst?« »Es ist die einzige Möglichkeit. Jetzt, wo Papa tot ist, verbindet

mich nichts mehr mit diesem Land.« Sie lächelte ihm zaghaft zu. »Ich glaube, das Beste wird sein, wenn wir bald von hier fortgehen. Oder meinst du, es ist noch immer gefährlich für uns, wenn wir versuchen, das Land zu verlassen?«

»Columbin sieht nach den Hinrichtungen den Fall wohl als erledigt an. Er ist voll und ganz damit beschäftigt, bei den Vorbereitungen für die Kaiserkrönung für Ruhe und reibungslosen Ablauf zu sorgen.« Er zögerte kurz, ehe er entschied: »Ich denke, wir können es wagen.«

Yvonne nickte, ihr hübsches Gesicht nahm einen bekümmerten Ausdruck an, was Victor zu der Frage animierte, ob sie noch etwas anderes bedrücke.

»Ich wünschte, ich könnte noch einmal nach ›Cyprés‹, mich von allem dort verabschieden. Der Aufbruch war so unerwartet und so hektisch. Ich vermisse das Gut. Und wenn ich daran denke, wie Papa immer davon gesprochen hat, dass er dort begraben werden will, wird mir das Herz sehr schwer...«

»Das verstehe ich. Trotzdem ist es nicht ratsam, noch einmal dort­hin zu reisen.«

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»Aber wenn Columbin sich nicht mehr für uns interessiert...« »Das ist eine Mutmaßung. Allerdings bin ich fest davon überzeugt,

dass er sofort wieder aufmerksam werden wird, falls einer seiner Spürhunde etwas Verdächtiges vorbringt. Und ich möchte nicht noch einmal das Risiko eingehen, entdeckt zu werden.«

Das schöne Mädchen seufzte leise, nickte dann aber. »Vermutlich hast du Recht. Ich habe mir nur gewünscht, in Ruhe Abschied nehmen zu können. Doch das geht wohl nicht. Wenn ich wenigstens wüsste, wo Papa begraben liegt. Aber nicht einmal das ist mir ja vergönnt.« Sie wischte sich flüchtig über die Augen, Victor nahm ihre Hände in seine und suchte ihren Blick.

»Wenn wir Frankreich verlassen haben, wird für uns ein neues Le­ben beginnen. Ich möchte nicht, dass du auch nur noch einen Tag lang unglücklich oder bekümmert bist. Und ich will alles dazu tun, da­mit du wieder unbeschwert lachen kannst, Yvonne.«

»Ach, Victor, du hast schon so viel für mich getan. Ich stehe tief in deiner Schuld«, murmelte sie befangen und senkte den Blick. »Wie soll ich das nur je wiedergutmachen?«

Behutsam schob er da eine Hand unter ihr Kinn und schaute ihr in die Augen. »Wenn du nur glücklich bist, Yvonne, dann bin ich es auch. Mehr wünsche ich mir gar nicht.«

Sie errötete leicht, doch er meinte, in ihren schönen Augen den Widerklang der Gefühle zu sehen, die sein Herz schon so lange be­herrschten. Und als er sie innig küsste, erwiderte sie diese Zärtlichkeit mit der ganzen naiven Inbrunst, deren ihr junges Herz fähig war.

»Ich liebe dich, Yvonne«, gestand Victor ihr mit bewegter Stimme. »Mein Herz gehört nur dir. Und das schon seit langer Zeit. Damals, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind, warst du noch fast ein Kind. Doch ich wusste bereits, dass nur du allein der Mittelpunkt und der Sinn meines Lebens sein würdest.«

»Ist das wahr?« Sie lächelte beglückt. »Und dabei habe ich nicht einmaigeahnt, wie du empfindest. Ich habe immer nur einen guten Freund in dir gesehen. Und als Mimi mir sagte, dass da mehr sei zwi­schen uns, da habe ich sie ausgelacht ...« Unvermittelt brach Yvonne in Tränen aus. Sie schmiegte sich an Victor, der sie ganz festhielt und

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nuschelte: »Mimi, du gute Alte. Wo mag sie jetzt sein? Ach, Victor, ich vermisse sie alle so sehr. Vor allem Papa...«

»Es wird dauern, bis die Trauer aus deinem Herzen verschwindet. Aber es wird geschehen«, war er überzeugt.

»Ich schäme mich richtig vor dir.« Sie schnäuzte sich und warf ihm einen verschämten Blick zu. »Nun jammere ich dir schon wieder etwas vor. Wie kannst du es nur mit mir aushalten? Ich mache dir doch immer nur Kummer.«

»Vielleicht liebe ich Kummer«, scherzte er halbherzig, wurde aber sofort wieder ernst. »Du hast sehr viel durchmachen müssen, Yvonne. Was hinter dir liegt, ist mehr, als ein Mädchen wie du eigentlich ertra­gen kann. Aber du bist tapfer und stark. Und deshalb weiß ich, dass du es schaffen kannst. Du wirst all das Schwere hinter dir lassen, wenn wir dieses Land verlassen und in ein neues Leben gehen. Gemein­sam.«

Sie lächelte scheu. Gerne wollte sie ihm glauben, doch das Herz war ihr noch so schwer! Wenn sie aber in Victors treue Augen schaute, die sie mit so viel Liebe und inniger Zuneigung betrachteten, dann wusste sie, dass sie es gemeinsam scharfen konnten. Wenn er bei ihr war, dann war einfach alles gut!

»Wann werden wir fahren?«, fragte sie unruhig. »Ich glaube, wir sollten nicht zu lange warten. Oder?«

»Ich habe bereits eine kleine Summe beiseite gelegt, die uns als Startkapital dienen kann. Sobald zwei Passagen auf dem nächsten Schiff nach Übersee frei sind, sollten wir es wagen!«

»Im Nachlass meines Vater habe ich noch das gefunden.« Sie reichte ihm einen Lederbeutel, in dem sich eine erkleckliche Summe Goldmünzen befand. »Denkst du, das genügt für ein neues Leben in einem anderen Land?«

Der junge Leutnant nickte ohne zu zögern. »Damit sollten wir es schaffen«, meinte er betont optimistisch.

*

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Am 2. Dezember 1804 sollte die Kaiserkrönung Napoleons stattfinden. In Paris waren alle Vorbereitungen dazu abgeschlossen, selbst der Papst war aus Rom angereist, um dem kleinen Korsen den goldenen Siegerkranz aufs Haupt zu setzen. Niemand sprach mehr von den Wir­ren im Vorfeld dieses besonderen Ereignisses. Die Männer, die ihr Le­ben für die Freiheit Frankreichs gegeben hatten, schienen zumindest an diesem kalten Wintertag vergessen. Überall in den Straßen warte­ten die Menschen neugierig auf den großen Zug, der vom Präsiden­tenpalast zur Krönungskirche Notre Dame ziehen sollte. Eine gespann­te Sensationslust lag über der Stadt, doch wirkliche Euphorie war nicht zu spüren.

An diesem kalten Wintertag befanden sich Yvonne Daladier und Victor Carnait bereits auf dem großen Ozean, Richtung neuer Welt. Sie hatten die letzten Billets auf dem letzten Schiff ergattert, das in diesem Jahr Frankreich verließ. Einige Tage, fast eine Woche, waren sie nun unterwegs. Und doch begann Yvonne erst sehr langsam, sich in Si­cherheit zu fühlen. Wenn sie an die Abreise zurückdachte, klopfte ihr Herz noch immer voller Angst und sie empfand es wie ein kleines Wunder, dass ihre Flucht nun gelungen war.

Obwohl es ein hohes Risiko gewesen war, hatte Victor die Billets auf ihren richtigen Namen gekauft. Er wusste, dass sie in Amerika nicht einwandern durften, wenn man ihnen bereits bei der Überfahrt einen Schwindel nachweisen konnte. Doch Yvonne hatte dieses Risiko als zu hoch empfunden. Noch am Tag der Abreise hatte sie gezweifelt und gehadert.

»Wenn unsere Namen einem Spitzel auffallen, wenn Columbin er­fährt, was wir vorhaben, wird er uns wieder in die Bastille sperren!«, hatte sie befürchtet. »Und das könnte ich einfach nicht ertragen. Ver­stehst du das denn nicht, Victor?«

»O doch, ich verstehe dich sogar sehr gut«, hatte er versichert. »Doch die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden, ist minimal. Co­lumbin hat momentan ganz andere Sorgen. Es darf so kurz vor der Krönung nichts mehr schief gehen. All seine Sicherheitskräfte sind in Paris eingesetzt. Niemand wird auf uns achten. Du musst mir vertrau­en, Yvonne. Nur noch dieses eine Mal. Ich verspreche dir...«

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»Nein, ich kann nicht!« Sie schüttelte vehement den Kopf. »Ich verlasse dieses Zimmer nicht, um mich in eine solche Gefahr zu bege­ben.«

»Aber es ist unsere einzige Chance!«, hatte er ihr ärgerlich entge­gengehalten. »Ich bitte dich, werde endlich vernünftig!«

»Das bin ich«, behauptete sie kühl. »Ich bleibe hier!« »Also schön, wie du willst.« Victor hatte dieses Thema nicht mehr

angeschnitten. Und am Morgen der Abreise hatte er allein den Gasthof verlassen. Yvonne hatte bis zuletzt gehofft, ihn davon abhalten zu können.

Nachdem er gegangen war, hatte sie endlich begriffen, wie falsch und engstirnig ihre Haltung war. Hatten sie denn all das Schwere durchgemacht, um sich nun zu trennen und beide unglücklich zu wer­den? Yvonne liebte Victor. Und sie wusste, dass er das gleiche für sie empfand. Doch nun musste sie ihm dies auch beweisen. Einmal noch über ihren Schatten springen, um ein neues Leben zu beginnen, frei zu sein, keine Angst vor Entdeckung mehr haben zu müssen. War dafür ein wenig Furcht nicht ein niedriger Preis?

Endlich wurde dem schönen Mädchen klar, was es zu tun hatte! In Windeseile packte Yvonne ihre wenigen Habseligkeiten zusammen und eilte zum Hafen. Die Reise startete auf einem kleinen Zubringerschiff, das über die Seine nach Le Havre schipperte. Mit wild pochendem Her­zen erreichte Yvonne ihr Ziel. Immer wieder schaute sie sich hektisch um, stets auf dem Sprung und bis aufs Äußerste angespannt. Wenn nur alles gut ging, sie nicht noch im letzten Moment aufgegriffen wur­de... Doch sie bemühte sich, gar nicht weiter an diese Möglichkeit zu denken. Sie hatte sich entschieden, wollte dieses letzte Risiko einge­hen, um endlich frei und glücklich leben zu können!

In diesen schicksalhaften Augenblicken wurde Yvonne Daladier endgültig erwachsen und fähig, die Verantwortung für ihr Leben, ihr Tun zu tragen. Sie spürte es selbst kaum, doch ihre Entscheidung, Victor zu folgen, bedeutete zugleich das Ende eines Kapitels in ihrem Leben, das Kindheit und Jugend hieß. Sie hatte viel erlitten und viel erfahren in den zurückliegenden Monaten. Und sie war zur Frau her­angereift, die ihr Leben mit dem Mann teilen wollte, den sie liebte.

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Endlich betrat sie das Schiff, zeigte ihre Papiere vor. Der Kon­trolleur warf kaum einen Blick darauf. Und als sie dann in der Masse der Reisenden untertauchen konnte, fühlte sie sich bereits relativ si­cher.

Es dauerte allerdings eine Weile, bis sie Victor fand. Er stand in ei­ner Ecke, mit verschlossener Miene und wirkte sehr allein und ver­lassen. Als Yvonne plötzlich vor ihm stand, schien er dies zunächst gar nicht glauben zu können. Dann aber zog er sie wortlos in seine Arme und hielt sie ganz fest. Und diese Geste sagte mehr als alle Worte...

Sie erreichten den Ozeandampfer pünktlich und stachen bei kla­rem Winterwetter in See. Die Reise verlief ruhig. Und als sie beinahe eine Woche unterwegs waren, zeigte Victor sich eines Morgens sehr bedrückt. Yvonne ahnte, was ihn beschäftigte.

Es war der 2. Dezember. Und sie beide wussten, was dieses Da­tum für Frankreich bedeutete.

»Wir haben es nicht verhindern können«, gemahnte sie ihn beson­nen. »Und nun sollten wir es am besten vergessen.«

Der junge Mann schüttelte angedeutet den Kopf. In seiner aus­drucksvollen Miene spiegelte sich deutlich der Kummer wider, der sein Herz beherrschte. »Das kann ich nicht. Zuviel ist geschehen. Tapfere Männer haben ihr Leben gelassen, um diesen Wahnsinn zu verhindern. Und doch haben sie nichts erreicht...«

»Ich glaube, Papa wollte nicht, dass wir unser Leben auch aufge­ben«, sinnierte das junge Mädchen. »Sonst hätte er dich nicht nach Besanscourt geschickt. Er hat uns ein Dasein in Freiheit gewünscht. Und wir sollten diesen Wunsch respektieren.«

»Der General hatte uns allen viel zu geben. Nie werde ich die Be­suche auf ›Cyprés‹ vergessen. Wenn er von der Freiheit sprach, von der Demokratie, dann konnte ich ihm stundenlang zuhören. Es ist ein Jammer, dass sein Leben so enden musste. Ein Jammer und eine Schande für Frankreich.«

»Irgendwann wird man sein Opfer und das seiner Freunde aner­kennen«, war Yvonne überzeugt. Ihr Blick ging über die Gesichter der anderen Menschen im Frühstückstraum und blieb an dem eines Herren hängen, der sie neugierig musterte, allerdings schnell fort schaute, als

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sie seinem Blick begegnete. Das junge Mädchen erschrak zutiefst. So­fort schien es ihr, als greife eine kalte Hand nach ihrem Herzen und sie meinte, all die Ängste, die hinter ihr lagen, hätten sie wieder eingeholt.

Noch ehe sie etwas zu Victor sagen konnte, hatte der Herr in mitt­leren Jahren sich erhoben und kam auf sie zu.

»Victor...« Sie warf ihm einen panischen Blick zu, der junge Mann wurde eine Spur blasser, behielt aber rein äußerlich die Ruhe. Als der Fremde sich knapp verbeugte und fragte: »Dürfte ich erfahren, ob ich die Ehre mit Mademoiselle Daladier habe?«, erwiderte Carnait kühl: »Ich sehe keine Veranlassung, einem Fremden gegenüber die Identität meiner Begleiterin offen zu legen. Zudem müssen Sie sich irren. Ver­mutlich verwechseln Sie diese junge Dame mit einer anderen.«

Der Herr lächelte angedeutet und überreichte Victor seine Visi­tenkarte. ›Henry Vasalle, Anwalt‹ stand darauf zu lesen. Erklärend fügte er hinzu: »Ich war ein guter Freund von Francois Pichet. Leider machte mir meine politische Gesinnung die Ausübung meines Berufes in Frankreich auf die Dauer unmöglich. Deshalb wählte ich, wie Sie beide, diese Möglichkeit, um ein neues Leben zu beginnen.« Er wurde ernst. »Ich wollte Ihnen nur mein tiefes Bedauern und Mitgefühl zum Tod Ihres hoch geschätzten Vaters aussprechen, Mademoiselle. Ich bin überzeugt, dass unser geliebtes Vaterland nie einen ehrenwerteren Mann gesehen hat als ihn. Sie können versichert sein, dass viele Men­schen, wo immer sie sich auf dieser Welt auch befinden mögen, ihm ein ehrendes Andenken bewahren werden. Und gerade an einem so düsteren Tag für Frankreich wie heute sollten wir seiner nicht verges­sen.« Er verbeugte sich knapp und entfernte sich dann wieder.

Yvonne warf Victor einen bedeutsamen Blick zu und stellte dann mit bewegter Stimme fest: »Du siehst, Papa ist nicht vergessen.«

Der junge Mann nickte, auch er war von dieser unerwarteten Be­gegnung beeindruckt. »Das lässt hoffen«, entgegnete er und Yvonne spürte, wie der Kummer ein wenig von ihm wich.

Da hob sie ihr Glas und erklärte: »Auf Frankreich, wie es einmal sein wird. Und auf unsere Zukunft.«

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Page 98: Schicksal zwischen Herz und Krone

Diesem Trinkspruch schloss Victor sich gerne an. Und als ihre Glä­ser hell aneinander klangen, wussten sie beide, dass dies der wirkliche Beginn eines neuen, eines besseren Lebens für sie war.

Ende

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