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Inhalt AUFSÄTZE Strafrecht Die aktuelle Forderung eines Verbandsstrafrechts – Ein kriminalpolitischer Zombie Von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Bernd Schünemann, München 1 Der nordrhein-westfälische Entwurf eines Verbands- strafgesetzbuchs – Eine kritische Betrachtung von Begründungsmodell und Voraussetzungen der Straf- tatbestände Von Dr. Elisa Hoven, Köln 19 Über die Bedeutungslosigkeit des Satzes „in dubio pro reo“ Eine grammatisch-logische Rekonstruktion der Freispruchsdogmatik Von Akad. Mitarbeiter Kyriakos N. Kotsoglou, LL.M., Freiburg i.Br. 31 Europäisches Strafrecht Die verspätet und fehlerhaft umgesetzte Richtlinie 2008/115/EG und ihre Auswirkungen auf das Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 95 Abs. 2 Nr. 1 lit. a, b AufenthG Zugleich Besprechung von EuGH, Urt. v. 19.9.2013 – C 297/12 Von Prof. Dr. Bernd Hecker, Trier 47 BUCHREZENSIONEN Strafrecht Martin Knaup, Die Begrenzung globaler Unternehmensleitung durch § 9 Absatz 2 Satz 2 StGB, 2011 (Rechtsanwalt Dr. Christian Pelz, München) 54

Schünemann gesetzt endg - ZISEine grammatisch-logische Rekonstruktion der Freispruchsdogmatik Von Akad. Mitarbeiter Kyriakos N. Kotsoglou, LL.M., Freiburg i.Br. 31 Europäisches Strafrecht

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Inhalt AUFSÄTZE Strafrecht Die aktuelle Forderung eines Verbandsstrafrechts – Ein kriminalpolitischer Zombie Von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Bernd Schünemann, München 1 Der nordrhein-westfälische Entwurf eines Verbands- strafgesetzbuchs – Eine kritische Betrachtung von Begründungsmodell und Voraussetzungen der Straf- tatbestände Von Dr. Elisa Hoven, Köln 19 Über die Bedeutungslosigkeit des Satzes „in dubio pro reo“

Eine grammatisch-logische Rekonstruktion der Freispruchsdogmatik

Von Akad. Mitarbeiter Kyriakos N. Kotsoglou, LL.M., Freiburg i.Br. 31 Europäisches Strafrecht Die verspätet und fehlerhaft umgesetzte Richtlinie 2008/115/EG und ihre Auswirkungen auf das Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 95 Abs. 2 Nr. 1 lit. a, b AufenthG Zugleich Besprechung von EuGH, Urt. v. 19.9.2013 – C 297/12 Von Prof. Dr. Bernd Hecker, Trier 47 BUCHREZENSIONEN Strafrecht Martin Knaup, Die Begrenzung globaler Unternehmensleitung durch § 9 Absatz 2 Satz 2 StGB, 2011 (Rechtsanwalt Dr. Christian Pelz, München) 54

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 1

Die aktuelle Forderung eines Verbandsstrafrechts – Ein kriminalpolitischer Zombie

Von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Bernd Schünemann, München I. Ein Resümee nach 60 Jahren Diskussion

1. Dass sich Gesetz’ und Rechte wie eine ew’ge Krankheit forterbten und von dem mit der lebenden Generation gebore-nen Recht nie die Frage sei – diese mephistophelische Diag-nose eines gegenüber der gesellschaftlichen Entwicklung tau-ben und blinden, aus vergangenen Zeiten übernommenen und zur Zwangsjacke degenerierten Normengerüsts1 muss heute durch ihr Gegenteil ersetzt werden: Der Gesetzgeber reagiert hektisch auf jede wirkliche oder vermeintliche Blähung des Zeitgeistes, und wir haben uns nicht nur in einer so flüssigen Materie wie dem Finanzwesen des Schuldenstaates an die ständige Veränderung durch das „Jahressteuergesetz“2 ge-wöhnt, sondern auch – eine eindrucksvolle empirische Bestä-tigung der These Luhmanns von der Kontingenz des positi-ven Rechts3 – an sage und schreibe 140 Änderungsgesetze zur Strafprozessordnung binnen 40 Jahren (von 1972 bis 2012) oder 60 zum Strafgesetzbuch binnen 12 Jahren (von 2001 bis 2012). Zwischen diesen beiden Extremen existieren – wie ich sie nennen möchte – rechtspolitische Zombies, also Regelungsvorschläge, die nach gründlicher Prüfung verwor-fen worden sind, aber nach einer gewissen Latenzzeit wieder hervorgekramt werden und eine erneute Diskussion mit we-

1 Weil Goethe sie seinen Mephisto noch nicht im Urfaust, sondern erst in der nach der französischen Revolution und dem Inkrafttreten des preußischen Allgemeinen Landrechts im Jahr 1797 wieder aufgenommenen Dichtung treffen lässt (Faust I, Studierzimmer, 1972 ff.), dürfte sie nicht als eine zeitgenössische Kritik, sondern als eine Verarbeitung seiner Erfahrungen am Reichskammergericht und damit letztlich als eine Kritik der Rezeption des römischen Rechts zu deuten sein. 2 Wobei der permanente, von Opportunität und Lobbyismus beeinflusste Wandel der Steuertatbestände mit der dadurch erfolgten partiellen Ablösung von Gerechtigkeitsprinzipien (was die Steuerverfehlung vom Steuersparmodell eher intel-lektuell als moralisch trennt, sozusagen Dummheit versus Raffinesse der Kautelarjurisprudenz) in einem eklatanten Gegensatz zur wachsenden Drakonisierung des Steuerstraf-rechts und Steuerstrafverfahrens steht (dazu in Kürze Schünemann, in: Livonius/Graf/Wolter/Zöller [Hrsg.], Straf-verteidigung im Wirtschaftsleben, Festgabe für Hanns Fei-gen, 2014, S. 263 ff.) – von dem in die Groteske reichenden Gegensatz zur de facto weitgehend etablierten Straflosigkeit der Steuerverschwendung (dazu Schünemann, Unverzichtba-re Gesetzgebungsmaßnahmen zur Bekämpfung der Haus-haltsuntreue und der Verschwendung öffentlicher Mittel, 2012) und der in die Billionen gehenden Schädigungen durch ungetreue Glücksspiele im Bankwesen (vulgo Finanzkrise, dazu Schünemann [Hrsg.], Die sogenannte Finanzkrise – Systemversagen oder global organisierte Kriminalität?, 2010) oder die Targetsalden im EZB-System (dazu Schünemann, ZIS 2012, 84; H.-W. Sinn, Die Target-Falle, 2012) ganz ab-gesehen. 3 Luhmann, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1983, S. 190 ff., 215 f.

nigen neuen und überwiegend aufgewärmten alten Argumen-ten provozieren.

2. Im Strafrecht findet sich der vitalste Zombie zweifellos in Gestalt der Strafbarkeit juristischer Personen bzw. von Verbänden. Nachdem die Besatzungsmächte im Wirtschafts-strafrecht der Nachkriegszeit verschiedentlich die Verhängung echter Kriminalstrafen gegen juristische Personen vorgesehen hatten,4 stellte sich die Strafrechtliche Abteilung des 40. Deutschen Juristentages 1953 die Frage „Empfiehlt es sich, die Strafbarkeit der juristischen Person gesetzlich vorzuse-hen?“ und verneinte diese auf der Grundlage des Gutachtens von Heinitz und der Referate von Engisch und Hartung mit der damals nicht ernsthaft angefochtenen Begründung, dass Strafe nur wegen einer rechtswidrig-schuldhaften Handlung verhängt werden dürfe und juristische Personen weder hand-lungs- noch schuldfähig seien.5 In § 47 des Außenwirtschafts-gesetzes vom 28.4.19616 ist deshalb jede direkte strafrechtliche Verantwortlichkeit einer juristischen Person abgeschafft wor-den, und in den 1978 abgeschlossenen Beratungen der 1972 vom Bundesjustizministerium eingesetzten Sachverständigen-kommission zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität stand ihre Wiedereinführung zu keinem Zeitpunkt zur Diskussion.7 Die wissenschaftliche Auseinandersetzung ist hierdurch je-doch nicht gestoppt worden, sondern lief – mit im Einzelnen höchst unterschiedlichen Vorschlägen – in den 90er Jahren geradezu auf Hochtouren.8 Gleichwohl hat auch die deutsche Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionen-systems in ihrem Abschlussbericht aus dem Jahre 2000 die

4 Eingehende Darstellung bei Rudolf Schmitt, Strafrechtliche Maßnahmen gegen Verbände, 1958, S. 47 ff. 5 Verhandlungen des 40. Deutschen Juristentages 1954, Bd. 1 S. 85 ff., Bd. 2 E S. 23 ff., 44, 68 ff. 6 BGBl. I 1961, S. 481. 7 Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität – Schlussbericht der Kommission, 1980, S. 35 ff., und dazu Schünemann, Unternehmenskrimi-nalität und Strafrecht, 1979, S. 263 f. 8 Schroth, Unternehmen als Normadressaten und Sanktions-subjekte, 1993; Schünemann/Suárez González (Hrsg.), Bau-steine des europäischen Wirtschaftsstrafrechts, 1994, S. 265 ff.; Schünemann/Figueiredo Dias (Hrsg.), Bausteine des euro-päischen Strafrechts, 1995, S. 283 ff.; Heine, Die strafrechtli-che Verantwortlichkeit von Unternehmen, 1995; Schünemann (Hrsg.), Unternehmenskriminalität (Deutsche Wiedervereini-gung – Die Rechtseinheit, Arbeitskreis Strafrecht III), 1996; de Doelder/Tiedemann (Hrsg.), Criminal Liability of Corpo-rations, 1996; Ransiek, Unternehmensstrafrecht, 1996; Busch, Unternehmen und Umweltstrafrecht, 1997; Alwart (Hrsg.), Verantwortung und Steuerung von Unternehmen in der Marktwirtschaft, 1998; Eser/Heine/Huber (Hrsg.), Criminal Responsibility of Legal and Collective Entities, 1999; Bosch, Organisationsverschulden in Unternehmen, 2002; Symposium „The Sarbanes-Oxley Act of 2002“, Buffalo Crim. L. Rev. 8 (2004), Ausgabe 1.

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Bernd Schünemann

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ZIS 1/2014 2

Einführung einer Unternehmenssanktionierung im Bereich des klassischen Strafrechts (im Klartext: eine echte Unterneh-mensbestrafung) abgelehnt, sowohl mangels eines kriminal-politischen Bedürfnisses als auch wegen erheblicher Beden-ken im Hinblick auf das strafrechtliche Schuldprinzip.9

3. Das anschließende Jahrzehnt hat diese Ablehnung in der deutschen strafrechtswissenschaftlichen Diskussion be-festigt, weil die wiederholten Versuche, die die ontologische Basis der Kriminalstrafe bei Individuen bildende Handlungs- und Schuldfähigkeit bei Verbänden entweder durch bloße Zu-rechnung oder durch Analogie zu substituieren, teils platte Un- und Missverständnisse der Wirksamkeits- und Legitima-tionsbedingungen des Strafrechts transponieren, teils in eine normtheoretische Aporie hineinführen. Um das in aller Kürze an Hand der sattsam bekannten Straftheorien zu rekapitulie-ren:

a) Die Theorie(n) der Generalprävention, die den Rechts-güterschutz durch Erhaltung der allgemeinen Normtreue als Zweck des Strafrechts verstehen, sehen diesen Zweck in ihrer klassischen Konzeption durch Feuerbach durch die Strafan-

drohung erreicht, die den Bürger als rationalen Nutzenmaxi-mierer davon abhält, die bei einer isolierten Betrachtung für ihn interessengerechte, bei einer Berücksichtigung der auf das Delikt angedrohten Strafe aber interessenwidrige Straftat zu begehen. Wegen des schon in objektiver Hinsicht nur mehr oder minder großen Entdeckungsrisikos und wegen der sub-jektiven menschlichen Neigung, entfernte Risiken gegenüber aktuellem Nutzen eher gering zu schätzen, sind die nach der androhungsgeneralpräventiven Theorie vorzusehenden Strafen in der Regel als „Overkill“ konzipiert, drohen also ein den Nutzen erheblich übersteigendes Übel an. Wegen dieses strukturellen Übermaßes der Strafe ist ihre Legitimation durch das Schuldprinzip unverzichtbar und in der deutschen Verfassung nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG in der Garantie der Würde des Menschen und im Rechtsstaats-prinzip, also als Teil der sog. „Ewigkeitsgarantie“ des Art. 79 Abs. 3 GG sogar „europäisierungsfest“ garantiert10. Die Ver-hängung und Vollstreckung der Strafe setzt hiernach – logisch notwendig – eine vorwerfbare Verletzung der rechtsgüter-schützenden Verbotsnorm voraus. Weitere dadurch zu ver-wirklichende Zwecke sind in der Theorie der Androhungs-generalprävention nicht vorgesehen, aber natürlich als nützli-che „side effects“ auch nicht ausgeschlossen. An dieser Stelle klinkt sich die sog. Integrations- oder positive Generalprä-vention ein, die in dem Strafverfahren, dem Strafurteil und der Strafvollstreckung die normbestärkende Wirkung auf die Allgemeinheit akzentuiert.11 Im Gegensatz dazu geht es der

9 Abschlussbericht der Kommission zur Reform des straf-rechtlichen Sanktionensystems (März 2000) Teil 12, publi-ziert bei Hettinger (Hrsg.), Reform des Sanktionenrechts, Bd. 3, 2002. 10 Seit BVerfGE 9, 167; 20, 323 st. Rspr., in jüngster Zeit eindrucksvoll bekräftigt im sog. Lissabon-Urteil BVerfGE 123, 267 (413 f. Rn. 364), und im Absprachen-Urteil BVerfG NJW 2013, 1058 (1059 Rn. 54). 11 Während die Theorie der Abschreckungsgeneralprävention die Rechtstreue der Allgemeinheit durch das schockierende

Spezial- oder Individualprävention nicht um die Ahndung einer in der Vergangenheit begangenen Normverletzung und die hierin liegende repressive Perspektive, sondern um die Verhütung einer künftigen Rückfalltat, also um eine rein zu-kunftsgerichtete, auf eine einzelne Person konzentrierte Prä-vention. Ihre Unterformen sind die Sicherung der Gesell-schaft vor dem Täter durch dessen temporäre oder womöglich sogar unbegrenzte Unschädlichmachung in einer geschlosse-nen Anstalt sowie die „Besserung“ (Resozialisierung) des Täters mithilfe des Strafvollzuges. Soweit diese Zwecke im Rahmen einer aus Gründen der Androhungsgeneralpräventi-on notwendigen und durch das Schuldprinzip legitimierten Strafe verfolgt werden, sind sie natürlich als nützliche „side effects“ unproblematisch. Sollen diese Ziele dagegen außer-halb einer durch Normverletzung und Schuldprinzip definier-ten und legitimierten Strafe erreicht werden, so handelt es sich nicht um eine Strafe, sondern um eine Maßregel der Besserung und Sicherung, die in dem seit 80 Jahren im StGB verwirklichten zweispurigen System eine völlig eigenständige Zwangsausübung darstellt und vom Gesetz an eigenständige, prospektive Voraussetzungen geknüpft wird: etwa dass die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefähr-lich ist (Unterbringung in einem psychiatrischen Kranken-haus gem. § 63 StGB), oder wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, dass er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch wel-che die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, zum Zeitpunkt der Verurteilung für die Allgemein-heit gefährlich ist (so für die Sicherungsverwahrung § 66 Abs. 1 Nr. 4 StGB).12

b) Aus diesen Kategorien, die auf analytischem Wege ge-bildet worden sind und die deshalb logisch notwendige Struk-turprinzipien des Strafrechts wiedergeben, folgt abermals lo-gisch zwingend, dass eine Übelszufügung allein wegen eines in der Vergangenheit liegenden Ereignisses nur zweckrational sinnvoll und legitimierbar ist, wenn es um eine schuldhafte (= vermeidbare) Normverletzung geht. Adressat einer Norm kann nur ein zum Verstehen der Norm und zu ihrer Befolgung durch sein Handeln befähigter Mensch sein, nicht aber ein rein kausal ablaufender Prozess, wozu außer Naturvorgängen auch systemische Prozesse in der menschlichen Gesellschaft gehören, die von keinem einzelnen Menschen gesteuert wer-den. Jeder gegenteilige Versuch wäre eine Torheit wie dieje-nige des persischen Großkönigs Xerxes, der nach Herodot bei

Schauspiel einer erniedrigenden Übelszufügung festigen möchte, was nach heute allgemeiner Auffassung auf eine verfassungswidrige Verletzung der Menschenwürde hinaus-läuft, weil der Straftäter durch sie als Objekt zur Einwirkung auf andere missbraucht wird. 12 Wobei das BVerfG diese Regelung aber für zu weitgehend erklärt und stattdessen verlangt hat, dass eine Gefahr schwe-rer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten sein muss (BVerfGE 128, 326 [405-406 Rn. 172]).

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einem Unwetter die hochgehenden Wellen des Hellespont zur Strafe mit 300 Rutenschlägen züchtigen ließ.

c) Die Handlungsfähigkeit ist also eine logisch notwendi-ge Prämisse für eine im Kontext der Androhungsgeneralprä-vention verhängte Strafe, weil ohne sie ja keine Normverlet-zung vorliegen kann. Auch das Schuldprinzip, also der Vor-wurf, trotz individueller Vermeidbarkeit die Norm verletzt haben, ist in dem Begriff der Normverletzung, wenn diese eine hinreichende Bedingung für die Verhängung von Strafe sein soll, logisch vorausgesetzt. Und weil selbstverständlich auch der Gesetzgeber an die Gesetze der Logik gebunden ist, ist die Meinung Vogels, er sei in einer davon abweichenden „einfachgesetzlichen Ausgestaltung von Handlungs- oder Un-terlassungsunrecht“ frei,13 schon auf der Ebene der Logik nicht akzeptabel. Eine Übelszufügung, die auf dem Boden der Theorie der Androhungsgeneralprävention in der in der Vergangenheit liegenden Tat eine hinreichende Bedingung findet, kann ohne Handlungsfähigkeit und Schuld des Täters unter vernünftigen Wesen nicht einmal widerspruchsfrei ge-dacht werden.

4. Aus der einzig umfassend zweck- und wertrationalen (d.h. sowohl die gesellschaftliche Notwendigkeit als auch die Legitimation gegenüber dem Betroffenen erfassenden) Straf(-rechts-)theorie folgt somit: Strafrecht bezweckt als ultima ratio den Rechtsgüterschutz durch das Mittel der mit Androhungsgeneralprävention ausgestatteten Verhaltensnor-men, die die Handlungsfähigkeit und Vermeidemacht (= Schuld) des Normadressaten logisch zwingend voraussetzen, woraus zugleich folgt, dass der das Rechtsgut verbotswidrig und vermeidbar Verletzende auch die Strafe vermeiden konn-te, wenn er gewollt hätte, so dass das in der Kriminalstrafe regelmäßig liegende Übermaß der rein repressiven Leidzufü-gung (ihr „Overkill-Effekt“) durch sein eigenes freies Verhal-ten legitimiert wird.14 Wie will man damit ein Unternehmens-strafrecht vereinbaren?

13 Vogel, in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Unternehmens-strafrecht, 2012, S. 205 (S. 207). 14 Die im Grunde simple, aber jahrtausendelang verdrängte Erkenntnis, dass die Wirklichkeit des Strafrechts nur bei der Bestrafung von Tötungsdelikten und vielleicht noch schwers-ten Körperverletzungsdelikten die Talion erreicht oder dahin-ter zurückbleibt, während sie im Regelfall weit darüber hin-ausgeht (was ich hier „Overkill“ nenne: Wer ein Vermögens-delikt begeht, erst recht im Rückfall, wird unter Umständen über Jahre hinweg wie ein wildes Tier in einen Käfig ge-sperrt; dasselbe passiert einem Sexualtäter, der Leib und Seele seines Opfers zweifellos übel mitgespielt hat, aber nur über eine kurze Zeitspanne), widerlegt mit einem Schlage sowohl sämtliche Neo-Vergeltungstheorien als auch die vom BVerfG (E 120, 224 [241 f. Rn. 39]) begierig aufgegriffene These Freiburger Autoren, das strafrechtliche Verbot dürfe vom Gesetzgeber um jedes öffentlichen Belangs willen auf-gestellt und durch verhältnismäßige Strafen sanktioniert wer-den. Denn das fast permanente Übermaß der strafrechtlichen Sanktion ist weder bloße Vergeltung noch verhältnismäßig, aber unausweichlich, weil nur ein geringer Teil der tatsäch-lich begangenen Verbrechen aufgeklärt und abgeurteilt wer-

a) Um die doppelte Klippe der fehlenden eigenen Hand-lungsfähigkeit und eigenen Schuldfähigkeit von Körperschaf-ten zu umschiffen, wird als Lösung mit dem geringsten argumentatorischen Aufwand ein schlichtes Zurechnungsmo-

dell15 präsentiert, das mit der auf die Alter-ego-Theorie des

Common Law16 zurückverweisenden Idee der direkten Zu-rechnung der Organhandlung und des Organverschuldens an

den kann, so dass nur ein angedrohter „Overkill“ auch dieje-nigen potentiellen Straftäter zu beeindrucken vermag, die das Ausmaß der Entdeckungswahrscheinlichkeit in ihr Kalkül einbeziehen. Der im Text maximal konzentrierte Begriff des Strafrechts als ultima ratio zum Schutz der unentbehrlichsten (sit venia superlativo!) Güter des einzelnen und der Allge-meinheit vermöge androhungsgeneralpräventiver Verhaltens-normen und durch das Schuldprinzip gegenüber dem Bestraf-ten legitimierter, repressiver (d.h. allein wegen der vergange-nen Gutsverletzung verhängter) Sanktionen kann hier nicht in extenso begründet und abgesichert werden, siehe nur zum ei-genen Standpunkt ausführlicher Schünemann, in: Schünemann/ v. Hirsch/Jareborg (Hrsg.), Positive Generalprävention, 1998, S. 109; ders., in: Prittwitz u.a. (Hrsg.), Festschrift für Klaus Lüderssen, 2002, S. 327 (S. 330 ff.); ders., in: Dölling (Hrsg.), Jus humanum, Grundlagen des Rechts und Strafrecht, Festschrift für Ernst-Joachim Lampe zum 70. Geburtstag, 2003, S. 537; ders., in: Hefendehl/v. Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Rechtsgutstheorie – Legitimationsbasis des Strafrechts oder dogmatisches Glasperlenspiel?, 2003, S. 133. Zur neuesten Rechtsgutsdiskussion Hefendehl, GA 2007, 2; Swoboda, ZStW 122 (2010), 24; Roxin, GA 2013, 433; anhaltende Kritik bei Jakobs, Zur Legitimation des Strafrechts, 2012; ders., in: Freund u.a. (Hrsg.), Grundlagen und Dogmatik des gesamten Strafrechtssystems, Festschrift für Wolfgang Frisch zum 70. Geburtstag, 2013, S. 81, der (exemplarisch seine Billigung des BtM-Strafrechts durch den Schutz der Sittlich-keit, S. 33 f.) die qualifizierten Legitimationsanforderungen aus dem Overkillcharakter des Strafrechts nicht berücksich-tigt und dem Gesetzgeber carte blanche gibt. Zu den Straf-theorien Greco, Lebendiges und Totes in Feuerbachs Straf-theorie, 2009 (mit umfassender Analyse und Begründung der Androhungsgeneralprävention); Hörnle, Straftheorien, 2011 (mit einem Plädoyer für eine „expressive“ Straftheorie, S. 29 ff., die m.E. zwar die Missbilligung, nicht aber die daran geknüpfte Übelszufügung erklären kann.). 15 So die Bezeichnung bei Schünemann, in: Laufhütte/Ris-sing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 1, 12. Aufl. 2007, vor § 25 Rn. 23; gleichbedeutend der vielfach verwendete Ausdruck „Repräsentationsmodell“. 16 Dazu näher Leigh, The Criminal Liability of Corporations in English Law, 1969, S. 74 ff., 91 ff.; Ehrhardt, Unterneh-mensdelinquenz und Unternehmensstrafe, 1994, S. 116 f.; zur noch extensiveren Zurechnung nach der Respondeat Superior Doctrine siehe Dubber, Einführung in das US-amerikanische Strafrecht, 2005, S. 105; zu den historischen und philoso-phischen Grundlagen Dubber, Isaacs u. Stewart, New Crim. L. Rev. 16 (2013), 203, 241, 261.

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die juristische Person arbeitet.17 Es besteht in nichts anderem als einer quaternio terminorum des Handlungsbegriffs wie des Schuldbegriffs, denn die Zurechnung einer fremden Handlung ist eben keine Handlung, die Zurechnung fremder Schuld kann eine fehlende Schuldvoraussetzung nicht er-schaffen, so dass weder die Legitimationsfrage beantwortet wird noch die zweck- und wertrationalen Prämissen des Strafrechts eingehalten werden, mithin ontologisch wie axio-logisch nicht mehr als ein vitiöser Zirkelschluss vorliegt18. Daran ändert sich auch nichts, wenn man die erzpositivisti-sche These hinzufügt, der Gesetzgeber könne in den Grenzen der Grund- und Menschenrechte und des Willkürverbots die Handlungs- und Schuldfähigkeit juristischer Personen nor-mieren, was dann die Dogmatik hinnehmen und verarbeiten müsse.19 Denn zum Willkürverbot gehören (1.) das Verbot, eklatant Ungleiches gleich zu behandeln, und (2.) die Einhal-tung der Regeln der Logik, über denen der Gesetzgeber so wenig steht wie Cäsar über der Grammatik – Logik nicht im Sinne der formalen Logik, sondern als die Grundsätze ver-nünftigen Redens, die verletzt werden, wenn man für zwei ganz unterschiedliche Objekte ein und denselben Ausdruck benutzt. Die Individualstrafe wegen schuldhafter Verletzung einer rechtsgüterschützenden Norm und die einem Unter-nehmen wegen unzulänglicher Organisation auferlegte Geld-zahlung sind aber nach Inhalt, Zweck und Legitimation so grundverschieden, dass es auf eine „Legitimationserschlei-chung“ mit Hilfe einer semantischen Verschmutzung der Sprache und eine willkürliche Gleichbehandlung von Unglei-chem hinausläuft, wenn man auch die Unternehmenssanktion „Strafe“ nennt und anstelle einer teleologischen Ableitung aus dem Strafrechtssystem eine Figur des Zivilrechts zitiert, dessen analytisch, zweck- und wertrational zwingende Tren-nung vom Strafrecht in einem atavistischen Rückfall auf das Common Law ignorierend.20

b) Diese Aporie ließe sich nur vermeiden, wenn man eine gemeinsame allgemeine Struktur von Handlung und Schuld im weiteren Sinne aufweisen und die Verbandsstrafe auf ein Schuldanalogiemodell gründen könnte, das auf der Annahme eines eigenen Verschuldens des Verbandes in Gestalt eines Organisationsverschuldens beruht.21 Aber weil sich der Ver-

17 So das BVerfG im Bertelsmann-Lesering-Beschluss BVerf-GE 20, 323; Ehrhardt (Fn. 16), S. 186 ff; Schroth (Fn. 8), S. 186 ff., und – für einen Vertreter des orthodoxen Finalis-mus überdies inkonsequent – Hirsch, Die Frage der Straffä-higkeit von Personenverbänden, 1993, S. 10 ff.; ders., ZStW 107 (1995), 286 (288 ff.). 18 Zur Kritik vgl. näher Schünemann, in: Sieber u.a. (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht, Dogmatik, Rechtsver-gleich, Rechtstatsachen, Festschrift für Klaus Tiedemann zum 70. Geburtstag, 2008, S. 429 (S. 431 ff.); Otto, Die Strafbar-keit von Unternehmen und Verbänden, 1993, S. 15 ff. 19 So etwa Vogel (Fn. 13), S. 207. 20 Dazu bereits Schünemann (Fn. 7), S. 234 f.; ders. (Fn. 18), S. 431 ff.; ders., GA 2013, 193 (200). 21 So vor allem Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht, Einführung und Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2014, Rn. 375 ff.; weitere Nachweise bei Schünemann (Fn. 15), vor § 25 Rn. 24.

band ja nicht selbst, sondern nur durch das Handeln natürli-cher Personen organisieren kann, führt das zunächst nur in einen unendlichen Regress hinein.22 Um herauszufinden, sind in Weiterführung und Präzisierung von Otto v. Gierkes intui-tiver Theorie der realen Verbandsperson verschiedene sys-

temtheoretische Modelle entwickelt worden, welches Luh-

manns Theorie der autopoietischen Systeme mit dem ameri-kanischen Konzept des „good corporate citizen“ verbunden und dadurch eine funktionale Äquivalenz zwischen Individu-al- und Unternehmensschuld zu begründen versucht haben, letztere in „einem Verständnis als ein durch die Unterneh-menskultur zum Ausdruck gebrachtes Manko an Rechts-treue“23. Obwohl dieses Modell inzwischen eine vor allem der spanischen Strafrechtswissenschaft zu verdankende subti-le Ausarbeitung erfahren hat,24 ist es letztlich aus normtheo-retischen und aus intrasystematischen Gründen nicht über-zeugend.

aa) In normtheoretischer Hinsicht: Das Strafrecht schützt die Rechtsgüter durch die Verbotsnorm, die aber ausschließ-lich menschliches Verhalten regelt, weil systemische Prozes-se, ähnlich wie ein nach Naturkausalität ablaufendes Gesche-hen, als solche nicht Gegenstand eines Sollenssatzes sein können. Die Verbotsnorm ist deshalb notwendig auf mensch-liches Handeln und dessen Vermeidbarkeit bezogen, während mit dem Ausdruck des Organisationsverschuldens ein bloßer Zustand der Organisation, nicht aber eine Normverletzung beschrieben wird. Auch die durch „Mangel an Rechtstreue (gekennzeichnete) Unternehmenskultur“ im Sinne von Gomez-

Jara, die ich vor 35 Jahren als „kriminelle Verbandsattitüde“ bezeichnet habe,25 verweist bestenfalls auf fehlerhafte Orga-nisationsakte von Individuen und führt normtheoretisch aber-mals zu einem unendlichen Regress. Und vor allem würden die fehlerhaften Organisationsakte von Individuen jedenfalls nicht diejenige Norm verletzen, deren Verletzung der betref-

22 Näher Schünemann, in: Schünemann/Suárez González (Fn. 8), S. 265 (S. 285). 23 So die konzentrierte Formulierung von Gómez-Jara, ZStW 119 (2007), 290 (333). In Deutschland zunächst von Jakobs vertreten (Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1991, 6/43 ff.), der aber inzwischen zu der extremen Gegenposition eines sachlogischen Ausschlusses der Verbandsstrafbarkeit übergeschwenkt ist (in: Prittwitz u.a. [Fn. 14], S. 559); zu dieser Übernahme der Position v. Freiers (Kritik der Ver-bandsstrafe, 1998), die von den Prämissen der Vergeltungs-theorie ausgeht und deshalb zirkulär argumentiert, krit. Schü-

nemann (Fn. 18), S. 435 f. Zu der auf dem Konzept der cor-porate culture aufgebauten Figur des good corporate citizen siehe Bucy, Minn. L. Rev. 75 (1991), 1095; Laufer, Vander-bilt L. Rev. 52 (1999), 1343; Friedman, Harv. J. of L. and Publ. Pol. 23 (2000), 833. Zur systemtheoretischen Neukon-zeption gegenüber v. Gierke siehe Teubner, Am. J. of Comp. L. 36 (1988), 130. 24 Für Deutschland Lampe, ZStW 106 (1994), 683; für Spa-nien S. Bacigalupo, Responsabilidad penal de personas jurí-dicas, 1998, S. 101 ff, 351 ff., und vor allem Gómez-Jara, La Culpabilidad de la empresa, 2005, S. 201 ff.; ders. (Fn. 19). 25 Schünemann (Fn. 7), S. 22 u.ö.

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fende Straftatbestand erfasst, so dass bei einer Bestrafung der juristischen Person in Wahrheit der angeblich verletzten Strafrechtsnorm eine auf eine ganz andere Norm, nämlich die Organisationsnorm, bezogene Verletzungshandlung unterge-schoben würde.

bb) In intrasystematischer Hinsicht scheitert das Konzept an dem zentralen Problem der sog. corporate knowledge: Nach verbreiteter Ansicht in den USA soll auch dann ein Körperschaftsverbrechen vorliegen, wenn kein einziger Kör-perschaftsagent über das zur Vermeidung der Rechtsgutsver-letzung erforderliche Wissen verfügte, das erst aus der Addi-tion des fragmentierten Einzelwissens der Unternehmensan-gehörigen entsteht.26 Der Organisationsmangel liegt hier in einem fehlenden Kommunikationsakt, den die Organisation, systemtheoretisch gesprochen, nur auf parasitäre Weise von den strukturell an sie gekoppelten Individuen, also aus ihrer Umwelt beziehen könnte. Man mag das als einen Fall fehlen-der Rechtstreue der Organisation bezeichnen, kann aber nichts daran ändern, dass ein solcher Organisationsmangel etwas qualitativ anderes ist als die nicht erst systemtheore-tisch fingierte, sondern natürlich vorhandene Fähigkeit des Individuums zur Einhaltung der objektiv im Verkehr erfor-derlichen Sorgfalt. Und zu guter Letzt bleibt zwischen der Normtreue des Individuums und derjenigen einer Organisati-on immer noch ein qualitativer Unterschied in der normativen Tiefenstruktur übrig. Das von seinem Prinzip her auf die Profitmaximierung ausgerichtete Unternehmen gleicht dem von Kant apostrophierten Volk von Teufeln, für die das Prob-lem der Staatserrichtung (also der Etablierung einer Rechts-ordnung) auflösbar sei, wenn sie nur Verstand haben.27 Denn die Kommunikation im Unternehmen als Subsystem des Wirtschaftssystems ist – als autopoietisch operativ geschlos-senes System – nicht am Codeprogramm Recht/Unrecht, son-dern als Sequenz von Relationen zwischen aufeinanderfol-genden Zahlungsakten über den Wert der knappen Güter organisiert, also am Geld orientiert.28 Systemtheoretisch ge-sprochen, wird die Kommunikation im Unternehmen durch die Anforderungen des Rechts also nur – in den Worten Luhmanns – irritiert oder gestört bzw. – in den Worten Teub-

ners – perturbiert. Anders formuliert, kann das Unternehmen die Anforderungen des Rechts immer nur in seine am Geld-wert orientierten Kommunikationsakte autopoietisch umwan-deln, also etwa zur Vermeidung von Geldbußen Rechtsver-letzungen vermeiden, nicht aber den intrinsischen Wert des Rechts anerkennen. Dagegen kann im Bewusstsein der natür-lichen Person die eigentlich verpflichtende Kraft des Rechts reproduziert werden, sei es aufgrund einer religiösen Rück-bindung, sei es kraft des kategorischen Imperativs, der Gol-denen Regel oder anderer vom Individuum als innerlich ver-pflichtend anerkannter Grundsätze. Und aus diesem Grunde können Unternehmen in systemtheoretischer Perspektive nicht als selbständige Akteure an einer Debatte über den intrinsischen Wert von Rechtsnormen teilnehmen, folglich

26 Dazu Coffee, in: Eser/Heine/Huber (Fn. 8), S. 9 (S. 25 ff.). 27 Kant, Zum ewigen Frieden, 2. Aufl. 1796, S. 61. 28 Hutter/Teubner, in: Fuchs/Göbel (Hrsg.), Der Mensch, das Medium, die Gesellschaft?, 2001, S. 116.

aber auch nicht deren Geltung in einer relevanten Weise bestreiten und damit auch nicht im Sinne des dies verlangen-den systemtheoretischen Schuldbegriffs eigene Schuld auf sich laden. Die aus den USA stammende und von Gómez-

Jara aufgegriffene Figur des good corporate citizen oder des corporate ethos ist deshalb mit der Theorie der autopoieti-schen Systeme gerade nicht kommensurabel, und hieran muss letzten Endes die Idee eines einheitlichen Begriffs von Schuld und Strafe für Individuen und Organisationen schei-tern. Auch der neueste und tiefstschürfende Versuch von Schmitt-Leonardy, auf systemtheoretischer Grundlage eine Handlungs- und Schuldfähigkeit von Wirtschaftsunterneh-men zu konstruieren, kann daran nichts ändern und spricht sich außerdem selbst nicht für ein Verbandsstrafrecht im engeren Sinne, sondern – unter der etwas dunklen Bezeich-nung als „zweistufigen Folgenverantwortungsdialog“ – für die sogleich näher in den Blick zu nehmende Maßregellösung aus.29 Denn wenn „als Unternehmenshandlung jede individu-elle Handlung oder Unterlassung der Unternehmensmitglie-der gilt [sic!], die objektiv zur Absicherung ihrer Mitglied-schaftsposition erforderlich und dem Abstimmungsprozess von Funktion und Leistung des Unternehmens geschuldet ist“30, so läuft das zum einen auf das schlichte Zurechnungs-modell hinaus und kann zum anderen nicht mit der Struktur der strafrechtlichen Verbotsnorm vermittelt werden, die als Adressaten nur den Handelnden und nicht eine Fiktion moti-vieren kann. Erst recht gilt das für den Begriff der „Unter-nehmensschuld als Zuständigkeit für den eigenen Binnenzu-stand“31, der mit dem androhungsgeneralpräventiven Schutz-konzept des Strafrechts rein gar nichts zu tun hat. Außerdem kann auch Schmitt-Leonardy den intrasystematischen Wider-spruch nicht überwinden, dass „dem Unternehmen zumindest die Fähigkeit zugeschrieben werden können muss“, im Sinne einer „Teilnahme am strafrechtlichen Kommunikationspro-zess“32 „die Geltung der Normen in Frage stellen zu kön-nen“33, dass aber „das Unternehmen notwendigerweise auf den Code seiner Umwelt – Zahlung/Nichtzahlung – ausge-richtet ist“34 – weshalb es eben, gut systemtheoretisch ge-sprochen, an in dem Code „recht – unrecht“ geführten Kom-munikationen nicht teilnehmen, sondern diese nur irritieren kann.

cc) Hieran wird abschließend deutlich, warum eine Be-schreibung des in einem Wirtschaftsunternehmen bzw., all-gemeiner gesprochen, in einem Personenverband stattfinden-den Geschehens in den begrifflichen Kategorien der Theorie autopoietischer Systeme ein von vornherein untaugliches Mittel zur Begründung eines genuinen Verbandsstrafrechts

29 Schmitt-Leonardy, Unternehmenskriminalität ohne Straf-recht?, 2013, S. 481 ff., 537 f., im Kern mit der Zustimmung (S. 521 f.) zu der von mir vorgeschlagenen Unternehmensku-ratel, dazu im Text sub 5. c). 30 Schmitt-Leonardy (Fn. 29), S. 532. 31 Schmitt-Leonardy (Fn. 29), S. 532. 32 Schmitt-Leonardy (Fn. 29), S. 429. 33 Schmitt-Leonardy (Fn. 29), S. 419, im Anschluss an Go-

mez-Jara. 34 Schmitt-Leonardy (Fn. 29), S. 534.

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darstellt. Angewandt auf das Recht, führt die Theorie der autopoietischen Systeme zur Ersetzung des traditionellen regulatorischen Rechts (das aus verhaltenssteuernden Sollens-sätzen besteht) durch ein sog. reflexives Recht, dass nur noch eine Kontextsteuerung bezweckt und letzten Endes in der heutigen governance-Diskussion aufgegangen ist.35 Strafrecht ist nun aber das regulatorische Recht kat’exochen – verlässt man dieses Paradigma, so ist es sinnlos und irreführend, noch von Strafrecht im engeren Sinne zu sprechen.

5. Das heißt zwar selbstverständlich nicht, dass ein Wirt-schaftsunternehmen bzw., allgemeiner, ein Verband niemals den Anknüpfungspunkt für Sanktionen bilden dürfte, um Rechtsgüter vor Verletzungen zu schützen, die aus der Tätig-keit des Verbandes bzw. Unternehmens drohen. Aber dann muss für diese Sanktionen eine eigenständige, sowohl zweck- als auch wertrationale Begründung gefunden werden – die bloße, nach den vorstehenden Darlegungen krass verfehlte Bezeichnung als „Strafe“ genügt dafür evidentermaßen nicht.

a) Bereits das Ordnungswidrigkeitengesetz von 1968 hat-te im damaligen § 26, heute § 30 (nach einer längeren, hier nicht weiter interessierenden Vorgeschichte) allgemein eine Geldbuße gegen juristische Personen und Personenvereini-gungen vorgesehen, wenn deren Organe eine die Pflichten des Verbandes verletzende oder seiner Bereicherung dienen-de Straftat oder Ordnungswidrigkeit (unter Einschluss einer Verletzung der Aufsichtspflicht gem. § 130 OWiG) begingen. Die hierfür gegebene Begründung war außerordentlich sim-pel, indem die fehlende Handlungs- und Schuldfähigkeit nicht thematisiert, sondern lediglich auf die Entbehrlichkeit eines sittlichen Vorwurfs bei der Geldbuße, auf das Bedürf-nis, die Höhe der Geldbuße an den wirtschaftlichen Möglich-keiten des Verbandes auszurichten, sowie auf einen die Maß-nahme des Verfalls erübrigenden Abschöpfungszweck abge-stellt und das ganze Institut mit dem schlichten Zurechnungs-modell legitimiert wurde.36 Die Dürftigkeit dieser Argumente ist kaum zu übertreffen: Die strafrechtliche Schuld als Ver-meidbarkeit wird mit dem (freilich dem Denkstil der Fünfzi-ger Jahre entsprechenden) moralischen Vorwurf verwechselt, dessen Abwesenheit natürlich nicht den Grund für eine Übelszufügung ausmachen kann; das behauptete Bedürfnis, die Höhe der Geldbuße am Vermögen des Verbandes auszu-richten, ist ein reiner Zirkelschluss, denn die am Vermögen des Täters ausgerichtete gerechte Strafe ist für ihre präventive

35 Luhmann, Soziale Systeme, 1984; ders., ZfRSoz 1985, 1; Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989; ders., ARSP 1982, 13; Teubner/Willke, ZfRSoz 1984, 4; Willke, Entzauberung des Staats, 1983; weiterentwickelt zum „pro-zeduralen Recht“ durch Calliess, Prozedurales Recht, 1999; ders., in: Anderheiden/Huster/Kirste (Hrsg.), Globalisierung als Problem von Gerechtigkeit und Steuerungsfähigkeit des Rechts, ARSP-Beiheft Nr. 79, 2001, S. 61 ff.; ders./Mahl-

mann, in: Calliess/Mahlmann (Hrsg.), Der Staat der Zukunft, ARSP-Beiheft Nr. 83, 2002, S. 11 ff.; zum heutigen Diskus-sionsstand Paterson, Steinhauer und Zumbansen, in: Caliess (Hrsg.), Soziologische Jurisprudenz, Festschrift für Gunther Teubner, 2009, S. 559 (S. 587, 627). 36 BT-Drs. V/1269, S. 58-61.

Wirkung auf eine Geldbuße gegen andere weder angewiesen noch abhängig; und der Abschöpfungszweck wird durch die Maßnahme des Verfalls erreicht und macht deshalb keine Geldbuße nötig.

b) In meiner im Auftrag der Sachverständigenkommission zur Reform des Wirtschaftsstrafrechts durchgeführten, vor 35 Jahren publizierten Untersuchung37 habe ich die Sanktionen gegen Wirtschaftsunternehmen (und damit letztlich gegen un-schuldige Anteilseigner und Arbeitnehmer) in Ermangelung einer Legitimierbarkeit durch das Schuldprinzip auf den Gedanken des Präventionsnotstandes zu stützen versucht, den ich aber nur für den Fall bejaht habe, dass wegen einer fehlerhaften Verbandsorganisation der Täter einer zum Vor-teil des Unternehmens begangenen Straftat nicht ermittelt werden könnte, während in allen übrigen Fällen die zum Rechtsgüterschutz notwendige Präventionswirkung des Straf-rechts durch eine Beseitigung der die Praxis beherrschenden Privilegierung der Weiße-Kragen-Täter sicherzustellen sei.38 Diese Verknüpfung einer materiellen Sanktion mit einer pro-zessualen Beweisnot halte ich heute für verfehlt, doch bleiben die Ausgangspunkte unverändert gültig, dass (1.) mit der Verabschiedung des Strafparadigmas die bloße Benutzung des harmloser klingenden Ausdrucks „Buße“ noch keine Begründung liefert; dass (2.) eine von der Idee des Verfalls gereinigte Geldbuße die Falschen trifft (nämlich die zumal in einem Großunternehmen so gut wie einflusslosen Aktionäre durch Schmälerung ihrer Dividende und unschuldige Arbeit-nehmer durch Beeinträchtigung der Unternehmenssolvenz) und deshalb weder einen messbaren Präventionseffekt hat noch ohne weiteres legitimierbar erscheint; und dass (3.) die zumindest in der öffentlichen Meinung empfundene Malaise bei der repressiven Bekämpfung schwerer Wirtschaftskrimi-nalität auf der individuellen Ebene beginnt und durch eine „Kollektivierung“ der Sanktion sogar gesteigert zu werden droht. Darauf ist bei der im 2. Teil dieser Abhandlung statt-findenden Auseinandersetzung mit dem von der Justizminis-terkonferenz mehrheitlich gebilligten nordrhein-westfälischen „Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen und sonstigen Verbän-den“ zurückzukommen, durch den der repressive Charakter der Geldbuße unter auch terminologischer Umwandlung in eine „Geldstrafe“ verabsolutiert werden soll. Zuvor möchte ich noch einen Blick in die quasi entgegen gesetzte Richtung werfen (der aus Raumgründen nicht weiterverfolgt werden kann), nämlich auf den m.E. bei weitem vorzugswürdigen Ausbau des in der Geldbuße des § 30 OWiG ebenfalls ange-legten Charakters als Maßnahme im Sinne einer eigenständi-gen, zum Strafrecht im weiteren Sinne gehörenden Sanktion. Die Unternehmensgeldbuße dient schon von Gesetzes wegen auch dem Zweck, die dem Unternehmen durch die Straftat oder Ordnungswidrigkeit unrechtmäßig verschafften Vermö-gensvorteile abzuschöpfen (§§ 30 Abs. 3, Abs. 5; 17 Abs. 4; 29a Abs. 2 OWiG, 73 Abs. 3 StGB), und diese Verfallskom-

ponente ist von der Justizpraxis in einer genialen Intuition

37 Schünemann (Fn. 7). 38 Schünemann (Fn. 7), S. 236 f., 241 ff.

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vollständig in den Vordergrund gerückt worden.39 Weil nie-mand einen Anspruch darauf hat, durch verbotenes Handeln bereichert zu werden, bereitet die Legitimation des einfachen Verfalls auch keinerlei Probleme (anders verhält es sich beim sog. Bruttoprinzip, dessen Strafcharakter vom BVerfG zu Unrecht verneint worden ist40). Und auch ein gewisser gene-ralpräventiver Effekt lässt sich nicht bestreiten. Denn die Bereitschaft zur Normverletzung wird bei dem im Interesse des Verbandes handelnden Repräsentanten zumindest in ei-nem gewissen Umfange in Frage gestellt, wenn er weiß, dass der Verband im Falle der Aufdeckung der Tat die durch sie erlangten Vorteile wieder einbüßt.

c) Auf dem mit der Verfallskomponente der Unterneh-mensgeldbuße eingeschlagenen Weg sollte weitergegangen werden, um den Schutz der Rechtsgüter vor Unternehmens-kriminalität zu verbessern. Ich habe hierzu seit längerem mit mittlerweile einsetzender Resonanz das Konzept der Unter-

nehmenskuratel propagiert,41 das nicht etwa mit einer Staats-verwaltung der Unternehmen verwechselt werden darf.42 Der bei Feststellung organisatorischer Mängel anlässlich einer unternehmensbezogenen Straftat durch Gerichtsurteil zu be-stellende Kurator soll nach meinem Konzept keine Entschei-dungskompetenzen an sich reißen, sondern vielmehr durch seine umfassende Ausgestaltung mit bloßen Informations-rechten jenen gestörten Informationsfluss im Unternehmen optimieren, dessen Mängel eine ganz wesentliche Ursache der Unternehmenskriminalität sind. Es scheint mir auch gera-dezu aus sachlogischen Gründen auf der Hand zu liegen, dass die Sanktionen dort ansetzen sollten, wo der für die Delikts-entstehung ausschlaggebende Mangel gefunden worden ist, also im organisatorischen Bereich. Und das kann eben keine Geldbuße leisten, mag sie auch noch so hoch sein, wohl aber die gerichtliche Installierung eines gewissermaßen magischen Auges im Unternehmen. Weil die Unternehmenskuratel vor allem eine in die Zukunft gerichtete Maßregel ist, die anders als die Geldbuße weder die Aktionäre noch die Arbeitnehmer belastet, scheint mir ihre Legitimation keine Probleme zu bereiten. Sie besitzt durchaus auch ergänzende und nicht

39 So entfielen im Fall der MAN von den 150,6 Mio. Euro nur 0,6 Mio. auf den Sanktionszweck, 150 Mio. auf den Zweck der Gewinnabschöpfung, siehe Taschke, NZWiSt 2012, 94. 40 BVerfGE 110, 1 (20-22 Rn. 77 ff.); dagegen die h.L., siehe Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 60. Aufl. 2013, § 73 Rn. 3. 41 Schünemann (Fn. 22), S. 291 (als „Ei des Kolumbus“). Eine nähere Ausarbeitung und Begründung findet sich bei Schünemann (Fn. 7), S. 129 ff.; dems., in Eser/Heine/Huber (Fn. 8), S. 293 ff.; im Kern zust. Schmitt-Leonardy (Fn. 29), S. 521, die eigene Entscheidungsrechte des Kurators vor-schlägt, was jedoch auf die Bedenken Tiedemanns (Fn. 21), Rn. 378, wegen fehlender geeigneter Personen stößt. Zu ähn-lichen Tendenzen in den USA siehe Ehrhard (Fn. 16), S. 129; Gruner, Wash. Univ. L. Qu. 71 (1993), 261. 42 Entgegen Lüderssen, in: Kempf/Lüderssen/Volk (Fn. 13), S. 387 (S. 388), ist es nicht dem Modell des Insolvenzverwal-ters nachgebildet, sondern kommt eher der von ihm gebillig-ten „nachträglichen Compliance-Organisation“ gleich.

unwichtige generalpräventive Elemente, jedenfalls in Gestalt der mir vorschwebenden Publizität der Kuratel. Wenn die Kuratel, solange sie dauert, in der Unternehmensfirma zum Ausdruck gebracht werden muss (also etwa: „X. AG u. K.“ = unter Kuratel), so bewirkt das eine derartige Minderung des Prestiges der unter dieser Kuratel tätigen Unternehmensfüh-rung, dass davon der bei allen anderen Sanktionen zu vermis-sende, für die Generalprävention aber unerlässliche Anreiz auf die Spitzenmanager ausgeht, eine Unternehmensdelin-quenz, die zu solchen Konsequenzen führt, unter allen Um-ständen zu verhindern.

6. Auch wenn es naturgemäß – wie in allen anderen Fra-gen auch – keine Einstimmigkeit in der deutschen straf-rechtswissenschaftlichen Diskussion gibt, hat sich doch über sechs Jahrzehnte hinweg vom Deutschen Juristentag 1953 bis heute nach Austausch aller Argumente mit Recht die herr-schende Auffassung behauptet, dass es weder kriminalpoli-tisch sinnvoll noch legitimierbar noch mit einer korrekten rechtswissenschaftlichen Terminologie zu vereinbaren wäre, eine förmliche Strafbarkeit juristischer Personen und sonsti-ger Verbände einzuführen.43 II. Kritik des Entwurfes des Landes Nordrhein-Westfalen

1. Die NRW-Gesetzgebungsinitiative

Bei dieser Sachlage wirkt es auf den ersten Blick überra-schend und wenig Erfolg versprechend, dass das Landeskabi-nett von Nordrhein-Westfalen auf Betreiben seines schon vorher publizistisch aktiven44 Justizministers Kutschaty am 18.9.2013 einen im Einzelnen ausgearbeiteten und 85 Seiten umfassenden Gesetzesantrag „Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Un-ternehmen und sonstigen Verbänden“ vorgelegt hat,45 der in den Bundesrat eingebracht werden soll und auf der 84. Kon-ferenz der Justizministerinnen und Justizminister 2013 als „Diskussionsgrundlage“ für eine Abstimmung mit den ande-ren Landesjustizverwaltungen begrüßt worden ist. Angesichts der seit geraumer Zeit bestehenden Punitivität der deutschen Strafgesetzgebung und eines durchaus begreiflichen gesell-schaftlichen Missvergnügens, dass selbst nach gigantischen Kapitalvernichtungen wie etwa durch die sog. Finanzkrise am Ende nicht die Strafjustiz, sondern der Steuerzahler ein-springt,46 schließlich auch der Übernahme des Bundesjustiz-ministeriums durch die SPD im Rahmen der großen Koalition erfolgt die Initiative aber (auch ohne Aufnahme in den Koali-

43 Auch auf der Frankfurter ECLE-Tagung 2011 haben sich die meisten Referenten in diesem Sinn ausgesprochen, siehe in Kempf/Lüderssen/Volk (Fn. 13), Neumann, S. 13 ff.; Lü-

derssen, S. 79 ff.; Theile, S. 175 ff.; Sachs, S. 195 ff.; Schulz, S. 403 ff. 44 Kutschaty, DRiZ 2013, 16. 45 Im Internet greifbar unter http://dico-ev.de/fileadmin/PDF/PDF_Intranet_2013/Unter-nehmensstrafrecht/2013-10-15_Entwurf_zum_Unterneh-mensstrafrecht.pdf. 46 Vgl. dazu nur Schünemann (Fn. 2 – Finanzkrise); Schüne-

mann, Schröder, Wohlers und Fischer, ZStW 123 (2011), 767.

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tionsvertrag) unter politisch durchaus günstigen Rahmenbe-dingungen und muss deshalb von der Strafrechtswissenschaft sehr ernst genommen werden.47 2. Hauptinhalt des Entwurfs

Der eingehend begründete Entwurf schlägt in Art. 1 ein Ver-bandsstrafgesetzbuch (VerbStrG) vor, das gegen juristische Personen, nicht rechtsfähige Vereine und rechtsfähige Perso-nengesellschaften (§ 1 Abs. 1) eine Verbandsanktion vorsieht, wenn durch einen Entscheidungsträger (gemäß § 1 Abs. 3 ähnlich wie in § 30 Abs. 1 Nrn. 1-3, 5 OWiG) in Wahrneh-mung ihrer Angelegenheiten eine verbandsbezogene Zuwi-derhandlung („Verbandsstraftat“48) begangen worden ist (§ 3 Abs. 1), d.h. bei Zuwiderhandlungen gegen ein Strafgesetz außerhalb der Ausübung hoheitlicher Befugnisse, wenn durch sie Pflichten verletzt wurden, die den Verband treffen, oder dieser durch sie bereichert worden ist oder werden sollte (§ 1 Abs. 2). Die Verbandsanktionen zerfallen in Verbandsstrafen (Verbandsgeldstrafe, Verbandsverwarnung mit Strafvorbehalt und öffentliche Bekanntmachung der Verurteilung, § 4 Abs. 1) und Verbandsmaßregeln (Ausschluss von Subventio-nen oder von der Vergabe öffentlicher Aufträge sowie Ver-bandsauflösung, § 4 Abs. 2). Die Verbandsgeldstrafe wird in Tagessätzen nach der Ertragslage des Verbandes unter Be-rücksichtigung seiner sonstigen wirtschaftlichen Leistungsfä-higkeit bemessen; die Zahl beträgt zwischen 5 und 360, ein Tagessatz entspricht dem 360. Teil des Jahresertrages bis zu einer Obergrenze von 10 % des durchschnittlichen Gesam-tumsatzes, wobei der weltweite Umsatz aller Personen, die als wirtschaftliche Einheit operieren, in den letzten drei Ge-schäftsjahren zugrunde zu legen ist (§ 6). Es gilt das Legali-tätsprinzip (§ 14), wobei jedoch seitens des Gerichts von einer Sanktion abgesehen werden kann, wenn der Verband ausreichende Maßnahmen getroffen hat, um vergleichbare Verbandsstraftaten in Zukunft zu vermeiden, sofern ein be-deutender Schaden nicht entstanden oder zum überwiegenden Teil wieder gut gemacht ist (§ 5 Abs. 1) oder der Verband Aufklärungshilfe geleistet hat (§ 5 Abs. 2). Bei dringendem Tatverdacht können verfahrenssichernde Maßnahmen ergrif-fen werden, beispielsweise kann bis zur Höhe von 10 % des durchschnittlich erzielten Gesamtumsatzes der dingliche Ar-rest angeordnet werden (§ 20 Abs. 1).

47 Die nachfolgende Analyse greift auf mein Rechtsgutachten „Zur Frage der Verfassungswidrigkeit und der Folgen eines Strafrechts für Unternehmen“, 2013, zurück. Es ist abrufbar unter http://www.familienunternehmen.de/media/public/pdf/ studien/Studie_Stiftung_Familienunternehmen_Unterneh-mensstrafrecht.pdf. 48 Dieser Zentralbegriff des Entwurfs wirft viele interpretato-rische und dogmatische Fragen auf, die im vorliegenden Rahmen nicht mehr behandelt werden können; dazu einge-hend der Beitrag von Hoven, ZIS 2014, 19 (in dieser Ausga-be).

3. Die Maßstäbe zur Beurteilung des Entwurfs

Für die Beurteilung, ob der Entwurf mit den im Grundgesetz enthaltenen, den Strafgesetzgeber bindenden Prinzipien zu vereinbaren ist, kommt allgemein dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 GG) und im Besonderen dem vom BVerfG aus dem Rechtsstaatsprinzip und der Würde des Menschen (Art. 1 GG) abgeleiteten strafrechtlichen Schuldprinzip eine zentrale Bedeutung zu. Daneben können auch der allgemeine Gleich-heitsgrundsatz (Art. 3 GG) und die Grundrechte der allge-meinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), der Berufsfrei-heit (Art. 12 GG) und des Eigentums (Art. 14 GG) verletzt sein. Nachfolgend wird hierzu die gesicherte Rechtsprechung des BVerfG zugrunde und ein besonderes Augenmerk auf intrasystematische Widersprüche des Entwurfs und darin zu findende Irrtümer über die realen Strukturen der Regelungs-materie gelegt, weil ein daran laborierendes Gesetz das Rechtsstaatsprinzip verletzen würde. Dabei wird, anders als dies bei bereits erlassenen Gesetzen in der Rechtsprechung des BVerfG der Fall ist, dem Entwurf kein unüberprüfter Bereich eines breiten Einschätzungsermessens eingeräumt, sondern durchweg nach dem überzeugendsten und am besten fundierten Standpunkt gesucht. Nachfolgend werden die verfassungsrechtlich relevanten Mängel des Entwurfs im Anschluss an dessen eigenen Aufbau untersucht, wobei zu-nächst die strafrechtstheoretischen Grundlagen und sodann praktisch-empirische Frage im Vordergrund stehen werden. 4. Verletzung des Gleichheits- und des Verhältnismäßigkeits-

grundsatzes durch die Vermengung von Unternehmen und

Unternehmensträger und die Ausdehnung auf das gesamte

Vereinswesen

In dem Entwurf zeigt sich in exemplarischer Weise eine die ganze Diskussion kennzeichnende Konfusion des Unterneh-mens als des den Gegenstand der kriminologischen Analyse bildenden sozialen Subsystems mit dem Unternehmensträger als Zivilrechtssubjekt, indem beide Begriffe bald verwech-selt, bald vermischt werden, obwohl es – im Unterschied zum Individualstrafrecht mit seiner Einheit von Handelndem und Bestraftem – um völlig unterschiedliche Perspektiven und Gegenstandsbereiche geht, deren sorgfältige Trennung und Unterscheidung eine Grundvoraussetzung für vernünftiges Reden über „Unternehmensstrafrecht“ ist.

a) Der Unternehmensträger ist das Rechtssubjekt, dem die soziökonomische Gesamtheit des Handlungssystems „Unter-nehmen“ zugerechnet wird. Er kann eine juristische Person, eine rechtsfähige Personengesellschaft oder eine natürliche Person sein, ohne dass dadurch die soziale Struktur des Un-ternehmens in irgendeiner Weise präjudiziert wird. Es ist ein rein statistischer Befund, dass ein Unternehmen mit einer natürlichen Person als Unternehmensträger in der Regel einen geringeren Umfang hat als das Unternehmen einer Personen-gesellschaft oder einer juristischen Person. Doch sagt diese statistische Feststellung nichts über die Strukturen aus und wird auch vielfach von gegenläufigen Tendenzen durchkreuzt, so etwa bei kleinen GmbHs, deren Unternehmen häufig einen kleineren Umfang aufweist als das Unternehmen natürlicher Personen. Umgekehrt gibt es Großunternehmen, deren Träger eine Einzelperson oder eine Familiengesellschaft ist. Entge-

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gen dem Titel des Entwurfes („Einführung der strafrechtli-chen Verantwortlichkeit von Unternehmen“) geht es darin wie in der ganzen Diskussion um die strafrechtliche Verant-wortlichkeit der Unternehmensträger. Es geht beileibe nicht nur um eine penible Ausdrucksweise, sondern um einen inne-ren Widerspruch und die Verdeutlichung einer Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes, die der Entwurf mit allen bishe-rigen einschlägigen Kriminalisierungsvorschlägen teilt. Denn nach der ausdrücklichen Regelung in Art. 1 § 1 Abs. 1 bleibt das Einzelunternehmen außerhalb des Anwendungsbereiches des Gesetzes, obwohl sich dessen systemische Strukturen vom Unternehmen einer juristischen Person oder einen Per-sonengesellschaft nicht prinzipiell unterscheidet. So findet sich auch bei der häufigen Organisationsform der kleinen GmbH mit einem Alleingesellschafter, der zugleich Ge-schäftsführer ist, nur eine einzige natürliche Person als Ent-scheidungsträger des Unternehmens, der sich vom Einzelun-ternehmer nur durch eine zivilistische Konstruktion unter-scheidet, während die Begründung des Entwurfs für die An-gemessenheit eines Unternehmensstrafrechts gerade nicht auf die zivilrechtliche Eigentumskonstruktion, sondern allein auf die Faktizität der Organisation abhebt.49 Zu welch willkürli-chen Ungleichbehandlungen das führt, zeigt das Beispiel der BGB-Gesellschaft, die nach der neueren Rechtsprechung die Mindestvoraussetzungen einer zivilrechtlichen Rechtsfähig-keit erfüllt50 und damit zu den in § 1 Abs. 1 angesprochenen „rechtsfähigen Personengesellschaften“ gehört, wie ange-sichts des Verweises auf § 14 Abs. 2 BGB (Begr. S. 39) au-ßer Frage steht. Solche BGB-Gesellschaften sind etwa auch Arbeitsgemeinschaften, wie sie bei der Ausführung größerer Bauaufträge häufig vorkommen. Gesetzt den Fall, etwa schon bei der Ausschreibung oder bei der Durchführung eines sol-chen Bauvorhabens sei von einem Mitarbeiter im Rahmen seiner Tätigkeit eine Straftat begangen worden, die durch gehörige Aufsicht eines Entscheidungsträgers wesentlich er-schwert worden wäre (§ 2 Abs. 2 des Entwurfs), so müsste anschließend ein Strafverfahren (außer gegen den verantwort-lichen Mitarbeiter und den Aufsichtspflichtigen) sowohl ge-gen die beteiligten Firmen als auch gegen die Arge, also gegen fünf Beschuldigte, durchgeführt werden. Dann drängt sich förmlich die Frage auf, ob hier nicht nur eine unzulässige Doppelbestrafung, sondern eine noch „unzulässigere“ Fünf-

49 So bereits zu Beginn auf S. 1 des Entwurfs (Fn. 45), so-dann auf S. 20, wo auf die „systemischen Risiken“, und wei-terhin etwa auf S. 30, wo auf die Mechanismen zur eigen-ständigen Willensbildung durch die Vernetzung individueller Entscheidungen und auf ihr Wesen als „sinnkonstituierte Gebilde“ abgehoben wird, also durchweg auf die Eigenschaf-ten des Unternehmens und nicht etwa auf den Unternehmens-träger. Und auf S. 2 wird sogar die Behauptung aufgestellt, „das Unternehmen selbst“ werde in das Zentrum der Strafver-folgung gerückt, was ein grundsätzliches Missverständnis deutlich macht, weil der eigene Entwurf gerade nicht „das Unternehmen selbst“, sondern den Unternehmensträger ver-antwortlich macht. 50 BGH NJW 2001, 1056; Ellenberger, in: Palandt, Bürgerli-ches Gesetzbuch, Kommentar, 72. Aufl. 2013, § 14 Rn. 3.

fachbestrafung vorläge. Eine ebensolche unsinnige „Über-punitivität“ ergibt sich, wenn etwa ein Handwerker (wie heute häufiger zu beobachten ist) seinen kleinen Handwerks-betrieb in Form einer GmbH organisiert. Von diesem Augen-blick an hätte er die Tür zum Unternehmensstrafrecht geöff-net, obwohl sich in den tatsächlichen Unternehmensstruktu-ren nicht das Geringste verändert hätte.

b) Bei einem bereits verabschiedeten Gesetz könnten die-se Unklarheiten und Widersprüche eventuell in den „Tole-ranzspielraum“ fallen, den das BVerfG dem Gesetzgeber durch die Ausdeutung des Gleichheitsgrundsatzes als bloßes Willkürverbot bis 1980 konzediert hatte,51 während das nach der sog. neuen Formel seit BVerfGE 55, 72 (88: „Wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Norm-adressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung recht-fertigen könnten“) ernstlich zweifelhaft ist, erst recht seitdem das BVerfG in seiner allerneuesten Rechtsprechung die Zügel der Verhältnismäßigkeitsprüfung immer schärfer angezogen hat.52 Vorliegend kommt es darauf aber nicht an, weil ein bloßer Entwurf nicht wie ein verabschiedetes Gesetz privile-giert ist und sich deshalb einer strengen Prüfung auf Einhal-tung des Gleichheitsgrundsatzes stellen muss.

c) Aus diesem Grund muss sich auch die im Entwurf vor-geschlagene Einbeziehung des gesamten ideellen Vereinswe-sens in den Bereich der Verbandsstrafe53 einer strengen Gleichbehandlungs- und Erforderlichkeitsprüfung stellen. Es gibt in Deutschland fast 600.000 Vereine; jeder Deutsche ist, statistisch gesehen, mindestens in einem Verein Mitglied. Ausweislich des ZIVIZ-Survey 2012 von Krümmer/Priemer hat die in ihnen stattfindende Organisation der Zivilgesell-schaft „viele Gesichter“ (S. 27), zahllose Vereine werden nach wie vor rein ehrenamtlich organisiert. Auch wenn der Bestand solcher Vereine juristisch vom Wechsel der Mitglie-der unabhängig ist, haben sie eine stark personalistische, auf freiwilligem und unbezahltem Engagement aufgebaute Struk-tur. Wie nachfolgend zu zeigen ist, würde eine der wesentli-chen, offensichtlich sogar bezweckten Konsequenzen bei der Einführung eines Verbandsstrafrechts in dem Zwang beste-hen, dass sich jeder Verband eine hoch formelle Compliance-Organisation geben muss. Die Belastungen, die dadurch auf das gesamte Vereinswesen zukommen würden, würden zum einen enorm sein und zum anderen das „Gesicht“ der sich im spontanen Miteinander organisierenden Zivilgesellschaft tiefgreifend verändern. Für die darin liegende Anmaßung des

51 Nachw. bei Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 6. Aufl. 2011, Art. 3 Rn. 8 ff.; Kischel, in: Ep-ping/Hillgruber (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar, Grundgesetz, Stand: 1.11.2013, Art. 3 Rn. 24. 52 Dazu Kischel (Fn. 51), Art. 3 Rn. 28 m.w.N.; zu den Krite-rien der Folgerichtigkeit und Systemwidrigkeit Osterloh

(Fn. 51), Art. 3 Rn. 98 ff. 53 Begründung (Fn. 45), S. 39: alle rechtsfähigen Vereine und auch die nicht rechtsfähigen Vereine, soweit sie körperschaft-lichen organisiert und von einem wechselnden Mitglieder-bestand unabhängig sind.

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Strafrechts einen zwingenden kriminalpolitischen Grund anzugeben, wird im Entwurf nicht einmal versucht. Der vor-geschlagene Eingriff in das Grundrecht der Vereinigungsfrei-heit (Art. 9 GG)54 ist deshalb mangels eines einleuchtenden Grundes willkürlich und unverhältnismäßig und gerät infolge dessen mit dem Grundgesetz mehrfach in Konflikt. 5. Fehlender Gesetzeszweck wegen verschwommener und

widersprüchlicher Verwendung des Begriffs der „präven-

tiven“ Ausgestaltung; Unmöglichkeit einer generalpräven-

tiven Begründung der Verbandsstrafe; verfassungswidrige

Missachtung des Schuldprinzips

Noch weitaus gravierender als diese gleichheitswidrigen In-konsistenzen des erfassten Gegenstandes sind die Unklarhei-ten des Entwurfs in der Frage, was mit dem darin vorgeschla-genen Verbandsstrafrecht überhaupt bezweckt werden soll, denn ein Strafgesetz, das mit der Kriminalstrafe die schwers-ten dem Staat überhaupt zu Gebote stehenden Eingriffe vor-sieht, verletzt offensichtlich den Verhältnismäßigkeitsgrund-satz, wenn mit ihm nicht einmal ein klar umrissener Zweck verfolgt wird. Die Verfasser des Gesetzentwurfs haben offen-bar angenommen, durch die häufigere Benutzung des Aus-drucks „Prävention“ diesen Anforderungen zu genügen. Aber wegen der Verschwommenheit und Widersprüchlichkeit der Verwendung eines Ausdrucks, der zahllose gänzlich unter-schiedliche Bedeutungen besitzt, trifft das Gegenteil zu.

So wird auf S. 4 (2. Absatz) davon gesprochen, das vor-geschlagene Reaktions- und Sanktionsinstrumentarium sei „stark präventiv ausgerichtet“. Auf S. 26 oben wird die „Prä-vention“ als primäres Ziel bezeichnet, und auf S. 27 oben wird beifällig eine „präventive Wirkung“ des österreichischen Verbandsverantwortlichkeitsgesetzes konstatiert. So wie auf diese Weise für ganz unterschiedliche Präventionsformen immer nur ein Ausdruck verwendet wird (darauf ist sogleich zurückzukommen), bleibt auch die Natur der im Entwurf vorgesehenen Sanktionen nach der dafür selbst gegebenen Begründung verschwommen: Auf S. 31 oben wird von „Maßnahmen mit Strafcharakter“ als Inhalt des Sanktions-rechts gesprochen, was angesichts der die Zweispurigkeit des deutschen Systems ausmachenden Unterscheidung zwischen Strafen und Maßregeln55 zu pauschal ist, und auf S. 27 Mitte wird von einer „strafrechtlichen Haftung von Verbänden für Zuwiderhandlungen ihrer Mitarbeiter oder Mitglieder“ ge-sprochen, wobei dieser zivilrechtliche Terminus offensicht-lich auch nicht zufällig gewählt worden ist, weil wenige Zei-len später vom „Haftungsgrund“ des Verbandes gesprochen wird, was ebenfalls stricto sensu keine strafrechtliche, son-dern eine zivilrechtliche Verantwortlichkeit bedeutet. Hinter dieser doppelten Verschwommenheit der Entwurfsbegrün-dung verbergen sich gravierende intrasystematische Wider-sprüche und Unzulänglichkeiten, die einen Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip und speziell gegen das in der Verfassung

54 Zur Relevanz mittelbarer Grundrechtseingriffe s.u. Fn. 88. 55 Vgl. statt aller Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 1 Rn. 2 ff., § 3 Rn. 68 ff.: „fundamentales Strukturelement“; BVerfGE 128, 326 (374, 376 f.); BVerfG NJW 2012, 3357 (3362 Rn. 116).

garantierte Schuldprinzip ergeben. Da in dem Konzept der Androhungsgeneralprävention keine Verbandsstrafe begrün-det werden kann, hätte der Entwurf sagen müssen, welchen Präventionsmechanismus er denn sonst bezweckt. Stattdessen begnügt er sich mit der schon oben zurück gewiesenen These, der Gesetzgeber sei „weder bei der einfachgesetzlichen Aus-gestaltung von Handlungs- oder Unterlassungsunrecht noch bei der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Schuldgrund-satzes an die ontologischen oder die sozialethischen Maßstä-be der bisherigen strafrechtlichen Handlungs-, Schuld- und Strafdogmatik gebunden“ (S. 29). Aber damit setzt er sich (1.) in einen evidenten Widerspruch zu seiner direkt vorher getroffenen Feststellung, dass „das Strafrecht auf dem Schuld-grundsatz beruht, der den gesamten Bereich staatlichen Stra-fens beherrscht (und) Verfassungsrang hat, (so dass) jeder strafrechtliche Vorwurf daher Vorwerfbarkeit voraussetzt und strafrechtliche Ahndung ohne Feststellung eines haftungsbe-gründenden Verschuldens rechtsstaatswidrig wäre“, und (2.) zu der von ihm selbst zitierten Rechtsprechung des BVerfG.56 Denn wenn der Schuldgrundsatz ein Satz des Verfassungs-rechts ist, kann der Gesetzgeber ihn nicht etwa „einfachge-setzlich“ abändern, ohne den Vorrang der Verfassung zu missachten. Und (3.) müsste natürlich selbst dann, wenn der einfache Gesetzgeber nicht gebunden wäre, ein die Kriminal-strafe für Verbände rechtfertigendes (also sowohl zweckrati-onal konsequentes als auch legitimierbares) Präventionskon-zept entwickelt und widerspruchsfrei durchgeführt werden, was der Entwurf aber vollständig schuldig bleibt. 6. Der Holzweg einer „Parallelkonstruktion“ zur Individual-

strafe

Diese Lücke kann auch nicht durch die in der Entwurfsbe-gründung auf S. 29 übernommene Auffassung von Heine

57

geschlossen werden, dem Gesetzgeber stehe es frei, für Ver-bände durch „funktionsanaloge Übertragung von Zurech-nungskategorien des Individualstrafrechts ein Konzept der strafrechtlichen Verantwortlichkeit“ zu entwickeln. Denn das kann mangels einer schuldhaften Normverletzung keine hin-reichende Bedingung für eine repressive Strafe im Sinne der Androhungsgeneralprävention liefern, sondern nur den Vor-schlag bedeuten, eine Maßregel zur Abwehr von zukünftigen Gefahren (deren Notwendigkeit und Legitimierbarkeit wohl-gemerkt selbständig zu begründen wäre!) quasi aus propa-gandistischen Gründen „Strafe“ zu nennen. Wenn es im Zuge des globalen Siegeszuges der USA als einziger verbliebener Weltmacht und des von New York und London gesteuerten Weltfinanzsystems nun einmal auch im Recht so gekommen sei, könnte man meinen, dass die Kategorien des Common Law einschließlich des „corporate crime“ auch von zahlrei-chen europäischen Rechtsordnungen übernommen worden seien, solle doch nicht das deutsche Recht einen elitären Sonderweg beschreiten und das Schlusslicht in der Rezeption des angloamerikanischen Rechts bilden, sondern sich schlicht dem Mainstream einfügen. Aber das überzeugt nicht: Ein

56 Nachw. oben Fn. 10. 57 Heine, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommen-tar, 28. Aufl. 2010, vor § 25 Rn. 129.

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devotes Verhalten mag außenpolitisch nützlich sein, in der Wissenschaft führt die terminologische Ineinssetzung von Individualstrafe und Verbandsmaßregel zu einer semanti-

schen Verschmutzung, die zwangsläufig Denkfehler und un-haltbare Ergebnisse nach sich zieht. Das zeigt sich exempla-risch an der dreifachen Fehlschlüssigkeit der Argumente, die auf S. 30 der Entwurfsbegründung für die Möglichkeit einer eigentlichen Strafe gegen Verbände angeführt werden.

a) Die Behauptung, bei der Mittäterschaft, der Beihilfe und der sog. Vertreterhaftung des § 14 StGB werde die Straf-barkeit an „Zurechnungsakte“ geknüpft, übersieht oder igno-riert, dass es in allen Fällen um schuldhaftes Handeln von Individuen geht, dessen Auswirkungen von den vom Vorsatz des Individuums umfassten Rahmenbedingungen abhängen, unter denen es handelt und die ihm selbstverständlich zuge-rechnet werden – nicht anders, als wenn ein Alleintäter den zu einer Rechtsgutsverletzung drängenden kausalen Randbe-dingungen noch eine weitere hinzufügt. Es ist abwegig, hie-raus auf die logische Möglichkeit einer repressiven Bestra-fung handlungs- und schuldunfähiger systemischer Prozesse per analogiam zu schließen.

b) Dass Verbände „sinnkonstituierte Gebilde“ seien, de-nen gegenüber Strafzwecke genauso erreicht werden könnten wie gegenüber einer „natürlichen Person“, flüchtet sich of-fenbar bewusst in verschwommene Bilder, die durch den Plural der „Strafzwecke“ völlig offen lassen, ob es um repres-sive oder um zukunfts-präventive Rechtsfolgen geht. Völlig neben der Sache liegt die im Anschluss an Trüg

58 vorge-nommene Zitierung von BGHSt 37, 106 (sog. Lederspray-Urteil), denn diese Entscheidung betraf den genau umgekehr-ten Fall, dass Geschehnisse in einem Unternehmen den dar-über gebietenden individuellen Personen wie eigene Hand-lungen zugerechnet wurden.

c) Abermals schon auf der formallogischen Ebene fehler-haft ist das dritte, im Anschluss an Vogel

59 vorgebrachte Ar-gument, weil das BVerfG das Schuldprinzip aus der Men-schenwürde abgeleitet habe, auf die sich Verbände nicht berufen könnten, brauche auf die Schuld als Voraussetzung der Strafe bei juristischen Personen keine Rücksicht genom-men zu werden. Die logisch korrekte Folgerung lautet natür-lich allein, dass einem Gebilde, das nicht schuldfähig ist, keine darauf basierende Strafe im Sinne der repressiven Per-spektive auferlegt werden kann, sondern nur andere Sanktio-nen zu anderen Zwecken, die dann aber eigens ermittelt und legitimiert werden müssten. Die moderne Rechtsprechung des BVerfG zeigt auch deutlich, dass es die durch das Schuldprinzip legitimierte Kriminalstrafe scharf von den hierdurch nicht legitimierten, zukunftsorientierten Maßregeln abgrenzen will, damit nicht die Notwendigkeit eigener und strenger Legitimationen für Maßregeln durch eine nachlässi-ge, quasi breitgetretene Verwendung des Strafbegriffs umgan-gen werden kann. In seiner Lissabon-Entscheidung (BVerf-GE 123, 267) hat es in Rn. 364 ganz allgemein ausgespro-chen, dass „die Zuständigkeiten der Europäischen Union im Bereich der Strafrechtspflege zudem in einer Weise ausgelegt

58 Trüg, wistra 2010, 241 (243). 59 Vogel, StV 2012, 427 (429).

werden müssen, die den Anforderungen des Schuldprinzips genügt“, was – als eine auf eine Kompetenzfrage bezogene Einschränkung – die Zuständigkeit für Strafrechtspflege ins-gesamt und damit nicht etwa nur gegenüber natürlichen Per-sonen betrifft. Und in dem Urteil zur Sicherungsverwahrung hat es am Beispiel der Freiheitsentziehung wegen der Not-wendigkeit einer qualitativen Unterscheidung von Strafe und Maßregel das „Abstandsgebot“ formuliert (BVerfGE 128, 326 [374-376 Rn. 100]).

d) Darüber hinaus verleitet die Benutzung der Kategorie „Strafe“ zu Fehlschlüssen in der Ausgestaltung der Sanktion, die unter Aspekten der formalen Logik dem Schlussfehler der „quaternio terminorum“ unterfallen. Auf der ersten Stufe vollzieht sich dieser Fehlschluss durch die unausgesprochene Annahme, die Verbandsstrafe könne, weil sie ja eine Strafe sei, allein schon deshalb ohne weitere Analyse als zum Rechtsgüterschutz sinnvoll und legitim angesehen werden, so wie die Strafe gegen Individuen im androhungsgeneralprä-ventiven Kontext unter Einschluss des Schuldprinzips zum Rechtsgüterschutz notwendig und legitim ist. Aber das ist ein doppelter Fehlschluss: Wie oben dargestellt, folgt die andro-hungsgeneralpräventive Wirkung der Strafrechtsnormen ge-genüber Individuen daraus, dass diese zur Vermeidung eines ihnen angedrohten Übels die Normverletzung unterlassen (sollen), was bei systemischen Prozessen (1.) von vornherein nicht funktioniert. Ferner trifft die echte Strafe immer nur denjenigen, der auch die Verbotsnorm persönlich übertreten hat, während eine Verbandsgeldstrafe, die als Sanktion auch im Zentrum des vorliegenden Entwurfs steht, (2.) durchweg Personen trifft, die nicht nur weder Adressaten der Norm waren noch diese übertreten haben, sondern die sogar die Normverletzung in den meisten Fällen gar nicht verhindern konnten. Ein Aktionär, dessen Dividende durch die (wie un-ten noch zu zeigen ist: u.U. horrende) Verbandsgeldstrafe geschmälert wird, oder ein Arbeitnehmer, der auf eine Lohn-erhöhung verzichten muss, weil die Gesellschaft mit einer hohen Verbandsgeldstrafe belegt wird, ist ja gar nicht in der Lage, Fehlverhalten von Entscheidungsträgern zu verhindern. Unabhängig von der noch unten zu erörternden Frage, ob hierin letztlich eine materielle Verletzung des (in der Ver-gangenheit freilich nur in anderen Zusammenhängen themati-sierten) Doppelbestrafungsverbots gesehen werden könnte, fehlt es deshalb bereits an der Eignung der Geldstrafenandro-hung zur Verhütung der Normverletzung.

e) Auch der im Entwurf zu findende Rückzug auf den Gedanken des dem Verband zur Last zu legenden Organisati-onsmangels (S. 43) lässt sich als eine Kombination von Zir-kelschluss und infinitem Regress unschwer widerlegen: Der Verband kann sich, wie oben schon festgestellt, ja nicht selbst organisieren, sondern bedarf hierzu des Rückgriffs auf natür-liche Personen, was wiederum auf früher unterlassene Orga-nisationsakte verweist, die ihrerseits vom Verband nicht selbst vorgenommen werden konnten etc. etc. Außerdem wird bei dem Versuch, aus dem Organisationsmangel eine Art Quasi-Verschulden zu destillieren, der Austausch der Normverstöße übersehen, der darin besteht, dass der Verband ja für ein ganz konkretes Delikt verantwortlich gemacht werden soll (etwa ein Umweltverbrechen), während die Verletzung der Norm

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„du sollst dich gut organisieren“ ein anderes, übrigens im positiven Recht nicht enthaltenes Delikt konstituieren würde.

f) Es gibt also eine ganze Fülle von Gründen, die eine „Parallelkonstruktion“60 der Verbandssanktion zur Kriminal-strafe zu einem untauglichen Versuch stempeln. Der Entwurf versucht sich hierüber mit dem Gedanken eines „Strafcharak-ters“ oder eines „strafähnlichen Charakters“ hinwegzuhelfen (S. 32), was aber in seiner Verschwommenheit keine analy-tisch klare Ermittlung der Eignungs- und Legitimations-voraussetzungen einer Verbandssanktion liefert. Um das an dem Argument zu spezifizieren, die Übelszufügung an An-teilseigner und Mitarbeiter resultiere aus der Risikogemein-schaft, die mit dem Beitritt zum Verband verbunden sei (S. 32 unten des Entwurfs): Die Sanktion trifft diese Personen direkt und nicht etwa nur als außerstrafrechtliche Folge (denn die Anteilseigner sind in ihrer Zusammenfassung der Unter-nehmensträger, unbeschadet der zivilrechtlichen Einkleidung als juristische Person oder Personengesellschaft, und die Mit-arbeiter sind realiter der Verband), was nur im Zivilrecht nach Billigkeitsgrundsätzen der Schadensverteilung legiti-miert werden könnte, nicht aber im Strafrecht. Versucht man aber systemtheoretisch eine Trennung zwischen den Mitar-beitern in ihrer Privatheit und ihren den Verband konstituie-renden, verbandsbezogenen Kommunikationsakten vorzuneh-men, so ist nicht daran vorbeizukommen, dass das Strafübel nicht den Kommunikationsakten zugefügt wird, sondern den natürlichen, im Verband kommunizierenden Personen, so dass ebenfalls eine klare Zufügung des Strafübels an unbetei-ligte Dritte und damit eine rechtsstaatswidrige Bestrafung ohne Schuld vorliegt. 7. Der angebliche Siegeszug des „strafrechtlichen Modells“

a) Auf S. 26 des Entwurfs wird behauptet, dass die meisten kontinentaleuropäischen Staaten in den letzten 15 Jahren eine strafrechtliche Verantwortlichkeit juristischer Personen ein-geführt hätten, was auf S. 34-37 durch Darlegungen zur Kon-formität des Entwurfs mit dem Europarecht ergänzt wird, ins-besondere mit dem sog. 2. Protokoll zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der europäischen Gemeinschaften. Bemerkenswert ist, dass der Entwurf hierbei nicht die Behauptung aufstellt, Deutschland sei europarecht-lich zur Einführung der Unternehmensstrafe verpflichtet, lei-der aber nicht einräumt, dass der deutsche Gesetzgeber selbst davon ausgegangen ist, durch die Anpassung des OWiG ver-möge des Gesetzes v. 22.8.2002 (BGBl. I 2002, S. 3387) sei-ner europarechtlichen Verpflichtung bereits vollständig nach-gekommen zu sein, so dass europarechtlich kein Zwang zur Einführung des Strafrechtsmodells besteht.

b) Des Weiteren muss klar gestellt und berichtigt werden, dass etwa Österreich (ebenso Tschechien) ausdrücklich nicht von der Strafbarkeit und einer Straftat des Verbandes, son-dern von einer „Verantwortlichkeit“ des Verbandes „für“ eine Straftat spricht und als Sanktion nur eine Geldbuße, aber keine Strafe vorsieht (Art. 3 und 4 des österreichischen Bun-desgesetzes über die Verantwortlichkeit von Verbänden für Straftaten). Das entsprechende schweizerische Gesetz spricht

60 Vogel (Fn. 13), S. 207.

zwar selbst von einer „Strafbarkeit“, sieht als Sanktion aber nur eine Buße vor (Art. 102), was per definitionem des Art. 103 auf eine „Übertretung“ hinausläuft, also auf die in der Schweiz immer noch existierende dritte Deliktskategorie, die neben Verbrechen und Vergehen die leichteste Form strafbaren Handelns ist.61 Bekanntlich sind in Deutschland die Übertretungen seit der Strafrechtsreform durch die Geld-bußen des Ordnungswidrigkeitengesetzes ersetzt worden, so dass also auch die Schweizer Regelung im Vergleich mit der deutschen Systematik zum Ordnungswidrigkeitenrecht ge-hört.

c) Es ist deshalb offensichtlich, dass die im Entwurf auf-gestellte „Schlusslichtthese“ nicht zutrifft, sondern auf einer oberflächlichen Ineinssetzung höchst unterschiedlicher Ge-setzesformulierungen beruht. Korrekterweise wird man zwei Gruppen von Staaten zu bilden haben:62 Die eine Gruppe verwendet den Begriff der Strafe durchweg naiv und unsys-tematisch, weil sie sich nicht um eine elaborierte und ausdif-ferenzierte strafrechtsdogmatische Kategorienbildung zu küm-mern braucht, während die andere Gruppe auch terminolo-gisch zwischen der Kriminalstrafe gegen natürliche Personen und durch Straftaten ausgelöste Verantwortlichkeiten von Verbänden sehr wohl unterscheidet, sei es durch ein eigenes Gesetz wie das deutsche Ordnungswidrigkeitengesetz oder das österreichische Verbandsverantwortlichkeitsgesetz, sei es durch eine etwas paradoxe Einordnung bei der Bagatellstraf-tatengruppe der Übertretungen wie die Schweiz. Die „Schluss-lichtthese“ ist deshalb irreführend und könnte im Übrigen selbst dann, wenn sie zutreffend wäre, in einem Rechtsstaat nicht dazu führen, dass fehlerhafte Gesetze anderer Länder kopiert würden. 8. Die fehlerhaften empirischen Prämissen des Entwurfs:

Dämonisierung der strafrechtlichen Rolle von Verbänden

und Verkennung der Effizienz der gegenwärtigen deutschen

Strafrechtspflege

Um die Notwendigkeit der Einführung einer echten Krimi-nalstrafe gegen Verbände (genauer: gegen Verbandsträger) zu begründen, greift der Entwurf zu dem rhetorischen Kunst-griff, auf der einen Seite die von Verbänden ausgehende Gefahr für Rechtsgüter zu dämonisieren und auf der anderen Seite die Leistungen der deutschen Strafrechtspflege zum Rechtsgüterschutz zu bagatellisieren.

a) Ersteres zeigt sich an der selektiven und dadurch die Gesamtaussage verzeichnenden Benutzung von zwei Schlüs-selbegriffen, die ich 1979 in meiner Schrift „Unternehmens-kriminalität und Strafrecht“ geprägt habe.

aa) Der erste Schlüsselbegriff ist die „kriminelle Ver-bandsattitüde“, die ich als zusammenfassenden Begriff für die Einflüsse in einer Organisation geprägt habe, die den einzelnen Mitarbeiter gegebenenfalls zur Begehung einer Straftat bringen können, die er in seinem privaten Umfeld

61 Trechsel/Bertossa, in: Trechsel/Pieth (Hrsg.), Schweizeri-sches Strafgesetzbuch, 2. Aufl. 2013, Art. 103 Rn. 1. 62 Vgl. i.Ü. zum Stand der Entwicklung Schünemann (Fn. 15) vor § 25 Rn. 17 ff., und die Beiträge in der Festschrift für Tiedemann (Fn. 18), S. 413-576.

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niemals begehen würde.63 Mit diesem Konzept sollte darauf aufmerksam gemacht werden, dass ein Unternehmen wie jede Organisation natürlich nicht als solches kriminogen ist, son-dern nur unter der Voraussetzung, dass in ihm eine kriminelle Verbandsattitüde waltet, dass also die im Unternehmen ge-lebten Regeln mit den Normen der Strafrechtsordnung in Konflikt stehen. Umgekehrt bedeuten Organisationen (Ver-bände) ohne kriminelle Verbandsattitüde keine größere Ge-fahrenquelle für Rechtsgüter, als sie ohnehin aufgrund der Disposition der Organisationsmitglieder, zwar in der Regel, aber nicht ohne jede Ausnahme rechtstreu zu sein, in der gesamten Gesellschaft existieren. Infolgedessen kann aber die bloße Tatsache, dass ein Leitungsorgan in einem Unterneh-men eine Straftat begeht, für sich allein noch kein Bedürfnis nach einer Sanktionierung auch des Unternehmens selbst (genau: von dessen Träger) begründen. Vielmehr müssen da-für zusätzliche Bedingungen erfüllt sein, die im Entwurf je-doch nur als Voraussetzung der Auflösung des Verbandes im Sinne einer „die Strafgesetze missachtenden Verbandsattitü-de“ verlangt werden (Begr. S. 65). Der im Entwurf vorgese-hene Automatismus der Verbandsstrafe lässt sich dagegen ohne eine fehlerhafte Dämonisierung der Organisation als solcher nicht begründen und würde damit in rechtsstaatswid-riger Weise ohne hinreichenden Anlass zum Mittel des „straf-rechtlichen Overkill“ greifen.

bb) In ähnlicher Weise ist im Entwurf auch der von mir 1979 geprägte Begriff der „organisierten Unverantwortlich-keit“64 höchst einseitig und dadurch fehlerhaft gebraucht worden (Entwurf S. 2, 24, 44 u.ö.). Man muss das Problem der Diffusion von Verantwortlichkeit einerseits im Kontext mit einer drohenden Beweisnot des Staates sehen, die durch eine Überlagerung von formeller Organisation und informel-len Regeln bei dem Versuch auftreten kann, nachträglich die im Moment des Geschehens bestehende Verantwortungsver-teilung zu rekonstruieren. Andererseits habe ich schon da-mals betont, dass die in einem enormen Umfang notwendige und vorhandene Binnenkommunikation im Unternehmen bei einem entschlossenen Zugriff der Strafverfolgungsbehörden auch Beweismöglichkeiten schafft, die bei der Individualkri-minalität gerade nicht vorhanden sind.65 Diese Möglichkeiten sind in dem letzten Vierteljahrhundert durch die Entwicklung der Kommunikationstechnik geradezu exponentiell gewach-sen, weil der interne E-Mail-Verkehr häufig das Unternehmens-geschehen minutiös abbildet und es nach kriminalistischer Erfahrung so gut wie ausgeschlossen ist, aus dem komplexen Kommunikationsfeld eines Unternehmens später unwillkom-mene Inhalte vollständig wieder herauszufiltern und zu lö-schen. Heute ist es in der Regel nur ein quantitatives, aber kein qualitatives Hindernis, vor dem die Ermittlungsbehörden stehen, das aber wiederum mit den Mitteln moderner Compu-tertechnik durchaus bewältigt werden kann. Da sich gleich-zeitig auch die Kommunikationsmöglichkeiten etwa von der Zentrale zu den Niederlassungen des Unternehmens sogar in globaler Dimension durch die modernen Kommunikations-

63 Schünemann (Fn. 7), S. 22, 30 ff. u.ö. 64 Schünemann (Fn. 7), S. 13 ff. 65 Schünemann (Fn. 7), S. 47 ff.

formen entscheidend verbessert haben, ist eine „organisierte Unverantwortlichkeit“ kein typischer, sondern nur ein aus-nahmsweise auftretender Zug einer Organisation, vorwiegend in Fällen, in denen von vornherein aufgrund einer kriminellen Verbandsattitüde Straftaten begangen und zugleich verschlei-ert werden sollen. Für ein flächendeckendes Verbandsstraf-recht bietet dieser Sachverhalt keine seriöse Grundlage.

b) Andererseits droht die „organisierte Unverantwortlich-keit“ zu einem Spezifikum der modernen Großunternehmen zu werden, die zu groß und zu komplex geworden sind, um noch einer hierarchischen Steuerung und Kontrolle durch die Unternehmensspitze zugänglich zu sein.66 Gerade das weist dann aber auf die alleinige Effizienz eines Individualstraf-rechts zurück, wie es gerade auch in den USA aufgrund des Sarbanes-Oxley-Acts wieder an Boden gewonnen hat67 (ent-gegen der insoweit lückenhaften Darstellung des Entwurfs auf S. 22). Als Erklärungsansatz in der Ökonomie hat sich hierfür seit geraumer Zeit die principal-agent-Theorie68 etab-liert, die für den Prinzipal wegen des Informationsvorsprungs des Agenten ein „moral hazard“ in Gestalt eines strukturellen Kontrolldefizits konstatiert, das nicht einfach vermittels Überwachung des Agenten durch einen weiteren Mitarbeiter beseitigt werden kann, weil dessen Einstellung zur Kontrolle ein weiteres principal-agent-Verhältnis schafft und dadurch das Dilemma womöglich verschlimmert. In diesem Bezugs-rahmen ist der auf S. 30 des Entwurfs als Grundlage der Ver-bandsstrafe beschworene „Verbandswille“ eine Mystifikation, und für die Rechtstreue des Agenten bleibt nach wie vor das Individualstrafrecht von ausschlaggebender Bedeutung. Na-türlich trägt aber derjenige die Beweislast für die Eignung einer Verbandsstrafe zur Verhinderung von innerhalb der Verbandstätigkeit bewirkten Rechtsgüterverletzungen, der sie einführen will, und diesen Beweis bleibt der Entwurf klar schuldig.

c) Das weitere in Wahrheit nicht tragfähige empirische Fundament des Entwurfs besteht in dem auf S. 22 unten/23 oben mehrfach beschworenen „deutschen Präventionsdefi-zit“, das ausdrücklich gerade auch im Vergleich zu anderen Ländern behauptet wird. Die hierzu auf S. 21 des Entwurfs gegebene Begründung verkennt, dass die dort in Bezug ge-nommenen Berichte zum großen Teil Fälle der sog. Betriebs-

kriminalität betreffen, und zwar wesentlich Fälle, in denen Betriebsangehörige ihr eigenes Unternehmen durch Diebstahl oder Betrug schädigen: In dem Bericht von KPMG69 ging es

66 Eingehend Rotsch, Individuelle Haftung in Großunterneh-men, 1998; ders., wistra 1999, 321 (368). 67 Dazu näher das Buffalo-Symposium (Fn. 8). 68 Grdl. Pratt/Zeckhauser, Principals and Agents: The Struc-ture of Business, 1985. 69 Das wird aus der Studie von KPMG, Wirtschaftskriminali-tät in Deutschland, im Internet greifbar unter http://www.kpmg.com/DE/de/Documents/Wirtschaftskriminalitaet-2012-KPMG.pdf, und der darüber von KPMG abgegebenen Presserklärung vom 27.11.2012 deutlich, weil die Hälfte der Täter aus dem Unternehmen selbst stammt und Datendiebstahl u.ä. als größ-tes Risiko genannt wird.

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jedenfalls schwerpunktmäßig um eine Opferbefragung und also um die Schädigung des Unternehmens durch eigene Mit-arbeiter. Da der Entwurf diese Studie beifällig zitiert, will er offenbar auch für diese Fälle auf die Straftaten mit einer Sanktionierung des geschädigten Unternehmens reagieren, denn in der KPMG-Studie wird ausführlich davon gehandelt, dass derartige Straftaten vor allem aufgrund unzulänglicher interner Kontrollstrukturen begangen werden könnten, also offensichtlich eine Aufsichtsverletzung hinzu kam. Zwar sträubt sich die Feder, den Verfassern des Entwurfs eine sol-che Torheit zu unterstellen, dass das geschädigte Unterneh-men nach dem Schaden auch noch den Spott in Gestalt der Unternehmenssanktion hinnehmen müsse. Dass diese sich aus den angeführten Beispielen ergebende Konsequenz offen-bar nicht bedacht worden ist, zeigt aber einmal mehr die unzulängliche Fundierung des ganzen Entwurfs.

d) Dasselbe gilt auch für das gerade auch im Vergleich zum Ausland angenommene „deutsche Präventionsdefizit“. Dabei werden gleich drei zentrale Gesichtspunkte übersehen.

aa) Zum Ersten darf die Frage der Prävention von Rechts-güterverletzungen im Wirtschaftssystem nicht a limine auf die Sanktionierung von Unternehmen (genau: Unternehmens-trägern) eingeengt werden, sondern bedarf selbstverständlich auch der Berücksichtigung des unstrittigen primären Präven-tionssystems, eben des Individualstrafrechts. Dann zeigt sich aber rasch, dass dann, wenn „das Unternehmen selbst in das Zentrum der Strafverfolgung rücken muss“ (so der Entwurf ausdrücklich auf S. 2 oben), dies auf Kosten der Effizienz des Individualstrafrechts geht. So ist es in den USA aufgrund des dort geltenden Opportunitätsprinzips ohne weiteres möglich, von der Verfolgung individueller Straftaten vollständig abzu-sehen, namentlich wenn eine Vereinbarung mit dem Unter-nehmen über eine Unternehmensgeldbuße gelingt. Namhafte Autoren sprechen sich sogar darüber hinaus prinzipiell dafür aus, eine individuelle Strafverfolgung nur noch bei „beson-ders scheußlichen“ Taten durchzuführen und sich sonst aus-schließlich auf die Sanktionierung des Unternehmens zu kon-zentrieren.70 Dass selbst Betrugs- oder Untreuehandlungen mit mehrstelligen Milliardenschäden71 in den USA nicht zu individueller Strafverfolgung führen müssen, wenn die Ein-stellung des Verfahrens mit Milliardenbeträgen aus der Un-ternehmenskasse erkauft werden kann, zeigt gegenwärtig exemplarisch der Fall von JP Morgan.72 Ein weiteres (natür-lich negatives) „Musterbeispiel“ bietet auch das im Entwurf auf S. 53 erwähnte europäische Kartellrecht, bei dem über-haupt nur noch die Unternehmen(sträger) als Sanktions-subjekte in Betracht kommen. Dass die horrenden Geldbu-

70 Coffee, Am. Crim. L. Rev. 17 (1980), 419; Fisse, S. Cal. L. Rev. 56 (1983), 1141; Silets/Brenner, Am. J. of Crim. L. 13 (1986), 329; ebenso Ransiek, in: Kempf/Lüderssen/Volk (Fn. 13), S. 285 (S. 308 f.). 71 Zu diesem strafrechtlichen Hintergrund der sog. Finanzkrise Schünemann, in: Schünemann (Fn. 2 – Finanzkrise), S. 71 ff. 72 Vgl. dazu www.zeit.de/wirtschaft/2013-10/jpmorgan-rekordvergleich sowie SPIEGEL-online v. 7.1.2014: „Betrugsskandal“.

ßen, die von der Kommission verhängt werden,73 offensicht-lich nur einen minimalen Abschreckungseffekt haben, zeigen die zahllosen Verfahren, die immer wieder durchgeführt wer-den. Gerade das Fehlen eines Individualstrafrechts im Be-reich des GWB, das in der deutschen wissenschaftlichen Dis-kussion oft genug moniert worden ist,74 macht die geringe Präventionseffizienz in diesem Bereich erklärlich.

bb) Zum Zweiten ist es kaum verständlich, dass der Ent-wurf die im internationalen Vergleich herausragende Intensi-tät unterschlägt, mit der die deutschen Staatsanwaltschaften Wirtschaftsverbrechen verfolgen. Wenn auf S. 26 „erfolgrei-che Vorbilder im europäischen Vergleich“ angeführt werden, so unterläuft hierbei eine Verwechselung von law in books und law in action, denn ein Blatt bedrucktes Papier im Ge-setzblatt liefert mitnichten bereits als solches ein „erfolgrei-ches Vorbild“ bei der Kriminalitätsbekämpfung. Näher auf Beispiele wie Rumänien oder Italien75 einzugehen, ist hier nicht der Ort. Stattdessen soll nur kurz auf Spanien und Ös-terreich eingegangen werden, welch letzteres als Erfolgsbe-weis im Entwurf auf S. 26/27 besonders ausführlich darge-stellt wird. Spanien, das im Jahr 2010 gegen heftigsten Pro-test des überwiegenden Teils der Strafrechtswissenschaft eine Strafhaftung für juristische Personen eingeführt hat, kennt auch heute, nach drei Jahren, nur eine einzige Anklage.76 Für Österreich ist die im Entwurf angeführte Studie des IRKS, wenn man sie genau zur Kenntnis nimmt, bestenfalls ambiva-lent. Es gab danach innerhalb von fünf Jahren nur insgesamt 300-350 Verfahren, in denen der Vorwurf gegen eine juristi-sche Person „zumindest phasenweise“ eine Rolle spielte und die nur zu 45 Strafanträgen und zu 25 Urteilen führten, davon wiederum die Hälfte Freisprüche, also innerhalb von sechs Jahren zwölf Verurteilungen oder durchschnittlich pro Jahr zwei.77 Dass auf dem in dem Entwurf so bedrohlich geschil-derten, riesigen Feld der Wirtschaftskriminalität mit zwei Verurteilungen pro Jahr irgendein Präventionseffekt ausge-löst werden könne, werden wohl die Entwurfsverfasser selbst nicht behaupten wollen.

cc) Umgekehrt wird in Deutschland durch die Anwen-dung der Verbandsgeldbuße nach § 30 OWiG in Verbindung vor allem mit § 130 OWiG wegen Aufsichtspflichtverletzung

73 Dazu Vogel, in: Sieber u.a. (Hrsg.), Europäisches Straf-recht, 2011, § 5 Rn. 11 ff.; im Libor-Komplex wurden Buß-gelder von insgesamt 1,7 Mrd. € verhängt. 74 Grdl. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße und Strafrecht, 1976. 75 Wo selbst Steuerhinterziehungen in Höhe von Hunderten von Millionen Euro äußerstenfalls eine Bewährungsstrafe erwarten lassen wie im Fall von Dolce & Gabbana, die laut einem Bericht in n-tv v. 20.06.2013 wegen einer Steuerhin-terziehung über etwa 1 Mrd. € von einem mailändischen Gericht nur zu Bewährungsstrafen von einem Jahr und acht Monaten verurteilt wurden. 76 Martinez Canton, in: Zöller u.a. (Hrsg.), Gesamte Straf-rechtswissenschaft in internationaler Dimension, Festschrift für Jürgen Wolter zum 70. Geburtstag am 7. September 2013, 2013, S. 1371 (S. 1374). 77 Studie im Jahresbericht der IRKS, S. 42.

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den Staatsanwälten schon heute eine starke Waffe in die Hand gegeben, deren rechtsstaatlicher Kern, wie oben er-wähnt, in der Funktion zur Abschöpfung eines deliktisch er-worbenen Gewinns besteht (§§ 17 Abs. 4, 30 Abs. 5 OWiG), von der in den letzten Jahren ein geradezu exponentiell stei-gender Gebrauch gemacht worden ist.78 Dass neben dem Ver-fall und neben einer ernsthaft betriebenen individuellen Straf-verfolgung die Verhängung einer neben die Abschöpfung tretenden Verbandsstrafe einen zusätzlichen nützlichen Effekt haben würde, ist alles andere als plausibel. Umgekehrt be-steht die Gefahr, dass eine Realisierung des Entwurfs das gegenwärtig im internationalen Vergleich optimale Funktio-nieren des deutschen Wirtschaftsstrafrechts empfindlich be-schädigen würde, weil ein einer Straftat bezichtigter Unter-nehmensträger als Beschuldigter womöglich die quantitativ schon heute enorme Unterstützung der Strafverfolgung durch „private Ermittlungen“79 einstellen würde, womit die Präven-tionswirkung des Individualstrafrechts im Mark getroffen würde. 9. Die mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht zu verein-

barenden drakonischen Tendenzen im Rechtsfolgenbereich

und in Gestalt der Einführung des Legalitätsprinzips

Wohlwollende Kritiker des NRW-Entwurfs und übelwollen-de Kritiker der deutschen Strafrechtsdogmatik könnten ver-sucht sein, die bisherigen Überlegungen mit dem Titel der Shakespeare-Komödie80 „Viel Lärm um Nichts“ zu etikettie-ren, weil Worte doch Schall und Rauch seien und es deshalb keine Rolle spiele, ob man von Verbandssanktionen oder aber lax, sei es auch stricto sensu falsch, von Verbandsstrafen. Das ist schon wissenschaftstheoretisch ganz verfehlt, denn weil die Sprache nicht nur das Medium der Rechtswissen-schaft, sondern auch des Rechts selbst ist, ist jede falsche Nomenklatur auch ein Fehler in der Sache. Das zeigt sich beim NRW-Entwurf besonders drastisch.

a) Der den Entwurf kennzeichnende Verzicht auf eine Un-tersuchung der Eignung und Legitimität von echten Ver-bandsstrafen und ihrer spezifischen Bedingungen führt dazu, dass nicht etwa nur eine bloße Umetikettierung von der Geld-buße nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz in eine Geldstra-fe stattfindet, sondern vor allem die notwendige Begrenzung der Geldbuße eliminiert und eine der Sache nach ganz neue, drakonische Sanktion geschaffen wird. Das lässt sich in dem Entwurf an zahlreichen Einzelheiten festmachen.

aa) Die Verbandsgeldstrafe verliert vollständig die (legi-time) Funktion zur Abschöpfung der illegalen Vermögens-vorteile (der Verfall soll daneben nach dem StGB durchge-führt werden unter Einschluss des hier praktizierten, auf eine zusätzliche Strafe hinauslaufenden Bruttoprinzips, siehe Ent-wurf, S. 51 f.) und wird nach § 6 des Entwurfs in der Höhe nur durch den Jahresertrag des Unternehmens und kumulativ

78 Näher Taschke, NZWiSt 2012, 9. 79 Vgl. nur Taschke, NZWiSt 2012, 89 ff. 80 Notabene nicht verfasst von W. Shakesper, sondern von Edward de Vere, 17. Earl of Oxford, siehe Schünemann, in: Esser u.a. (Hrsg.), Festschrift für Hans-Heiner Kühne zum 70. Geburtstag, 2013, S. 361 (S. 367 ff.).

10 % des Jahresumsatzes begrenzt (Abs. 4), wobei beim Han-deln in einem Konzernunternehmen die Verhältnisse des ge-samten Konzerns maßgeblich sind (Abs. 5). Wenn man ein-mal einen großen Konzern als Beispiel nimmt, der einen Jahresgewinn von 3,6 Mrd. € haben möge, so ergibt das als kleinste Geldstrafe (ein Tagessatz als dreihundertsechzigster Teil der Obergrenze) eine Geldstrafe von 10 Mio. €, wohl-gemerkt als Mindeststrafe. Natürlich gibt es nur wenige Kon-zerne, die einen derart hohen Jahresertrag besitzen, doch macht schon dieses Beispiel deutlich, dass die Verbandsgeld-strafe (anders als die bisher im Wesentlichen auf die Gewinn-abschöpfung ausgerichtete Verbandsgeldbuße) zwar den Fis-kus des längst in nicht mehr rückzahlbare Kreditaufnahmen vorgestoßenen Schuldenstaates freuen wird, unter Rechts-staatsaspekten aber inakzeptabel ist. Denn dadurch wird die „Overkill-Eigenschaft“ der Kriminalstrafe übernommen, die sich nur – wie oben dargelegt – in einem durch Androhungs-generalprävention und Schuld bestimmten Kontext legitimie-ren ließe.

bb) In diesem Zusammenhang ist auch bezeichnend, dass nach § 7 Abs. 1 Nr. 3 des Entwurfs die hier immerhin vorge-sehene „Bewährungsgeldstrafe“ dann ausgeschlossen wird, wenn „die Verteidigung der Rechtsordnung die Verurteilung zur Strafe gebietet“. Ein solcher Blockadegesichtspunkt setzt, weil die Rechtsordnung ja nur gegen Normbrüche verteidigt werden kann, die Existenz einer Normverletzung voraus, um die es aber, wie oben zur Genüge dargelegt worden ist, bei der Verbandssanktion gar nicht geht. Das falsche Verständnis als eigentliche Strafe hat den Entwurf also auch hier wieder in eine falsche Richtung geführt.

cc) Die Einführung einer so scharfen Sanktionen, wie es die Verbandsgeldstrafe nach dem Entwurf werden soll, muss dabei vor dem Hintergrund gesehen werden, dass der Entwurf weder eine repressive Legitimation noch ein klares präventi-ves Effizienzkonzept benennen kann. Im Grunde drückt er nur das dumpfe Gefühl aus, dass nach einer Rechtsgutsverlet-zung auch irgendwer bestraft werden müsse, was also letzt-lich eine Bestrafung des Zufalls bedeutet. An einer Stelle wird diese Absicht auch ziemlich unverblümt ausgesprochen, nämlich auf S. 24 unten, wo beklagt wird, dass nach gelten-dem Ordnungswidrigkeitenrecht dann, wenn man weder ei-nen Individualtäter noch ein schuldhaftes Versagen der Auf-sichtspersonen belegen könne, „eine Verbandsstraftat über-haupt nicht sanktioniert werden“ könne – obwohl dann ja gar keine Verbandsstraftat vorliegt, so dass der Entwurf eine Zufallsverantwortlichkeit etablieren möchte.

b) Der drakonische Charakter der Verbandsstrafe wird da-durch verstärkt, wenn nicht sogar potenziert, dass § 14 des Entwurfs in Abs. 2 anstelle des bisher im Ordnungswidrig-keitenrecht geltenden Opportunitätsprinzips das Legalitäts-

prinzip vorschreibt. aa) Es überrascht zunächst, dass der Entwurf sein großes

amerikanisches Vorbild verlässt, denn im amerikanischen Strafverfahren gilt allgemein das Opportunitätsprinzip. Eine nähere Begründung hierfür sucht man vergebens. Offenbar lässt sich der Entwurf auch hier von der irrigen Vorstellung leiten, allein durch die Hochstufung zur Straftat sei damit auch schon die Anwendung des für Straftaten geltenden Le-

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Bernd Schünemann

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galitätsprinzips hinreichend begründet. In Wahrheit ist das Legalitätsprinzip aber aus der Idee des Vergeltungsstrafrechts und den logischen Implikationen einer verschuldeten Norm-verletzung abgeleitet worden: In der Theorie des Vergel-tungsstrafrechts hängt die Gerechtigkeit der Strafrechtspflege von der Gleichheit der Rechtsanwendung ab, weshalb auf die Festsetzung der Strafe nicht verzichtet werden darf, ohne den Charakter der Strafrechtsnorm als eines kategorischen Impe-rativs81 aufzuheben. Weil eine Übertragung des repressiven Strafrechtskonzepts auf die Verbandssanktionen aber, wie oben dargelegt, ausgeschlossen ist, gibt es für die im Entwurf vorgesehene Einführung des Legalitätsprinzips keine Begrün-dung.

bb) Dagegen lässt sich auch nicht einwenden, dass ja die grundsätzliche Geltung des Legalitätsprinzips vermöge des Verweises auf die Strafprozessordnung in Art. 13 immer noch eine Einstellung nach den speziellen Einstellungsvor-schriften der StPO übriglassen würde. Denn erstens sind diese Vorschriften auf die Verbandsgeldstrafe nicht zuge-schnitten und können auch nicht immer übertragen werden, beispielsweise wenn § 153a StPO auf einen Täter-Opfer-Aus-gleich abstellt oder die Schwere der Schuld als Ausschluss-grund vorsieht, denn der Verband ist nicht Täter und ihn trifft auch keine eigene Schuld. Außerdem darf in dem Strafpro-zess der Gegenwart, der durch die vom Gesetzgeber in § 257c StPO als „Verständigung“ bezeichneten Aushandlungspro-zesse gekennzeichnet ist82 (was die Entwurfsbegründung auf S. 28 unten berücksichtigt), die weitgehende Wehrlosigkeit des Verbandes gegenüber einem von der Staatsanwaltschaft kraft des Legalitätsprinzips bei jeder Zuwiderhandlung eines Entscheidungsträgers gemäß § 2 des Entwurfs eingeleiteten Verfahren nicht übersehen werden: In Verbindung mit der sogleich anzusprechenden, vom Entwurf gezielt vorgesehe-nen Prangerwirkung eines solchen Verfahrens muss sich der Verband praktisch jeder im Rahmen des § 153a StPO ange-botenen Geldzahlung unterwerfen.

c) Die mit der Einführung der Verbandsgeldstrafe vom Entwurf gezielt verbundene, den Ruf des Verbandes beein-trächtigende Prangerwirkung steht mit den zentralen Zwe-cken des Strafrechts in Gestalt des Rechtsgüterschutzes und der anschließend (bei gescheiterter Androhungsgeneralprä-vention) zu betreibenden Resozialisierung in einem auffälli-gen Widerspruch. Die Geldbuße wird auf S. 25 unten gerade deshalb als unzulänglich angesehen, weil dadurch „keine ins Gewicht fallende Beeinträchtigung des Ansehens und des Leumunds des Betroffenen“ erreicht werden könne, was der Entwurf aber gerade schaffen will, wie er mit den anschlie-ßenden sibyllinischen Äußerungen deutlich macht: „Je öf-fentlicher, je tadelnder Rechtsfolgen gegen Verbände ausge-staltet sind, umso eher werden diese gehalten sein, sich normgetreu zu verhalten“ (S. 26 oben) – eine ganz unmiss-verständliche Erneuerung des frühneuzeitlichen Prangers „im Zeitalter neuer Kommunikationsformen über die sozialen

81 Kant, Metaphysik der Sitten, 2. Aufl. 1798, S. 226, 82 Vgl. zu der dabei fehlenden prozessualen Balance nur Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 27. Aufl. 2012, § 17 Rn. 26 ff. m.w.N.

Medien“ (S. 25 unten). Die auf S. 26 oben ausdrücklich ange-sprochene Notwendigkeit des Unternehmens, „schädliche Auswirkungen auf ihre Reputation zu vermeiden“, bedeutet zugleich eine Billigung des enormen Zwanges, der auf das Unternehmen im Strafverfahren in Richtung auf eine durch Unterwerfung erfolgende Einigung mit den Strafverfolgungs-behörden ausgeübt wird.

d) Noch über die Strenge des Vergeltungsdenkens von Immanuel Kant geht die Vorschrift über verfahrenssichernde

Maßnahmen (§ 20) hinaus, die die Arrestierung des Unter-nehmensvermögens bis zur Höhe von 10 % des Jahresumsat-zes gestattet, wenn die Auflösung des Verbandes betrieben wird. Denn Kant wollte die Auflösung eines Volkes nur von der vorherigen Bestrafung aller Mörder abhängig machen,83 während sich nach § 20 das Unternehmen erst auflösen darf, wenn es vorher durch die Arrestierung genügend bestraft worden ist – obwohl durch seine Auflösung ja jeder präventi-ve Bestrafungsgrund in Wegfall kommen würde!

e) Auf die vom Entwurf vorgeschlagenen Maßregeln soll nur kurz eingegangen werden. Es passt ins Bild der drakoni-schen Konzeption des Entwurfs überhaupt, dass ausschließ-lich an solche Maßregeln gedacht worden ist, die den Ver-band rechtlich zerstören oder wirtschaftlich in die Gefahr des Untergangs bringen. Mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip ist keine einzige zu vereinbaren.

aa) Der Ausschluss von der Vergabe öffentlicher Aufträge gemäß § 10 des Entwurfs kann nach dem Ermessen des Ge-richts bereits dann angeordnet werden, wenn bei der Erfül-lung von Liefer-, Bau- oder Dienstleistungsaufträgen eine Straftat begangen worden war, wofür nach der Begründung (S. 63) auch fahrlässige Verfehlungen ausreichen. Je nach Art der Branche kann das den wirtschaftlichen Ruin eines Unter-nehmens bedeuten. Als Anordnungsschwelle wird nur die Anzahl der Tagessätze (180) genannt, wobei nicht gesagt wird, warum denn nicht die vom Entwurf vorgeschlagene, strenge Verbandsgeldstrafe zur Prävention ausreichen soll. Anders als bei der Auflösung wird die naheliegende Gefahr weiterer Taten nicht einmal gefordert, so dass es sich in Wahrheit nicht um eine Maßregel, sondern um eine zusätzli-che Strafe handeln dürfte. Dass dieses Institut sich im Ver-waltungsrecht wachsender Beliebtheit erfreut,84 kann die Bedenken wegen des dort in der Regel möglichen Nachwei-ses der Zuverlässigkeit (z.B. wenn der kriminelle Mitarbeiter entlassen worden ist) nicht entkräften.

bb) Ähnliches gilt für den Ausschluss von Subventionen gemäß § 11 des Entwurfs.

cc) Die Regelung des Entwurfs über eine Auflösung des Verbandes (§ 12) muss sich an dem Grundrecht der Vereini-gungsfreiheit (Art. 9 GG) messen lassen und ist mindestens wegen einer Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verfassungswidrig, weil nicht die schon oben vorgeschlagene mildere Maßregel der Unternehmenskuratel vorgeschaltet wor-den ist, die überdies einen besseren Erfolg versprechen würde (denn die Auflösung hindert ja die Verbandsmitglieder nicht,

83 Kant (Fn. 81), S. 229. 84 Vgl. etwa § 21 Arbeitnehmerentsendegesetz, § 98c Auf-enthaltsgesetz, § 9 Abs. 3 brandenburgisches Vergabegesetz.

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alsbald einen neuen Verband mit derselben Attitüde zu grün-den, so dass es im Interesse des Rechtsgüterschutzes weitaus effektiver ist, den bereits existierenden Verband auf den Bo-den der Zuverlässigkeit zurückzuführen). Dass der Entwurf von der Unternehmenskuratel nicht einmal Notiz nimmt, belegt dessen geradezu frivole Festlegung auf ein Konzept maximaler Punitivität. 10. Das rechtsstaatswidrige Ziel des Entwurfs, jedem Unter-

nehmen eine formale Compliance-Organisation aufzuzwingen

a) Sowohl im Text des Entwurfs als auch noch mehr in der Begründung wird deutlich, dass das geplante Gesetz alle von ihm erfassten Verbände dazu zwingen würde, eine formelle Compliance-Organisation aufzubauen. So soll das Gericht von einer Verbandssanktion absehen können, wenn der Ver-band „ausreichende organisatorische oder personelle Maß-nahmen getroffen hat, um vergleichbare Verbandsstraftaten in Zukunft zu vermeiden“, und in § 6 Abs. 3 wird für die Zumessung der Verbandsgeldstrafe ausdrücklich auf „Art, Schwere und Dauer des Organisationsmangels im Verband (sowie) etwaige Vorkehrungen des Verbandes zur Vermei-dung vergleichbarer Taten“ abgehoben. In der Gesetzesbe-gründung heißt es an prominentester Stelle auf S. 2, dass es im Recht der Ordnungswidrigkeiten an Instrumenten fehle, „die effektive Anreize zur Entwicklung und Pflege einer Kultur von Unternehmens-Compliance setzen. Die Bereitstel-lung von Anreizmechanismen zur Einführung von Compli-ance-Systemen – in Anlehnung an die Regelungen im anglo-amerikanischen Rechtskreis – ist eine häufig wiederholte For-derung der Anwaltschaft“. Und auch bei den Kosten für die Wirtschaft wird auf S. 6 darauf abgehoben, dass Investitionen „in verbesserte Aufsichts- und Überwachungsstrukturen im Unternehmen“ erfordert sein könnten, was dann zu der posi-tiv beurteilten „Stärkung einer zeitgemäßen Kultur der Unter-nehmens-Compliance“ führe. Auf S. 22 Mitte wird beklagt, dass im Mittelstand nur 20 % der Unternehmen über eigene Compliance-Richtlinien verfügen würden. Auf S. 53 wird zur Erläuterung des § 5 ausgeführt, das Gesetz „greift eine zen-trale Forderung der Anwaltschaft auf, die vor dem Hinter-grund der internationalen Entwicklung vor allem im anglo-amerikanischen Rechtskreis gesetzlich bestimmte Anreiz-strukturen zur Einführung von Compliance-Systemen ange-mahnt hat“. In den USA und in Großbritannien sei das schon verwirklicht, und auch der DAV und der Strafrechtsausschuss der BRAK hätten sich für die Einführung eines Haftungsaus-schließungsgrundes infolge angemessener Compliance-Vor-kehrungen ausgesprochen, was auch von der EU-Kommis-sion bei der Bußgeldzumessung honoriert werde. Gemäß S. 54 hat auch die OECD den Ansatz verfolgt, kleine und mittlere Unternehmen darin zu bestärken, interne Kontroll-systeme sowie Ethik- und Compliance-Programme zu entwi-ckeln.

b) Angesichts der geschilderten drakonischen Ausgestal-tung der Verbandsgeldstrafe würde sich, wenn der Entwurf ins Gesetzblatt käme, so gut wie kein Unternehmen dem Zwang zum Aufbau einer formalen Compliance-Organisation entziehen können. Dass der Entwurf dies nicht ausdrücklich anordnet, sondern nur einen gesetzlichen Rahmen schafft, der

hierzu zwingt, kann nicht von der Überprüfung entbinden, ob ein derartiger indirekter Zwang, der gerade aus der „Über-kriminalisierung“ resultiert, mit dem Rechtsstaatsprinzip zu vereinbaren wäre.

aa) Dabei spielt es für die rechtsstaatliche Analyse keine Rolle, dass etliche der vom Entwurf zitierten, sich für eine derartige faktische Erzwingung von Compliance-Organisa-tionen einsetzenden Verbände mit ihrer Forderung offensicht-liche eine Lobbyarbeit zum Zweck der Erschließung neuer Berufs- und Verdienstfelder betreiben. Zwar ist es offensicht-lich, dass die Rechtsanwaltschaft an der Notwendigkeit einer flächendeckenden Etablierung von Compliance-Organisatio-nen ein vitales Interesse besitzt, weil der Anwalt normaler-weise erst eingeschaltet wird, wenn „etwas passiert ist“, wäh-rend der Zwang zur Einführung prophylaktischer Compli-ance-Systeme85 dem Anwalt in allen Unternehmen (speziell auch in solchen ohne eigene Rechtsabteilung) die Mandatstür öffnet. So lassen sich heute zahlreiche Anwaltskanzleien beo-bachten, die auf die „Compliance-Beratung“ der mittelständi-schen Wirtschaft spezialisiert sind, bis hin zu speziellen Aus-bildungs- und Kursangeboten etwa der „Frankfurt School of Finance & Management gGmbH“ über den „Zertifikatsstudi-engang Certified Compliance Professional (CCP)“.

bb) Diese offensichtlich berufspolitische Motivierung der Forderungen, einen Zwang zur Einrichtung von Compliance-Systemen zu entfalten, wäre freilich kein ausreichender Grund, um allein deshalb den womöglich in der Sache berechtigten Forderungen kein Gehör zu schenken. Aber genau an dieser Stelle gilt es die Freiheit des Unternehmers zu wahren, ob er neben den zahlreichen gesetzlich vorgeschriebenen Kon-trollmechanismen auch noch eine formale, neben die operati-ve tretende Compliance-Organisation in seinem Unternehmen etablieren will, die nämlich von den allgemeinen Regeln der strafrechtlichen Zurechnung gerade nicht gefordert wird.86 Zusätzlich fällt ins Gewicht, dass es sich bei dem Compli-ance-Konzept um einen Paradigmawechsel in der sozialen Kontrolle handelt, dem sogar ein geändertes Menschenbild zugrunde liegt: Das Feuerbachsche Paradigma des Strafrechts, das im Großen und Ganzen zweihundert Jahre vorgeherrscht hat, setzt grundsätzlich die ausreichende generalpräventive Wirkung der Strafrechtsnormen voraus und definiert dadurch zugleich die Freiheit des Individuums von obrigkeitlicher Kontrolle: Die Normtreue des Individuums wird vermutet, so dass der Staat entweder erst nach Begehung einer Straftat repressiv einschreiten darf oder präventiv unter der Voraus-setzung, dass eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung bereits existiert. Das entgegen gesetzte Regelver-ständnis vom Staatsbürger als einer Gefahrenquelle

87 wird durch das Konzept einer neben die Aufsichtsgarantenstellung des Vorgesetzten tretenden eigenen Compliance-Organisation auf die gesamte private Verbandstätigkeit übertragen und

85 Vgl. dazu grds. jüngst nur Rotsch, in: Rotsch (Hrsg.), Cri-minal Compliance, Handbuch, 2014, § 1 Rn. 14, 40 (im Er-scheinen). 86 Dazu Schünemann, GA 2013, 193 (194 ff.). 87 Schünemann, GA 2013, 196. Zustimmend Rotsch (Fn. 85), § 1 Rn. 6.

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damit auf den größten Teil des gesellschaftlichen Handelns des Individuums. Ob ein Unternehmer seinem Unternehmen dieses Paradigma aufdrücken will, ist eine dessen Charakter bestimmende und deshalb dem Unternehmer selbst vorbehal-tene Entscheidung.

cc) Als Ergebnis wird sich deshalb festhalten lassen, dass eine den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzende Punitivi-tät dann, wenn sie den Unternehmensträger faktisch dazu zwingt, sich im Hinblick auf ein auch ohne persönliche Schuld realisierbares Risiko zu einer kostspieligen Prophylaxe und zu einem „Überwachungsmodell des Unternehmens“ bereit-zufinden, in die Freiheit des Unternehmers in einer übermä-ßigen Weise eingreift. Damit ist aber die Kategorie des mit-

telbaren Grundrechtseingriffs betroffen: Nach der Rechtspre-chung des BVerfG können auch staatliche Maßnahmen, die eine mittelbare oder faktische Wirkung entfalten, Grundrech-te beeinträchtigen und müssen daher von Verfassungs wegen hinreichend gerechtfertigt sein, namentlich wenn sie in ihrer Zielsetzung und Wirkung einem normativen und direkten Eingriff gleichkommen.88 Wenn ein Gesetz unverhältnismä-ßige und nicht legitimierbare Rechtsfolgen androht, die der Betroffene nur dadurch abmildern kann, dass er seinerseits an sich nicht notwendige, aufwändige und tief in die Unterneh-mensstruktur und -kultur eingreifende Maßnahmen trifft, dann bedeutet das auch für denjenigen Unternehmer einen Eingriff in seine allgemeine Handlungsfreiheit, der später keine Ver-bandsstrafe verwirkt und insoweit von ihr nicht unmittelbar betroffen ist. Das Ziel des Entwurfs, durch eine permanente Überpunitivität die Einrichtung von formellen Compliance-Systemen in der gesamten Wirtschaft zu erzwingen, bedeutet deshalb wegen der Missachtung des Verhältnismäßigkeits-grundsatzes einen verfassungswidrigen Eingriff in die allge-meine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG. III. Ergebnis

Es bleibt dabei, dass es eine echte Kriminalstrafe gegen Ver-bände nicht geben kann und dass eine Art Straf-Mimikry, wie sie sich in Anlehnung an vorrationale, aber politisch erfolg-reiche ausländische Vorbilder im NRW-Entwurf findet, we-der von ihren strafrechtstheoretischen noch von ihren empiri-schen Prämissen her tragfähig ist. Darüber hinaus verletzt sie das in den Art. 1, 20 GG enthaltene Schuldprinzip, missachtet den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG) und durch eine Reihe von Verletzungen des im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 GG) enthaltenen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auch die Grund-rechte der Art. 2 Abs. 1, 9, 12 und 14 GG. Anstelle der ewi-gen Wiederkehr dieses Zombies sollte endlich die Ergänzung der in ihrer Abschöpfungsfunktion legitimen Verbandsgeld-buße durch zukunftsgerichtete Maßregeln, namentlich die Unternehmenskuratel, das kriminalpolitische Programm bil-den.

88 BVerfGE 105, 252 (273); 105, 279 (300 f.); 110, 177 (191 Rn. 35).

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Der nordrhein-westfälische Entwurf eines Verbandsstrafgesetzbuchs – Eine kritische

Betrachtung von Begründungsmodell und Voraussetzungen der Straftatbestände

Von Dr. Elisa Hoven, Köln* I. Einführung

Braucht Deutschland ein Unternehmensstrafrecht? Diese Frage wurde nach der Veröffentlichung des nordrhein-westfälischen Entwurfs eines Verbandsstrafgesetzbuchs (VerbStrGB) in Politik, Praxis und Wissenschaft kritisch diskutiert und zu-meist – wie auch, mit deutlichen Worten, in dieser Ausgabe von Schünemann

1 – zumeist verneint.2 Berechtigte Bedenken bestehen bereits gegen die grundsätzliche Idee einer Strafbar-keit von Verbänden, die mit dem auf individueller Schuld beruhenden deutschen Strafrechtssystem nur schwer verein-bar erscheint. Sollte sich politisch jedoch die Überzeugung von der Notwendigkeit eines Unternehmensstrafrechts durch-setzen, wird die Einführung eines Verbandsstrafgesetzbuches auch gegen systematische und strafrechtsdogmatische Ein-wände aus der Wissenschaft erfolgen. Daher lohnt es sich, den Blick nicht allein auf die generelle Frage des „Ob“, son-dern zugleich auf das „Wie“ eines VerbStrGB zu werfen. Der vorliegende Beitrag möchte aus der Vielzahl der materiell rechtlichen und prozessualen Probleme des Gesetzesentwurfs einen wesentlichen Aspekt – die Formulierung der Tatbe-stände in § 2 VerbStrGB – aufgreifen und Möglichkeiten zur Verbesserungen der Norm diskutieren. II. Die Systematik des § 2 VerbStrGB

§ 2 VerbStrGB enthält die zwei Straftatbestände des Verb-StrG und stellt somit die materielle Kernvorschrift des Ent-wurfes dar. Beide Normen knüpfen an das Fehlverhalten eines Entscheidungsträgers an, der in § 1 Abs. 3 VerbStrGB legaldefiniert wird. § 2 Abs. 1 VerbStrGB normiert die Straf-barkeit des Unternehmens auf Grundlage eines – vorsätzli-chen oder fahrlässigen – Begehungsdelikts.

§ 2 Abs. 1 VerbStrGB: „Ist durch einen Entscheidungsträ-ger in Wahrnehmung der Angelegenheiten eines Verban-des vorsätzlich oder fahrlässig eine verbandsbezogene Zu-widerhandlung begangen worden, so wird gegen den Ver-band eine Verbandssanktion verhängt.“

§ 2 Abs. 2 VerbStrGB sieht eine Sanktion gegen das Unter-nehmen in Fällen des Unterlassens zumutbarer Aufsichts-maßnahmen vor.

§ 2 Abs. 2 VerbStrGB: „Ist in Wahrnehmung der Angele-genheiten eines Verbandes eine verbandsbezogene Zuwi-derhandlung begangen worden, so wird gegen den Ver-band eine Verbandssanktion verhängt, wenn durch einen

* Die Autorin ist Habilitandin am Lehrstuhl von Prof. Dr.

Claus Kreß an der Universität zu Köln und arbeitet zu Fragen der Auslandsbestechung. 1 Schünemann, ZIS 2014, 1 (in dieser Ausgabe). 2 Siehe bspw. Szesny, BB 2013, 1; Wessing, ZWH 2012, 301 (302).

Entscheidungsträger dieses Verbandes vorsätzlich oder fahrlässig zumutbare Aufsichtsmaßnahmen, insbesondere technischer, organisatorischer oder personeller Art, unter-lassen worden sind, durch die die Zuwiderhandlung ver-hindert oder wesentlich erschwert worden wäre.“

§ 2 VerbStrGB führt die in § 30 OWiG und § 130 OWiG geregelten Ahndungsvorschriften – in modifizierter Form – zusammen und verweist auf einen gemeinsamen Definitions-katalog in § 1 VerbStrGB. Durch diese gesetzessystematische Lösung wird die bisherige Mosaikstruktur zugunsten eines zwingend einheitlichen Verständnisses der zentralen Tatbe-standsmerkmale („Entscheidungsträger“ und „verbandsbezo-gene Zuwiderhandlung“) aufgegeben.

Dem Gesetzesentwurf liegt die Idee einer Sanktionierung „originärer Verbandsschuld“ als Legitimationsmodell für eine strafrechtliche Verantwortlichkeit von Verbänden zugrunde. In der Entwurfsbegründung heißt es, „das Verbandsstrafrecht knüpft an ein spezifisches Verbandsunrecht an, welches darin besteht, dass der Verband sich eine derart unzureichende Organisation gibt, dass kriminelles Verhalten geduldet, be-günstigt oder gar provoziert wird.“ Nach dem Selbstver-ständnis der Entwurfsverfasser zielt das VerbStrGB auf die Ahndung originär mit der Tätigkeit von Verbänden verbun-denen Risiken, soweit sich diese in einer verbandsbezogenen Zuwiderhandlung realisieren. Trotz teilweise widersprüchli-cher Formulierungen3 soll Anknüpfungspunkt der Verantwor-tung daher nicht die Zurechnung von Individualschuld, son-dern ein eigenes Organisationsverschulden des Verbandes sein.4 Der Gesetzesentwurf löst den zu § 30 OWiG bestehen-den Theorienstreit somit zugunsten der Lehre vom Organisa-tionsverschulden5.

3 Der Gesetzesentwurf spricht auf S. 27 bspw. von einer „strafrechtliche[n] Haftung von Verbänden für Zuwiderhand-lungen ihrer Mitarbeiter“. Er ist online abrufbar unter http://dico-ev.de/fileadmin/PDF/PDF_Intranet_2013/Unter-nehmensstrafrecht/2013-10-15_Entwurf_zum_Unter-nehmensstrafrecht.pdf. Schünemann macht zu Recht darauf aufmerksam, dass die Wahl des zivilrechtlichen Terminus nicht unproblematisch erscheint; Schünemann, Zur Frage der Verfassungswidrigkeit und der Folgen eines Strafrechts für Unternehmen, 2013, S. 11 (online abrufbar unter http://www.familienunternehmen.de/media/public/pdf/studien/Studie_Stiftung_Familienunternehmen_Unternehmensstraf-recht.pdf). 4 So bereits zu § 30 OWiG Tiedemann, NJW 1988, 1169 (1171 ff.). 5 Siehe hierzu die Darstellung von Rogall, in: Senge (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zum Gesetz über Ordnugnswidrigkei-ten, 3. Aufl. 2006, § 30 Rn. 2 ff.

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III. Vom Zurechnungsmodell zur originären Verbands-

schuld

Die Abkehr des Gesetzesentwurfes von der klassischen Zu-rechnungslehre zeigt sich entscheidend in der Bezugnahme des § 2 Abs. 1 VerbStrGB auf eine „verbandsbezogene Zu-widerhandlung“. In Abweichung von § 30 OWiG setzt die Verantwortlichkeit des Verbandes nicht länger eine „Straftat oder Ordnungswidrigkeit“ des Entscheidungsträgers voraus. Durch die geringeren Anforderungen an eine individuelle Schuld sollen zum einen Fälle alternativer Tatverantwortung erfasst werden, in denen sich der Verdacht gegen mehrere Mitarbeiter richtet und der Nachweis eines individuellen Schuldvorwurfs nicht gelingt. Zum anderen wird die Verant-wortung des Verbandes auf Sachverhalte erstreckt, in denen der Entscheidungsträger zwar den Tatbestand eines Sonder-delikts verwirklicht, jedoch nicht die erforderlichen persönli-chen Merkmale aufweist. Nach § 9 Abs. 2 OWiG sind straf-barkeitsbegründende persönliche Merkmale des Betriebsin-habers allein dann auf einen Mitarbeiter anzuwenden, wenn dieser ausdrücklich mit der eigenverantwortlichen Wahrneh-mung von Aufgaben des Inhabers beauftragt wurde. Dies hat zur Folge, dass der Verband bislang nur in beschränktem Umfang für im Unternehmen begangene Sonderdelikte zur Verantwortung gezogen werden kann. In Fällen komplexer Betriebsstrukturen, die eine explizite Delegation nicht offen-legen oder angesichts dezentralisierter Verantwortungsberei-che eine faktisch Übernahme von Aufgabenbereichen ohne organisatorische Formalisierung erforderlich machen, schei-det eine Zurechnung gemäß § 9 Abs. 2 OWiG aus. Nach Schünemann korrespondieren die strafrechtlichen Zurech-nungskriterien – § 9 Abs. 2 OWiG ist dem § 14 Abs. 2 StGB nachgebildet – mit der Organisation moderner, arbeitsteilig strukturierter Unternehmen „häufig so wenig, dass die für ein Individualdelikt geltenden Maßstäbe gegenüber einem Ver-bandsdelikt in erheblichem Umfang versagen müssen.“6 Wessing sieht hierin die Gefahr, dass begangenes Unrecht „oft niemandem zugerechnet werden [kann], weil Handlung, subjektiver Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld bei keiner natürlichen Person zusammenfallen.“7 Durch den Verzicht auf eine individuelle Strafbarkeit des Entschei-dungsträgers als Grundlage der Verbandssanktion können derartige Lücken geschlossen werden. Auf diese Weise wür-de die bisherige Privilegierung organisierter – oder auch „desorganisierter“8 – „Unverantwortlichkeit“ 9 künftig aufge-hoben. Eine ähnliche Intention verfolgte der Regierungsent-wurf des Zweiten Gesetzes zur Bekämpfung der Wirtschafts-

6 Schünemann, Unternehmenskriminalität und Strafrecht, 1979, S. 39 f. 7 Wessing, ZWH 2012, 301 (302). 8 Für diese Begrifflichkeit Wessing, der den Mangel an Zure-chenbarkeit nicht als Ziel, sondern als Folge der Aufgaben-zersplitterung begreift und daher von einer „desorganisierten Unverantwortlichkeit“ spricht; Wessing, ZWH 2012, 301 (302). 9 Gesetzesentwurf (Fn. 3), S. 44; zum Begriff auch Mills, White Collar, The American Middle Classes, 1979, S. 111; Alwart, ZStW 105 (1993), 752.

kriminalität, der die Voraussetzung einer „ausdrücklichen“ Beauftragung in § 14 Abs. 2 StGB im Interesse einer Erwei-terung des Haftungskreises aufgeben wollte. Die Initiative scheiterte jedoch an Bedenken hinsichtlich der Verantwort-lichkeit des beauftragten Mitarbeiters, dessen Strafbarkeit von einer eindeutigen Bestimmung der Aufgabendelegation abhängig sein sollte.10 Vergleichbaren Einwänden sieht sich der aktuelle Gesetzesentwurf nicht ausgesetzt, da der Ver-zicht auf die einschränkende Funktion der Zurechnungsnorm ausschließlich den Verband trifft. Die Loslösung des Tatbe-standes von der individuellen strafrechtlichen Verantwortung des Arbeitnehmers wird im Gesetzesentwurf mit der Natur des Schuldvorwurfes in § 2 Abs. 1 VerbStrGB begründet: „Der Vorwurf, der gegen den Verband erhoben wird und der die ‚Verantwortlichkeit’ des Verbandes begründet, besteht bei § 2 Absatz 1 VerbStrG dem gegenüber gerade in der mangelhaften Personalauswahl oder im unzureichenden Auf-gabenzuschnitt auf der Leitungsebene des Verbandes.“11

Der Gesetzesentwurf distanziert sich hierdurch vom klas-sischen Zurechnungsmodell, das nach verbreiteter Auffas-sung dem § 30 OWiG zugrunde liegt,12 und folgt dem maß-geblich von Tiedemann begründeten Postulat des eigenen Verbandsverschuldens.13

An dieser Stelle soll nicht der Versuch unternommen werden, die vielschichtige und kontroverse Diskussion über die Vereinbarkeit eines Unternehmensstrafrechts mit dem Schuldprinzip weiter zu vertiefen.14 Es seien daher lediglich einige Bemerkungen zu den Erwägungen im Schrifttum und ihren Konsequenzen für eine Verfassungsmäßigkeit des Ver-bandsstrafgesetzbuchs erlaubt.

Der in der Literatur formulierte Einwand gegen die Ein-führung eines Unternehmensstrafrechts gründet sich maßgeb-lich auf den Gedanken, dass der strafrechtliche Vorwurf als sozialethischer Tadel eine individuelle Schuld des Handeln-den voraussetze.15 Wenn nur derjenige strafrechtliche Schuld nur auf sich laden kann, der zwischen Recht und Unrecht zu differenzieren weiß, scheidet ein nicht zur selbständigen Handlung und natürlichen Willensbildung fähiger Verband als Adressat strafrechtlicher Sanktionen – grundsätzlich – aus. Schünemann illustriert die notwendige Verknüpfung von Ahndungsprävention und schuldhafter Normverletzung mit dem Bild des persischen Königs Xerxes, der bei einem Un-

10 BT-Drs. 10/5058, S. 25 f. 11 Gesetzesentwurf (Fn. 3), S. 45. 12 Heine, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unter-nehmen, 1995, S. 220 ff.; Ransiek, Unternehmensstrafrecht, 1996, S. 111; Kaufmann, Möglichkeiten der sanktionsrechtli-chen Erfassung von (Sonder-) Pflichtverletzungen im Unter-nehmen, 2003, S. 154 f., 166 ff. 13 Tiedemann, NJW 1988, 1169 (1171 ff.). 14 Statt aller Schünemann (Fn. 6); Weigend, JICJ 2008, 927; Wegner, ZRP 1999, 186; Hirsch, ZStW 107 (1995), 286; Dannecker, GA 2001, 101. 15 Siehe nicht zuletzt die Beiträge von Heinitz, Engisch und Hartung in den Verhandlungen des 40. Deutschen Juristenta-ges, Bd. 1, S. 65; Bd. 2, Teil E, S. 7 ff., 43 ff; ebenfalls Peglau, JA 2001, 608.

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Der nordrhein-westfälische Entwurf eines Verbandsstrafgesetzbuchs _____________________________________________________________________________________

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wetter die hochschlagenden Wellen züchtigen ließ.16 Dieses Problem wollte das BVerfG in seinem „Bertelsmann-Lesering“-Beschluss aus dem Jahr 1966 durch Rückgriff auf die Möglichkeit einer Zurechnung der individuellen Schuld des Unternehmensangehörigen auflösen: „Die juristische Person ist als solche nicht handlungsfähig. Wird sie für schuldhaftes Handeln im strafrechtlichen Sinne in Anspruch genommen, so kann nur die Schuld der für sie verantwortlich handelnden Personen maßgebend sein.“17

Durch sein Plädoyer für eine originäre Verbandsschuld distanziert sich der Gesetzesentwurf indes von dem auf Zu-schreibung individuellen Unrechts basierenden Begründungs-ansatz des BVerfG. Der Entwurf folgt damit kritischen Stim-men in der Literatur, die hierin eine das Schuldprinizip ver-letzende „Überstülpung zivilrechtlicher Zurechnungsmodelle auf das Strafrecht“18 sehen. Bereits im Jahre 1840 konstatier-te von Savigny: „Ihr [juristische Person] reales Dasein beruht auf dem vertretenden Willen bestimmter einzelner Menschen, der ihr, in Folge einer Fiction, als ihr eigener Wille angerech-net wird. Eine solche Vertretung aber, ohne eigenes Wollen, kann überall nur im Civilrecht, nie im Criminalrecht, beachtet werden.“19

Erschöpft sich der Vorwurf an den Verband in der Zu-schreibung fremder Schuld, fehlt es an einem selbständigen Anknüpfungspunkt für die Annahme einer eigenen delikti-schen Verantwortlichkeit des Unternehmens.20 Die Übertra-gung der Schuld eines Unternehmensmitarbeiters auf den Verband und die hiermit verbundene Kongruenz von Indivi-dual- und Verbandsverantwortung mag als Grundlage einer zivilrechtlichen Haftung dienen; zur Begründung eines straf-rechtlichen Schuldvorwurfs an das Unternehmen – im Sinne eines höchstpersönlichen, moralisch-ethischen Versagens – genügt sie jedoch nicht.21

Durch die Bezugnahme auf ein eigenes Organisationsver-schulden entgeht der Gesetzesentwurf diesen Schwächen des klassischen Zurechnungsmodells.22 Die Lehre von der origi-nären Verbandsschuld ergänzt den auf personeller Freiheit beruhenden, ethischen Schuldbegriff um die Idee eines an sozialer Verantwortlichkeit ausgerichteten Schuldvorwurfs.23

16 Schünemann (Fn. 3), S. 13. 17 BVerfGE 20, 323 = NJW 1967, 195 (197). 18 Schünemann, Plädoyer zur Einführung einer Unternehmens-kuratel, in: ders. (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung, Bd. 3, Unternehmenskriminalität, 1996, S. 129 (S. 139). 19 v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 2, 1840, S. 312. 20 Freier, Kritik der Verbandsstrafe, 1998, S. 95 ff., 162 ff. Kritisch zur Annahme einer „Gefährdungshaftung“ Schüne-

mann (Fn. 6), S. 209, 225. 21 So auch Kempf, KJ 2003, 462 (467). So auch Schünemann, der meint, eine Schuldbegründung durch Zurechnung habe „mit dem Legitimationsgesichtspunkt der Schuldvergeletung auch nicht das mindeste mehr zu tun“, Schünemann (Fn. 6), S. 235. 22 Gesetzesentwurf (Fn. 3), S. 43. 23 Tiedemann, NJW 1988, 1169 (1172); Dannecker, in: Hel-gerth u.a. (Hrsg.), Recht gestalten – dem Recht dienen, Fest-

Liegt die Ursache für rechtliche Zuwiderhandlungen inner-halb des Unternehmens in dessen defizitären Organisations-strukturen, könnte dem Verband ein – auf der Verletzung sozialer Verantwortung begründetes – Versagen zur Laste ge-legt werden. Dannecker geht davon aus, dass strafrechtliche Sanktionen gegen Unternehmen zur „Wiederherstellung und Sicherung des Rechtsfriedens im Rahmen des kriminalrecht-lichen Kontrollsystems“ möglich sein müssen – wobei, dies sei am Rande bemerkt, sich die Frage stellt, weshalb Präven-tionsgesichtspunkte24 hier ausgeklammert werden.25

Durch das Konzept der originären Verbandsveranwort-lichkeit verschiebt sich jedoch der Anknüpfungspunkt für den Schuldvorwurf. Schuld, verstanden als soziale Verantwortung für eine die Begehung von Unrecht begünstigende Organisa-tionsstruktur, ist – wie Schünemann überzeugend ausführt –nicht deckungsgleich mit der Schuld der individuellen Norm-verletzung.

„Was wir einem Unternehmen eventuell anlasten könnten, wäre ja nicht der Bruch dieser Verhaltensnorm; es wäre ir-gendein organisatorischer Fehler, den das Unternehmen viel-leicht begangen hat, aber das Unternehmen hat niemals die konkrete Verhaltensnorm verletzt.“26

Der Haftungsgrund besteht folglich nicht in der eigentli-chen Zuwiderhandlung als Normübertretung, sondern in der mangelnden Gewährleistung rechtstreuen Verhaltens durch das Unternehmen.27 Nach der Entwurfsbegründung ist der Verstoß von Entscheidungsträgern gegen geltende Strafgeset-ze hinreichender Anlass für die selbständige Verbandsver-antwortlichkeit. Bereits aufgrund der Tatsache der Zuwider-handlung habe sich die Auswahl der Mitarbeiter „für ihre Funktion oder für die Rolle als Organ oder Vertreter von Anfang an als fehlerhaft“ erwiesen.28

Der zwingende Schluss von der Normverletzung auf ein Auswahlverschulden begegnet allerdings systematischen Be-denken. Wird der Ahndungsgrund in einem originären Ver-schulden des Verbandes gesehen, so müsste dem Unterneh-men – so fordert Rogall zu Recht – der Einwand „rechtskon-former Organisation und damit der Unvermeidbarkeit“29 gestattet sein. Hierfür besteht im Wortlaut des § 2 Abs. 1 VerbStrG indes kein Anknüpfungspunkt. Es ließe sich sogar noch einen Schritt weiter gehen und im Lichte des Grundsat-zes in dubio pro reo nicht nur eine Möglichkeit des Unter-nehmens zur Exkulpation, sondern die Notwendigkeit eines positiven Nachweises des Auswahl- oder Organisationsver-schuldens fordern.

schrift für Reinhard Böttcher zum 70. Geburtstag, 2007, S. 465 (484). 24 Schünemann (Fn. 6), S. 238. 25 Dannecker (Fn. 23), S. 484. 26 Schünemann (Fn. 18), S. 137. 27 Deruyck, Verbandsdelikt und Verbandssanktion: eine rechts-vergleichende Untersuchung nach belgischem und deutschem Recht, 1990, S. 164; Dannecker, GA 2001, 101 (115 ff.). 28 Gesetzesentwurf (Fn. 3), S. 45; Tiedemann, NJW 1988, 1169 (1172). 29 Rogall (Fn. 5), § 30 Rn. 6; so auch Hirsch, ZStW 107 (1995), 286 (315).

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Tiedemann hält diesem Einwand entgegen, dass der „Ge-sichtspunkt des Organisationsverschuldens im übrigen aber nicht [bedeutet], daß sich die juristische Person oder der sonstige Personenverband durch den Nachweis hinreichende Organisation von der Verbandsgeldbuße freizeichnen könnte. [...] Vielmehr stellt der Gedanke des Organisationsverschul-dens ein Haftungsprinzip dar, welches § 30 OWiG zugrunde liegt und kraft dieser Vorschrift ebenso zur Bußgeldverant-wortlichkeit der juristischen Person führt wie § 31 BGB die zivilrechtliche Haftung von Verbänden [...] begründet.“30 Hinter § 31 BGB steht die Überlegung, dass die juristische Person erst durch die Integration natürlicher Personen Hand-lungsfähigkeit erlange und deshalb in der Folge für das Han-deln dieser Personen ebenso verantwortlich seien müsse wie eine natürliche Person für eigenes.31 Dies bedeutet allerdings nicht, dass die durch § 31 BGB begründete Verantwortlich-keit des Unternehmens tatsächlich auf einem selbständigen Schuldvorwurf basiert. Mehr spricht dafür, § 31 BGB als Konsequenz der – klassischen – Zurechnung des Verhaltens von Individuen zu verstehen. In einem Urteil aus dem Jahre 1987 hat der BGH zur Rechtsnatur des § 31 BGB festgestellt: „§ 31 BGB ist keine haftungsbegründende, sondern eine haftungszuweisende Norm, die einen Haftungstatbestand voraussetzt. Über § 31 BGB wird die unerlaubte Handlung des Organs lediglich der juristischen Person als Haftungs-masse zugerechnet.“32 Ein Vergleich mit der Haftungsnorm des § 31 BGB vermag daher weniger die Theorie einer origi-nären Verbandsverantwortlichkeit als vielmehr das herkömm-liche Zurechnungsmodell zu stützen.

Im Ergebnis bleibt fraglich, ob die Gleichsetzung eigenen und fremden Verschuldens – die nicht über eine Zurechnung hergeleitet wird, sondern eine selbständige Verantwortlich-keit zur Folge hätte – als Grundlage einer strafrechtlichen Verbandssanktion dienen kann. Wird die Frage, ob strafrecht-liche Schuld stets auch die Möglichkeit zur Schuldbefreiung voraussetzen muss – nicht zuletzt um dem Element einer Vorwerfbarkeit Rechnung zu tragen –, bejaht, erscheint die Annahme einer originären Verbandsverantwortlichkeit ohne Exkulpationsregelung als Legitimations-grundlage eines Unternehmensstrafrecht zweifelhaft.

Selbst bei Zugrundelegung eines originären Verbandsver-schuldens und der hiermit verbundenen Verlagerung des Schuldvorwurfs bleibt jedoch der Einwand einer fehlenden eigenständigen Handlungsfähigkeit des Verbandes bestehen. So ist nach Weigend auch ein Organisationsverschulden letzt-lich auf das Fehlverhalten individueller Unternehmensmitar-beiter zurückzuführen.

„In a way, it is the corporation itself that develops a cer-tain corporate culture and establishes structures of supervi-sion and control, but in reality, it is not the ‘corporation’ but natural persons operating alone or in groups that actually

30 Tiedemann, NJW 1988, 1169 (1172). 31 Reuter, in: Säcker/Rixecker (Hrsg.), Münchner Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 6. Aufl. 2012, Bd. 1, § 31 Rn. 2. 32 BGH NJW 1987, 1193 (1194).

devise plans, take certain measures or abstain from doing so, albeit in the name of the legal person.“33

Auch die Lehre von der originären Verbandsschuld ver-mag die grundlegenden Bedenken an einer strafrechtlichen Sanktionierung überindividueller Einheiten folglich nicht auszuräumen.

Zwischen den bereits vorgestellten Theorien des eigenen Verbandsverschuldens und dem klassischen Zurechnungs-modell bewegt sich Rogall, der eine neue, auf der „Selbstbe-gehung“ des Verbandes fußende Konzeption von Zurechnung entwirft.34 Hierbei wird die Delinquenz des Entscheidungs-trägers aufgrund seiner besonderen Stellung im Unternehmen als „Eigendelinquenz des Verbandes“ 35 begriffen. Auf diese Weise von den „Aporien einer Zurechnung von Fremdver-antwortung“ 36 befreit, könne die strafrechtliche Verantwort-lichkeit des Unternehmens als organschaftliche Verbands-täterschaft verstanden werden ohne durch das Erfordernis eines Organisationsdefizites die Notwendigkeit einer Exkul-pationsmöglichkeit zu schaffen. Ungeklärt bleibt indes der Anknüpfungspunkt des Schuldvorwurfes. Eine „Selbstbege-hung“ als Grundlage strafrechtlicher Verantwortlichkeit des Verbandes ist nicht vereinbar mit einem Konzept von Schuld, das auf einem höchstpersönlichen, sittlichen Versagen be-ruht.37 Auch die Heranziehung der Beteiligungslehre scheint diese Lücke aufgrund der fehlenden personellen Verantwor-tung des Verbandes nicht zu schließen.

Einen anderen Begründungsansatz für das Unternehmens-strafrecht wählt Schünemann in einer frühen Schrift aus dem Jahr 1979, in der er das Schuldprinzip lediglich dann als Grenze der Strafbarkeit begreift, wenn es zugleich seine Grundlage bildet.38 Eine Verletzung des Schuldgrundsatzes sei dann kein maßgebliches Hindernis für Verbandssanktio-nen, wenn ein anderes Legitimationsprinzip ihre Anordnung rechtfertige. Schünemann verweist hier auf die Gefahr eines Rechtsgüternotstandes, der aus einer dem Notstand vergleich-baren Schwächung effizienter Prävention im Bereich der Unternehmenskriminalität resultieren könne.39 Allerdings re-lativiert Schünemann diesen Ansatz heute dahingehend, dass ein Austausch des Legitimationsprinzips – vom Schuldprin-zip zur Präventionseffizienz – naturgemäß auch den Charak-ter der Sanktion verändere und daher anstelle repressiver Maßnahmen wie einer Verbandsgeldbuße primär präventive Instrumente, wie die von ihm vertretene Unternehmenskura-tel, erlaube.40

Einen noch weitergehenden Ansatz verfolgt Vogel, der in etwaigen Zweifeln an der Anerkennung schuldhaften Ver-bandshandelns keine Schranken für den Gesetzgeber erken-nen will: „Wenn der Gesetzgeber eine Unternehmensstraf-

33 Weigend, JICJ 2008, 934 f. 34 Rogall (Fn. 5), § 30 Rn. 8. 35 Rogall (Fn. 5), § 30 Rn. 8. 36 Rogall (Fn. 5), § 30 Rn. 8. 37 Engisch, in: Verhandlungen des 40. DJT, Bd. 2, 1953, S. E 7 (E 23 ff.). 38 Schünemann (Fn. 6), S. 235. 39 Schünemann (Fn. 6), S. 236. 40 Schünemann (Fn. 18), S. 129 ff.

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barkeit einführt, begründet er die Möglichkeit rechtswidriger und schuldhafter Unternehmenshandlungen im strafrechtli-chen Sinne und gestaltet die Voraussetzungen hierfür aus, ohne an eine bestimmte Dogmatik gebunden zu sein.“ 41

Vogel sieht in dem Problem der Vereinbarkeit eines Ver-bandsstrafgesetzes mit dem Schuldprinzip eine rein dogmati-sche Fragestellung, die den Gesetzgeber in seiner kriminalpo-litischen Entscheidung nicht zu binden vermag. Diesen Ge-danken nimmt auch die Entwurfsbegründung auf, wenn sie „bei der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Schuldgrund-satzes [eine Verpflichtung auf] die ontologischen oder die sozialethischen Maßstäbe der bisherigen strafrechtlichen Handlungs-, Schuld- und Strafdogmatik“ ablehnt.42 Trotz der vom BVerfG anerkannten Begründung des Schuldgrundsat-zes im Rechtsstaatsprinzip43 versteht ihn Vogel nicht als selb-ständige verfassungsrechtliche Schranke, sondern führt ihn auf seine Verankerung in der durch Art. 1 Abs. 1 des Grund-gesetzes verbürgten Menschenwürde zurück. Folgte man die-sem Ansatz, würde das Schuldprinzip – da dem Unternehmen keine Menschenwürde zukommt – bereits aufgrund seiner fehlenden Anwendbarkeit der Einführung einer Unterneh-mensstrafbarkeit nicht entgegenstehen. Strafrechtliche Sank-tionen gegen Verbände müssten sich nach Vogel somit allein an den für das Unternehmen geltenden verfassungsrechtli-chen Grenzen der Art. 2, 12 und 14 GG unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes mes-sen lassen.

Die Einführung eines Verbandsstrafgesetzbuchs rührt an das Wesen des deutschen Strafrechts. Trotz beachtenswerter Gegenstimmen ist die Kritik an einer Strafbarkeit von hand-lungs- und schuldunfähigen Verbänden sowie der Vereinbar-keit eines solchen Sanktionskonzepts mit verfassungsrechtli-chen Grundsätzen überzeugend. Die geltende Strafrechtsdog-matik sollte – auch angesichts der weitreichenden Unter-schiede der Rechtssysteme – nicht ohne Not internationalen „Trends“ geopfert werden.44 Die Diskussion um den Geset-zesentwurf wird sich der Frage zu stellen haben, ob Sanktio-nen gegen Verbände nicht ebenso effektiv und strafrechts-dogmatisch konsequenter im Wege eines verbesserten Ord-nungswidrigkeitenrechts umgesetzt werden könnten. Eine Abkehr von den Grundprinzipien des deutschen Strafrechts allein um den Vorteil terminologischer Schärfe und einer – formalen – Anpassung an angloamerikanische Entwicklungen sollte mehr als kritisch geprüft werden. IV. Die Einschränkungen der Verbandshaftung

1. Grundsätzliches – Vereinbarkeit mit dem Schuldgrundsatz

Das dem § 2 Abs. 1 VerbStrGB zugrunde gelegte Verant-wortlichkeitskonzept korrespondiert in der jetzigen Fassung

41 Vogel, StV 2012, 427. 42 Gesetzesentwurf (Fn. 3), S. 29. 43 BVerfG NJW 1967, 195 (197). 44 Schünemann weist zudem überzeugend darauf hin, dass die internationale Rechtslage keineswegs ein so klares Bild ab-gibt, wie es zunächst scheinen mag; Schünemann, ZIS 2014, 1 (12).

nicht überzeugend mit dem tatbestandlich erforderlichen Schuldvorwurf. Sollen mangelhafte Personalauswahl oder ein unzureichender Aufgabenzuschnitt die Sanktion des Verban-des legitimieren, wäre ein expliziter Anknüpfungspunkt im Tatbestand nach Vorbild des Art. 102 SchweizerStGB rat-sam. Dort wird die Haftung des Unternehmens davon abhän-gig gemacht, dass die Tat „wegen mangelnder Organisation des Unternehmens“ keinem individuellen Entscheidungsträ-ger zugerechnet werden kann (Art. 102 Abs. 1 Schweizer StGB) oder „dem Unternehmen vorzuwerfen ist, dass es nicht alle erforderlichen und zumutbaren organisatorischen Vor-kehren getroffen hat, um eine solche Straftat zu verhindern“ (Art. 102 Abs. 2 SchweizerStGB). Während die Schweizer Regelung einen Organisations- und Präventionsmangel aus-drücklich voraussetzt, ließe § 2 VerbStrGB – entgegen den Erwägungen in der Entwurfsbegründung – nach der Formu-lierung seines Schuldvorwurfs konzeptionell eher auf eine Zurechnung der individuellen Verantwortung des Entschei-dungsträgers schließen.

Unter dem Gesichtspunkt des Schuldprinzips sowie dem Grundsatz des „in dubio pro reo“ erscheint es fragwürdig, dass dem Verband nicht zugestanden wird, den Schuldvor-wurf durch den Nachweis einer fehlerfreien Auswahl und Organisation zu widerlegen.45

Nach dem Wortlaut des § 2 Abs. 1 VerbStrGB kann eine erfolgreiche Verteidigung des Unternehmens ausschließlich darauf abzielen, die Begehung einer Zuwiderhandlung durch den Entscheidungsträger zu verneinen. Auch die Möglichkeit eines Absehens von Strafe nach § 5 VerbStrGB stellt aufgrund ihres bloßen Ermessens-charakters kein adäquates Pendant zur Exkulpation dar. 2. Das Erfordernis der „Zuwiderhandlung“

Beide Tatbestände des § 2 VerbStrGB setzen die Begehung einer verbandsbezogenen Zuwiderhandlung voraus. Während nach § 2 Abs. 1 VerbStrGB die Zuwiderhandlung durch den Entscheidungsträger „vorsätzlich oder fahrlässig“ selbst be-gangen worden sein muss, knüpft § 2 Abs. 2 VerbStrGB ohne Ansehung der hierarchischen Position des handelnden Mitar-beiters an eine „in Wahrnehmung von Verbandsangelegen-heiten“ begangene Zuwiderhandlung an. Aus der Intensität der Zuwiderhandlung folgen in § 11 VerbStrGB („vorsätzliche Zuwiderhandlung“) und § 12 VerbStrGB („erhebliche rechts-widrige Zuwiderhandlung“) unterschiedliche Sanktionen.

Mit dem Erfordernis der „Zuwiderhandlung“ lehnt sich der Gesetzesentwurf bewusst an das für § 130 OWiG gelten-de Begriffsverständnis an.46 Die Legaldefinition in § 1 Abs. 2 VerbStrGB begrenzt den Anwendungsbereich der Norm je-doch auf Verletzungen von Strafgesetzen und ist somit rest-riktiver gefasst als § 130 OWiG, der die Begehung einer Ord-nungswidrigkeit ausreichen lässt. Wie erörtert, erlaubt die Bezugnahme auf eine Zuwiderhandlung – im Gegensatz zu dem Rückgriff auf eine Straftat – die umfassende Einbezie-hung von Sonderdelikten. Die Zuwiderhandlung erfasst in-

45

Brender, Die Neuregelung der Verbandstäterschaft im Ordnungswidrigkeitenrecht, 1989, S. 108 ff. 46 Gesetzesentwurf (Fn. 3), S. 45.

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soweit allein den äußeren Geschehensablauf der Straftat47 ohne eine Beschränkung durch § 28 Abs. 1 StGB zu erfahren. Für § 2 Abs. 2 VerbStrGB gilt außerdem, dass die Zuwider-handlung als „objektive Bedingung der Ahndung“48 weder vom Vorsatz noch von der Fahrlässigkeit des aufsichtspflich-tigen Täters umfasst sein muss.

Indes stellt sich die Frage, ob die Zuwiderhandlung durch den jeweiligen Begehungstäter selbst mit Vorsatz oder Fahr-lässigkeit erfolgt sein muss. Welche Anforderungen an die subjektive Seite der Zuwiderhandlung zu stellen sind, ist dem Gesetzeswortlaut nicht eindeutig zu entnehmen. Die Formu-lierung, Zuwiderhandlungen im Sinne des Verbandsstrafge-setzbuches müssten „Zuwiderhandlungen gegen ein Strafge-setz“ sein, kann sowohl eine Verwirklichung der objektiven Tatbestandsvoraussetzungen genügen lassen als auch das Strafgesetz als Einheit aus objektiven und subjektiven Ele-menten erfassen.

Die Frage nach einer subjektiven Komponente der Zuwi-derhandlung ist bereits im Rahmen des § 130 OWiG Gegen-stand wissenschaftlicher Kontroverse. Eine Ansicht versteht den Begriff als Beschreibung objektiver Tatbestandsverwirk-lichung und möchte auch bei Vorsatzdelikten eine fahrlässige Begehungsweise genügen lassen.49 Die wohl herrschende Meinung tritt dieser Auffassung mit der Begründung entge-gen, dass der Verband anderenfalls für einen Aufsichtsmangel selbst dann haften würde, wenn ein Einzelunternehmer straf-los bliebe.50 Eine Zuwiderhandlung müsste daher „bei einem Vorsatzdelikt mit natürlichem Vorsatz, bei einem Fahrlässig-keitsdelikt sorgfaltspflichtwidrig“51 begangen worden sein.

Der Gesetzesentwurf verhält sich zum bisherigen Streit-stand zwiespältig. Eine systematische Auslegung auf Grund-lage des Wortlauts von § 2 Abs. 1 VerbStrGB legt die An-nahme eines rein objektiven Verständnisses der Zuwiderhand-lung nahe. § 2 Abs. 1 VerbStrGB formuliert mit der Forde-rung nach einer „vorsätzlichen oder fahrlässigen“ Zuwider-handlung einen eigenständigen subjektiven Tatbestand. Soll der Wortlaut nicht als unnötige Dopplung aufgefasst werden, darf die „Zuwiderhandlung“ selbst keine subjektiven Elemen-te enthalten. Mit der alternativen Nennung vorsätzlicher und fahrlässiger Begehungsweisen wäre hiernach auch eine fahr-lässige Verwirklichung eines Vorsatzdeliktes – und somit ein fahrlässiger Betrug oder eine fahrlässige Untreue – zur Be-gründung einer Verbandsstrafe ausreichend. Dieser Schluss steht jedoch im Widerspruch zur Entwurfsbegründung, die – dem Einwand der herrschenden Literaturansicht hinsichtlich einer Wertungsdiskrepanz bei Straflosigkeit des Einzelunter-

47 Rogall (Fn. 5), § 130 Rn. 75. 48 Gesetzesentwurf (Fn. 3), S. 46. 49 Förster, in: Rebmann/Roth/Herrmann (Hrsg.), Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, Kommentar, 18. Lieferung, Stand: März 2013, § 130 Rn. 11. 50 Rogall (Fn. 5), § 130 Rn. 76; Bohnert, Gesetz über Ord-nungswidrigkeiten, § 130 Rn. 25; ebenso BayOLG BayVBl. 2004, 123. 51 Bohnert (Fn. 50), § 130 Rn. 26

nehmers folgend – für Vorsatzdelikte explizit den Nachweis vorsätzlichen Handelns verlangt.52

Soll der zu § 130 OWiG bestehende Literaturstreit zu-gunsten einer Einbeziehung subjektiver Voraussetzungen ge-löst werden, bedarf es einer Präzisierung der Legaldefinition in § 1 Abs. 2 VerbStrGB. Der Gesetzgeber hat die Möglich-keit, durch die Anknüpfung an eine Verwirklichung auch des subjektiven Tatbestandes des „Strafgesetzes“ eine eindeutige Klärung herbeizuführen. Konsequenterweise sollte in diesem Fall der Zusatz „vorsätzlich oder fahrlässig“ in § 2 Abs. 1 VerbStrGB aufgegeben werden, um eine entbehrliche Wie-derholung und – hiermit verbunden – die Gefahr einer wider-sprüchlichen systematischen Auslegung zu vermeiden. Die vom Justizministerium erwogene Änderung des Wortlautes in die Formulierung „ist durch einen Entscheidungsträger [...] eine verbandsbezogene, vorsätzliche oder fahrlässige Zuwi-derhandlung begangen worden“53 ist zur Klärung der Streit-frage hingegen nicht ausreichend. Da bereits im Begriff der „Zuwiderhandlung“ – und nicht erst in ihrem Zusammenspiel mit der Verbandsbezogenheit – eine subjektive Komponente enthalten ist, würde durch die Umstellung des Satzbaus keine hinreichende Präzisierung erreicht. 3. Die „Verbandsbezogenheit“ der Zuwiderhandlung

Eine Zuwiderhandlung ist nur unter der Voraussetzung ihrer spezifischen „Verbandsbezogenheit“ hinreichender Anlass für eine Unternehmenssanktion. Nach § 1 Abs. 2 S. 2 VerbStrGB sind Zuwiderhandlungen „verbandsbezogen“, wenn „durch sie Pflichten verletzt worden sind, die den Verband treffen, oder wenn durch sie der Verband bereichert worden ist oder bereichert werden sollte“. Während sich das Merkmal der Bereicherung als weitgehend unproblematisch erweist, wirft die Alternative der „Pflichten [...], die den Verband treffen“, Fragen hinsichtlich ihrer Reichweite und Zielrichtung auf. a) Die Reichweite der Verbandspflichten – zur Einbeziehung

von Allgemeindelikten

Im geltenden Ordnungswidrigkeitenrecht sind die Anforde-rungen an die Verbandsbezogenheit der Pflichtverletzung Ge-genstand kontroverser Diskussion.54 Uneinigkeit besteht ins-besondere im Hinblick auf die Einbeziehung von Allgemein-delikten in den Kanon der anknüpfungsfähigen Strafgesetze. Die Gesetzesbegründung zum OWiG legt es nahe, Begriff und Inhalt der verbandsbezogenen Pflichten generell am Ver-ständnis des § 130 OWiG zu orientieren.55 Der Rekurs des § 130 OWiG auf die „Pflichten […], die den Inhaber treffen“, wird von einer Ansicht in der Literatur als Beschränkung des Anwendungsbereichs auf an Unternehmens- und Betriebsin-

52 Gesetzesentwurf (Fn. 3), S. 46. 53 Der Formulierungsvorschlag liegt der Verf. in einem Schreiben des Justizministeriums vor. 54 Siehe Schuler, Strafrechtliche und ordnungswidrigkeiten-rechtliche Probleme bei der Bekämpfung von Submissions-absprachen, 2002, S. 174 f.; Rogall (Fn. 5), § 30 Rn. 72 ff. 55 Rogall (Fn. 5), § 30 Rn. 73.

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haber gerichtete Sonderdelikte verstanden.56 Die wohl herr-schende Meinung geht demgegenüber von der Möglichkeit einer Anknüpfung an Allgemeindelikte aus, wenn diese in einem Zusammenhang mit der Führung des Verbandes ste-hen.57 Mit der Streichung der Wörter „als solchen“ in § 130 OWiG durch das 41. StrÄndG habe der Gesetzgeber eine restriktive Auslegung des Pflichtenkreises klar ausgeschlos-sen.58 Somit können auch sogenannte „Jedermannspflichten“ des allgemeinen Strafrechts Grundlage einer Verbandssankti-on sein, sofern sich ihre Betriebsbezogenheit bei sorgfältiger Prüfung59 aus den konkreten Organisationsstrukturen ergibt.60 In der Entwurfsbegründung zum VerbStrGB heißt es, dass durch die einheitliche Regelung der Verbandsbezogenheit in § 1 Abs. 2 VerbStrG „die bislang herrschenden Unsicherhei-ten bei der Auslegung der §§ 30 und 130 OWiG vermieden werden“.61 Wenngleich die Begründung nicht ausdrücklich Stellung zum Theorienstreit bezieht, spricht die Orientierung am Wortlaut des § 30 OWiG sowie der Hinweis auf eine Präzisierung der Pflichten „auf der Basis der in der Recht-sprechung entwickelten Kasuistik“ gegen die restriktive The-orie des Sonderdelikts und für eine grundsätzliche Einbezie-hung von Allgemeindelikten.62

Nicht beantwortet ist hiermit indes die Frage nach den konkreten Voraussetzungen für eine Verbandsbezogenheit bei Jedermannspflichten. In Anbetracht der grundlegenden Divergenzen über die Reichweite relevanter Zuwiderhand-lungen löst die Legaldefinition in § 1 Abs. 2 S. 2 VerbStrGB das Problem der tatbestandlichen Bestimmtheit keineswegs so grundlegend wie es die Entwurfsbegründung glauben macht.63 Der Vorwurf mangelnder Bestimmtheit beruht schließlich nicht maßgeblich auf dem – durch das VerbStrGB aufgegriffenen – Streit um ein unterschiedliches Begriffsver-ständnis in § 30 OWiG und § 130 OWiG, sondern auf der fehlenden Konkretisierung der verbandsbezogenen Pflichten. So bleibt weiterhin fraglich, ob eine Einstandspflicht des Unternehmens für die Vermeidung der Deliktsverwirklichung zu fordern ist64 oder ob jede Normverletzung mit Ausnahme

56 Schünemann (Fn. 5), S. 113 f., 121 f.; ders., wistra 1982, 41 (48); Rogall, ZStW 98 (1986), 573 (604 ff.); Ransiek (Fn. 11), S. 103 ff.; Bottke, wistra 1991, 81 (87). 57 Förster (Fn. 49), § 130 Rn. 7; Brender (Fn. 29), S. 169 f.; Demuth/Schneider, BB 1970, 642 (647); Többens, NStZ 1999, 1 (5); Pelz, WM 2000, 1566 (1572). 58 Bock, ZIS 2009, 68 (72); Többens, NStZ 1999, 1 (5). 59 Demuth/Schneider, BB 1970, 642 (650). 60 Rogall (Fn. 5), § 130 Rn. 76. 61 Gesetzesentwurf (Fn. 3), S. 33. 62 Gesetzesentwurf (Fn. 3), S. 33. 63 „Der Entwurf trägt auch den Anforderungen des Bestimmt-heitsgebotes ausreichend Rechnung. Insbesondere kann der unbestimmte Rechtsbegriff der ‚verbandsbezogenen Zuwider-handlung‘ in § 1 Absatz 2 und § 2 Absatz 1 und 2 VerbStrG in Anlehnung an die zum Ordnungswidrigkeitenrecht entwi-ckelte Rechtsprechung näher konkretisiert werden“; Gesetzes-entwurf (Fn. 3), S. 33. 64 BGHSt 37, 106 = NJW 1990, 2560 m. zust. Anm. Schmidt-

Salzer, NJW 1990, 2966.

von Exzesstaten bzw. höchstpersönlichen Pflichten als An-knüpfung für eine Verbandssanktion genügt65. Insbesondere im Falle einer umfassenden Einbeziehung von Allgemein-delikten ohne Garantenstellung ergeben sich aus dem Geset-zesentwurf keine hinreichend bestimmten Abgrenzungskrite-rien. Durch eine Erweiterung des § 1 Abs. 2 VerbStrGB um eine Legaldefinition der Verbandspflichten – wobei sicher keine abschließende Nennung, sondern allenfalls eine Präzi-sierung der Zielrichtung bezweckt sein kann – oder eine ausführliche Darlegung der gesetzgeberischen Intention in der Entwurfsbegründung könnten der Rechtsprechung klare Maßstäbe für eine Begriffskonkretisierung vorgegeben wer-den. b) Die Zielrichtung der Verbandspflichten – zur Einbezie-

hungen von Pflichtverletzungen zu Lasten des Unternehmens

Ein weiteres Problem, das sich im Rahmen der Verletzung verbandsbezogener Pflichten stellt, ist die Einbeziehung von Zuwiderhandlungen, die sich – auch oder ausschließlich – zum Nachteil des Unternehmens auswirken. Zweifel hieran können sich zum einen aus der Beschränkung auf Zuwider-handlungen „in Wahrnehmung der Angelegenheiten eines Verbandes“ (§ 2 Abs. 1 und 2 VerbStrGB) und zum anderen durch das Erfordernis eines Verstoßes gegen „Pflichten, die den Verband treffen“ (§ 1 Abs. 2 S. 2 VerbStrGB) ergeben.

Mit dem Handeln in Wahrnehmung von Verbandsangele-genheiten knüpft der Gesetzesentwurf an § 30 OWiG an, der durch die Formulierung „hat jemand als Organ“ eine funktio-nale Konnexität zwischen der Tat des Entscheidungsträgers und seiner Rolle im Unternehmen voraussetzt.66 In der Ent-wurfsbegründung heißt es, das Verhalten des Täters müsse „einen inneren Zusammenhang mit seiner Stellung als Ent-scheidungsträger dergestalt aufweisen, dass er auf Grund sei-ner Stellung und im Rahmen der ihm anvertrauten Aufgaben handelt“.67 Durch die Verknüpfung der Normverletzung mit dem Aufgabenkreis des Entscheidungsträgers sollen Zuwi-derhandlungen vom Tatbestand ausgenommen werden, die nicht „in Ausübung“ der betrieblichen Tätigkeit, sondern lediglich „bei Gelegenheit“ begangen werden. Offen bleibt indes, ob Zuwiderhandlungen, die zwar unter Missbrauch einer Vertrauensstellung, jedoch im Rahmen des übertrage-nen Aufgabenkreises zum Nachteil des Unternehmens verübt werden, eine Verbandssanktion begründen können. Zu den-ken wäre exemplarisch an den Fall einer Untreue zu Lasten des Verbandes oder die Konstellation der Bestechlichkeit nach § 299 Abs. 1 StGB, in der ein Chefeinkäufer aufgrund einer Zuwendung ein für das Unternehmen kostenintensive-res Angebot annimmt. Eine Einschränkung der Verbandshaf-tung käme hier allenfalls durch eine restriktive Auslegung der „Pflichten, die den Verband treffen“ in Betracht.

In den Gesetzgebungsmaterialien zu §§ 30, 130 OWiG findet sich kein Hinweis darauf, ob Straftaten zum Nachteil des Unternehmens die Grundlage für eine Geldbuße bilden

65 Müller, Die Stellung der juristischen Person im Ordnungs-widrigkeitenrecht, 1985, S. 73 f. 66 Rogall (Fn. 5), § 30 Rn. 91. 67 Gesetzesentwurf (Fn. 3), S. 45.

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können.68 Helmrich deutet indes die Erklärung des Gesetzge-bers, der Verband sei nicht in der Pflicht, über eine allgemei-ne Gesetzestreue seiner Mitarbeiter zu wachen, als Indiz für eine restriktiv intendierte Auslegung des Haftungstatbestan-des. Die Ableitung eines generell engen Verständnisses der Verbandspflichten erscheint jedoch zu weitgehend. Überzeu-gender ist es, die Klarstellung durch den Gesetzgeber ledig-lich als expliziten Ausschluss von Zuwiderhandlungen „bei Gelegenheit“ zu deuten.

Auch die Rechtsprechung hat sich mit dieser Frage bis-lang nicht abschließend auseinandergesetzt. Allein in einem Beschluss des OLG Celle vom 26.11.2004 findet sich die Aussage, dass „ein Vorteil seitens der juristischen Person bei einem betriebsbezogenen Pflichtenverstoß [...] nicht vorlie-gen muss“ und „eine Betriebsbezogenheit des Handelns von Organen einer juristischen Person demgegenüber (nur) dann nicht vor[liegt], wenn das Organ höchstpersönlich, folglich wie jedermann und somit ohne spezifischen Bezug zu seiner Stellung als Organ der juristischen Person handelt“.69 Wenn-gleich die Stellungnahme des OLG Celle Straftaten zu Lasten des Verbandes einzubeziehen scheint, hatte das Gericht den Streit im Ergebnis nicht zu entscheiden. Ob das Gericht ein Handeln zum Nachteil des Unternehmens tatsächlich als hin-reichenden Anlass für die Verhängung einer Geldbuße ge-wertet hätte, kann daher nicht mit Sicherheit angenommen werden.

In der Literatur ist die Frage nach der notwendigen Ziel-richtung der im Ordnungswidrigkeitenrecht vorgesehenen Ver-bandspflichten umstritten.70 Angesichts der bewussten Anleh-nung von §§ 2 Abs. 1, 1 Abs. 2 S. 2 VerbStrGB an das OWiG lassen sich die in der wissenschaftlichen Diskussion um die Reichweite der Geldbuße nach § 30 OWiG ausgetauschten Argumente auf das VerbStrGB übertragen. Eine überwiegen-de Meinung in der Literatur lehnt die Annahme einer Verlet-zung verbandsbezogener Pflichten ab, wenn sich die Straftat gegen das Unternehmen richtet.71 Begründet wird das restrik-tive Normverständnis maßgeblich mit dem Telos der gesetz-lichen Sanktion,72 deren präventiver Zweck im Falle einer Zuwiderhandlung zum Nachteil des Verbandes nicht zum Tragen komme.73 Da das Unternehmen naturgemäß selbst an einer Vermeidung eigener Schäden interessiert sei, müsse die Bereitschaft zum Unterbinden entsprechender Straftaten durch Mitarbeiter nicht im Wege einer Sanktion herbeige-führt werden. Zudem wird zu bedenken gegeben, dass bei einer Geldbuße gegen das geschädigte Unternehmen letztlich das Opfer des Delikts zur Verantwortung gezogen würde;74

68 BT-Drs. V/1269, S. 7 f. 69 OLG Celle, Beschl. v. 26.11.2004 – 1 Ws 388/04 = NStZ-RR 2005, 82. 70 Helmrich, wistra 2010, 331. 71 Achenbach, in: Achenbach/Ransiek (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 3. Aufl. 2012, 1. Teil 2. Kap. Rn. 11; Bohnert (Fn. 50), § 130 Rn. 31; Rogall (Fn. 5), § 30 Rn. 93 f.; Müller (Fn. 65), S. 77. 72 Rogall (Fn. 5), § 30 Rn. 95. 73 Helmrich, wistra 2010, 331 (334). 74 Helmrich, wistra 2010, 331 (334).

eine Konsequenz, die dem Konzept gerechter Sanktionierung zu widersprechen scheint. Hieran anknüpfend wird in der Literatur eine Verfolgung von Unternehmensinteressen als zusätzliches, intentionales Kriterium zur Umschreibung ver-bandsbezogener Pflichtverletzungen verlangt.75 Ein Verstoß gegen betriebsbezogene Normgebote führt hiernach nicht per se zu einer Sanktionierung des Verbandes, sondern setzt ein Handeln voraus, das – zumindest auch – im Unternehmensin-teresse erfolgt. Unabhängig von der Wahrnehmung funkti-onsspezifischer Verbandsaufgaben wäre die Verletzung eines Strafgesetzes bei ausschließlichem Eigeninteresse des Mitar-beiters somit nicht als tatbestandliche Pflichtverletzung zu qualifizieren.76 Achenbach führt hierzu das Beispiel des Vor-standsmitglieds einer im Baugewerbe tätigen AG an, das sich durch materielle Zuwendungen zum Einsatz von Leiharbeiten unter Verstoß gegen § 1b AÜG bewegen lässt.77 Der Täter handele zwar in Ausübung seiner Organstellung, verfolge jedoch allein eigennützige Interessen. Eine Haftung der AG käme daher „wohl“78 – und in dieser Ausdrucksweise scheint sich eine bestehende Unsicherheit im Hinblick auf das Ver-ständnis des § 30 OWiG zu offenbaren – nicht in Betracht.79

Für die Notwendigkeit eines zusätzlichen Interessenkrite-riums spricht nach Rogall eine systematische Betrachtung der Norm.80 Die Bereicherungsalternative, die sich in § 30 Abs. 1 OWiG ebenso findet wie in § 1 Abs. 2 VerbStrGB, sei Hin-weis auf die Annahme eines stets erforderlichen Unterneh-mensinteresses. In der Tat könnte die systematische Ausle-gung für eine grundlegende, den Vorteil des Verbandes vo-raussetzende Zielrichtung des Bußgeldtatbestandes sprechen. Indes erlaubt eine Interpretation der Vorschrift im Lichte der Bereicherungsvariante auch den gegenteiligen Schluss. Bei einem nach Gewinnmaximierung strebenden Verband richtet sich sein Interesse regelmäßig auf eine materielle Bereiche-rung. Müssen Interesse und Bereicherung jedoch als weitge-hend deckungsgleich angesehen werden, bliebe neben der Bereicherungsalternative kein nennenswerter Anwendungs-bereich für einen Normverstoß durch Verletzung von Pflich-ten, „die den Verband treffen“. Weniger ambivalent erscheint demgegenüber Rogalls systematische Argumentation im Hin-blick auf die Nähe zur Gewinnabschöpfung. Der Gedanke der Gewinnabschöpfung, wie er sich in § 30 Abs. 3 in Verbin-dung mit § 17 Abs. 4 OWiG manifestiert, knüpft an die Er-langung von Vorteilen an und stützt damit die Annahme eines

75 Achenbach (Fn. 71), Rn. 11; Helmrich, wistra 2010, 331 (334) m.w.N. 76 Rogall (Fn. 5), § 30 Rn. 94. 77 Achenbach (Fn. 71), Rn. 11. 78 Achenbach (Fn. 71), Rn. 11. 79 Rogall nimmt auf das von Achenbach formulierte Beispiel Bezug und fragt danach, ob der Gesetzesverstoß im Rahmen der Geschäftspolitik des Verbandes liegen könnte. Lediglich wenn es dem Vertreter allein auf den eigenen Vorteil ankom-me, sei eine Sanktion gegen den Verband ausgeschlossen; Rogall (Fn. 5), § 30 Rn. Rn. 94. 80 Rogall (Fn. 5), § 30 Rn. 93.

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Unternehmensinteresses als notwendige Haftungsvorausset-zung.81

Der Entwurf zum Verbandsstrafgesetzbuch verhält sich zu dieser Problematik weder in seinem Wortlaut noch in seiner Begründung. Auf Nachfrage teilte das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen jedoch seine Einschätzung zu den exemplarisch benannten Fällen der Bestechlichkeit nach § 299 Abs. 1 StGB sowie der Untreue gemäß § 266 StGB durch Bildung schwarzer Kassen mit:

„Der Fall Ihres Chefeinkäufers könnte nach der derzeiti-gen Fassung des Tatbestandes in der Tat eine Verbandshaf-tung auslösen, denn die Regeln des Wettbewerbsrechts be-gründen zweifellos ‚verbandsbezogene Pflichten‘, nämlich solche, die den Verband als Teilnehmer am Wettbewerb treffen. Der Beschuldigte handelt auch in Wahrnehmung von Angelegenheiten des Verbandes und nicht nur ‚bei Gelegen-heit‘. Dass er dabei gleichzeitig private Interessen verfolgt, würde de lege lata die Haftung nach § 30 OWiG auch nicht hindern. [...] Ähnliche Konstellationen ergeben sich bei der Untreue, wenn der Entscheidungsträger z.B. ‚schwarze Kas-sen‘ zu Korruptionszwecken anlegt. Er mag dabei sogar ver-meintliche Interessen des Verbandes verfolgen, gleichwohl bliebt es Untreue zum Nachteil des Verbandes. Beides wären in der Praxis klassische Fälle des Absehens von Strafe nach § 153b StPO in Verbindung mit § 5 Abs. 1 oder Abs. 2 Ver-bStrGB.“

Zunächst ist festzuhalten, dass der von den Entwurfsver-fassern aufgezeigte Weg über § 153b StPO in Verbindung mit § 5 VerbStrGB dem Problem von Zuwiderhandlungen zum Nachteil des Verbandes nicht hinreichend Rechnung trägt. § 5 VerbStrGB ermöglicht ein Absehen von Strafe bei Errichtung eines Compliance-Systems (Abs. 1) sowie bei freiwilliger Offenbarung des Sachverhaltes (Abs. 2). Beide Alternativen knüpfen nicht an die Intention der Gesetzesver-letzung an, sondern normieren hiervon unabhängige, auf dem Nachtatverhalten beruhende Einstellungsgründe. Da ein Ab-sehen von Strafe somit nur unter zusätzlichen, engen Voraus-setzungen denkbar ist, bietet die allgemeine Regelung des § 5 VerbStrGB keine adäquate Lösung für Normverstöße zu Las-ten des Verbandes.

Nach der Stellungnahme des Justizministeriums wären sowohl der Fall des § 299 Abs. 1 StGB als auch die Bildung schwarzer Kassen als Verletzungen von Pflichten, „die den Verband treffen“ zu qualifizieren. Da jedoch weder in der Entwurfsbegründung noch in der späteren Stellungnahme eine Auseinandersetzung mit dem Streitstand in der Literatur erfolgt, scheint der Problematik bislang wenig Bedeutung beigemessen worden zu sein. Die Frage, ob Straftaten im aus-schließlichen Eigeninteresse des Täters oder gar zum Nach-teil des Unternehmens eine Verbandssanktion begründen sol-len, ist jedoch nicht nur praxisrelevant, sondern auch prägend für das grundlegende Verständnis von Sinn und Zweck der Norm.

Es lohnt daher, einen genaueren Blick auf die gebildeten Beispielsfälle zu werfen. Der Chefeinkäufer, der sich durch eine Bestechungszahlung zur Annahme eines unvorteilhaften

81 Rogall (Fn. 5), § 30 Rn. 93.

Angebots bewegen lässt, handelt zum finanziellen Nachteil und somit entgegen den Interessen seines Unternehmens. Gleichwohl müsste ein solcher Verstoß gegen § 299 Abs. 1 StGB nach dem Verständnis der Entwurfsverfasser eine Ver-bandshaftung auslösen, da hierdurch Wettbewerbspflichten des Unternehmens verletzt würden. In der Tat schützt § 299 StGB nach herrschender Meinung primär die Lauterkeit des Wettbewerbes82 sowie die Vermögensinteressen der Mitbe-werber83. Darüber hinaus will jedoch eine verbreitete Ansicht in der Literatur auch den Geschäftsherren vom Schutz der Norm erfassen.84 Werden durch die Verletzung eines Strafge-setzes sowohl Rechtsgüter Dritter bzw. der Allgemeinheit als auch die Interessen des Unternehmens berührt, erscheint die Angemessenheit einer Verhängung von Verbandsgeldbußen zweifelhaft. Einerseits könnte dem Unternehmen eine beson-dere Verantwortung für die Einhaltung eines fairen Wettbe-werbs zum Schutze der Mitbewerber auferlegt werden. Ande-rerseits ist der Verband im Falle des § 299 Abs. 1 StGB selbst geschädigt, so dass keine Notwendigkeit für eine Ver-haltenslenkung durch Sanktionierung – so diese entgegen Schünemann überhaupt möglich ist – besteht.

Ebenfalls problematisch erscheint die Bildung von „schwarzen Kassen“ durch Unternehmensmitarbeiter. Lässt sich eine aus den Kassen finanzierte Bestechungsleistung im Ergebnis nicht nachweisen, kann der Entscheidungsträger lediglich nach § 266 StGB wegen Untreue zu Lasten des Unternehmens bestraft werden.85 Formal betrachtet hat der Täter des § 266 StGB keine Pflichten verletzt, die den Ver-band treffen, sondern solche, die diesen schützen. Durch die Entziehung der Gelder ist zudem allein beim Unternehmen ein Vermögensschaden eingetreten; wegen des Anlegens und Führens der Kassen kommt ein weiterer, unmittelbarer Ge-schädigter nicht in Betracht. Bezieht man indes den Gesamt-kontext sowie die – gerichtlich allerdings nicht zwingend nachgewiesene – Intention der Mittelgewinnung für korrupte Geschäftspraktiken ein, erfolgt die Bildung „schwarzer Kas-sen“ letztlich allein im Interesse des Verbandes. Vor diesem Hintergrund ließe sich eine, das eigentliche Normgebot des

82 RGSt 48, 291, 296; BGH NJW 2006, 3290 (3298); An-

droulakis, Globalisierung der Korruptionsbekämpfung, 2007, S. 429; Höltkemeier, Sponsoring als Straftat, 2005, S. 163 f.; Mölders, Bestechung und Bestechlichkeit im internationalen geschäftlichen Verkehr, 2009, S. 94  ff., 100  ff.; Nestoruk, Strafrechtliche Aspekte des unlauteren Wettbewerbs, 2003, S. 112; Wollschläger, Der Täterkreis des § 299 Abs. 1 und Umsatzprämien im Stufenwettbewerb, 2009, S. 21  ff.; Bürger, wistra 2003, 130 (133); Dölling, ZStW 112 (2000), 334 (351). 83 Bürger, wistra 2003, 130 (133); Kleinmann/Berg, BB 1998, 277; Sahan, ZIS 2007, 69; Wolters, JuS 1998, 1100 (1103). 84 BGHSt 31, 207 (209  ff.); Nestoruk (Fn. 78), S. 112  f.; Dölling, ZStW 112 (2000), 334 (351); Wolters, JuS 1998, 1100 (1103). Zudem gibt es immer wieder Bestrebungen, den § 299 StGB internationalen Vorgaben anzupassen und neben dem Wettbewerbsmodell das Geschäftsherrenmodell einzu-führen; siehe zuletzt BT-Drs. 16/6558. 85 BGH NJW 2009, 89.

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§ 266 StGB erweiternde Pflicht, keine „schwarzen Kassen“ zur Finanzierung von Bestechungszahlungen einzurichten, herleiten. Ob eine solche, über den konkret belegten Tatvor-wurf hinausgehende Wertung der Pflichtverletzung zulässiger Anknüpfungspunkt für eine Verbandssanktion sein kann, bie-tet jedoch berechtigten Anlass zur Diskussion.86

Das Verhältnis von Pflichtverletzung, Verbandsnachteil und verfolgtem Interesse wirft grundlegende Fragen nach der Intention der strafrechtlichen Sanktionsnorm auf. Wird mit dem VerbStrGB eine Intensivierung des allgemeinen Rechts-güterschutzes bezweckt, bedarf die Feststellung einer Verlet-zung verbandsbezogener Pflichten keiner weiteren Einschrän-kung. Soll indes mit der Sanktionierung des Unternehmens ein präventiver Anreiz für die Vermeidung systemischer Fehlentwicklungen87 durch eine sachgerechte Organisation und Aufgabenverteilung gesetzt werden, könnten Straftaten zu Lasten des Verbandes vom Anwendungsbereich auszu-nehmen sein. Ebenfalls denkbar wäre es, über das Merkmal des Unternehmensinteresses den Verband stets – und aus-schließlich – dann zur Verantwortung zu ziehen, wenn dieser sich als eigentlicher Profiteur der Zuwiderhandlung erweist. Zieht das Unternehmen wirtschaftlichen Nutzen aus der Be-gehung von Straftaten, besteht die Gefahr einer mangelhaften internen Organisation und Kontrolle in besonderem Maße.88 Fließen dem Verband die Vorteile der Zuwiderhandlung zu, erscheint es zudem angemessen, ihm auch die Nachteile einer Sanktion aufzuerlegen.

Eine gesetzliche Regelung, die an eine im Unternehmen begangene Zuwiderhandlung strafrechtliche Konsequenzen knüpfen will, sollte sich zur Frage nach der grundsätzlichen Zielrichtung der Pflichtverletzung eindeutig verhalten. Neben einer Erweiterung der Gesetzesbegründung wäre es ratsam, das Verständnis der „verbandsbezogenen Pflichten“ im Rah-men der bereits vorgesehenen Legaldefinition zu präzisieren. V. Die Besonderheiten des Unterlassens, § 2 Abs. 2 Verb-

StrGB

Die zweite Tatbestandsalternative des Verbandsstrafgesetz-buches (§ 2 Abs. 2 VerbStrGB) sanktioniert ein vorsätzliches oder fahrlässiges Aufsichts- oder Überwachungsverschulden der Entscheidungsträger. Die Norm knüpft an ein Unterlassen von „zumutbaren Aufsichtsmaßnahmen“ „insbesondere tech-nischer, organisatorischer oder personeller Art“ an, „durch die die Zuwiderhandlung verhindert oder wesentlich er-schwert worden wäre“.

86 Ein alternativer, in der Stellungnahme nicht angesproche-ner Lösungsweg wäre die Annahme einer Pflichtverletzung, durch die der Verband „bereichert werden sollte“. Auch hier müsste die Pflichtverletzung unter Einbeziehung der Gesamt-umstände weiter verstanden werden als sie im konkreten Tatvorwurf des § 266 StGB enthalten ist. 87 Gesetzesentwurf (Fn. 3), S. 24. 88 Dies zeigen nicht zuletzt die großen Korruptionsfälle der vergangenen Jahre, wie Siemens, MAN und Ferrostaal. Die systematische Bestechung in den Unternehmen wurde über Jahre durch mangelnde Kontrollen und intransparente Struk-turen begünstigt.

1. Aufsichtspflichten in Konzernen

§ 2 Abs. 2 VerbStrGB beruht in Konzept und Normstruktur im Wesentlichen auf § 130 OWiG. Eine Änderung gegenüber der bisherigen Regelung erfolgt jedoch im Hinblick auf die umstrittene Frage nach einer Ahndung von Aufsichtspflicht-verletzungen in Konzernen. In der Literatur wird diskutiert, ob die Konzernmutter gegenüber rechtlich selbstständigen Tochtergesellschaften als „Inhaberin“ (§ 130 Abs. 1 OWiG) aufsichtspflichtig sein und folglich für Zuwiderhandlungen im Tochterunternehmen verantwortlich gemacht werden kann.89 Angesichts der eigenen Rechtspersönlichkeit der Tochtergesellschaft sind Zweifel an der Möglichkeit eines Haftungsdurchgriffs erhoben worden.90 Der Entwurf löst das Problem zugunsten einer restriktiven Formulierung der Auf-sichtspflichten. Nach seinem Wortlaut („durch einen Ent-scheidungsträger dieses Verbandes“) verlangt § 2 Abs. 2 VerbStrGB eine Aufsichtspflichtverletzung durch Entschei-dungsträger gerade des Verbandes, in dessen Angelegenhei-ten die Zuwiderhandlung begangen wurde. Wenngleich die restriktive Regelung „Zurechnungskaskaden auf rechtlich un-gesicherter Basis“91 vermeidet, wird sie der faktischen Ab-hängigkeit einer wirtschaftlich unselbständigen Tochterge-sellschaft nicht vollends gerecht.92 Relativiert werden die Konsequenzen des begrenzten Anwendungsbereichs durch die Möglichkeit einer Sanktionierung der Muttergesellschaft gemäß 2 Abs. 1 VerbStrGB in Fällen der positiven Kennt-niserlangung von Straftaten im Tochterunternehmen. Insbe-sondere bei Vorliegen eines Beherrschungsvertrages kann das Wissen eines Entscheidungsträgers um die Begehung von Zuwiderhandlungen innerhalb der Tochtergesellschaft eine – nach § 2 Abs. 1 VerbStrGB anknüpfungsfähige – Beihilfe durch Unterlassen begründen.93 Rechtspolitisch erscheint es allerdings vorzugswürdig, einen Haftungsdurchgriff nicht grundsätzlich durch eine Beschränkung des Adressatenkrei-ses auszuschließen, sondern den reellen Strukturen – wie der Reichweite von Direktionsrechten des Mutterkonzerns – im Rahmen einer Auslegung der „zumutbaren Aufsichtsmaßnah-men“ Rechnung zu tragen. 2. Die Reichweite zumutbarer Aufsichtspflichten

§ 2 Abs. 2 VerbStrGB verlangt vom Entscheidungsträger das Ergreifen „zumutbarer Aufsichtsmaßnahmen“. Trotz der in-terpretatorischen Offenheit des Wortlauts steht die Vorschrift im Einklang mit dem Grundsatz der Bestimmtheit aus Art. 103 Abs. 2 GG. Angesichts der Komplexität und Viel-schichtigkeit unternehmensinterner Beziehungen ist eine le-

89 Siehe hierzu Achenbach, NZWiSt 2012, 321 (325) m.w.N.; ders., wistra 2013, 369 (372) m.w.N.; Rogall (Fn. 5), § 30 Rn. 25; Geismar, Der Tatbestand der Aufsichtspflichtverlet-zung bei der Ahndung von Wirtschaftsdelikten, 2012, S. 65. 90 So bspw. Tiedemann, NJW 1988, 1169 (1852); Mansdör-

fer/Timmerbeil, WM 2004, 362 (368). 91 König, in: Göhler (Hrsg.), Ordnungswidrigkeitengesetz, Kommentar, 16. Aufl. 2012, § 130 Rn. 5a. 92 Rogall (Fn. 5), § 130 Rn. 25. 93 Gesetzesentwurf (Fn. 3), S. 47.

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Der nordrhein-westfälische Entwurf eines Verbandsstrafgesetzbuchs _____________________________________________________________________________________

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gislativ exakte Umschreibung der erforderlichen Aufsichts-handlungen nicht zu leisten.94 Das Normverständnis kann sich jedoch auf die bereits zu § 130 OWiG erfolgte Begriffs-konkretisierung in Rechtsprechung und Schrifttum stützen.

Im Grundsatz ist die Aufsicht so wahrzunehmen, dass die bertriebsbezogenen Pflichten voraussichtlich eingehalten wer-den.95 Wesentliche Kriterien für die Reichweite der Auf-sichtspflicht sind unter anderem Art, Größe und Organisati-onsstruktur des Verbandes sowie das Maß der von ihm aus-gehenden Gefährdung.96 Zwar darf der Entscheidungsträger grundsätzlich auf die Einhaltung strafrechtlicher Normen durch die Unternehmensmitarbeiter vertrauen und ist daher nicht zur Einrichtung eines flächendeckenden Kontrollnetzes angehalten.97 Doch können wiederholte Zuwiderhandlungen in der Vergangenheit die Geltung des Vertrauensgrundsatzes relativieren und zu einer Verdichtung von Aufsichtspflichten führen.98

Die Präzisierung des Tatbestandes durch explizite Auf-nahme auch organisatorischer und technischer Maßnahmen ist begrüßenswert. Die bisherige exemplarische Nennung von Bestellung, sorgfältiger Auswahl und Überwachung findet sich in der Berücksichtigung „personeller“ Aufsichtsmaßnah-men wieder. Eine nähere Umschreibung der personellen Auf-sichtspflicht beispielsweise durch ausdrückliche Normierung der hiervon umfassten Pflichten bei Personalauswahl, Aufga-benverteilung, Instruktion, Überwachung sowie Ahndung von Verstößen99 ist vor dem Hintergrund der bestehenden Kasuis-tik und Ausdifferenzierung in der Literatur nicht zwingend geboten.

Eine Aufsichtsmaßnahme kann dem Entscheidungsträger nur obliegen, wenn diese ihm „zumutbar“ ist. Wenngleich § 130 OWiG den Begriff nicht explizit enthält, wird das Er-fordernis der Zumutbarkeit aus der Bezugnahme auf eine „gehörige Aufsicht“ abgeleitet. Daher ist auch hinsichtlich der Bestimmung der „Zumutbarkeit“ ein Rückgriff auf die in Rechtsprechung und Schrifttum entwickelten Grundsätze zur Konkretisierung der Norm möglich. Als unzumutbar werden Maßnahmen verstanden, die unvereinbar mit den berechtigten Interessen der Betriebsangehörigen sind,100 in deutlichem Widerspruch zur Wahrung des Betriebsklimas stehen101 oder einen unverhältnismäßigen – finanziellen oder organisatori-schen – Aufwand im Vergleich zur Präventionswahrschein-lichkeit verlangen.102 Angesichts der wachsenden Bedeutung von Compliance wird sich hierbei zunehmend die Frage stel-

94 Rogall (Fn. 5), § 130 Rn. 39. 95 BGHSt 9, 319 (322 f.) = NJW 1956, 1568 (1569). 96 Zum OWiG siehe OLG Düsseldorf wistra 1999, 115 (116); OLG Düsseldorf wistra 1991, 39; OLG Zweibrücken NStZ-RR 1998, 311; OLG Köln wistra 1994, 315. 97 Rogall (Fn. 5), § 130 Rn. 40. 98 Rogall, ZStW 97 (1985), 590 (598, 602 f.). 99 Rogall (Fn. 5), § 130 Rn. 40, sowie ders., ZStW 97 (1985), 590, (598). 100 Hierunter fallen bspw. Maßnahmen, die als schikanös oder entwürdigend empfunden werden können. 101 Rogall (Fn. 5), § 130 Rn. 49. 102 Bohnert (Fn. 50), § 130 Rn. 23.

len, welche Maßnahmen in struktureller wie organisatorischer Hinsicht insbesondere von kleineren und mittelständischen Unternehmen erwartet werden können. Hier wäre – auch vor dem Hintergrund des § 5 VerbStrGB – zu erwägen, nach US-amerikanischem und britischem Vorbild Mindeststandards für Compliance-Maßnahmen normativ festzulegen.103 3. Das Verhindern oder wesentliche Erschweren der Zuwi-

derhandlung

Durch die zumutbare Aufsichtsmaßnahme hätte die Zuwider-handlung zudem „verhindert oder wesentlich erschwert“ wer-den müssen. § 2 Abs. 2 VerbStrGB übernimmt hierbei die Formulierung des – durch das 2. Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität neu gefassten – § 130 OWiG, der auf dem Gedanken der gebotenen Risikoverringerung beruht.104 Nachzuweisen ist somit nicht eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit des Präventionserfolgs, sondern lediglich der Eintritt einer substantiellen Risikominderung bei Anwen-dung der erforderlichen Aufsicht. Die Anknüpfung des Tat-bestandes an den Vorwurf einer wesentlichen Risikoerhö-hung erscheint jedoch – insbesondere im Bereich strafrechtli-cher Sanktionen – nicht unbedenklich. Der Entscheidungsträ-ger würde hierdurch im Ergebnis verpflichtet, letztlich inef-fektive, die Tat nicht verhindernde Aufsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Die Problematik stellt sich in vergleichbarer Weise bei der Beihilfe durch Unterlassen. Während ein Teil des Schrifttums einen sicheren Beleg für den Ursachenzusam-menhang zwischen Unterlassen und Erfolgseintritt fordert,105 lässt die Rechtsprechung die Möglichkeit einer bloßen Er-schwerung der Tat durch den hypothetischen Gehilfenbeitrag genügen106. Angesichts der Übertragbarkeit der Argumentati-onslinien auf den § 2 Abs. 2 VerbStrGB sei an dieser Stelle auf den bestehenden Theorienstreit verwiesen. Dem Gesetz-geber steht es letztlich frei, die Strafbarkeit von einer Risiko-erhöhung abhängig zu machen und den Tatbestand somit in die Nähe der Gefährdungsdelikte zu rücken.107 Rechtspoli-

103 In den USA gilt der FCPA Resource Guide, online abruf-bar unter http://www.justice.gov/criminal/fraud/fcpa/guide.pdf; in Großbritannien die Guidance zum Bribery Act (online abrufbar unter: http://www.justice.gov.uk/downloads/legisla-tion/bribery-act-2010-guidance.pdf. 104 Rogall (Fn. 5), § 130 Rn. 99 ff. 105 Roxin, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Strafgesetz-buch, Leipziger Kommentar, Bd. 1, 11. Aufl. 1993, § 27 Rn. 44; Heine, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 28. Aufl. 2010, § 27 Rn. 16 m.w.N. 106 RGSt 71, 178; 73, 52 (54); BGH NJW 1953, 1838; BGH NStZ 1985, 318; BGH NJW 1998, 1568 (1573). 107 Joecks hingegen hält „die Kombination aus Risikoerhö-hungslehre und einer Anknüpfung an die betriebliche Zuwi-derhandlung allein als objektive Bedingung der Ahndbarkeit“ für „verfassungsrechtlich nicht unproblematisch“, ders., in: Franzen/Gast/Joecks,Steuerstrafrecht,7. Aufl. 2009, § 377 AO Rn. 60. Der – hier wohl in Betracht kommende – Ein-wand der Unverhältnismäßigkeit erscheint jedoch nicht über-zeugend, da der Gesetzgeber im Interesse eines umfassenden

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Elisa Hoven

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tisch spricht für ein solches Vorgehen, dass es den prakti-schen Schwierigkeiten eines sicheren Kausalitätsnachweises – der insbesondere in Fällen einer unterlassenen Stichproben-kontrolle kaum zu führen sein dürfte – Rechnung trägt.108 Eine Schwäche der Regelung besteht hingegen in der fehlen-den Konkretisierung des Wahrscheinlichkeitsurteils. Von einer wesentlichen Erschwerung normwidrigen Verhaltens wird nur auszugehen sein, wenn mit der Maßnahme die Wahr-scheinlichkeit einer Zuwiderhandlung substantiell reduziert werden konnte. Wie jedoch eine „substantielle Reduktion“ im Einzelfall zu bemessen ist, bleibt offen. Der Rückgriff auf konkrete Prozentwerte – Rogall hält bspw. eine Rückführung der Wahrscheinlichkeit der Tatbegehung um mehr als 25 % für ausreichend – scheint für die Praxis wenig praktikabel. Eine nähere Präzisierung des Wesentlichkeitsmerkmals durch den Gesetzgeber lässt sich angesichts der Vielzahl denkbarer Konstellationen kaum fordern. Es bliebe Schrifttum und Rechtsprechung überlassen, die Anforderungen an ein „Er-schweren“ der Normverletzung zu konkretisieren. VI. Fazit

Unabhängig von der Frage nach Sinn oder Unsinn einer Un-ternehmensstrafbarkeit bereitet der Gesetzesentwurf in seiner derzeitigen Fassung noch erhebliche Probleme bei der An-wendung seiner Tatbestandsvoraussetzungen. In der Diskus-sion um die Formulierung einer Verbandsstrafbarkeit sollte insbesondere die Reichweite einer verbandsbezogenen Zuwi-derhandlung als Anknüpfungspunkt der Unternehmensver-antwortlichkeit eindeutig bestimmt werden. Neben einer Op-timierung der Straftatbestände des VerbStrGB wäre es – dies sei als Ausblick erlaubt – ratsam, den Blick auf das Sanktio-nenmodell des Entwurfs zu richten. Hier wirft das VerbStrGB beispielsweise mit der Einführung eines Tagessatzsystems oder der Möglichkeit einer Verbandsauflösung wichtige Fra-gen auf, die der Diskussion und Klärung bedürfen.

Rechtsgüterschutz von Verbänden auch risikominimierende Maßnahmen verlangen kann. Ob dies im Wege einer straf-rechtlichen Sanktion erfolgen kann und sollte, berührt erneut die grundsätzliche Frage nach der Anwendung des Strafrechts auf Unternehmen. 108 Schünemann (Fn. 6), S. 125.

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Über die Bedeutungslosigkeit des Satzes „in dubio pro reo“ Eine grammatisch-logische Rekonstruktion der Freispruchsdogmatik

Von Akad. Mitarbeiter Kyriakos N. Kotsoglou, LL.M., Freiburg i.Br.* „[…] Das ist Gesetz. Wo gäbe es da einen Irrtum?“ „Dieses Gesetz kenne ich nicht“, sagte K. „Desto schlimmer für Sie“, sagte der Wächter. „Es besteht wohl auch nur in Ihren Köp-fen“, sagte K.“

– Franz Kafka I. Zum Status des Grundsatzes „in dubio pro reo“

1. Einleitung

Dieser Beitrag stellt die Selbstverständlichkeit des Satzes „in dubio pro reo“ in Frage und prüft ihn auf seine Geltungsbe-dingungen und logische Konsistenz hin. Gezeigt wird, dass sich aus einem „rechtsstaatlich unverbrüchlichen Grundpos-tulat der Rechtsanwendung“ ein widerspruchsvoller Satz ent-puppt, dessen Geltungsbedingungen mehr als fraglich sind. Mithilfe einer anfechtbaren (defeasible) Struktur wird eine Freispruchsdogmatik ausgearbeitet, die dem Tatrichter an-wendbare Darstellungsformen der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK) bereitstellt und es ermöglicht, freisprechende Urteile als Sachentscheidungen anzusehen. Die Frage, die der Satz „in dubio pro reo“ nach h.M. beantwortet, nämlich „Was soll man tun, wenn der gesetzliche Beweis der Schuld nicht erbracht wird?“, wird dabei als unsinnig entlarvt. Jeder, der in der Lage ist, die Bedeutung (d.i. die regelgeleitete Verwen-dung) der Unschuldsvermutung zu verstehen, braucht sich auf die oben gestellte Frage nicht einzulassen. Die nachfol-genden Bemühungen gelten also dem Versuch, die Un-schuldsvermutung so zu interpretieren, dass sich eine fiktive Norm wie der Satz „in dubio pro reo“ erübrigt. a) Ein unsterblicher König?

Der Satz „in dubio pro reo“ erfreut sich, so die ganz herr-schende Meinung, „einhelliger Billigung“.1 Man schreibt ihm sogar „königliche Bedeutung“2 zu und vergisst dabei nicht die πάροδος3 zu singen: der in dubio pro reo-Satz gehöre zu

* Der Verf. ist akademischer Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtstheorie (Prof. Jestaedt) an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. 1 Pars pro toto Frisch, in: Roxin u.a. (Hrsg.), Grundfragen der gesamten Strafrechtswissenschaft, Festschrift für Heinrich Henkel zum 70. Geburtstag am 12. September 1973, 1974, S. 273. 2 Etwa Zopfs, Der Grundsatz „in dubio pro reo“, 1999, S. 14 m.w.N.; siehe auch Sarstedt, Die Revision in Strafsachen, 4. Aufl. 1962, S. 245; mehr über die geschichtliche Entwick-lung bei Moser, „In dubio pro reo“, die geschichtliche Ent-wicklung dieses Satzes und seine Bedeutung im heutigen deutschen Strafrecht, 1933, S. 16 ff.; vgl. Holtappels, Die Entwicklungsgeschichte des Grundsatzes „in dubio pro reo“, 1965, S. 96; Sax, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. 3/2, 1959, S. 909. 3 Griechisch – transkr.: parodos. Dabei handelt es sich um den ersten Teil des Chorauftritts im antiken Theater.

den selbstverständlichen,4 ja unantastbaren rechtsstaatlichen Fundamentalgrundsätzen.5 Nicht von ungefähr attestiert ihm Zopfs, dass er außerhalb der Systematik der deutschen Rechtsordnung stehe: „Der Grundsatz in dubio pro reo ist damit ein gewohnheitsrechtlich entstandener, eigenständiger strafprozessualer Rechtssatz“.6 Die Begründungen spannen sich von prozessualen Ableitungsversuchen aus den Vor-schriften des materiellen Strafrechts bis hinauf in die Höhen des Verfassungsrechts und der Europäischen Menschen-rechtskonvention.7 Dies stellt nun eine gute Gelegenheit dar, diesen fundamentalen „Grundsatz“ unter die Lupe zu neh-men, denn nicht nur die (Rechts-)Philosophie, sondern auch die Strafprozessrechtsdogmatik fängt da an, wo das Selbst-verständliche in Frage gestellt wird.8

Doch was ist dieser Grundsatz, „in dubio pro reo“? Der in dubio pro reo-Satz enthält nach dem herkömmlichen Ver-ständnis einen deutlichen Aussagegehalt. Das Gericht, da es dem Angeklagten die Straftat nachzuweisen hat, habe bei nicht behebbaren tatsächlichen Zweifeln – im Falle des non liquet – jene Entscheidung zu treffen, die angesichts der kon-kreten zweifelhaften Tatsachenlage die für den Angeklagten günstigere sei. Gelinge es dem Gericht nicht, einen zweifels-freien Nachweis zu führen, wirkten die verbleibenden Zwei-fel zugunsten des Beschuldigten; er sei daher freizusprechen. Dieses Ergebnis wird nun traditionell als Folge des Grundsat-zes „im Zweifel für den Angeklagten (= in dubio pro reo)“ beschrieben.9 Die Eleganz dieser Formel und ihre scheinbare

4 Arzt, Ketzerische Bemerkungen zum Prinzip in dubio pro reo, 1997, S. 5; auf eine Gefahr, die von der immer wieder beteuerten Selbstverständlichkeit des in dubio pro reo-Satzes ausgeht, weist Sax (in: Spendel [Hrsg.], Studien zur Straf-rechtswissenschaft, Festschrift für Ulrich Stock zum 70. Geburtstag am 8. Mai 1966, 1966, S. 143 [146]) hin: „Wer von der selbstverständlichen Geltung von i.d.pr.r. als eines rechtsstaatlich unverbrüchlichen ‚Grundpostulats der Rechtsanwendung‘ ausgeht, läuft die Gefahr einer zumindest unbewusst voreingenommenen Quellensauswahl“. 5 Siehe Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 27. Aufl. 2012, § 15 Rn. 33; dem BayVerfGH (NJW 1983, 1600) zu-folge kommt dem in dubio pro reo-Satz ein Verfassungsrang zu. 6 Zopfs (Fn. 2), S. 378 (Hervorhebung des Autors); vgl. Sax (Fn. 4), S. 145. Der Autor merkt an, dass, wenn der in dubio pro reo-Satz überhaupt ein eigenständiges Rechtsprinzip sein solle, alles daran gelegen sein müsse, seine Geltung histo-risch abzusichern. „Ihr Ergebnis ist jedoch äußerst mager und letztlich unspezifisch für das, was historisch zu beweisen wäre.“ 7 Frisch (Fn. 1), S. 273. 8 Platon, Theaitetos, 155d; Aristoteles, Metaphysik, 982b 12-13. 9 Frisch (Fn. 1), S. 274; Roxin/Schünemann, Strafverfahrens-recht, 26. Aufl. 2009, § 56; BVerfG MDR 1975, 468 (469);

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Benutzerfreundlichkeit verrät uns vielleicht, worauf ihre große Popularität10 zurückgeführt werden kann. Doch so-gleich man den Zauberstaub11 von der Oberfläche dieses „eigenständig entstandenen Grundsatzes“ entfernt, kommt ein die Selbstverständlichkeiten der Strafprozessrechtsdogmatik zerstreuendes, beklemmendes Bild ans Licht. Denn anders als bei social media zählen bei Rechtssätzen wie dem in dubio pro reo-Satz nicht ihre Popularität, sondern ihre Geltungsbe-dingungen. Man kommt – wie ich zeigen werde – relativ schnell zu dem Schluss, dass sich aus einem „rechtsstaatlich unverbrüchlichen Grundpostulat der Rechtsanwendung“ ein todkranker Patient entpuppt, der sich nur wegen der Vorliebe der Juristen für Vulgärrecht am Leben hält.12 Das Ergreifen lebenserhaltender Maßnahmen fordert allerdings – wie so oft – seinen Preis: die Inkaufnahme der Sub-Rationalität unserer Strafprozessrechtsdogmatik.13 Hier gilt: Der in dubio pro reo-

vgl. Kühne, Strafprozessrecht, 8. Aufl. 2010, Rn. 957 ff.; Eschelbach (in: Graf [Hrsg.], Strafprozessordnung mit Gerichtsverfassungsgesetz und Nebengesetzen, Kommentar, 2. Aufl. 2012, § 261 Rn. 44) bezieht eine ebenfalls kritische, ja zynische Stellung, wenn er schreibt: Der Satz in dubio pro reo „hat aber derzeit kaum praktische Bedeutung. Denn er gilt nur als verfehlt, wenn das Tatgericht subjektive Zweifel an der Begehung einer rechtswidrigen Tat durch den Ange-klagten oder seiner Schuld hatte, aber gleichwohl verurteilt hat und wenn dies aus den Gründen des schriftlichen Urteils erkennbar wird.“ Der Autor fügt hinzu: „Das vermeiden er-fahrene Urteilsverfasser.“ Dies zeigt, dass hierbei der Wert eher auf das „Äußere“, scil. die post facto-Rechtfertigung eines wie auch immer gefällten Urteils, als auf dessen Schlüssigkeit und innere Konsistenz gelegt wird. Ein Urteil soll allerdings den beweisanalytischen Vorgang auf das Pa-pier bringen, nämlich eine Begründung liefern. 10 So beginnt Zopfs ([Fn. 2], S. 13 m.w.N.) seine Habilitati-onsschrift: „Der Grundsatz in dubio pro reo zählt wohl zu den populärsten Rechtssätzen in der Strafpflege.“ Des Weiteren ist das von Zopfs ([Fn. 2], S. 13 Fn. 2) Gesagte, dass nämlich Montenbruck der Meinung sei, dem in dubio pro reo-Satz komme deshalb „vulgärrechtliche Funktion“ zu, unpräzise – darauf werde ich später eingehen. 11 Nicht ohne Grund ist bei Montenbruck (In dubio pro reo aus normtheoretischer, straf- und strafverfahrensrechtlicher Sicht, 1985, S. 64) von einer „Zauberformel“ die Rede: „Der Satz ,in dubio pro reo‘, wirkt also als Zauberformel.“ 12 So Montenbruck (Fn. 11), S. 199. 13 Die Rechtspraxis soll gewissen Rationalitätsmaßstäben ge-nügen. Und dies hat nicht nur mit unserer Wissensethnologie (die Aristoteles [Fn. 8], 21 980a; ders., Politika, 1253a 7 ff., 1259b 28 ff., folgendermaßen ausdrückt: „Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen“), sondern vielmehr mit der ständigen Rechtsprechung des BVerfG (BVerfGE 34, 269 [293]) zu tun: „Der Richter muss sich dabei von Willkür freihalten; seine Entscheidung muss auf rationaler Argumen-tation beruhen. Es muss einsichtig gemacht werden können, dass das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsprob-lem gerecht zu lösen, nicht erfüllt. Die richterliche Entschei-dung schließt dann diese Lücke nach den Maßstäben der

Satz existiert (gilt) nur, weil (bzw. solange) Juristen an ihn glauben.14 Eine in der geltenden Rechtsordnung verankerte Funktion kann ihm nicht zugewiesen werden. Der hiesige Aufsatz versucht nun, diesem Glauben und den ihn unter-mauernden Gründen auf den Grund zu gehen. 2. Zur Methodologie einer analytischen (Strafprozessrechts-) Dogmatik

Anders als in der DDR15 ist der in dubio pro reo-Satz sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in den meisten europäischen Ländern rechtlich nicht positiviert. Dies hat der deutschen Literatur Anlass dazu gegeben, eine lange und nicht besonders ergiebige Debatte über das „Wesen“16 des in dubio pro reo-Satzes zu führen, sodass dieser sich trotz aller Bemühungen durch „erstaunliche Unklarheit“17 kennzeichnet. Versucht man, eine grobe Skizze der argumentativen Land-karte zusammenzubauen, ergibt sich – um einige Autoren herauszugreifen – folgendes Bild: Für Sax fungiert der in dubio pro reo-Satz als „methodische Leitlinie“, die zwischen dem Bestehen und dem Nichtbestehen von Tatbe-stand(smerkmalen) zu unterscheiden vermöge.18 Nach Peters besagt der in dubio pro reo-Satz, dass der Richter in tatsächli-cher Hinsicht bei Zweifelsfällen den für den Angeklagten „günstigeren Sachverhalt“ feststellen müsse.19 Frisch vertritt in seinem einflussreichen Aufsatz die Meinung, dass es sich bei dem in dubio pro reo-Satz um eine „Meta-Norm“, d.h. eine Rechtsanwendungsnorm handle, die uns dabei helfe, entweder die anzuwendende Norm (z.B. § 211 StGB) oder deren Ergänzungsnorm (hier: wer kein Mörder ist, soll nicht bestraft werden) heranzuziehen. Volk erfasst den in dubio pro reo-Satz im Anschluss an die Zivilprozessrechtsdogmatik als Beweislastregel.20 Zopfs kommt in seiner Heidelberger Habi-

praktischen Vernunft und den fundierten allgemeinen Ge-rechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft.“ Daraus ergibt sich: So heftig man über den Inhalt dieser wie auch immer zu präzisierenden Rationalitätsmaßstäbe streiten mag, ihre nor-mative Funktion darf nicht in Frage gestellt werden. 14 Nach Kelsen (Der soziologische und der juristische Staats-begriff, 1922, S. 90) wird der Staat zur Realität, „wenn man an ihn glaubt, d.h. wenn die Vorstellung der als Staat be-zeichneten Ordnung zum Motiv des Handels wird“. 15 Gemäß § 6 Abs. 2 S. 2 der DDR-StPO v. 12.1.1968: „Im Zweifel ist zugunsten des Beschuldigten oder des Angeklag-ten zu entscheiden“; mehr dazu bei Zopfs (Fn. 2), S. 13 Fn. 2, 5. 16 Frisch ([Fn. 1], S. 273) bemängelt hinsichtlich der Diskus-sion, dass das Wesen des In dubio pro reo-Satzes weitestge-hend vernachlässigt worden sei. Frisch ([Fn. 1], S. 274) schreibt: „Denn solange das genaue Wesen des Satzes im Dunkeln liegt, muß auch die Suche nach dessen Geltungs-grund und der Zugehörigkeit zum formellen oder materiellen Recht als blindes Tasten erscheinen.“ 17 So Sarstedt (Fn. 2), S. 239. 18 Sax (Fn. 4), S. 166. 19 Peters, Strafprozeß, 4. Aufl. 1985, S. 247. 20 Volk, Prozeßvoraussetzungen im Strafrecht, zum Verhält-nis von materiellem Recht und Prozeßrecht, 1978, passim.

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litationsschrift zu dem Schluss, dass der in dubio pro reo-Satz ein „gewohnheitsrechtlich entstandener, eigenständiger, straf-prozessualer Rechtssatz“ sei, der als „Entscheidungsregel“ diene. Diese Entscheidungsregel solle wiederum erst dann greifen, wenn sich das Vorliegen eines für die Entscheidung über die negative Statusveränderung relevanten Umstandes weder erweisen noch ausschließen lasse.21

Eine naheliegende Vorgehensweise, um dieser Suche nach einer Urteilsgrundlage nachzugehen, lautet: Man hat die bestehende Literatur zusammenzufassen und kritisch zu be-trachten. Es ist zumindest auf den ersten Blick eine vielver-sprechende Idee, die strafrechtliche Judikatur und Lehre zu durchforsten, um dadurch nach dem „Gebrauch“ des in dubio pro reo-Satzes Ausschau zu halten. Bei dieser Methode han-delt es sich m.E. um eine der Vorannahmen, auf denen die strafrechtliche (und größtenteils die juristische) Literatur fußt. Man nennt sie: die „übliche Vorgehensweise“. Sie besteht, so Amelung,22 aus zwei Teilen: Man solle a) sich mit dem vorge-fundenen Meinungsstand auseinandersetzen und b) sodann eine eigene Meinung entwickeln. Das ist vor allem deshalb informativ, weil sich darin die aktuelle juristische For-schungsmethode widerspiegelt. Die Verwirrung sitzt jedoch tiefer. Das Problem besteht darin, dass wir in dem Moment, da wir uns vergegenwärtigen, was bei der üblichen Vorge-hensweise berücksichtigt wird, aufhören darüber zu reflektie-ren, was aus methodologischen Gründen nun aus dem Fokus gerät. Man beachte, wohin die „übliche Praxis“ führt: Man hat jedes Mal die Gesamtheit der Literatur (∑L) in seinen Text miteinzubeziehen und ihr seine eigene Meinung (∑L+1) hinzuzufügen – und das ad infinitum (∑L+L1+...+Ln). Man ge-langt dadurch schnell zu einem selbstbezogenen Diskurs, dessen Chancen auf Progressivität deutlich sinken. Diese exegetische Spirale führt wegen der ausgeübten Zentripetal-kraft dazu, dass der (selbstbezogene) juristische Diskurs stagniert und ein Erkenntnisfortschritt erheblich erschwert wird.23 Es gilt: In der Forschung ist das, was man berücksich-tigt, immer eine Funktion dessen, was man außer Acht lässt. Während man sich also hauptsächlich mit dem „vorgefunde-nen Meinungsstand“ auseinandersetzt, signalisiert man damit, dass man stillschweigend die Suche nach einem anzuwen-denden theoretischen Ansatz schon aufgegeben hat. Denn diese exegetische Spirale markiert den Abbruch der Verbin-dung mit dem aufklärerischen Gedankengut, dem zufolge eine Theorie ohne Anwendung als leer und eine Praxis ohne

21 Zopfs (Fn. 2), S. 378 f. 22 Siehe Amelung, ZStW 123 (2011), 595. 23 Kritisch dazu bereits im Jahre 1914 G. Jellinek, Allgemei-ne Staatslehre, 1914, S. 27 f.: „Die alten, unsicheren Metho-den oder vielmehr die alte Methodenlosigkeit genügen den Anforderungen der Gegenwart nicht mehr. [...] Deshalb muß heute jede Untersuchung über die staatlichen Grundphäno-mene mit Feststellung der methodologischen Prinzipien auf Grund der Resultate der neueren erkenntnistheoretischen und logischen Forschungen beginnen. Erst dann besitzt man ein sicheres Werkzeug, sowohl um sich durch das Gestrüpp der früheren Literatur kritisch den Weg zu bahnen, als auch um zu selbstständiger fruchtbringender Forschung zu gelangen“.

Theorie als blind zu bezeichnen ist. Pawlik bringt diesen Gesichtspunkt mit hoher Präzision zum Ausdruck: „Diese Konzeption beruht auf der Überzeugung, daß die Strafrechts-dogmatik von philosophischen Prämissen ausgehen muß, wenn sie ihrem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit gerecht werden will. Nicht zwischen einer ‚reinen‘, d.h. selbstgenüg-samen, und einer ‚philosophischen‘ Strafrechtsdogmatik hat der einzelne Wissenschaftler die Wahl, sondern nur zwischen mehr oder weniger überzeugenden Ausführungen der letzte-ren“.24

Aus dem beunruhigenden Theoriedefizit der Strafprozess-rechtsdogmatik bzw. der Rechtswissenschaft im Allgemeinen springt das trübe Bild des in dubio pro reo-Satzes besonders ins Auge. Ich möchte hier zeigen, dass die Verwirrung, von welcher die Strafprozessrechtsdogmatik heimgesucht wird, vor allem begrifflicher Natur ist. Einen aufschlussreichen Indikator dafür stellen die Paradoxien dar, die die (konse-quente) Anwendung des in dubio pro reo-Satzes hervorruft.25 Um ein paar Beispiele herauszugreifen: Die Fehlkonzeptio-nen über diese Denkfigur führen dazu, dass der in dubio pro reo-Satz entweder stark eingeschränkt (z.B. bei der Alibibe-weisproblematik, wo er nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht gilt)26 oder gar in sein Gegenteil (d.i. in dubio contra reum) verkehrt wird. Ein Beispiel hierfür stellt die Wahlfeststellungsproblematik dar, bei der die Frage selbst, welche der zwei Varianten, z.B. Diebstahl oder Hehle-rei vorliege, die eigentliche Frage verdeckt, ob der Angeklag-ter die Tatbestandsmerkmale eines der beiden Delikten über-haupt rechtswidrig und schuldhaft verwirklicht hat.27 An anderer Stelle bevorzugt der BGH eine auf allgemeine Krite-rien verzichtende, ad hoc-Handhabung des in dubio pro reo-Satzes, weil, so der BGH, dessen Geltung nicht für alle Ver-fahrensvoraussetzungen einheitlich angenommen, sondern über sie nur von Fall zu Fall entschieden werden kann.28

Katalysator für diesen irreführenden Gebrauch unseres normativen Vokabulars ist die Grundannahme, auf welcher die sog. übliche Vorgehensweise beruht und der zufolge es ausreichend sei, dem tatsächlichen Gebrauch der problemati-schen Begriffe, nämlich dem vorgefundenen Meinungsstand, auf den Grund zu gehen. Eine grundlegende Methode, diese Begriffsverwirrungen zu lokalisieren, an den Tag zu legen und anschließend zu beseitigen, ist die Klärungsarbeit mittels sorgsamer Überprüfung des logisch-grammatischen Geflechts und der Verbindungen zwischen den in Frage kommenden Begriffen wie „Zweifel“, „Überzeugung“, „nur“ bzw. „genau

24 So Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, 2002, S. VII; siehe auch Ho, A Philosophy of Evidence Law, 2008, S. 2-4. 25 Ausführlich dazu Montenbruck (Fn. 11), insb. S. 61 f., 179 ff., 185 f., 189-199. 26 Siehe BGHSt 25, 285; vgl. das spätere Urteil BGH NStZ 1983, 422; mehr dazu bei Schoreit, in: Hannich (Hrsg.), Karls-ruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 7. Aufl. 2013, § 261 Rn. 66. 27 So Montenbruck (Fn. 11), S. 179 ff. 28 BGHSt 46, 349 (352).

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dann, wenn“, „Freiheit“, etc.29 Da ich der Meinung bin, dass die (analytische) Strafprozessrechtsdogmatik als Begriffs-explikation mittels Beschreibung/Klärung unseres Wortge-brauchs, nämlich des Normengeflechts, zu konzipieren ist, stellt auch diese Untersuchung eine grammatisch-logische Analyse dar, deren Ergebnisse allerdings unmittelbar praxis-relevant sind. Das in Frage kommende Normengeflecht be-steht nun aus den geltenden Vorschriften der jeweiligen (hier: der deutschen) Rechtsordnung, d.h. aus den positiv-recht-lichen Normen. Der tatsächliche Gebrauch der geltenden Normen ist also im Folgenden auf die ihnen zugrunde liegen-de Grammatik hin zu prüfen.

Der klärende Aufschluss über den Normengebrauch hat nichts mit einem anything goes-Verständnis der Bedeutung von Normen zu tun, sondern stellt eine regelgeleitete (rule-governed) Tätigkeit dar. Der Gebrauch eines Begriffs soll sich an grammatisch-logische Regeln unserer Sprache hal-ten.30 Das Problem wird am Ende, durch Beleuchtung der in Frage kommenden Konzepte und deren begriffliche Klärung, sprachlich (das heißt allerdings nicht: bloß verbal) aufgelöst. Es lässt sich nur zeigen, ob die hier unternommene Klärungs-arbeit gegen die Hartnäckigkeit des in dubio pro reo-Satzes eine reelle Chance hat.31 Wie Hardtung besonders anschau-lich zeigte, halten sich (normative) Fehlkonstruktionen vor allem deshalb besonders gut, weil man an sie gewohnt ist.32 Diese Bereitschaft, das vertraute Gelände zu verlassen, sowie Denkfiguren und fest in unserer Praxis verankerte dogmati-sche Konzepte gegen andere auszutauschen, die eine größere Leistungsfähigkeit aufweisen, gehört allerdings zum wissen-schaftlichen Denken dazu. Diese fehlende Flexibilität kriti-siert – ebenso pessimistisch wie pragmatisch – Montenbruck, wenn er antizipiert, dass vom Spruch „im Zweifel für den Angeklagten nicht mit wenigen Worten Abschied zu nehmen ist“.33 II. Zur Funktion des in dubio pro reo-Satzes

1. Der Ansatz Frischs

Im Folgenden werde ich mich hauptsächlich mit dem Ansatz Wolfgang Frischs auseinandersetzen, der m.E. für das bishe-rige Verständnis des in dubio pro reo-Satzes wegweisend ist. Frisch macht sich in einem Aufsatz aus dem Jahre 1974 auf die Suche nach dem Wesen des in dubio pro reo-Satzes – ein Punkt, der laut Frisch eigenartigerweise vernachlässigt wor-den ist und auf welchen die Geltungsgründe des in dubio pro reo-Satzes zurückgeführt werden könnten.34 Frisch geht also von einer Frage aus, der eine zentrale Funktion zuzukommen scheint: was es eigentlich heißt, dass das Gericht zugunsten des Angeklagten zu entscheiden habe und letztendlich, wie

29 Ausführlich dazu Bennett/Hacker, Philosophical Founda-tions of Neuroscience, 2003, S. 400. 30 Bennett/Hacker (Fn. 29), S. 400. 31 Siehe Hardtung, ZIS 2009, 795 (796 ff.). 32 Hardtung (ZIS 2009, 795 [797]) nennt sie aus diesem Grund „enttäuschungsfest“. 33 Montenbruck (Fn. 11), S. 15. 34 Frisch (Fn. 1), S. 273.

ein Freispruch begründet werden soll.35 Da nun die richterli-che Entscheidung, so Frisch, nicht als monolithisches Gan-zes, sondern als ein in die Bildung der Tatsachenfeststellung, des Obersatzes und der Subsumtion gegliederter Prozess zu betrachten sei, solle jedem Teil davon separatim nachgegan-gen werden. 2. Der in dubio pro reo-Satz und die praemissa minor

Frisch wendet sich zunächst gegen die Ansicht, dass der in dubio pro reo-Satz als Beweiswürdigungsregel bzw. Beweis-grundsatz zu erfassen sei.36 Er bemerkt zutreffend, dass die-ser Ansicht ein tiefes Missverständnis zugrunde liege, denn der in dubio pro reo-Satz stellt keine Beweisregel dar – zu-mindest im Sinne der Carolina – die dem Tatrichter diktiert, „welche Schlüsse der Richter aus den Beweismitteln zu zie-hen habe“37. Bekanntlich bildeten die Beweisregeln den Ka-talysator der Carolina, wo das Aussprechen einer Verurtei-lung von dem Vorliegen bestimmter, gesetzlich vorgeschrie-bener Beweismittel abhängig gemacht wurde.38 Danach durf-te ein Beschuldigter nur dann zu einer „peinlichen Strafe“ verurteilt werden, wenn er entweder die Tatbestandsmerkma-le („Haupttatsachen“) gestand39 oder seine Täterschaft von zwei glaubwürdigen Zeugen („guthen Zeugen“40) aus eigener Wahrnehmung – also nicht bloß vom Hörensagen – bekundet wurde: „zweier oder mehrerer guthen Zeugen, die von eynem waren wissen sagen“.41 Daraus lasse sich nach Frisch ablei-

35 Frisch (Fn. 1), S. 274. 36 Frisch (Fn. 1), S. 274-277; siehe Stree, In dubio pro reo, 1962, S. 56; RGSt 52, 319; Gollwitzer (in: Erb u.a. [Hrsg.], Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichts-verfassungsgesetz, Bd. 2, 22. Aufl. 1973, § 261 Rn. 6a) ver-trat die Meinung, dass der Satz in dubio pro reo ein „beherr-schender Grundsatz der Beweiswürdigung“ sei. 37 Frisch (Fn. 1), S. 276. 38 Als Dreh- und Angelpunkt des Strafverfahrens dienten Art. 22 CCC in Verbindung mit Art. 67 CCC, die die Infer-enzkraft der Beweismittel von vornherein festlegten. 39 Siehe Jerouschek, ZStW 102 (1990), 793. 40 Die Carolina präzisiert weiter den Begriff „guthe Zeugen“, indem sie einige Kriterien dafür vorschreibt; siehe hierzu Baldauf, Die Folter, eine deutsche Rechtsgeschichte, 2004, S. 91 f. Die allgemeine Vorstellung, dass zwei Zeugen eine plena probatio darstellten, ist unzutreffend, denn die Zeugen dürften keinen „schlechten Leumund“ haben und auch sonst mit „keiner rechtmäßigen Ursache zu verwerfen sein (Art. 66 CCC). Waren sie ferner dem Gericht unbekannt, so musste derjenige, der die Zeugen stellte, ihre Unbescholtenheit und Redlichkeit auf Verlangen der Gegenpartei „stattlich fürbrin-gen“, also wohl glaubhaft machen. Unbeachtlich ist auch das Zeugnis vom Hörensagen (Art. 65 CCC). „Boshaftes“ falsches Zeugnis wurde nach dem Talionsprinzip bestraft, nämlich mit der Strafe, zu der der Unschuldige durch das Zeugnis ge-bracht werden sollte (Art. 68 CCC). 41 Hassemer (Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 2. Aufl. 1990, S. 113) bemerkt treffend, dass die strengen Beweisregeln der Carolina die Sachverhaltsfeststellung mit Anforderungen begleiteten, die den Gedanken an eine Check-

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ten, dass der in dubio pro reo-Satz nicht gesetzlich vor-schreibt, welche Inferenzkraft dem Beweismaterial beizu-messen ist.42 Der in dubio pro reo-Satz greife erst dann ein, „wenn die Beweisaufnahme trotz Erschöpfung aller Beweis-mittel gescheitert ist“43 – ob er überhaupt eingreift bzw. ob eine solche Norm gilt, wird nach wie vor nicht diskutiert. Frisch betont, dass der in dubio pro reo-Satz als Aussage über die Wirklichkeit keineswegs gedacht werden könne.44 3. Der in dubio pro reo-Satz und die praemissa maior

Anschließend wendet sich Frisch der nächsten Problematik zu, um zum Schluss zu kommen, der in dubio pro reo-Satz könne auch nicht in dem Obersatz verankert sein. Zunächst zur Vorgeschichte: Werner Sarstedt vertrat in der 4. Auflage des (von Kurt Gage begonnenen) Werkes „Die Revision in Strafsachen“45 die Meinung, der in dubio pro reo-Satz stehe schon „in fast jeder Vorschrift des Besonderen Teils des Strafgesetzbuches“ und gehöre „dem sachlichen Strafrecht an“.46 Dementsprechend: Nur wer einen Menschen getötet hat, sei zu bestrafen – also nicht derjenige, der sich einer Tötung verdächtig gemacht hat.47 Die Argumentation Sarstedts beruht auf einem logischen Schluss: Der in dubio pro reo-Satz sei aus den Straftatbeständen abzuleiten, denn ausgehend vom Obersatz „wer tötet, macht sich strafbar“ müsse der Untersatz „A hat getötet“ lauten, um die entspre-chende Folgerung „A macht sich strafbar“ ziehen zu können. Der in dubio pro reo-Satz sei also bereits in den Bestimmun-gen des Besonderen Teils des StGB enthalten und deswegen – so legt Sarstedt nahe – überflüssig. Diese Ansicht ist laut Frisch allerdings verfehlt, denn die Strafe knüpfe nicht an den Beweis der Tötung oder der Wegnahme einer fremden beweglichen Sache, sondern schlicht an die Tötung und die Wegnahme an.48 Sarstedt verwechsle, so Frisch, zweierlei: „die Frage, wann eine Person nach materiellem Recht Strafe verdient, und die Frage, wann der Staat diese Strafe verwirk-lichen darf“.49 Bevor ich auf Frischs eigenen Ansatz eingehe, soll diese Argumentation unter die Lupe genommen werden.

liste nahelegten: wie viele Zeugen oder von welcher Qualität nötig sind, damit zu dem jeweils nächsten Abschnitt des Ver-fahrens vorangeschritten werden kann – eine bloße Beweis-mittelarithmetik; ähnlich Shapiro, „Beyond reasonable doubt“ and „probable cause“, 1991, S. 3: „The judge in most crimi-nal cases was essentially an accountant who totaled the proof fractions“. 42 Kadane/Schum, A Probabilistic Analysis of the Sacco and Vanzetti Evidence, 1996, S. 50 ff. 43 Frisch (Fn. 1), S. 276. 44 Frisch (Fn. 1), S. 276. 45 Es ist hervorzuheben, dass der Ansatz Sarstedts von Hamm (Sarstedt/Hamm, Die Revision in Strafsachen, 7. Aufl. 2010, Rn. 36, 887)nicht mehr vertreten wird. Hamm verweist statt-dessen auf eine Ableitung des in dubio pro reo-Satzes aus dem Rechtsstaatsprinzip und auf die Nähe zu § 261 StPO. 46 Sarstedt (Fn. 2), S. 240 f. 47 Sarstedt (Fn. 2), S. 240. 48 Frisch (Fn. 1), S. 278. 49 Frisch (Fn. 1), S. 278.

Denn bei näherer Betrachtung erweist sich eigentlich Frisch und nicht Sarstedt als derjenige, der dieselben Fragestellun-gen verwechselt. a) Über die Situation des Ignoramus

Zunächst ist mit Ho festzuhalten: „The statement that it is true that A killed B is perfectly intelligible as an assertion that, in reality, A did kill B; but how is the court to see that A really did kill B?“50 Deswegen ist es von zentraler Bedeu-tung, auf die Unverzichtbarkeit der epistemischen Züge unse-rer forensischen Praxis aufmerksam zu machen. Wie Gold-man ausführt: „It is important to distinguish between meta-physically cases and epistemologically easy cases. If all the material facts of a case are ,given‘, metaphysically speaking, it may be straightforward how it ought to be classified. But this does not mean that it is epistemologically easy to deter-mine what those facts are“.51 Damit wird auf eine folgen-schwere Unterscheidung aufmerksam gemacht: zwischen der Situation des Wissenden, in welcher wir die Größe der Unsi-cherheit aus dem einen oder anderen Grund ausblenden, und der Situation des Ignoramus, in welcher wir unter Unsicher-heit argumentieren.52 Frisch nimmt die Position des Wissen-den ein, indem er sich mit der Frage beschäftigt, „wann eine Person nach materiellem Recht Strafe verdiene“.53 Das gibt uns Anlass zu folgenden Überlegungen: Es ist eine übliche, ja berechtigte Praxis, dass man bei der rechtsdogmatischen Ausarbeitung materiell-rechtlicher Fragen, wie z.B. bei der Einstufung des Mordtatbestandes als eigenständigen Delikts im Verhältnis zum Totschlag, (der Einfachheit halber) er-kenntnistheoretische oder gar beweisrechtliche und -analy-tische Probleme außer Acht lässt. Es gibt gute Gründe dafür, dass man sich z.B. während des Studiums auf materielle (strafrechts-)dogmatische Gesichtspunkte konzentriert. Die Probleme fangen jedoch da an, wo man diese Vorgehenswei-se (Ausblenden der Unsicherheitsgröße) auf die dogmatische Ausarbeitung der gesamten Rechtsordnung oder gar auf die gerichtliche Praxis (!) überträgt.

Hier geht es mir nicht darum, ob das Prozessrecht im Schatten des materiellen Rechts steht, sondern um die unum-strittene These, dass erkenntnistheoretische bzw. beweisana-lytische Probleme für die Rechtswissenschaften kaum inte-ressant sind. Die Diagnose zu der hier zu behandelnden Prob-lematik möchte ich mit den Worten Nauckes liefern: „man hat [im Recht] den Fall daher so zu nehmen, wie er geschil-dert ist [...]. Der Strafjurist muß sich früh darin üben, un-wahrscheinlich klingende tatsächliche Geschehnisse als ge-schehen betrachten zu können“.54 Auf gut Deutsch: Der Straf-

50 Ho (Fn. 23), S. 57 f. 51 Goldman, Knowledge in a Social World, 1999, S. 278. 52 Siehe Ernst, in: Tolksdorf (Hrsg.), Conceptions of Know-ledge, 2011, S. 307. 53 Frisch (Fn. 1), S. 278. 54 Naucke, Strafrecht, 10. Aufl. 2002, S. 1, 12; sehr kritisch dazu auch Koch/Rußmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 271; siehe auch Laudan, Truth, Error, and Criminal Law, 2006, passim; Anderson/Twining, Analysis of evidence,

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richter, um den es sich hierbei handelt und der angeblich den in dubio pro reo-Satz anwenden soll, nimmt die Situation des Ignoramus ein. Beweisanalytische und beweisrechtliche Probleme werden nicht ausgeklammert; ganz im Gegenteil wird eine Entscheidung unter Unsicherheit getroffen. Das heißt, die Frage nach den materiell-rechtlichen Vorausset-zungen der Strafe, die Frisch stellt, ist sinnlos, sobald wir uns im Strafverfahren befinden. Frischs Auffassung führt unaus-weichlich zu dem Ergebnis, dass die „bloße Existenz“ der Tatsachen eine Rechtsfolge auslösen kann. Diese Fragestel-lung ist allerdings wegen ihres metaphysischen Charakters diskreditiert worden. Koussoulis merkt an, dass das Beweis-maß zum Tatbestand der Rechtsnorm gehört, „so daß die Anwendung des ‚materiellen Rechts‘ eng mit den jeweils geltenden Beweismaßanforderungen verbunden ist“.55

Die Frage was eine Norm ist (die Frischsche Frage nach dem „Wesen“ des in dubio pro reo-Satzes) „ist analog der Frage ‚was eine Schachfigur ist‘“.56 Antwortet man, dass eine Schachfigur ein Stück Holz sei, oder beschreibt man gar deren molekulare Struktur, hört man auf, über Schach zu reden und trägt nunmehr über organische Chemie vor. Man wechselt das Thema. Interessant ist die Funktion einer Schachfigur nur im Rahmen eines Schachspiels, ähnlich wie unser Untersuchungsobjekt die Funktion einer geltenden (d.i. positiv-rechtlichen) Norm in einem Normenspiel sein soll. Dies zeigt auf, dass die von Frisch gestellte „Wesensfrage“ begrifflich verwirrt ist. Denn bei der Auseinandersetzung mit dem in dubio pro reo-Satz geht es nicht um die Abgrenzung zwischen Totschlag und Mord (wie im obigen Beispiel), sondern um ein Strafurteil, das Frisch zufolge erst mithilfe des in dubio pro reo-Satzes gefällt werden könne. Unabding-barer Teil der dogmatisch auszuarbeitenden Rechtsordnung, die ich hier als Normenspiel bezeichne, ist die Vorschrift des § 261 StPO, welche vorsieht, dass über das Ergebnis der Beweisaufnahme das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung ent-scheiden soll. Daraus folgt, dass zu den materiellrechtlichen beweisrechtliche bzw. epistemische Fragen hinzukommen; zu den deontischen alethische Modi.57 Frisch kritisiert Sarstedt, weil letzterer „Erkenntnisprobleme“ mit einbezieht. Er erin-nert uns daran, dass „mit Ausnahme einiger weniger Tatbe-standsmerkmale besonders strukturierter Delikte in den

1991, S. XX, 56 ff.; ähnlich Bender/Nack/Treuer, Tatsachen-feststellung vor Gericht, 3. Aufl. 2007, S. 135. 55 Koussoulis, in: Gottwald (Hrsg.), Festschrift für Karl Heinz Schwab zum 70. Geburtstag, 1990, S. 277 (278); zum Prinzip der Einheit der Rechtsordnung siehe BGHSt 11, 241. 56 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Werkaus-gabe, Bd. 1, 1984, S. 225-618, § 108. 57 Kelsen (Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 246) betont: „Denn der Rechtssatz lautet nicht: Wenn ein bestimmter Mensch einen Mord begangen hat, soll eine bestimmte Strafe über ihn verhängt werden, sondern: Wenn das zuständige Gericht in einem durch die Rechtsordnung bestimmten Ver-fahren rechtskräftig festgestellt hat, daß ein bestimmter Mensch einen Mord begangen hat, soll das Gericht über die-sen Menschen eine bestimmte Strafe verhängen.“

Strafvorschriften des StGB von Beweisproblemen keine Rede sei“.58 Jedoch verkennt Frisch dabei, dass wir uns spätestens mit dem in dubio pro reo-Satz, von welchem er ausgeht, inmitten der Beweisproblematik befinden. Argumentiert man wie Frisch, dann soll man das „dubium“ (aus dem in dubio pro reo-Satz) und die „Überzeugung“ (aus dem § 261 StPO) als untrennbar ineinandergreifende Begriffe betrachten. Das heißt, es ist nicht Sarstedt, der die Erkenntnisproblematik mit einbezieht und die Situation des Ignoramus einnimmt, son-dern es ist Frisch selbst, der verkennt, dass wir nur aus den oben genannten Gründen und jedenfalls vorübergehend diese Größe ausblenden und die Situation des Wissenden einneh-men.59 Anders formuliert: Es ist nicht im Kontext des Straf-prozessrechts oder gar der dogmatischen Ausarbeitung (scil. Systematisierung) der Rechtsordnung, dass wir die Größe der Unsicherheit einblenden, sondern es ist im Kontext des mate-riellen Strafrechts, dass wir diese Größe (vorübergehend) ausblenden. Im Hintergrund aller materiell-rechtlichen Über-legungen kann nichts anderes als ihre Anwendung mittels eines prozessrechtsgemäß entstandenen Urteils stehen und zwar bezüglich der Frage, ob gegen eine bestimmte Person auf Grund eines bestimmten Lebenssachverhaltes ein staatli-cher Strafanspruch besteht.60 Der Gedanke, die Größe der Unsicherheit zu eliminieren, ist nicht überzeugend. 4. In dubio pro reo als Rechtsanwendungsnorm

Frisch kommt – wie gezeigt wurde: von falschen Prämissen aus – jedenfalls zu dem Schluss, dass der in dubio pro reo-Satz weder die praemissa minor noch die praemissa maior „beeinflusst“.61 Die Frage solle also lauten: „Wo setzt er dann an? Welches Wesen kann er dann überhaupt noch besit-zen?“62 Deshalb schlägt Frisch vor, die Situation in normthe-oretischer Hinsicht zu präzisieren. Es solle von dem klassi-schen Beispiel des § 212 StGB ausgegangen werden: Sei dem Richter eine Subsumtion unter diese Vorschrift nicht mög-lich, weil es dem Gericht an hinreichender Überzeugung von den Tatbestandsmerkmalen fehle, so wäre der Schluss voreilig gewesen, dass „der Richter den A ohne weiteres freisprechen kann“, da A die Voraussetzungen, „unter denen nach dem Gesetz Strafe eintreten soll“, nicht erfülle.63 Betont wird dabei, dass selbst die Nichtanordnung der Strafe als „sachli-che Entscheidung des Gerichts aus den Normen des materiel-len Rechts“ behandelt werden solle.64 Des Rätsels Lösung stelle nach Frisch die Konstruktion Engischs dar:65 Im Falle eines „non liquet“ solle der Richter die sog. negative Ergän-zungsnorm heranziehen, die ihm den Weg zur sachlichen

58 Frisch (Fn. 1), S. 278. 59 Ernst (Fn. 52), S. 307 f. 60 Kühne (Fn. 9), Rn. 639. 61 So Frisch (Fn. 1), S. 279. 62 Frisch (Fn. 1), S. 279. 63 Frisch (Fn. 1), S. 279 f. 64 Frisch (Fn. 1), S. 279. 65 Siehe Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl. 1963, S. 3-22.

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Entscheidung ebnen könne.66 Der Richter solle, entweder die in § 212 StGB enthaltende Sanktionsnorm (NS):

NS: Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.

oder deren negative Ergänzungsnorm (NErgN):

NErgN: Wer keinen Menschen tötet, wird nicht als Tot-schläger bestraft.

anwenden, damit er trotz der „Ungewißheit über die Anwen-dungsvoraussetzungen“ „ohne Weiteres subsumieren“ und entscheiden könne.67 Nach Frisch ist der oben skizzierte Weg sogar die einzig naheliegende Möglichkeit, um zu einer sach-lichen Entscheidung zu gelangen68 – ein Weg, der uns dabei verhelfe, das Wesen des in dubio pro reo-Satzes als Entschei-dungsregel des Rechtsanwendungsrechts richtig zu erkennen. Kurzum: An der Eleganz der von Frisch vorgeschlagenen Lösung wird hier nicht gezweifelt. Die Kritik setzt bei der Verdoppelung nicht nur der anzuwendenden Norm,69 sondern unausweichlich der gesamten Rechtsordnung an. Durch Be-leuchtung der Syntax des in dubio pro reo-Satzes werde ich zeigen (III.), dass dessen Anwendung gegen grammatische Regeln unserer Sprache (von der die Rechtssprache ein Teil ist) sowie methodologische Prinzipien verstößt. III. Zur Analyse des in dubio pro reo-Satzes

1. Zur Syntax des in dubio pro reo-Satzes

Die Suche nach dem Wesen – im metaphysischen Sinne – eines (vermeintlichen) rechtlichen Grundsatzes scheitert vor allem an der Positivität des Rechts und den logischen Prinzi-pien, mithilfe deren wir die Rechtsordnung systematisieren (können). Sobald man von einem naturrechtlichen Denken absieht, wo Normsätze oder selbst die Logik als vorrechtliche Entitäten zu erfassen wären und auf welchen die Geltungsbe-dingungen einer Norm (hier: des in dubio pro reo-Satzes) zurückgeführt werden sollen,70 erscheint die oben dargestellte Vorgehensweise zweifelhaft zu sein. Dennoch: Man hört nicht auf, sich mit dem „Wesen“ einer positiv-rechtlichen Norm zu befassen; man entkleidet sie nur ihres metaphysi-schen Schleiers. Im Anbetracht dieser Überlegungen wird im Folgenden der Grammatik des in dubio pro reo-Satzes nach-gegangen, nämlich den Verästelungen des logisch-grammatischen Geflechts zwischen den Geltung beanspru-

66 Frisch (Fn. 1), S. 281. 67 Frisch (Fn. 1), S. 280. 68 Frisch (Fn. 1), S. 281 f. 69 Dieser Ansicht ist Stuckenberg, Untersuchungen zur Un-schuldsvermutung, 1998, S. 490. 70 Frisch ([Fn. 1], S. 273) schreibt: „denn solange das genaue Wesen des Satzes im Dunkel liegt, muß auch die Suche nach dessen Geltungsgrund und der Zugehörigkeit zum formellen oder materiellem Recht als blindes Tasten erscheinen“.

chenden Normen.71 Denn „welche Art von Gegenstand etwas ist, sagt die Grammatik“.72 Da erscheint der in dubio pro reo-Satz sehr hilfreich zu sein, da er selbst in die Form einer üblichen gesetzlichen Regelung gekleidet ist.73 Tatsächlich lässt sich der Satz „in dubio pro reo“ in Rechtsfolgenvoraus-setzung (dubium) und Rechtsfolgenanordnung (pro reo) un-terteilen. 2. Über das inflationäre dubium. In dubio pro reo?

Laut Peters geht der in dubio pro reo-Satz von einem dubium aus, d.h. von einem „unsicheren Beweisergebnis“.74 Damit greife er erst ein, nachdem in der Hauptverhandlung der Be-weisabschnitt mit einem unsicherem Ergebnis abgeschlossen ist, und bestimme allein, welche Rechtsfolge in diesem Fall einzutreten habe: pro reo. Diese Feststellung ist allerdings genauso wahr wie überflüssig. Denn Kontingenz gehört zu unserer epistemischen Praxis dazu. Maguire u.a. bringen diesen Gedanken auf den Punkt: „Evidence is produced at trial so that an impartial trier can decide how an event oc-curred. Time is irreversible, events unique, and any recon-struction of the past at best an approximation. As a result of this lack of certainty about what happened, it is inescapable that the trier’s conclusions be based on probabilities.“75 Die Sachverhaltsfeststellung hat einen irreduziblen probabilisti-schen Charakter. Anders als in der „Carolina“, wo den Tatrichtern detailliert vorgeschrieben wurde, wie sie die Er-mittlungsergebnisse zu würdigen hatten,76 (sodass das Be-weiskriterium entweder erfüllt wurde oder nicht – Zweifel an der Schuld kamen dabei nicht in Frage)77 kann bei dem gel-tenden System der nicht an gesetzlichen Vorschriften gebun-denen Beweisanalyse nicht die Rede von einem „dubium“ sein, ohne dass damit etwas Unsinniges gesagt wird. Wir argumentieren ständig unter Unsicherheit und treffen Ent-scheidungen nicht erst dann, wenn wir alle Zweifel ausge-räumt haben, sondern ausgerechnet trotz bestehender Zwei-fel.78 Das (einzige) Tatbestandsmerkmal des in dubio pro reo-Satzes ist in diesem Sinne inflationär und inhaltsleer. Die Frage lautet nicht, was nun zu tun ist, wenn Zweifel vorhan-den sind, sondern was für Zweifel wir legitimerweise ignorie-ren dürfen bzw. wir ausschließen sollen, damit die Leistungs-fähigkeit der Strafjustiz nicht auf Null reduziert wird.79

71 Dazu Bennett/Hacker (Fn. 29), S. 400. 72 Wittgenstein (Fn. 56), § 373. 73 Montenbruck (Fn. 11), S. 31. So auch Zopfs (Fn. 2), S. 15. 74 Peters, „In dubio pro reo“ als geltender Rechtssatz des materiellen deutschen Strafrechts, 1963, S. 6. 75 Maguire/Weinstein/Chadbourn/Mansfield, Evidence, Cases and Materials, 1973, S. 1. 76 Ausführlich dazu Ignor, Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532-1846, 2002, S. 62 ff. 77 Ignor (Fn. 76), S. 61 f. 78 Dazu Kotsoglou, Law Probability and Risk 2013, 275 ff. 79 So etwa Laudan (Fn. 54), S. 66: „To how much BoD [Be-nefit of the Doubt – Anmerkung des Autors] is a criminal defendant entitled?“; Arzt (Fn. 4), S. 8, stellt eine ähnliche Frage: „Wie groß muß der Zweifel sein, damit er sich pro reo

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3 „In dubio pro reo“ + BGH-Rspr. = Beweiskriterium

Diese Überlegungen führen uns direkt zur nächsten Frage: Was sind die Molekularsätze, aus welchen das hier behandelte dubium als Rechtsfolgenvoraussetzung besteht? Was für Zweifel vermögen ein Strafurteil zu verhindern? Die Frage gewinnt unvermindert heute noch an Bedeutung, da laut Bundesverfassungsgericht80 ein vom Revisionsgericht zu be-achtender Verstoß gegen den Grundsatz „in dubio pro reo“ erst dann vorliegt, wenn aus dem Urteil selbst hervorgeht, dass der Tatrichter von der Richtigkeit des dem Urteil zu-grunde gelegten Sachverhalts nicht zweifelsfrei überzeugt gewesen ist. Stimmen aus der Literatur verlangen auch, dass Zweifel „im Beratungszimmer restlos geklärt sein“ müss-ten.81 Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes hat dies allerdings als „überspannte Anforderungen“ an den ein Straf-urteil ermöglichenden Beweis kritisiert und abgelehnt. Nach ständiger höchstrichterlichen Rechtsprechung sowohl im angelsächsischen als auch im kontinentalen Raum kommen nur die „vernünftigen Zweifel“ (reasonable doubts) in Be-tracht.82 Kann der Tatrichter als epistemischer Agent all die vernünftigen Zweifel ausräumen, dann ist er epistemisch be-rechtigt, den Angeklagten zu verurteilen und einen Wissens-anspruch zu erheben. Die zwei Molekularsätze [MS], die das strafrechtlich relevante dubium betreffen, können wir jetzt folgendermaßen skizzieren:

Besteht ein vernünftiger Zweifel → Freispruch = pro reo [MS1] Besteht kein vernünftiger Zweifel → Verurteilung = contra reum [MS2]

Nun komme ich zur Kritik des Ansatzes von Frisch. Diesbe-züglich lässt sich zweierlei bemerken:

a) Der in dubio pro reo-Satz solle (s.o. II. 4.) als Meta-Norm konzipiert werden und als gesetzliche Urteilsgrundlage dienen. Nach dem Ansatz Frischs soll er als „Rechtsanwen-dungsregel“ uns ermöglichen, zwischen Tatbestand und nega-tiver Ergänzungsnorm zu entscheiden. Hier wurde allerdings gezeigt, dass die Problematik nur verschoben, wenn nicht sogar verdeckt, wurde. Denn zusätzlich müssten wir eine Meta-Meta-Norm (≈ Meta-Rechtsanwendungsnorm) heran-ziehen, um zwischen MS1 und MS2 entscheiden zu können. Hält man entgegen, dass dies unnötig wäre, dann löst sich das ursprüngliche Problem schlagartig auf, weshalb wir im Fall einer nicht hinreichenden Überzeugung nicht automatisch freisprechen könnten. Anders formuliert: Solange das Kon-zept einer Meta-Meta-Norm problematisch erscheint, steht auch der in dubio pro reo-Satz, als meta-Norm konzipiert, auf tönernen Füßen.

b) Aus dem ursprünglichen (einheitlichen) dubium ent-puppen sich, wie gezeigt wurde, zwei Varianten: MS1 und

auswirkt?“ Von dem Grundschema des Satzes in dubio pro reo verabschiedet sich Arzt trotzdem nicht. 80 BVerfG NJW 1988, 477. 81 Eschelbach (Fn. 9), § 261 Rn. 64. 82 Siehe Damaška, University of Pennsylvania Law Review 121 (1973), 540 f.

MS2. Die letztere (MS2) ist allerdings die von der Rechtspre-chung in mehreren Ländern als Beweiskriterium verwendete prozessuale Denkfigur „Beweis jenseits vernünftiger Zweifel/ proof beyond a reasonable doubt“. Der (rechtlich relevante) Unterschied ist, dass das Beweiskriterium die dogmatische Konstruktion für die Auslegung des § 261 StPO und die an die tatrichterliche Überzeugung zu stellenden Anforderungen ist. Der konkurrierende in dubio pro reo-Satz entbehrt jegli-cher gesetzlichen Grundlage.

Der in dubio pro reo-Satz entfaltet also eine äußerst schwache analytische Funktion. Weder unterscheidet er zwi-schen vernünftigen und nicht-vernünftigen Zweifeln noch sieht er das erforderliche Quantum des Zweifels vor. Seine „heuristische Kraft“ ist somit äußerst begrenzt und daher schneidet er im Vergleich zu seinen „Konkurrenten“ sehr schlecht ab. Auf dieses Konkurrenzverhältnis hat Damaška hingewiesen: „Continentals speak of the maxim in dubio pro reo, while common law laymen talk of requiring proof be-yond a reasonable doubt“.83 Wäre der „sich in Voraussetzung und Wirkungsweise unterteilen lassende Satz ‚im Zweifel für den Angeklagten‘“84 eine strafrechtliche Norm, dann würde er wohl gegen das Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG) verstoßen. Der Versuch, den in dubio pro reo-Satz durch eine aufwendige Konstruktion zu retten, liefert keine Lösung; er verschiebt das Problem lediglich. 4. Der in dubio pro reo-Satz als Tatbestand. In dubio pro reo?

Nachdem ich mich mit der sog. „Rechtsfolgenvoraussetzung“ („dubium“) auseinandergesetzt habe, kann ich nun die „Rechtsfolgenanordnung“ („pro reo“) unter die Lupe neh-men. Der ganz herrschenden Meinung nach löst ein „vernünf-tiger“ Zweifel eine Rechtswirkung aus: Der Angeklagte, über dessen Schuld der zuständige Richter nicht hinreichend über-zeugt ist, soll freigesprochen werden. Anders formuliert:

„Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, soll immer dann freigesprochen werden, wenn der Richter von deren Schuld nicht hinreichend überzeugt ist“ (T1).

Schauen wir uns jetzt die Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK) an:

„Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.“ (T2).

Die Ähnlichkeit zwischen den zwei Sätzen springt besonders ins Auge. Die Sätze T1 und T2 unterscheiden sich nur durch eine abweichende Wortwahl. Sie sind strukturell ähnlich. Ein positiviertes Rechtsprinzip wie die Unschuldsvermutung kann sich gegen den in dubio pro reo-Satz, scil. einen nicht-positivierten Satz, der die gleiche Funktion erfüllen soll, erfolgreich behaupten. Auf diesen merkwürdigen Kampf um rechtlichen Regelungsraum werde ich später eingehen. Hier

83 Damaška, University of Pennsylvania Law Review 121 (1973), 540 f. 84 So Zopfs (Fn. 2), S. 15.

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soll gezeigt werden, dass es sich um ein tiefes Missverständ-nis handelt, wenn man den in dubio pro reo-Satz als einen „fundamentalen Rechtssatz“85 behandelt. Das vermag m.E. dessen denkbarer Gegensatz zu verdeutlichen – nämlich ein Rechtssystem, in welchem der Angeklagte, von dessen Un-schuld der zuständige Richter nicht hinreichend überzeugt ist, verurteilt werden soll: in dubio contra reum. a) In dubio contra reum

Den Satz „in dubio contra reum“ will ich an zwei, an sich unterschiedlichen, historischen Beispielen verdeutlichen, auf deren Diskussion ich mich im Folgenden konzentrieren möchte. Bezüglich des ersten Beispiels wird ein kurzer Ex-kurs in das vom religiösen Weltbild geprägte Mittelalter gemacht. Als roter Faden, der sich durch die diversen „Pro-ben“ zog, kann das strukturelle Element einer Schuldvermu-tung angesehen werden. Gelang es dem Verdächtigen etwa, zwischen zwei brennenden Holzstößen hindurchzugehen, seine Hand ins Feuer zu halten oder ein Stück Käse bzw. Brot unzerkaut hinunterzuschlucken,86 war der Beweis der Wahr-heit seiner Behauptung, meistens seine Unschuld, als erbracht anzusehen.87 War dies nicht der Fall, so hatte man mit einer Bestrafung als Konsequenz zu rechnen. Noch ein aufschluss-reiches Beispiel ist die Haltung der USA während des zwei-ten Weltkriegs gegenüber den US-amerikanischen Bürgern japanischer Abstammung. Die US-Bundesregierung erließ 1942 die Executive Order 9066, kraft dessen circa 120.000 US-Bürger japanischer Herkunft in Konzentrationslagern (internement camps) untergebracht wurden. Der US Supreme Court bekräftigte anschließend in einem höchst umstrittenen Urteil die Verfassungsmäßigkeit dieser Anweisung.88 Sieht man davon ab, dass entlastendes Beweismaterial von der Regierung (Solicitor General Charles Fahy) systematisch unterdrückt wurde und dass Menschen nur wegen ihrer Zu-gehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe abgeschoben wurden, lässt sich eine autoritäre (d.h. contra reum-)Politik in Zeiten des Krieges herauskristallisieren. Ein einfacher Verdacht, der ausschließlich aus der ethnischen Herkunft resultiert, vermag eine de facto-Bestrafung herbeizuführen.89

Entnimmt man diesen Beispielen eine generische Struk-tur, so liegt folgender Satz nahe:

85 S.o. I. 2. 86 Ausführlich dazu Schild, Alte Gerichtsbarkeit, 2. Aufl. 1985, S. 8-40, insb. S. 20-24. 87 So Schild (Fn. 86), S. 22. 88 U.S. Supreme Court, Urt. v. 18.12.1944 – 323 US 214 (Korematsu v. United States). 89 Den Gedankengang der US-Regierung können wir so re-konstruieren: Prämisse 1: Es ist geboten, dass untreue Japano-Amerikaner während des Krieges isoliert werden. Prämisse 2: Das Militär kann die treuen von den untreuen US-amerikanischen Bürgern japanischer Abstammung nicht trennen. Konklusion: Es ist geboten, dass alle Japano-Amerikaner während des Krieges isoliert werden. Mehr dazu bei Meyerson, Political Numeracy, 2002, S. 34 ff.

„Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum Beweis ihrer Unschuld als schuldig.“

Darauf werde ich später (V.) eingehen. 5. Libertas oder securitas?

In beiden obigen Fällen gilt: im Zweifel gegen den Angeklag-ten/in dubio contra reum. Man kann festhalten, dass zwischen beiden Gegensätzen (pro reo und contra reum) ein still-schweigender Rechtssystemwechsel stattfindet. Primär geht es um eine andere Gewichtung zwischen den zwei wichtigs-ten Koordinaten der Kriminalpolitik: Freiheit und Sicherheit. Der (vermeintliche Grund-)Satz in dubio pro reo bzw. in dubio contra reum mag für diese politische Grundeinstellung eines Staates, scil. für die Auflösung des Dilemmas zuguns-ten der Freiheit oder der Sicherheit, informativ sein; eine positiv-rechtliche Funktion kommt ihm aus diesem Grund dennoch nicht zu. Bei diesen historischen Beispielen dreht es sich also um die Größen der „Freiheit“ (libertas) und „Si-cherheit“ (securitas) als die zwei denkbaren politischen Grund-einstellungen einer Rechtsordnung. Von der Annahme ausge-hend, dass Aufgabe moderner Strafrechtssysteme eine dop-pelte ist, nämlich a) die Kriminalitätseindämmung und b) der Schutz rechtstreuer Bürger, kommt man relativ schnell zu dem Schluss, dass es sich dabei um einen Gleichgewichts-punkt (trade-off) handeln soll.90 In der deutschsprachigen Literatur gilt jedenfalls als unumstritten, dass weder die abso-lute Sicherheit noch die absolute Freiheit Ziel eines Rechts-staates sein kann.91 Die Rede ist hier von den Koordinaten der jeweiligen Kriminalpolitik und des Normensystems, wel-ches sie umzusetzen hat.92 Solange wir nun davon ausgehen,

90 Nach Roberts/Zuckermann, Criminal Evidence, 2004, S. 355: „Governments confront structurally identical choices and dilemmas. In order to guarantee a high level of personal autonomy and security to its citizens, for example, govern-ments and citizens alike must accept some risk of wrongful conviction, given the practical constraints of human fallibility in decision-making and limited knowledge of what goes in the world“. 91 Siehe Bitzilekis, in: Paeffgen (Hrsg.), Strafrechtswissen-schaft als Analyse und Konstruktion, Festschrift für Ingeborg Puppe zum 70. Geburtstag, 2011, S. 1 (5). 92 Jede Diskussion, die im strafrechtlichen Diskurs geführt wird, ob zu den Grenzen des modernen Strafrechts oder zu seiner moralischen Legitimation, zur Zulässigkeit der Raster-fahndung o.ä., wird von einer begrifflichen Bedingung ab-hängig gemacht: jede Problematik lässt sich erst in Bezug auf diese beiden Koordinaten beschreiben und verstehen: Sicher-heit (S) und Freiheit (F). Konkret: Aus der Überbetonung einer Koordinate resultiert die Einbuße an der jeweils ande-ren. Sicherheitsmaßnahmen im Flughafenbereich z.B. bedeu-ten Einschränkungen in die Freiheit(ssphäre) der Passagiere. Wir werden erst dann dem Charakter des Strafrechts als an-gewandten Verfassungsrechts gerecht, wenn wir eine Erklä-rung dessen liefern, wie sich eine dogmatische Lösung auf die Variablen von Sicherheit und Freiheit bezieht. Erst das Erfassen der Grammatik des Strafrechts ermöglicht uns, sinn-

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dass Sicherheit ohne Freiheit eine blinde Strafanwendungs-maschinerie und Freiheit ohne Sicherheit ein leeres Wort ist, soll jede Kriminalpolitik ein den Grundvorstellungen jener Gesellschaft entsprechendes Gleichgewicht zwischen Freiheit und Sicherheit herstellen, d.h. den „logischen Ort“93 angeben, der nach Jakobs die „Visitenkarte“94 einer Gesellschaft aus-macht.

Ob nun eine Kriminalpolitik freiheits- oder sicherheits-ausgerichtet sein wird, ob die oben beschriebene Kollision eher zu Lasten oder zu Gunsten der rechtstreuen Bürger ge-löst werden soll, ist ureigener Gegenstand einer politischen Abwägung und Gesetzesgestaltung. Diese These bedarf einer Erklärung. In einem liberalen Staat wird dem Schutz der Rechte des Individuums Vorrang eingeräumt.95 Die Orientie-rungsfunktion und ihre pragmatische Voraussetzung, der Schutz der rechtstreuen Bürger, werden auf Kosten der Ver-brechensbekämpfung erfüllt. Diesen Grundgedanken bringt der US Supreme Court zum Ausdruck: „In every criminal case, society recognizes that it is for worse to convict an innocent man than to let a guilty man go free.“96 Diese steil asymmetrische Gewichtung zwischen dem Schutz der Gesell-schaft und dem Schutz des Individuums vor unberechtigten Strafen, nämlich der Verzicht eher auf die Befriedungs- als auf die Orientierungsfunktion, bringt eindeutig zum Aus-druck, dass es eines der fundamentalsten Prinzipien unseres Strafverfahrens ist, das Risiko zu minimieren, dass einem rechtstreuen Bürger eine Strafe verhängt wird.97 Es liegt allerdings auf der Hand, dass es sich dabei nur um die eine Seite der Medaille handelt. Das Risiko zu minimieren heißt noch lange nicht, es völlig auszuschließen. Für einen autorita-tiven Staat kann man die obige Argumentation freilich auf den Kopf zu stellen. Wird mehr Wert auf die innere Sicher-heit gelegt, so soll das Strafrecht als Kampfinstrument aufge-rüstet und die Befriedungsfunktion auf Kosten der Orientie-rungsfunktion erfüllt werden. 6. In dubio pro reo als politische Deklaration?

Wie sich ein Rechtssystem im Spannungsfeld zwischen Frei-heit und Sicherheit positioniert und folglich, ob es freiheits- oder sicherheitsausgerichtet ist, erfahren wir – so eine mögli-che Rekonstruktion der h.M. – spätestens dadurch, ob der Satz „in dubio pro reo“ oder „in dubio contra reum“ gilt.

voll und effektiv miteinander zu reden. Bezieht man Stellung zu Sinn und Zweckmäßigkeit der Bestrafung etwa der unter-lassenen Hilfeleistung, ohne dabei deren These an die Grund-lage dieses Koordinatensystems anzusiedeln, so sind wir nicht in der Lage, seiner Argumentation zu folgen. 93 Siehe Wittgenstein, Tagebücher 1914-1916, Werkausgabe Bd. 1, 1984, S. 89-187, Eintrag von 19.11.1914: „Der Satz und die logischen Koordinaten: das ist der logische Ort.“ 94 Jakobs, ZStW 107 (1995), 844 (846). 95 Grundlegend Roberts/Zuckerman (Fn. 90), S. 329 ff. 96 U.S. Supreme Court, Urt. v. 31.3.1970 – 397 US 358 (In Re Winship, Harlan J. concurring). 97 Grundlegend dazu Roberts/Zuckerman (Fn. 90), S. 17 f., die dies für eines der fünf fundamentalen Prinzipien des Be-weisrechts im Strafverfahren halten.

Denn der Status eines Bürgers, dem eine Straftat vorgeworfen wird, sei zweifelsohne für den Charakter eines einzelnen Rechtsstaates informativ. Besser formuliert: die sog. „Rechts-folgenauswirkung“ pro oder contra reum mache einen großen Teil jener „Visitenkarte“, von welcher vorher die Rede war, aus. Damit kommen wir zu einem m.E. einfachen und doch lange vernachlässigten Punkt. Der Satz „in dubio pro reo“ wirkt insofern für die politische Orientierung eines Rechts-staates nicht konstituierend, als er nicht positiviert wird. Sucht man nach einem Sprechakt, der festlegen würde, ob mehr Wert auf Freiheit oder Sicherheit gelegt und damit ob dem Angeklagten der default-Status des Schuldigen oder des Unschuldigen eingeräumt wird, dann kommt man m.E. an der Unschuldsvermutung nicht vorbei. Im zweiten Fall (sicher-heitsausgerichtete Staaten) gilt eine Schuldvermutung. Falls der Richter von der Unschuld des Angeklagten nicht über-zeugt wird, dann soll er ihn verurteilen (weil er schon für schuldig vermutet wurde). Im ersten Fall (freiheitsausgerich-tete Staaten)98 gilt die Unschuldsvermutung: Der Angeklagte soll, falls der Richter von seiner Schuld nicht hinreichend überzeugt wird, freigesprochen werden. Das heißt, die Un-schuldsvermutung und nicht der in dubio pro reo-Satz ver-sieht den Angeklagten mit einer default-Berechtigung. Außer wenn der gesetzliche Beweis erbracht wird, hat der Ange-klagte einen im Gesetz verankerten Anspruch darauf, freige-sprochen zu werden. Wie Montenbruck treffend bemerkt, impliziert der Richter, der den Satz „im Zweifel für den An-geklagten“ heranzieht, dass er dem Angeklagten „eine Gunst im Sinne einer Gnade gewährt“, da er zugunsten des Ange-klagten entscheidet.99 Wenn dem in dubio pro reo-Satz über-haupt eine Funktion zukommen kann, dann wäre diese von rechtspolitischer Natur. Im einen Fall (pro reo) würde er signalisieren, dass nicht der Freiraum, sondern die Eingriffe in die Freiheitssphäre des Bürgers einer Legitimation bedür-fen. Im anderen Fall (contra reum) das Gegenteil, nämlich dass der Freiraum und nicht der Eingriff in die Freiheitssphä-re einer Legitimation bedarf. Damit haben wir aus rechtswis-senschaftlicher Sicht noch keinen zweiwertigen archimedi-

98 Für eine liberale Gesellschaft gilt spätestens seit Platon, Gorgias, 469c.1-2, dass das Unrecht leiden besser ist als das Unrecht tun; ähnlich ders. (a.a.O.), 527b. Dass es sich dabei um die zwei Seiten der Medaille handelt, erzählt uns schon Ammianus Marcellinus (Rerum Gestarum, L.XVIII): „Nume-rium Narbonensis paulo ante rectorem accusatum ut furem inusitatocensorio vigore pro tribunali palam admissis volenti-bus audiebat, qui cuminfitiatione defenderet obiecta, nec posset in quoquam confutari, Delphidiusorator acerrimus vehementer eum inpugnans documentorum inopia percitu-sexclamavit ,ecquis, florentissime Caesar, nocens esse poterit usquam si negaresufficiet?‘ contra quem Iulianus prudenter motus ex tempore ,ecquis‘ ait ,innocens esse poterit si accusasse sufficiet?‘. et haec quidem et huius modimulta civilia“. 99 Montenbruck (Fn. 11), S. 61: „Der Angeklagte hat ein Recht auf den Freispruch bzw. die mildere Bestrafung, er bedarf keiner Gunsterweisung“.

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schen Punkt, der uns darüber Auskunft gibt, welchen default-Status der Angeklagte hat. IV. Exkurs in die default-Logik

1. Grammatisch-logische Rekonstruktion

Bisher wurde gezeigt, dass die Geltungsbedingungen des „populären“ in dubio pro reo-Satzes alles andere als unum-stritten sind. Man sollte jedoch das Phänomen des kognitiven Konservatismus nicht unterschätzen. Wie Montenbruck es mit hoher Präzision auf den Punkt gebracht hat: „Vulgärrecht ist bequem“.100 Und sobald man sich an eine Konstruktion gewöhnt hat, tut man sich schwer, auf sie zu verzichten. Denn die Ursache des ganzen Ärgers ist es gewesen, welche Ur-teilsgrundlage einem Freispruch zugrunde liegen soll.101 Der in dubio pro reo-Satz, über dessen Inhalt die Juristen sich nach wie vor skeptisch äußern, hat uns geradezu eine beque-me und im obigen Sinne vulgärrechtliche Lösung geliefert. Dazu braucht man allerdings keine „neue“ (Meta-)Norm heranzuziehen. Unsere „Probleme werden gelöst, nicht durch Beibringen neuer Erfahrung, sondern durch Zusammenstel-lung des längst Bekannten“.102 Ähnlich werde ich im Folgen-den zeigen, wie man sich im Wesentlichen auf drei Normen (Art. 103 Abs. 2 GG in Verbindung mit § 2 StGB, § 261 StPO, Art. 6 Abs. 2 EMRK) zu konzentrieren hat, um etwai-ge freisprechende Urteile begründen zu können. 2. Zum Art. 103 Abs. 2 GG

Nach Art. 103 Abs. 2 GG kann eine Tat nur dann bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Käme ein juristischer Akteur auf die Idee, diese Vorschrift auf das Prinzip nulla poena sine lege praevia zu reduzieren, kontrapunktierte ihn die Strafrechts-dogmatik mit ihrem Systematisierungserfordernis. Die Regel „keine Strafe ohne Gesetz“ (Art. 103 Abs. 2 GG) findet, so u.a. Stree,103 im prozessualen Bereich ihre Ergänzung bzw. Vervollständigung in dem Satz „keine Strafe ohne Tat- und Schuldnachweis“.104 Nach ständiger Rechtsprechung genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichender Glaubensgrad, demgegenüber vernünftige Zweifel nicht mehr aufkommen.105 Als Grundlage für jegliche Sachentscheidung dient nach § 261 StPO das, wovon der Richter auf Grund des sog. Kern-stücks der Hauptverhandlung,106 der Beweisaufnahme, hin-reichend überzeugt ist. Damit sind wir also bei der wohl zentralen Vorschrift jeder Strafprozessordnung (§ 261 StPO):

100 Montenbruck (Fn. 11), S. 199. 101 Siehe u.a Frisch (Fn. 1), S. 279; der, wie früher gezeigt, die Frage stellt: „Kann der Richter den A in dieser Situation nur ohne Weiteres freisprechen“? Diese Frage lautet im Grunde: Welche Norm kann als Entscheidungsgrundlage des Freispruchs dienen? 102 Wittgenstein (Fn. 56), § 109. 103 Stree (Fn. 36), S. 18. 104 Zur Problematik des „nulla poena sine culpa“-Prinzips als Verfassungsgrundsatz siehe BVerfGE 20, 323. 105 BGH VRS 24 (1963), 207 (210); BGH NStZ 1988, 236. 106 So Kühne (Fn. 9), Rn. 751.

„Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhand-lung geschöpften Überzeugung.“ Zu betonen sei hier die Exklusivität der strafrichterlichen Schuldfeststellung, bzw. das richterliche Kognitionsmonopol.107 Der Tatrichter und kein anderer wird ermächtigt, einen Tatverdacht durch eine gerichtliche Feststellung zu bestätigen oder den Angeklagten freizusprechen. Darin besteht der Inbegriff des Systems der freien Beweiswürdigung: Es kommt für die Schuldfrage allein darauf an, ob der Tatrichter die Überzeugung von ei-nem bestimmten Sachverhalt erlangt hat oder nicht. Die sich aufdrängende Frage lautet: Welcher Art ist diese zu treffende Entscheidung? Von der Arbeitsdefinition ausgehend, der zu-folge der Begriff „Entscheidung“ im allgemeinen Sprachge-brauch vor allem dann angewendet wird, wenn ein Wahlprob-lem von besonderer Bedeutung vorliegt,108 lässt sich fragen: Was sind die möglichen Ausgänge dieses Wahlproblems? 3. Über Entscheidungen im engeren und im weiteren Sinne

Auf den ersten Blick könnte die Antwort auf die oben gestell-te Frage folgendermaßen ausfallen: Die Arbeit des Tatrichters ähnele der Arbeit des Historikers und dieses gemeinsame Element hänge notwendigerweise mit den zu treffenden Ent-scheidungen, als Ergebnis einer ähnlichen Vorgehensweise, zusammen. Betrachten wir nun die geschichtswissenschaftli-che Praxis näher. Die Aufgabe der Historiker ist zum einen die Verifikation von Tatsachen, d.h. die Prüfung der Tatsäch-lichkeit einer Hypothese, und zum anderen deren Interpreta-tion109 im Rahmen des jeweiligen historischen Kontextes. Daraus ergibt sich, dass die Herangehensweise beider Be-rufsgruppen immer auf ein Urteil hin orientiert ist.110 In des-sen Inhalt besteht gerade der erste grundlegende Unterschied. Der Tatrichter soll anders als die Historiker eine Entschei-dung im engeren Sinne treffen. Mangels ausreichender Be-weise soll er den Angeklagten freisprechen. Tertium non datur.111 Kann also der Tatrichter trotz Ausschöpfung der vorhandenen Beweismittel die Überzeugung von einem be-stimmten Geschehensablauf nicht gewinnen, so darf er der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung nach dem An-geklagten keine ungünstige Entscheidung zugrunde legen.112 Für den Historiker hingegen wäre das (vorläufige) Urteil, dass seine Hypothese noch nicht mit guten Gründen unter-mauert (verifiziert) sei, ein durchaus akzeptables Erkenntnis-resultat.113 In diesem (engen entscheidungstheoretischen) Sinne hat der Historiker über nichts zu entscheiden.114 Bei

107 So Stuckenberg, ZStW 111 (1999), 422 (426). 108 So Laux, Entscheidungstheorie, 8. Aufl. 2012, S. 1. 109 Dazu Sellin, Einführung in die Geschichtswissenschaft, 2. Aufl. 2008, S. 36 f. 110 Siehe auch Jabloner, ÖZG 2005, 111 (118). 111 Die geltende Rechtsordnung verbietet Institutionen wie die absolutio ab instantia oder die poena extraordinaria. 112 So die weichenstellende Entscheidung des BGHSt 10, 208. 113 Siehe hierzu Mitsopoulos, in: Gottwald (Fn. 55), S. 337 (342). 114 Siehe auch Stübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht, 2008, S. 527 f. m.w.N.

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der Geschichtswissenschaft – anders als bei der Sachverhalts-feststellung – handelt es sich nicht um ein Teilgebiet der Entscheidungstheorie.115

Dem Tatrichter stehen also zwei Alternativen zur Verfü-gung: Ist er nicht von der Schuld des Angeklagten überzeugt und zwar binnen angemessener Frist (Art. 6 Abs. 1 EMRK), dann soll er ihn freisprechen: „Absence of proof“ kann in diesem Sinne als „proof of absence“ verstanden werden. Dem strafverfahrensrechtlichen, steil-asymmetrischen Beweiskrite-rium wird die Symmetrie des Bestätigungsgrades einer histo-rischen Hypothese gegenübergestellt. Um mit Chambers zu sprechen: „Criminal trials are one sided searches for the truth that answer one question: Is the defendant certainly guilty? If the answer is yes, the defendant is convicted; if the answer is […] possibly or anything other than an equivocal yes, the defendant is acquitted.“116 Der Historiker kann freilich, ohne zeitliche Begrenzung, nach neuem Material suchen, das diese Hypothese stützt: „Absence of proof“ heißt hier noch lange nicht „proof of absence“. Der Beweiswürdigungsprozess ist hier symmetrisch. Eine Hypothese kann als gut oder weniger gut begründet gelten oder gar verworfen werden. Während Historiker sich also bei der Verifizierung einer Hypothese enthalten dürfen, sind die Tatrichter verpflichtet, ein Urteil zu fällen. Die einzige Frage lautet, ob das Beweiskriterium er-füllt wurde. Wenn dies der Fall ist, wird ein verurteilendes Urteil gefällt; ansonsten muss der Angeklagte freigesprochen werden.117 4. Die Unschuldsvermutung als Katalysator des § 261 StPO

Ich habe oben versucht, den Unterschied zwischen Entschei-dungen im engeren und weiteren Sinne an dem Beispiel des Unterschiedes zwischen den Erkenntnisvorgängen bei Tat-richtern und Historikern zu veranschaulichen bzw. festzule-gen. Worauf ist allerdings dieser Unterschied zurückzuführen? Was verleiht dem beweisanalytischen Vorgang des Tatrich-ters seinen asymmetrischen Charakter? Wie bereits am Rande der Diskussion erwähnt, entfaltet im Art. 6 Abs. 2 EMRK die Unschuldsvermutung ihre Normativität, indem sie, anders als bei Historikern, die Nicht-Verurteilung dem Freispruch gleichsetzt. Darauf hat Krauß hingewiesen, als er ausführte, dass im Strafprozess nicht Wahrheit festgestellt (jedenfalls nicht so, wie sie der Historiker versteht), sondern dass ein

115 Das Interesse der Historiker besteht im Gegenteil darin, eine Hypothese zu überprüfen und eventuell als verifiziert an-zunehmen. Gelingt ihnen das nicht, können sie freilich weiter suchen. Anders formuliert: Versteht man die historische For-schung als eine sich über mehrere Jahre hinweg erstreckende Tätigkeit, kontrapunktiert das Recht mit der Dringlichkeit der Entscheidung. Nach Sellin (Fn. 109), S. 30, ist die Geschichts-wissenschaft eine kollektive Anstrengung, die einem offenen Diskurs ähnelt, bei dem jedes Plädoyer das andere ablöst. Ausgerechnet dieser Parameter wäre für die Strafjustiz und ihre wichtigste Institution, die Rechtskraft, vernichtend. 116 Chambers, Marquette Law Review 81 (1998), 657. 117 Dies erklärt, aus welchem Grund sinnvoller Weise nicht die Rede von einem non-liquet im Strafverfahren sein kann.

Urteil gefällt wird.118 Die Unschuldsvermutung dynamisiert den tatrichterlichen Erkenntnisvorgang und schreibt dem Tatrichter vor, dass nicht darüber entschieden werden soll, ob der Angeklagte ein rechtstreuer Bürger ist oder ob es zwei-felhaft ist, dass er die ihm vorgeworfene Tat begangen hat etc. Das einzige, was im Fokus der Hauptverhandlung liegen darf und soll, ist die Klärung der zweifelsfreien Schuld des Angeklagten. Erst durch die Unschuldsvermutung sind die Begriffe Schuld und Unschuld nicht (einfach) konträr, son-dern kontradiktorisch. Wie gezeigt wurde: Ein Historiker, der eine Hypothese (noch) nicht bejahen kann, soll sie trotzdem nicht ohne weiteres verneinen. Im Gegenteil dazu: Ein Tat-richter, der die relevanten Zweifel nicht ausräumen und daher dem Angeklagten rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten nicht zurechnen kann, hat die Annahme der Unschuld des Angeklagten aufrechtzuerhalten.119 5. Zum Begriff der Anfechtbarkeit

Es wäre also keine schlechte Idee, unsere ganze Aufmerk-samkeit auf die Unschuldsvermutung zu lenken, um die Mög-lichkeit einer Freispruchsbegründung zu erforschen. Denn es ist mit Rosenberg festzuhalten, dass nirgends eine solche Sprachverwilderung wie in der Lehre von Vermutungen herrscht.120 Um dieses Defizit zu überwinden wird im Fol-genden dem Begriff der Anfechtbarkeit nachgegangen, um anschließend deren Hauptelement, die anfechtbaren Struktu-ren, für die Unschuldsvermutung fruchtbar zu machen. H.L.A Hart lenkte 1949 mit seinem weichenstellenden Paper „The Ascription of Responsibility and Rights“ die Aufmerksamkeit der juristischen Community auf die Funktion der Konjunkti-on „unless“ (dt. „es sei denn“) – ein Terminus, der übrigens in fast jeder natürlichen Sprache zu finden ist.121 Hart wies dadurch auf ein besonderes Merkmal juristischer Konzepte hin: die Funktion der „defeaters“, die die anfechtbare Struktur einer Aussage/Norm in Gang zu setzen vermögen.122 Nehmen wir ein Beispiel an. Nach § 1592 Nr. 1 BGB wird ein wäh-rend einer Ehe geborenes Kind vom Gesetz dem Mann zuge-ordnet, der zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes mit der

118 Siehe Krauß, in: Grünwald (Hrsg.), Festschrift für Fried-rich Schaffstein zum 70. Geburtstag am 28. Juli 1975, 1975, S. 411 (413). Damit beantwortet Krauß selbst die von ihm gestellte rhetorische Frage, ob etwa der Jurist die Feststellung „historischer“ und „objektiver“ Wahrheit so schlecht betreibe, oder ob es ihm bei der Tatsachenfeststellung um etwas ganz anderes als die aristotelische „adaequatio rei et intellectus“ gehe. 119 Vgl. § 190 S. 2 StGB: „Der Beweis der Wahrheit ist dage-gen ausgeschlossen, wenn der Beleidigte vor der Behauptung oder Verbreitung rechtskräftig freigesprochen worden ist.“ Dazu nur Zaczyk, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 2, 4. Aufl. 2013, § 190 Rn. 3. 120 Rosenberg, Die Beweislast, 3. Aufl. 1953, S. 199. 121 Hart, Proceedings of the Aristotelian Society 49 (1948-1949), 171. 122 Belzer/Loewer, in: Nute (Hrsg.), Defeasible Deontic Logic, 1997, S. 45 (46).

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Mutter verheiratet ist. Wir schließen, dass für diese anfecht-bare123 Vermutung nicht der biologische Nachweis der Vater-schaft, sondern minimale Bedingungen (hier: wirksame Ehe) erfüllt werden sollen.124 Als Vater gilt also der Ehemann, es sei denn, die im Gesetz vorgeschriebenen Bedingungen lie-gen vor.

Die Einsicht Harts, dass nämlich unsere Sprache Kon-junktionen enthält, die anfechtbare (widerlegliche) Strukturen darstellen, hat der Logik und vor allem der Künstlichen Intel-ligenz wichtige Impulse gegeben, neue Wege für die Reprä-sentation menschlichen Wissens zu finden.125 Reiter schlug vor, dass wir unter gewissen Umständen berechtigt sind, von dem Regelfall auszugehen, ohne bejahen zu können, dass die Alternative nicht der Fall ist. Default-Logik formalisiert also das Ziehen von Schlüssen ohne Belege, wenn Gegenbelege nicht vorhanden sind. Unter bestimmten Bedingungen, d.h. wenn minimale Kriterien (z.B. Ehe) erfüllt werden, kann also der Regelfall bejaht werden, es sei denn, bestimmte Bedin-gungen liegen vor, die die Zurechnung anfechten. Wenn wir beispielsweise wissen, dass Tweety ein Vogel ist, dann dür-fen wir daraus schließen, dass Tweety fliegen kann. Man beachte, dass wir nicht wissen, ob Tweety fliegen kann. Wis-sen verfügen wir nur über die default-Bedingung, dass Tweety ein Vogel ist, und dass dies mit der Information kompatibel ist, dass Vögel generell fliegen können. Wir las-sen also zu, dass Tweety by default fliegen kann. Formal dargestellt:

Vogel (T): Mfliegen (T) Fliegen (T)

Diese Formel besagt: Wenn Tweety (T) ein Vogel ist und es konsistent ist zu glauben (M), dass Vögel fliegen können, dann sind wir in der Annahme epistemisch berechtigt, dass Tweety fliegen kann. Das minimale Kriterium, das erfüllt werden muss, ist (nur) die Eigenschaft eines Vogels. Dies befeuert die default-Annahme, dass Tweety fliegen kann. Das heißt allerdings nicht, dass diese Annahme unwiderlegbar ist. Unsere default-Annahme wird immer dann widerlegt, wenn wir Wissen um das Vorhandensein der in einer Ausnahme-menge (Σdefeaters) enthaltenen defeaters besitzen.

Beispiel: Für Σdefeaters: {Strauß, Pinguin} (T). Pinguin (T) ⊃⊃⊃⊃ Fliegen (T) (T). Strauß (T) ⊃⊃⊃⊃ Fliegen(T)

123 Es soll hier erwähnt werden, dass im Gesetzestext auch unwiderlegbare Vermutungen enthalten sind, wie z.B. im § 1566 BGB: „Es wird unwiderlegbar vermutet, dass die Ehe gescheitert ist, wenn die Ehegatten seit einem Jahr getrennt leben und beide Ehegatten die Scheidung beantragen oder der Antragsgegner der Scheidung zustimmt.“ 124 Man beachte, dass z.B. die häusliche Gemeinschaft oder das Bestehen einer nichtehelichen Gemeinschaft nach h.M. nicht zur rechtlichen Vaterschaft reichen; denn diese Gemein-schaftsformen dürfen nicht als minimale Bedingungen ange-sehen werden. 125 Reiter, Artificial Intelligence 13 (1980), 81.

Die default-Annahme (vermutete Tatsache) wird also beim Vorliegen eines defeaters widerlegt. Das oben angeführte Beispiel mag den einen oder anderen traditionell denkenden Juristen verwundern. „Haben es die Juristen mit Normen oder mit Vögeln zu tun?“ könnte man sich fragen. Und doch han-delt es sich bei den Beispielen weder um Vögel noch um Normen. Denn Beispiele dienen einfach dazu, die zugrunde liegende logische Struktur unserer Schlussfolgerung, nämlich die formalen Strukturen hinter der natürlichen Semantik im Vordergrund erscheinen zu lassen. Ich behaupte, dass die default-Logik für die Vermutungslehre fruchtbar gemacht werden kann und soll.126 Oben wurde das Beispiel des § 1592 Nr. 1 BGB erwähnt. In der Terminologie der default-Logik können wir davon ausgehen, a) dass die Ehe das minimale Kriterium ist, das erfüllt werden muss, b) dass es nach § 1592 BGB kompatibel127 ist zu glauben (M), dass der Mann A, der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes (K) verheiratet ist, dessen Vater ist und c) dass § 1599 BGB die zulässigen defeaters enthält (Σdefeaters: § 1599 Abs. 1, Abs. 2 BGB), die die vermutete Tatsache (Vaterschaft) widerlegen können. Formal repräsentiert:

Verheiratet (A): MVaterschaft (A) Vaterschaft (A)

(A). § 1599 Abs. 1 BGB (A) ⊃⊃⊃⊃ Vaterschaft (A) (A). § 1599 Abs. 2 BGB (A) ⊃⊃⊃⊃ Vaterschaft (A)

a) Zur default-Struktur der Unschuldsvermutung

Oben (III.) wurde gezeigt, dass es sich in jedem Rechtsstaat – ob autoritär oder (politisch) liberal – um eine fundamentale politische Entscheidung handelt, ob dem Angeklagten der default-Status des Schuldigen oder Unschuldigen eingeräumt wird. Das stellt m.E. den archimedischen Punkt für jedes Rechtssystem dar: ob der Freiraum oder aber die Eingriffe in die Freiheitssphäre des Bürgers einer Regelung, einer Legi-timation bedürfen. Dieses theoretische Dilemma löst im gel-tenden Recht (spätestens) die Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK), die vorschreibt:

„Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig.“

Man könnte allerdings einwenden, dass die Unschuldsvermu-tung keine default-Struktur aufweist. Denn die Termini „bis zum“ („until“, „jusqu’à ce que“) stellen anscheinend eine Temporalangabe dar: Der Angeklagte gilt bis zum Nachweis seiner Schuld als unschuldig. Es lässt sich allerdings auch schwer bestreiten, dass das Strafverfahren sowie das ab-schließende Strafurteil als ein sich im Zeitablauf vollziehen-der Prozess128 aufzufassen sind. Entscheidungen oder gar ein

126 Ausführlich dazu Kotsoglou, Netherlands Journal of Legal Philosophy (2014 – im Erscheinen). 127 Der Einfachheit halber formalisiere ich hier nicht mithilfe einer default deontischen Logik. 128 Laux (Fn. 108), S. 8.

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Strafverfahren erstrecken sich zweifellos in Zeit. Dies den-noch zu thematisieren, wäre nichts anderes als eine nicht erwähnenswerte alltägliche Trivialität. Man verlöre das We-sentliche aus den Augen, wenn man sich auf das Zeitelement konzentrierte. Deswegen wird hier behauptet, dass die Un-schuldsvermutung sich ohne jegliche Änderung ihrer Seman-tik so umschreiben lässt:129

„Der Angeklagte ist als unschuldig zu behandeln, es sei denn der Nachweis der Schuld wird gesetzlich erbracht.“

Der Angeklagte wird demgemäß als unschuldig behandelt und freigesprochen, es sei denn der gesetzliche Richter ist von seiner Schuld (hinreichend) überzeugt. Erst dann wird der Richter ermächtigt, den default-Status der Unschuld, wel-chen Art. 6 Abs. 2 EMRK dem Angeklagten einräumt, als widerlegt zu erklären und dementsprechend zu beseitigen. Mithilfe der oben skizzierten anfechtbaren Struktur können wir die Unschuldsvermutung formal darstellen, um ihren nor-mativen Inhalt zu beleuchten.

Angeklagter (A): MUnschuldig (A) Unschuldig (A)

Für Σdefeaters: {§ 261 StPO} (A). § 261 StPO (A) ⊃⊃⊃⊃ Unschuld (A)

Diese anfechtbare Struktur bringt Ullman-Margalit auf den Punkt: „Given that p is the case, you shall proceed as if q [Unschuld] were true, unless or until you have (sufficient) reason to believe that q is not the case.“130 Ins Strafprozess-rechtsdogmatische übersetzt: das minimale Kriterium (default-Bedingung), das erfüllt werden soll, ist die Inkulpation einer Person, und der einzige Grund (defeater), der die vermutete Tatsache (nicht aber die Vermutung selbst) anfechten kann, ist der gesetzliche Nachweis (Beweis jenseits vernünftiger Zweifel).131 V. Zur Anwendbarkeit von Menschenrechten

1. Zu einer Freispruchsdogmatik

Die Frage, die traditionellerweise von der juristischen Com-munity gestellt wird, nämlich was ein Grundsatz „wirklich“

129 Auf die default-Struktur der Unschuldsvermutung sowie jeder (Rechts-)Vermutung haben seit längerer Zeit die Logi-ker hingewiesen. Horty, in: Nute (Hrsg.), Defeasible Deontic Logic, 1997, S. 27, bemerkt „the presumption of innocence in a legal system is a kind of default that overrides probabilistic considerations: even if the most salient reference class to which an individual belongs is one among which the propor-tion of criminals is very high, we are to presume that he has committed no crime unless there is conclusive evidence to the contrary“. Ähnlich Ullmann-Margalit, Journal of Philosophy 80 (1983), 147. 130 Ullman-Margalit, Journal of Philosophy 80 (1983), 147. 131 Das ist der Fall, wenn der epistemische Agent die kontext-relevanten Zweifel auszuräumen epistemisch in der Lage ist.

ist, ist rettungslos nebulös. Genauso wie Worte kein Wesen, sondern eine Funktion in der Sprache haben oder Schachfigu-ren nur durch ihre Funktion definiert werden können, stellt die Frage nach dem „Wesen“ eines rechtlichen Grundsatzes einen unzulässigen Zug in einem Normenspiel dar.132 Der damit aufgedeckte Essentialismus sollte uns nicht länger be-schäftigen, da seine Leistungsfähigkeit im Vergleich zu den Ergebnissen der hier unternommenen Begriffsexplikation sehr gering ist. Jedenfalls: Da es sich bei dem in dubio pro reo-Satz um keine positiv-rechtliche Norm handelt, bleibt die zweite und m.E. letzte Option übrig, ihm die Funktion eines logischen Prinzips zuzurechnen. Diese Untersuchung hat jedoch gezeigt, dass diese Vorgehensweise das Problem nur verschieben kann. Der in dubio pro reo-Satz, da er die Mög-lichkeit eines von jedem Zweifel ausgeräumten Wissensan-spruchs voraussetzt, weist eine äußerst schwache analytische Funktion auf. Er steht mit der Dogmatik des § 261 StPO nicht im Einklang.

Dem Tatrichter stellt der Gesetzgeber das positiv-recht-liche Instrumentarium bereit, durch Heranziehung des § 261 StPO in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 EMRK, seinen Frei-spruch als sachliche Entscheidung zu begründen. Der Satz „in dubio pro reo“ als „Rechtsprinzip“ oder als „Metarechtsnorm“ – der angeblich dem Tatrichter verhelfe, zwischen Norm und negativer Ergänzungsnorm zu entscheiden – ist überflüssig. Solange der Tatrichter die widerlegliche Struktur der Un-schuldsvermutung begreifen kann, d.h., solange er die regel-geleitete Verwendung (= Bedeutung) der Wörter „nur“ und „es sei denn“ sprachlich zu verstehen in der Lage ist, kann er sich des logisch-dogmatischen Apparates der hier skizzierten Freispruchsdogmatik bedienen. Der Bürger braucht auf der anderen Seite weder Gnade noch einen Richter, der zu seinen Gunsten handelt. Es handelt sich bei dem Freispruch nicht um eine Geste, die der Richter nach Gutdünken gewährt. Vielmehr hat der Angeklagte einen im Gesetz verankerten „grundrechtlichen Freiheitsanspruch gegenüber dem Staat“.133 Jegliche Debatte über Tatrichter, die angeblich Rücksicht auf die Interessen des Angeklagten bzw. dessen (positivierten) Rechte nehmen sollen, desavouiert das Strafverfahren. Denn hierdurch wird der Versuch unternommen, geltende Normen durch Konstruktionen wie den in dubio pro reo-Satz zu erset-zen, die aufwendig, teilweise widersprüchlich und inkonsis-tent sind sowie jeglicher analytischen Funktion entbehren. Der Freispruch des Angeklagten ist also nicht der Gunstbe-weis eines gnädigen Richters, sondern dasjenige Urteil, das den default-Status des Angeklagten immer dann aufrechter-hält, wenn der Tatrichter von seiner Schuld nicht hinreichend überzeugt ist – und das ist genau dann der Fall, wenn er epis-temisch nicht in der Lage ist, all die kontext-relevanten (ver-nünftigen) Zweifel auszuräumen und wiederum einen Wis-sensanspruch zu erheben.134 Die Missachtung einer positiv-rechtlichen Norm wegen der Anwendung eines „nirgendwo verankerten“, mysteriösen Natur-Grundsatzes, stellt einen

132 Wittgenstein (Fn. 56), § 205. 133 BVerfGE 17, 306; 19, 342. Siehe auch Montenbruck (Fn. 11), S. 186 ff. 134 Dazu Kotsoglou, Law Probability and Risk 2013, 291 f.

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unzulässigen Zug im Normenspiel derjenigen Rechtsordnun-gen dar, in welcher die EMRK gilt.

Ich habe hier versucht, die Auslegungsmöglichkeiten der Unschuldsvermutung durch Überprüfung von deren gramma-tisch-logischer Struktur und durch Beachtung der normativen Verästelungen der komplementären Normen der deutschen Rechtsordnung zu beleuchten – d.h.: indem ich analytische (Strafprozessrechts-)Dogmatik betrieben habe. Aus diesem Grund lässt sich behaupten, a) dass die Skepsis u.a. Stucken-bergs, der der Auffassung ist, dass die „unscharfe Fassung“ des Art. 6 Abs. 2 EMRK keine Interpretationshilfe biete,135 mir unberechtigt zu sein erscheint, und b) dass mit Hilfe des Instrumentariums einer analytischen Dogmatik den Rechts-anwendern eine Repräsentationsform der Freispruchsdogma-tik bereitgestellt wird, die schablonenhaft funktionieren und einen individuellen Freispruch rechtsfehlerfrei begründen kann. 2. Menschenrechte ernst genommen

Die Frage, die von der Rechtsprechung und einem ganz überwiegendem Teil der Literatur gestellt wird (nämlich wie ein Tatrichter einen Freispruch zu begründen hat bzw. welche Gründe seinen Freispruch tragen sollen) ist vor allem deshalb unsinnig, weil deren möglichen Antworten keine Funktion zukommt. Sie ähnelt der Frage eines Kindes (dessen Mutter die Norm setzt: „Du sollst in deinem Zimmer bleiben und deine Hausaufgaben machen, es sei denn, die Sonne scheint“) was es denn tun soll, falls die Sonne nicht scheint.136 In je-nem Fall, wird selbstverständlich seine Mutter ihm erklären: a) was die Bedeutung von „nur dann wenn“ oder „es sei denn“ ist bzw. was es eigentlich heißt, dass Lernen und Spie-len einen kontradiktorischen Gegensatz bilden, und b) dass das Kind grundsätzlich lernen soll. Lernerei ist auch in die-sem Fall mit einem default-Status versehen. Die Mutter des Beispiels wird ihrem Kind mühelos die natürliche Sprache durch die Verwendung unzähliger Sprachspiele beibringen. Anders als bei der Familie unseres Beispiels kann hier davon ausgegangen werden, dass Erwachsene und allen voran Juris-ten als kompetente Nutzer der Sprache eine solche Erklärung nicht benötigen.137 Sie sind in der Lage, die Bedeutung bzw.

135 Stuckenberg, ZStW 111 (1999), 422 (459). 136 Hier wird angenommen, dass einem Kind K zwei episte-mischen Welten entsprechen: W1 (Spielen im Hof) und W2 (Lernen im Arbeitszimmer). Seine Mutter, die sich Sorgen um seine Zukunft sowie um seine Gesundheit macht, legt mehr Wert auf die Bildung ihres Sohns als auf das Spielen. Deswegen stellt sie die default-Norm. 137 So bereits Montenbruck (Fn. 11), S. 75: „Fragt der Bürger den Rechtskundigen nach der voraussichtlichen Entscheidung der Gerichte für Sachverhalte, die der Gesetzgeber nicht ge-regelt hat, so genügt es, dass der Rechtskundige für das mate-rielle Strafrecht schlicht auf Art. 103 Abs. 2 GG bzw. § 1 StGB hinweist: Nur in denjenigen Fällen, in denen die Straf-barkeit vorher gesetzlich bestimmt ist, darf der Täter verur-teilt werden. Etwas anderes gilt allein in den Fällen, in denen eine Analogie (zu seinen Gunsten) zu ziehen ist. Fragt der Bürger als Laie weiter, wie ,im Zweifel‘ zu entscheiden sei,

die anfechtbare Struktur von „nur“ (Art. 103 Abs. 2 GG) und „bis zum“ (Art. 6 Abs. 2 EMRK) zu verstehen.

Die moderne Strafprozessrechtsdogmatik ist zwischen dem Hammer der theorie-scheuen Praxis und dem Amboss derjenigen, die sich formal-logischer Sprachen zum Zwecke der Urteilsbegründung bedienen,138 geraten. Der hier präsen-tierte Ansatz schlägt jenseits von begrifflichen Verwirrungen und Subrationalität einerseits und problematischer Anwen-dung logischer, entscheidungstheoretischer Ansätze anderer-seits, einen dritten Weg vor: denjenigen einer analytisch fun-dierten strafprozessrechtlichen Dogmatik, die Ausschau nach anschlussfähigen Ansätzen in den Nachbarwissenschaften hält – und dies, ohne dabei ihren Untersuchungsgegenstand, nämlich das positive Recht, aus dem Auge zu verlieren.

Die Einsicht in das grammatisch-logische Geflecht unse-rer Sprache hat uns gezeigt, dass wir mit guten Gründen unsere Grundintuition nicht loswerden können, der zufolge die Unschuldsvermutung weit über ein „Verbot der Desavou-ierung des Strafverfahrens“,139 eine Art savoir-juger, hinaus-geht. Die Unschuldsvermutung, als geistiges Kind der fran-zösischen Revolution,140 komprimiert m.E. in einer rechts-technisch meisterhaften Form das Aufklärungsarsenal, das vor allem heutzutage unter Druck steht. Gezeigt wurde, wie durch diese Norm der default-Charakter des Strafverfahrens begründet und dem Strafrichter die benötigten Darstellungs-formen der jeweiligen Urteilsbegründung bereitgestellt wer-den. Als epistemische Maschine, von deren Zielgenauigkeit die Rationalität der Verhängung von strafrechtlichen Sankti-onen, des jus puniendi, abhängt, ist das Strafverfahren bzw. das Strafverfahrensrecht als „angewandtes Verfassungs-recht“141 in besonderer Weise den Grundrechten und Men-schenrechten verpflichtet. Eines dieser Menschenrechte ist nun die Unschuldsvermutung. Führt man sich die Tatsache vor Augen, dass dieses Verfahrens- bzw. Menschenrecht im praktischen Rechtsleben der Bundesrepublik Deutschland eine unbedeutende Rolle spielt,142 und geht davon aus, dass wir freilich mithilfe dieser Norm – ohne dass wir eine fiktive (Meta-)Norm heranziehen müssen – einen Freispruch begrün-den können, so lässt es den Titel dieses Abschnitts im neuen Licht erscheinen. Es wurde höchste Zeit die (rechtlich-posi-tivierten) Menschenrechte ernst zu nehmen. Was den in dubio pro reo-Satz betrifft: Er wurde als eine unnötige Frage erwie-

so ist seine Frage mit derselben Antwort zu bescheiden: Lie-ge ein Sachverhalt vor, der nicht mit den gesetzlichen Bestimmungen zu fassen sei, werde der Beschuldigte nicht bestraft. Welcher Sachverhalt vorliege, entscheide letztlich das Gericht nach Maßgabe seiner Überzeugung (§ 261 StPO), gewonnen aus umfassender Ermittlung (§ 244 Abs. 2 StPO).“ 138 Aus der neuesten Literatur siehe Bäcker, Rechtstheorie 2009, 404. 139 So Stuckenberg (Fn. 69), S. 530 ff.; ders., ZStW 111 (1999), 422 (452 ff.). 140 Siehe Art. 9 der „Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen de 1789“; dort kommt die Unschuldsvermutung expressis verbis zum Ausdruck. 141 Sax (Fn. 2), S. 967. 142 So Stuckenberg, ZStW 111 (1999), 422 (438).

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sen, die etwa der Richter stellt, da er die Bedeutung verschie-dener Wörter missversteht bzw. sich keine Klarheit über die Strukturen unserer Sprache verschafft hat.143 Die Frage nach der Begründung eines Freispruchs stellt also einen unzulässi-gen Zug im Normenspiel des Strafverfahrens dar. Da dem in dubio pro reo-Satz keine Funktion zugewiesen werden kann und er deswegen nicht gebraucht wird, ist er bedeutungs-los.144 Pluralitas non est ponenda sine neccesitate!145

143 So bereits Tapani, Rechtstheorie 1979, 146. 144 Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Werkausga-be, Bd. 1, 1984, Sz. 3.328, 5.47321. 145 Dies ist die berühmteste Formel für das sog. Occams Ra-siermesser.

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Die verspätet und fehlerhaft umgesetzte Richtlinie 2008/115/EG und ihre Auswir-

kungen auf das Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 95 Abs. 2 Nr. 1 lit. a, b

AufenthG

Zugleich Besprechung von EuGH, Urt. v. 19.9.2013 – C-297/12

Von Prof. Dr. Bernd Hecker, Trier* Der Beitrag referiert und analysiert die vom EuGH in seiner

Vorabentscheidung vom 19.9.2013 – C-297/12 dargelegten

Auslegungshinweise zu Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2008/

115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom

16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren

in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger

Drittstaatsangehöriger. In dieser Regelung wird bestimmt,

dass die Dauer des Einreiseverbotes in Anbetracht der jewei-

ligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt wird und grund-

sätzlich fünf Jahre nicht überschreitet. Der deutsche Gesetz-

geber hat es jedoch versäumt, die genannte Richtlinienbe-

stimmung rechtzeitig und fehlerfrei umzusetzen. Es wird auf-

gezeigt, dass die demnach in Deutschland unmittelbar an-

wendbare Richtlinienbestimmung infolge ihrer „Durchgriffs-

wirkung“ zu einer weitreichenden Neutralisierung des in

§ 11 Abs. 1 AufenthG normierten Einreise- und Aufenthalts-

verbotes und damit zu einer erheblichen Tatbestandsrestrik-

tion bei § 95 Abs. 2 Nr. 1 lit. a und b AufenthG führt. Schließ-

lich geht der Beitrag auch auf die fallübergreifenden Konse-

quenzen der Vorabentscheidung und weitere strafrechtliche

und strafprozessuale Anschlussprobleme ein.

I. Einführung

Die rechtsdogmatischen und praktischen Auswirkungen der von dem AG Laufen initiierten Vorabentscheidung des EuGH v. 19.9.2013 – C-297/121 zur Auslegung der Richtlinie 2008/ 115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger2 (im Folgenden: RückführungsRL) reichen weit über die dem Vorlageverfahren zugrundeliegen-den Einzelfälle hinaus. Als eindrucksvolles „Lehrstück“ des Europäischen Strafrechts3 bestätigt sie, dass diese junge und noch sehr viel rechtswissenschaftlichen Forschungsbedarf abverlangende Rechtsmaterie inzwischen auch in der Rechtswirklichkeit der amtsgerichtlichen Praxis angekom-men ist. Dem Ausgangsverfahren vor dem AG Laufen lagen zwei Standardfälle des Ausländerstrafrechts zugrunde, in denen es jeweils um den Vorwurf der illegalen Einreise (§ 95

* Der Verf. ist Professor für Deutsches und Europäisches Strafrecht, Strafprozessrecht sowie Wirtschafts- und Umwelt-strafrecht an der Universität Trier. Herrn Direktor des AG Laufen Dr. Klaus Hellenschmidt danke ich für seine wertvol-len Hinweise und den anregenden Gedankenaustausch. 1 EuGH BeckRS 2013, 81822. 2 ABl. EU 2008 Nr. L 348, S. 98. 3 Vgl. zu diesem Begriff Hecker, Europäisches Strafrecht, 4. Aufl. 2012, § 1 Rn. 5 m.w.N.

Abs. 2 Nr. 1 lit. a AufenthG4) bzw. des unberechtigten Auf-enthalts (§ 95 Abs. 2 Nr. 1 lit. b AufenthG) ging, wobei dem Fall „Filev“ (F) eine asylverfahrensrechtliche Abschiebung und dem Fall „Osmani“ (O) eine ausländerrechtliche Auswei-sung zugrunde lag. In beiden Fällen waren die mit der Ab-schiebungs- bzw. Ausweisungsverfügung gegen die beiden Drittstaatsangehörigen einhergehenden gesetzlichen Einreise- und Aufenthalts-verbote (§ 11 Abs. 1 AufenthG) mit einer unbefristeten Wirkung versehen:

Fall „Filev“: Nach Einstellung des Verfahrens über seinen Asylantrag wurde F durch Bescheid des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 29.10.1992 auf-gefordert, das deutsche Hoheitsgebiet zu verlassen. In den Jahren 1993 und 1995 wurde er in die ehemalige jugoslawi-sche Republik Mazedonien abgeschoben; die Wirkung der Abschiebungen war unbefristet. Am 28.4.2012 reiste F erneut nach Deutschland ein. Eine Polizeikontrolle ergab, dass er 1992 ausgewiesen worden war. Am 3.5.2012 beantragte die Anklagebehörde in der Hauptverhandlung vor dem vorlegen-den Gericht (AG Laufen), F wegen Verstoßes gegen § 95 Abs. 2 Nr. 1 lit. a und b AufenthG aufgrund unerlaubter Ein-reise in Tateinheit mit unerlaubtem Aufenthalt zu einer Geld-strafe in Höhe von 60 Tagessätzen zu je 15 Euro zu verurtei-len.

Fall „Osmani“: Am 19.11.1999 erging gegen O ein Aus-weisungsbescheid der Stadt Stuttgart gemäß den Vorschriften des damals gültigen Ausländergesetzes, das eine Ausweisung bei Verstößen gegen das BtMG vorsah. Die Wirkung der Ausweisung war unbefristet. Am 10.6.2003 wurde O wiede-rum wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmit-teln in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt. Nachdem er einen Teil dieser Strafe verbüßt hatte, wurde er am 30.6.2004 entlassen und unbefristet abgeschoben. Gemäß § 456a StPO ordnete die StA Stuttgart die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe von 474 Tagen für den Fall an, dass O erneut nach Deutsch-land einreisen würde. Nach der Einreise des O am 29.4.2012 wurde im Rahmen einer Polizeikontrolle festgestellt, dass gegen ihn ein Ausweisungsbescheid ergangen war. In der Hauptverhandlung vor dem vorlegenden Gericht am 3.5.2012 beantragte die Anklagebehörde, O wegen Verstößen gegen § 95 Abs. 2 Nr. 1 lit. a und b AufenthG zu einer Freiheitsstra-fe von drei Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung zu verurteilen.

4 Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet in der Fassung der Bekanntmachung vom 25.2.2008 (BGBl. I 2008, S. 162); zuletzt geändert durch Art. 3 des Gesetzes v. 6.9.2013 (BGBl. I 2013, S. 3556).

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Bernd Hecker

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Das AG Laufen hatte jedoch im Hinblick auf Art. 11 Abs. 2 RückführungsRL Bedenken, die Strafvorschrift des § 95 Abs. 2 Nr. 1 lit. a und b AufenthG in Verbindung mit § 11 Abs. 1 AufenthG in den bei ihm anhängigen Rechtssa-chen anzuwenden. Insoweit wies es darauf hin, dass nach Art. 11 Abs. 2 RückführungsRL die Dauer eines Einreiseverbots fünf Jahre grundsätzlich nicht überschreiten dürfe. Diese Be-stimmung habe in Deutschland zwischen dem 24.12.2010 (Ablauf der Umsetzungsfrist) und dem 26.11.2011 (Inkraft-treten des deutschen Umsetzungsgesetzes) unmittelbare Wir-kung entfaltet, sodass Ausweisungen und Abschiebungen, die mehr als fünf Jahre vor dem erstgenannten Zeitpunkt erfolgt seien, nicht mehr als Grundlage für eine strafrechtliche Ver-urteilung nach § 95 AufenthG dienen könnten. Außerdem sehe § 11 Abs. 1 AufenthG keine Befristung der Wirkung derarti-ger Maßnahmen vor, sondern räume dem Betroffenen ledig-lich das Recht ein, eine solche Befristung zu beantragen. Das vorlegende Gericht geht davon aus, dass F keine schwerwie-gende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit im Sinne von Art. 11 Abs. 2 S. 2 RückführungsRL darstellt. Zum anderen habe er keinen Antrag auf Befristung seiner Ausweisung und seiner Abschiebungen gestellt, mit der Folge, dass diese seit nun-mehr fast 20 Jahren Wirkungen hervorriefen. In Bezug auf O wies das vorlegende Gericht darauf hin, dass dieser nach § 95 Abs. 2 AufenthG wegen seiner Einreise nach Deutschland nach seiner Ausweisung 1999 und/oder seiner Abschiebung 2004 Sanktionen unterliege und dass Art. 2 Abs. 2 lit. b RückführungsRL den Mitgliedstaaten die Möglichkeit ein-räume, die Richtlinie nicht anzuwenden, wenn eine Person aufgrund oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rück-kehrpflichtig sei. Während des Zeitraums, in dem die Rück-führungsRL in Deutschland unmittelbare Wirkung gehabt habe, sei jedoch keine Ausnahme nach dieser Bestimmung in das deutsche Recht übernommen worden. Vielmehr sei eine derartige Ausnahme erst durch § 11 Abs. 1 AufenthG in der durch Gesetz vom 22.11.2011 geänderten Fassung eingeführt worden. II. Funktionen des Vorabentscheidungsverfahrens

Die der Vorabentscheidung zugrunde liegenden Ausgangsfälle lassen abermals die herausragende praktische Bedeutung des in Art. 267 AEUV geregelten Vorabentscheidungsverfahrens hervortreten,5 das als prozessuales Bindeglied zwischen der vom EuGH ausgeübten supranationalen Gerichtsbarkeit und der mitgliedstaatlichen Gerichtsbarkeit fungiert. Einerseits haben die nationalen Gerichte in vielfältiger Weise primäres und sekundäres Unionsrecht anzuwenden, andererseits fehlt dem EuGH die Befugnis, nationales Recht auf seine Verein-barkeit mit Unionsrecht zu überprüfen. Da es infolge diver-gierender Auslegung und Anwendung von Unionsrecht durch die mitgliedstaatlichen Gerichte zu Rechtsunsicherheiten, Wettbewerbsverzerrungen, Diskriminierungen und letztlich zu einer Beeinträchtigung des supranationalen Geltungsan-spruchs des Unionsrechts kommen könnte, weist Art. 19 Abs. 3 EUV aus guten Gründen dem EuGH das Monopol zur

5 Vgl. hierzu bereits Hecker (Fn. 3), § 6 Rn. 2 m.w.N.

letztverbindlichen Auslegung des gesamten Unionsrechts und zur Überprüfung der Gültigkeit von Sekundärrechtsakten zu. Das von Art. 267 AEUV vorgeschriebene Procedere ist dem-entsprechend nicht als selbständiger kontradiktorischer Pro-zess konzipiert, sondern als objektives Zwischenverfahren, das als eine Art „Kooperationsverfahren“ im Rahmen eines vor dem nationalen Gericht geführten Ausgangsprozesses durchgeführt wird. Art. 267 AEUV gewährt den Prozessbe-teiligten keinen Anspruch auf Einholung einer Vorabent-scheidung. Der Einzelne – ob als Partei im Zivil- bzw. Ver-waltungsprozess oder als Angeklagter im Strafverfahren – kann ein Vorlageverfahren immer nur anregen oder beantra-gen, nicht aber erzwingen. Über die vorläufige Aussetzung des nationalen Verfahrens zum Zwecke der Einholung einer Vorabentscheidung durch den EuGH entscheidet allein und von Amts wegen das nationale Gericht.6 Das Vorabentschei-dungsverfahren sichert somit primär das Auslegungs- und

Verwerfungsmonopol des EuGH. Wie gerade die beiden Aus-gangsfälle zeigen, kommt dem Vorabentscheidungsverfahren aber auch eine nicht unbedeutende Individualschutzfunktion zu.7 Dieses bietet einer strafrechtlich verfolgten Person insbe-sondere die Möglichkeit, sich gegenüber den nationalen Straf-verfolgungsbehörden auf unionsrechtlich begründete Rechts-positionen zu berufen, die ihrer Strafbarkeit entgegenstehen. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieser individualschützen-den Funktion des Vorabentscheidungsverfahrens ist es daher zu begrüßen, dass das AG Laufen von seiner ihm gemäß Art. 267 Abs. 2 AEUV eingeräumten Vorlagebefugnis Ge-brauch gemacht hat, obwohl es hierzu als erstinstanzlich zu-ständiges Gericht nicht verpflichtet war.8 III. Rechtlicher Rahmen der Vorabentscheidung

1. Strafbewehrtes Einreise- und Aufenthaltsverbot nach deut-

scher Gesetzeslage

§ 95 Abs. 2 Nr. 1 lit. a und b AufenthG knüpfen als verwal-

tungsrechtsakzessorische Straftatbestände an die vorsätzliche Verletzung des in § 11 Abs. 1 AufenthG normierten Einreise- bzw. Aufenthaltsverbotes an.9 Fahrlässige Zuwiderhandlun-gen sind gem. § 98 Abs. 1 AufenthG als Ordnungswidrigkeit mit Geldbuße ahndbar. Das gesetzliche Einreise- und Aufent-haltsverbot des § 11 Abs. 1 AufenthG richtet sich ausschließ-lich an Drittstaatsangehörige, die durch eine bestandskräftige Verfügung ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden sind.10 Auf die Klärung der umstrittenen Frage, ob die Strafbarkeit nach § 95 Abs. 2 Nr. 1 lit. a und b AufenthG die materielle Rechtmäßigkeit der Abschiebungs- oder Aus-weisungsbescheide voraussetzt oder ob deren bloße Wirk-

6 Wegener, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Kom-mentar, 4. Aufl. 2011, Art. 267 AEUV Rn. 18. 7 Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, 2000, S. 171 f., 175 f.; Wegener (Fn. 6), Art. 267 AEUV Rn. 1. 8 Hecker (Fn. 3), § 6 Rn. 5 ff. 9 Gericke, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommen-tar zum Strafgesetzbuch, Bd. 8, 2. Aufl. 2013, § 95 AufenthG Rn. 2. 10 Gericke (Fn. 9), § 95 AufenthG Rn. 92.

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samkeit ausreicht,11 kommt es in den beiden Ausgangsfällen nicht an, da jeweils von rechtmäßigen Verfügungen auszuge-hen ist. Im Hinblick auf die Beschränkung des Adressaten-kreises des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbotes handelt es sich bei § 95 Abs. 2 Nr. 1 lit. a und b AufenthG um Sonderdelikte, die nur von ausgewiesenen, zurückge-schobenen oder abgeschobenen Drittstaatsangehörigen täter-schaftlich erfüllt werden können. Sowohl F (Fall 1) als auch O (Fall 2) sind somit taugliche Täter des § 95 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG. Beide Angeklagte sind in dem Wissen, dass sie abgeschoben (F) bzw. ausgewiesen (O) wurden, in das Bun-desgebiet eingereist und scheinen somit die im objektiven Tatbestand beschriebenen Tathandlungen vorsätzlich verwirk-licht zu haben. Da ihrer Strafbarkeit jedoch Art. 11 Abs. 2 RückführungsRL entgegenstehen könnte, ist nachfolgend zu-nächst der unionsrechtliche Hintergrund der Vorabentschei-dung zu reflektieren, bevor auf die verspätete und fehlerhafte Umsetzung der Richtlinie in Deutschland (unten IV.) und die sich hieraus ergebenden strafrechtlichen Auswirkungen fall-bezogen (unten V.) bzw. fallübergreifend (unten VI.) einzu-gehen ist. 2. Inhalt und Zielsetzung der RückführungsRL

Mit der auf der Grundlage von ex-Art. 63 Abs. 1 Nr. 3 lit. b EGV (aktuell Art. 79 Abs. 2 lit. c AEUV) erlassenen und am 13.1.2009 in Kraft getretenen RückführungsRL sollen die Re-gelungen über den Ablauf der Rückkehrverfahren von Dritt-staatsangehörigen unionsweit vereinheitlicht werden. Die Richtlinie verfolgt das Ziel, eine wirksame Rückkehr- und Rückübernahmepolitik in Bezug auf illegal aufhältige Dritt-staatsangehörige zu schaffen, bei der die Höchstdauer des Freiheitsentzuges im Rahmen des Rückführungsverfahrens begrenzt und dadurch die Achtung der Grundrechte illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger gewahrt werden sollen. Sie versteht sich als notwendiger Bestandteil einer klar geregel-ten Migrationspolitik, die mit transparenten und fairen Vor-schriften insbesondere zu Fragen der Rückkehr, Abschie-bung, Anwendung von Zwangsmaßnahmen, Inhaftnahme und Einreiseverbote unterlegt werden muss (vgl. Art. 1 Rückfüh-rungsRL sowie 4. und 20. Erwägungsgrund). Die Rückfüh-rungsRL führt daher eine Reihe von horizontalen Vorschrif-ten ein, die für sämtliche Drittstaatsangehörige gelten, bei denen die Voraussetzungen für die Einreise in einen Mit-gliedstaat oder den dortigen Aufenthalt nicht oder nicht mehr erfüllt sind (vgl. Art. 2 Abs. 1 RückführungsRL sowie 5. Er-wägungsgrund). Nach Art. 11 Abs. 1 RückführungsRL gehen Rückkehrentscheidungen mit einem Einreiseverbot einher, falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde (lit. a) oder falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde (lit. b). In anderen Fällen kann eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einherge-hen. Für die beiden vor dem AG Laufen geführten Ausgangs-verfahren gewinnt vor allem die in Art. 11 Abs. 2 S. 1 Rück-führungsRL getroffene Regelung zentrale Bedeutung, wonach die Dauer des Einreiseverbots in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt wird und grundsätzlich

11 Vgl. hierzu Gericke (Fn. 9), § 95 AufenthG Rn. 94 m.w.N.

fünf Jahre nicht überschreitet. Sie kann jedoch fünf Jahre überschreiten, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwer-wiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt (vgl. Art. 11 Abs. 2 S. 2 RückführungsRL), was nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts aber weder auf F (Fall 1) noch auf O (Fall 2) zutrifft. Art. 2 Abs. 2 lit. b RückführungsRL ge-stattet den Mitgliedstaaten überdies, die Richtlinie nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden, die nach einzelstaatlichem Recht aufgrund oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind. IV. Verspätete und fehlerhafte Umsetzung der Rückfüh-

rungsRL in Deutschland

1. Umsetzungsgesetzgebung in Deutschland

Art. 20 Abs. 1 S. 1 RückführungsRL setzt den Mitgliedsstaa-ten eine Frist bis spätestens 24.12.2010, innerhalb der die Richtlinie in innerstaatliches Recht umgesetzt werden muss. In Deutschland wurde die RückführungsRL jedoch erst durch das am 26.11.2011 in Kraft getretene Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex vom 22.11.2011 in deutsches Recht transferiert.12 Das Umsetzungsgesetz bestimmt in seinem geänderten § 11 Abs. 1 AufenthG:13

„Ein Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, darf nicht erneut in das Bundesge-biet einreisen und sich darin aufhalten. Ihm wird auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs nach diesem Gesetz kein Aufenthaltstitel erteilt. Die in den Sätzen 1 und 2 bezeichneten Wirkungen werden auf Antrag befristet. Die

Frist ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls festzusetzen und darf fünf Jahre nur überschreiten, wenn der

Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung aus-

gewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegen-de Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung aus-geht […]“.

Sowohl F (Fall 1) als auch O (Fall 2) scheinen demnach am 28.4.2012 bzw. am 29.4.2012 entgegen dem gesetzlichen Verbot des mit Wirkung ab 26.11.2011 neugefassten § 11 Abs. 1 S. 1 AufenthG in das Bundesgebiet eingereist zu sein und sich danach illegal im Bundesgebiet aufgehalten zu ha-ben; F wurde 1995 unbefristet abgeschoben, O wurde 2004 unbefristet ausgewiesen. Einen gem. § 11 Abs. 1 S. 3 Auf-enthG möglichen Antrag auf Befristung des Einreiseverbots haben sie nicht gestellt. Im Falle des O könnte überdies ar-gumentiert werden, dass er schon deshalb nicht in den Ge-nuss der für das Einreiseverbot geltenden Regelhöchstbefris-tung von fünf Jahren gelangt, weil er im Jahre 2004 infolge

einer strafrechtlichen Verurteilung aus dem Bundesgebiet ausgewiesen wurde (vgl. § 11 Abs. 1 S. 4 AufenthG).

12 BGBl. I 2011, S. 2258. 13 Hervorhebung durch den Verf.

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2. Antragserfordernis des § 11 Abs. 1 S. 3 AufenthG nicht

richtlinienkonform

Wie der EuGH jedoch mit überzeugender Begründung darge-legt und in seinem ersten Leitsatz festgestellt hat, ist Art. 11 Abs. 2 RückführungsRL dahin auszulegen, dass er einer na-tionalen Vorschrift wie § 11 Abs. 1 S. 3 AufenthG entgegen-steht, die die Befristung eines Einreiseverbotes davon abhän-gig macht, dass der betreffende Drittstaatsangehörige einen Antrag auf eine derartige Befristung stellt.14 Entgegen dem Vorbringen der deutschen Regierung genüge es für die Errei-chung des Richtlinienziels nicht, wenn eine solche Befristung eines Einreiseverbotes im innerstaatlichen Recht von einem Antrag des betreffenden Drittstaatsangehörigen abhängig ge-macht werde. Dieses Ziel bestehe nämlich u.a. darin, zu ge-währleisten, dass die Dauer eines Einreiseverbotes fünf Jahre nicht überschreitet, es sei denn, die betreffende Person stellt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit dar. Selbst wenn das innerstaatliche Recht, wie die deutsche Re-gierung in Bezug auf ihr innerstaatliches Recht ausführt, vorsieht, dass der betreffende Drittstaatsangehörige über die Möglichkeit, eine Befristung des gegen ihn verhängten Ein-reiseverbotes zu beantragen, unterrichtet wird und diese Un-terrichtungspflicht von den zuständigen nationalen Behörden stets befolgt wird, sei nicht gewährleistet, dass der betreffende Drittstaatsangehörige einen solchen Antrag tatsächlich stellt. Werde ein solcher Antrag nicht gestellt, könne das mit Art. 11 Abs. 2 RückführungsRL verfolgte Ziel nicht als erreicht an-gesehen werden.

Da sich die Richtlinienkonformität des § 11 Abs. 1 S. 3 AufenthG wegen des eindeutigen Wortlautes der Norm nicht bereits im Wege einer richtlinienkonformen Auslegung15 her-stellen lässt, muss der deutsche Gesetzgeber aktiv werden und das richtlinienwidrige Antragserfordernis im Wege einer Gesetzesänderung streichen, will er ein ansonsten drohendes Vertragsverletzungsverfahren (vgl. Art. 258 Abs. 2 AEUV) abwenden.

Die fehlerhafte Umsetzung des Art. 11 Abs. 2 Rückfüh-rungsRL in § 11 Abs. 1 S. 3 AufenthG bewirkt jedoch nicht etwa automatisch, dass das mit unbefristeter Wirkung verse-hene Einreiseverbot unwirksam ist mit der Folge, dass die Strafnorm des § 95 Abs. 2 Nr. 1 lit. a und b AufenthG gleich-sam ins Leere liefe. Da dem Unionsrecht gegenüber dem nationalen Recht nach inzwischen gefestigter Rechtsauffas-sung kein Geltungsvorrang zukommt, kann das richtlinien-widrig ergangene Umsetzungsrecht nicht an seiner wirksa-men Entstehung gehindert werden.16 Grundsätzlich behält da-

14 Vgl. hierzu und zum Nachfolgenden EuGH BeckRS 2013, 81822, Rn. 25-34. 15 Esser, Europäisches und Internationales Strafrecht, 2014, § 2 Rn. 88 ff.; Hecker (Fn. 3), § 10 Rn. 33 ff.; Satzger, Inter-nationales und Europäisches Strafrecht, 6. Aufl. 2013, § 9 Rn. 92. 16 Esser (Fn. 15), § 2 Rn. 17 f.; Hecker (Fn. 3), § 9 Rn. 15; Schröder, Europäische Richtlinien und deutsches Strafrecht, 2002, S. 344 ff. m.w.N., auch zu Gegenansichten im früheren Schrifttum.

her auch die richtlinienwidrige Verbotsnorm des § 11 Abs. 1 AufenthG ihre auch strafrechtlich relevante „Maßstabsfunkti-on“. Etwas anderes gilt jedoch, wenn sich die Richtlinie im Wege des Anwendungsvorranges gegen das Umsetzungsrecht durchsetzt. 3. Begünstigende unmittelbare Anwendbarkeit des Art. 11

Abs. 2 RückführungsRL

Nach dem in Rechtsprechung und Lehre anerkannten Prinzip des Anwendungsvorranges ist das mit unmittelbar anwendba-rem Unionsrecht kollidierende nationale Recht nicht nichtig, sondern bleibt schlicht unangewendet.17 Der Anwendungs-vorrang löst die Kollisionslage mit dem nationalen Recht folglich zugunsten des unmittelbar anwendbaren Unions-rechts. Obwohl der Wortlaut des Art. 288 Abs. 3 AEUV die Schlussfolgerung nahelegt, Richtlinieninhalte seien für den Einzelnen erst dann relevant, wenn sie im Wege der Umset-zung in die nationale Rechtsordnung transferiert wurden, kommt nach gefestigter Rechtsauffassung unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise eine unmittelbare Wirkung von Richtlinienbestimmungen (sog. „Durchgriffswirkung“) in Betracht.18 Danach kann eine den Bürger begünstigende Richtlinienbestimmung unmittelbar anwendbar sein, wenn sie trotz Fristablaufes nicht oder nur unzulänglich in innerstaatli-ches Recht umgesetzt wurde und von ihrem Inhalt her unbe-dingte und hinreichend bestimmte Vorgaben trifft. Inhaltlich unbedingt ist die Richtlinie dann, wenn sie weder mit einem Vorbehalt noch mit einer Bedingung versehen ist. Hinrei-chend bestimmt ist sie, wenn sie allgemein und unzweideutig bestimmte Vorgaben zum sachlichen Regelungsgehalt, zum geschützten Personenkreis und zu den durch die Regelungen verpflichteten Einrichtungen trifft. Die unter diesen Voraus-setzungen anzunehmende Durchgriffswirkung der Richtlinie lässt sich mit dem im Unionsrecht verankerten Anspruch be-gründen, den Normen des Unionsrechts praktische Wirksam-keit zu verschaffen („effet utile“). Außerdem soll verhindert werden, dass der Mitgliedstaat aus seiner Säumnis gegenüber dem von der Richtlinie Begünstigten Vorteile zieht.

Da die Voraussetzungen einer Durchgriffswirkung hin-sichtlich der verspätet und fehlerhaft umgesetzten Bestim-mung des Art. 11 Abs. 2 RückführungsRL zweifellos zutref-fen, bestätigte der EuGH das vorlegende Gericht folgerichtig in seiner Rechtsauffassung, dass die vorgenannte Richtlinien-regelung seit dem Ablauf der Umsetzungsfrist am 24.12.2010 in Deutschland unmittelbar anwendbar ist.19 Der EuGH bringt dies implizit in seinem zweiten Leitsatz zum Ausdruck, wo-nach Art. 11 Abs. 2 RückführungsRL dahin auszulegen ist,

17 EuGHE 1964, 1251; EuGH NJW 2007, 1515; BVerfG NJW 2009, 2267 (2284 f.); OLG München BeckRS 2009, 11745; Esser (Fn. 15), § 2 Rn. 7 ff.; Hecker (Fn. 3), § 9 Rn. 8 ff.; Satzger (Fn. 15), § 9 Rn. 79 ff.; Schröder (Fn. 16), S. 89 ff. 18 Vgl. hierzu und zum Nachfolgenden EuGH NJW 2004, 3547 (3548); EuGH NVwZ 2010, 693 (695); EuGH NJOZ 2012, 837 (839); BVerfGE 75, 223; Hecker (Fn. 3), § 4 Rn. 53; Herrmann/Michl, JuS 2009, 1065; Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Fn. 6), Art. 288 AEUV Rn. 47 ff.; Schröder (Fn. 16), S. 9 ff. 19 EuGH BeckRS 2013, 81822, Rn. 41, 53, 55.

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dass er es verbietet, den Verstoß gegen ein Einreise- und Aufenthaltsverbot, das mehr als fünf Jahre vor dem Zeitpunkt verhängt wurde, zu dem der betreffende Drittstaatsangehörige erneut in dieses Hoheitsgebiet eingereist oder die innerstaatli-che Regelung zur Umsetzung dieser Richtlinie in Kraft getre-ten ist, strafrechtlich zu ahnden, es sei denn, dieser Dritt-staatsangehörige stellt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nati-onale Sicherheit dar. Zwar bekräftigt der EuGH, dass weder ex-Art. 63 Abs. 1 Nr. 3 lit. b EGV, der in Art. 79 Abs. 2 lit. c AEUV übernommen wurde, noch die RückführungsRL die strafrechtliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich der illegalen Einwanderung und des illegalen Aufenthalts aus-schließen. Jedoch müssen die Mitgliedstaaten ihre Rechtsvor-schriften in diesem Bereich so ausgestalten, dass die Wah-rung des Unionsrechts gewährleistet ist. Insbesondere dürfen sie keine strafrechtliche Regelung anwenden, die die Ver-wirklichung der mit dieser Richtlinie verfolgten Ziele gefähr-den und die Richtlinie damit ihrer praktischen Wirksamkeit berauben könnte.20 Die Mitgliedstaaten dürfen folglich einen Verstoß gegen ein Einreiseverbot, das in den Anwendungsbe-reich der RückführungsRL fällt, nicht strafrechtlich ahnden, wenn die Aufrechterhaltung der Wirkungen dieses Verbots nicht mit Art. 11 Abs. 2 dieser Richtlinie im Einklang steht.21

Aus strafrechtlicher Sicht stellt sich somit die zentrale Frage, wie sich die mit Ablauf der Umsetzungsfrist am 24.12. 2010 einsetzende und infolge fehlerhafter Richtlinienumset-zung bis heute fortdauernde unmittelbare Anwendbarkeit des Art. 11 Abs. 2 RückführungsRL auf die nach § 95 Abs. 2 Nr. 1 lit. a und b AufenthG zu beurteilende Strafbarkeit von F (Fall 1) und O (Fall 2) auswirkt. Nach § 2 Abs. 1 StGB ist grundsätzlich von dem Tatzeitrecht auszugehen. Hierbei bleibt es, da zur Lösung der beiden Ausgangsfälle nicht etwa auf das in § 2 Abs. 3 StGB verankerte Lex Mitior-Prinzip zu-rückgegriffen werden kann. Denn der nach diesem Grundsatz eingreifende Vorrang des mildesten Gesetzes gelangt nur zur Anwendung, wenn die Tat zwischen ihrer Begehung und ge-

richtlichen Aburteilung nicht oder mit einer milderen Strafe bedroht war.22 Das einschlägige Strafblankett (§ 95 Abs. 2 Nr. 1 lit a und b AufenthG) bestand aber ebenso wie seine Bezugsverbotsnorm (§ 11 Abs. 1 AufenthG) bei der Einreise von F (Fall 1) und O (Fall 2) im Jahre 2012 und während

20 EuGH BeckRS 2013, 81822, Rn. 36, unter Hinweis auf EuGH NJOZ 2012, 837 (839 Rn. 54 f.), und EuGH BeckRS 2011, 81777, Rn. 33. 21 EuGH BeckRS 2013, 81822, Rn. 37. 22 Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kom-mentar, 28. Aufl. 2010, § 2 Rn. 14, 27; Satzger (Fn. 15), § 9 Rn. 74; Schützendübel, Die Bezugnahme auf EU-Verordnun-gen in Blankettstrafgesetzen, 2012, S. 77 ff. Instruktives An-schauungsmaterial bieten die Entscheidungen OLG Koblenz NJW 2007, 2344, und OLG Hamburg NZV 2007, 372, je-weils zu Strafbarkeitslücken bei unionsrechtsakzessorischen Blankettstrafgesetzen, deren Verweisungsobjekt – eine EU-Verordnung – im Zeitraum zwischen Tatbegehung und ge-richtlicher Entscheidung außer Kraft getreten ist.

ihres anschließenden Aufenthalts im Bundesgebiet bis zum Zeitpunkt der gerichtlichen Aburteilung unverändert fort.

Die Straflosigkeit der Angeklagten nach dem maßgebli-chen Tatzeitrecht ergibt sich jedoch schlicht aus der ihnen gegenüber nicht anwendbaren Verbotsnorm des § 11 Abs. 1 AufenthG. Zum Zeitpunkt ihrer Einreise in das Bundesgebiet im Jahre 2012 waren die an F und O jeweils mit unbefristeter Wirkung ausgestatteten Einreise- und Aufenthaltsverbote in-folge ihrer direkten Kollision mit der unmittelbar anwendba-ren Richtlinienbestimmung des Art. 11 Abs. 2, die eine Regel-höchstbefristung von fünf Jahren für das Einreiseverbot vor-sieht, unanwendbar. Die „Durchgriffswirkung“ des Art. 11 Abs. 2 RückführungsRL befreite somit die von F und O im Jahre 2012 begangenen Tathandlungen vom Makel der Ille-galität. Folglich ist die vom Bestehen eines anwendbaren (wirksamen) Verbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG abhängige Blankettstrafnorm des § 95 Abs. 2 Nr. 1 lit. a und b AufenthG in den beiden Ausgangsfällen bereits tatbestandlich nicht er-füllt. 4. Kein rückwirkender Ausschluss von strafrechtlich verur-

teilten Drittstaatsangehörigen aus dem Anwendungsbereich

der RückführungsRL

Hinsichtlich des O (Fall 2) könnte das soeben gefundene strafrechtliche Ergebnis in Frage gestellt werden, weil er zu der Personengruppe gehört, die nach Art. 2 Abs. 2 lit. b RückführungsRL von dem persönlichen Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen werden darf. Die genannte Be-stimmung räumt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit ein, die Richtlinie nicht anzuwenden, wenn ein Drittstaatsangehöriger aufgrund oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rück-kehrpflichtig ist. Der EuGH stellt insoweit kurz und bündig fest: „Macht ein Mitgliedstaat von der in Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Möglichkeit spätestens bei Ablauf der Frist zur Umsetzung dieser Richtli-

nie Gebrauch, hat dies zur Folge, dass die darin genannten Drittstaatsangehörigen zu keinem Zeitpunkt vom Anwen-

dungsbereich dieser Richtlinie erfasst werden.“23 Sodann stellt er klar:24 „Sofern hingegen ein Mitgliedstaat nach Ab-lauf der […] Umsetzungsfrist von dieser Möglichkeit noch keinen Gebrauch gemacht hat, insbesondere weil er die Richt-

linie […] noch nicht in seinem nationalen Recht umgesetzt hat, kann er sich nicht auf das Recht berufen, den persönli-

chen Anwendungsbereich dieser Richtlinie gemäß ihrem Art. 2 Abs. 2 Buchst. b gegenüber Personen einzuschränken,

auf die die Wirkungen der Richtlinie bereits anwendbar wa-

ren. Unter diesen Umständen kann eine Einschränkung des persönlichen Anwendungsbereichs der Richtlinie […], die erst nach Ablauf der Frist zur Umsetzung dieser Richtlinie erfolgt, auch einer Person wie Herrn O nicht entgegengehal-ten werden […] Einer Person wie Herrn O, der sich bereits unmittelbar auf die betreffenden Bestimmungen der Richtli-nie […] berufen konnte, entgegenzuhalten, dass von der in

23 EuGH BeckRS 2013, 81822, Rn. 52. Hervorhebung durch den Verf. 24 EuGH BeckRS 2013, 81822, Rn. 53-55. Hervorhebung durch den Verf.

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Art. 2 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie vorgesehenen Mög-lichkeit Gebrauch gemacht wurde, hätte nämlich zur Folge, die Situation dieser Person zu verschlechtern“.

Der EuGH formuliert daher in seinem dritten Leitsatz fol-gerichtig, dass die RückführungsRL einer mitgliedstaatlichen Regelung entgegensteht, nach der eine Ausweisung oder Ab-schiebung, die mehr als fünf Jahre vor dem Zeitraum zwi-schen dem vorgeschriebenen und dem tatsächlichen Umset-zungszeitpunkt erfolgte, später erneut als Grundlage für eine strafrechtliche Verfolgung dienen kann, wenn diese Maßnah-me im Sinne von Art. 2 Abs. 2 lit. b RückführungsRL auf-grund einer strafrechtlichen Sanktion vorgenommen wurde und der betreffende Mitgliedstaat von der in dieser Bestim-mung vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht hat.25

Der deutsche Gesetzgeber hätte es somit in der Hand ge-habt, durch eine fristgerechte Umsetzung der Rückführungs-RL dafür zu sorgen, Drittstaatsangehörige, deren Ausweisung vor Ablauf der Umsetzungsfrist (24.12.2010) aufgrund oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion ergangen ist, weiterhin dem gegen sie bestehenden unbefristeten Einreise- und Auf-enthaltsverbot auszusetzen. Da diese von Art. 2 Abs. 2 lit. b RückführungsRL eröffnete Möglichkeit aber nicht genutzt wurde, bleibt es dabei, dass auch Drittstaatsangehörige wie O in den Genuss der unmittelbaren Anwendung des Art. 11 Abs. 2 RückführungsRL gelangen. Die diesen Personen vom Unionsrecht zuerkannte Rechtsposition kann ihnen vom nati-onalen Recht nachträglich nicht mehr entzogen werden. Auf den hiermit zwingend einhergehenden Ausschluss der Straf-barkeit nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 lit. a und b AufenthG wurde bereits hingewiesen (oben IV. 3.).

Die strafrechtliche Lösung der beiden Ausgangsfälle be-stätigt eindrucksvoll ein in der Praxis des Europäischen Straf-rechts nicht selten anzutreffendes Phänomen, das Christian

Schröder in seiner Habilitationsschrift mit der treffenden Formulierung umschrieb, dass das Ob der Strafbarkeit in einen Wettlauf mit der Umsetzungsfrist tritt.26 Nur der Voll-ständigkeit halber sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass sich die RückführungsRL im Lichte der aktuellen Judi-katur des EuGH27nicht nur auf § 95 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG auswirkt, sondern auch auf den Anwendungsbereich des § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, was in der Literatur bereits Anlass zu der Fragestellung „Das Ende der Strafbarkeit des illegalen Aufenthalts?“28 gegeben hat.29 V. Konsequenzen der Vorabentscheidung für die auslän-

derstrafrechtliche Praxis

1. Straflosigkeit in „Altfällen“

Die bis zu ihrer fehlerfreien Umsetzung in deutsches Recht unmittelbar anwendbare Regelung des Art. 11 Abs. 2 Rück-führungsRL bewirkt mit ihrer für die Dauer eines Einreise-

25 EuGH BeckRS 2013, 81822, Rn. 56. 26 Schröder (Fn. 16), S. 271. 27 EuGH NJOZ 2012, 837 (839); EuGH BeckRS 2011, 81777. 28 Hörich/Bergmann, NJW 2012, 3339. 29 Vgl. hierzu OLG Hamburg BeckRS 2012, 03849; KG NStZ-RR 2012, 347; Gericke (Fn. 9), § 95 AufenthG Rn. 30.

verbots geltenden Regelhöchstbefristung eine erhebliche Ein-schränkung der Strafbarkeit von Drittstaatsangehörigen nach § 95 Abs. 2 Nr. 1 lit. a und b AufenthG. Von Straflosigkeit ist in sog. „Altfällen“ auszugehen, bei denen das mit einer Ab-schiebung oder Ausweisung einhergehende Verbot, in das Bundesgebiet einzureisen und sich dort aufzuhalten, mehr als fünf Jahre vor dem Zeitpunkt verhängt wurde, zu dem der betreffende Drittstaatsangehörige erneut eingereist oder die innerstaatliche Regelung zur (fehlerfreien) Umsetzung dieser Richtlinie in Kraft getreten ist (vgl. oben IV. 3. und 4.). Eine Ausnahme hiervon besteht nur, wenn dieser Drittstaatsange-hörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ord-nung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt. Keine Ausnahme besteht – wie gezeigt (vgl. oben IV. 4.) für Drittstaatsangehörige, deren Ausweisung vor Ab-lauf des 24.12.2010 aufgrund oder infolge einer strafrechtli-chen Sanktion ergangen ist. Die Zahl der nunmehr straflos gestellten Fälle dürfte nicht unerheblich sein.30 2. Straflosigkeit der Schleusertätigkeit in „Altfällen“

Die Schleusertatbestände des § 96 Abs. 1 Nr. 1 und 2 Auf-enthG knüpfen u.a. an die Haupttaten der illegalen Einreise (§ 95 Abs. 2 Nr. 1 lit. a AufenthG) und des unerlaubten Auf-enthaltes (§ 95 Abs. 2 Nr. 1 lit. b AufenthG) an. Für sie ist charakteristisch, dass sie die Anstiftung oder Beihilfe zu einer entsprechenden Haupttat als täterschaftliche Handlung erfas-sen.31 Trotz dieser Heraufstufung zur Täterschaft bestimmt sich die Strafbarkeit nach § 96 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AufenthG nach dem aus der strafrechtlichen Teilnahmelehre bekannten Grundsatz der limitierten Akzessorietät.32 Hieraus ergibt sich, dass die Schleuserhandlung nur strafbar ist, wenn die ge-schleuste Person eine vorsätzliche und rechtswidrige Haupttat nach § 95 Abs. 2 Nr. 1 lit. a oder b AufenthG begeht.33 In den oben (V. 1.) näher bezeichneten „Altfällen“, die – wie gezeigt – mangels Verwirklichung des objektiven Tatbestands des § 95 Abs. 2 Nr. 1 lit. a oder b AufenthG straflos gestellt sind, scheidet mithin auch die Strafbarkeit des Schleusers aus, selbst wenn er mit Gewinnerzielungsabsicht gehandelt hat. Diese kriminalpolitisch unbefriedigende Rechtslage ist – wie auch die Straflosigkeit unbefristet ausgewiesener und wieder einreisender Straftäter (Fall 2) – eine weitere missliche Kon-sequenz der verspäteten und fehlerhaften Umsetzung der RückführungsRL durch den deutschen Gesetzgeber.

30 Immerhin entfällt nach der polizeilichen Kriminalstatistik der größte Anteil der Verstöße gegen das AufenthG auf Taten nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG und § 95 Abs. 2 Nr. 1 Auf-enthG, nämlich 37514 Fälle im Jahre 2011 und 33247 Fälle im Jahre 2010. Vgl. hierzu Gericke (Fn. 9), § 95 AufenthG Rn. 16. 31 Gericke (Fn. 9), § 96 AufenthG Rn. 2. 32 Rengier, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2013, § 45 Rn. 1, 13. 33 Gericke (Fn. 9), § 96 AufenthG Rn. 3.

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Die verspätet und fehlerhaft umgesetzte Richtlinie 2008/115/EG _____________________________________________________________________________________

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3. Wiederaufnahme rechtskräftig abgeschlossener Strafver-

fahren in Altfällen?

Den Angeklagten der Ausgangsverfahren kam zugute, dass ihr Fall von einem Richter verhandelt wurde, der hinsichtlich der unionsrechtlichen Implikationen über das notwendige juristische Problembewusstsein verfügte und daher in ver-dienstvoller Weise eine klärende Vorabentscheidung des EuGH herbeiführte. Wie aber ist mit bereits abgeschlossenen Strafverfahren umzugehen, in denen Drittstaatsangehörige in vergleichbaren Fallkonstellationen unionsrechtswidrig wegen illegaler Einreise rechtskräftig verurteilt wurden? Die Vor-schrift des § 359 StPO führt in einem abschließend gedachten Katalog die Gründe auf, bei deren Vorliegen die Wiederauf-nahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zugunsten des Verurteilten zulässig ist. Eine feh-lerhafte, da unionsrechtswidrige Beurteilung des Falles stellt aber ganz offensichtlich keine „neue Tatsache“ im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO dar. Im Übrigen findet sich in dem Katalog des § 359 StPO keine Bestimmung, die es erlaubt, die Rechts-kraft eines Strafurteils – vergleichbar mit der Verletzung der EMRK (§ 359 Nr. 6 StPO) – auch bei einem Verstoß gegen vorrangiges Unionsrecht zu durchbrechen. Auf Fälle unions-rechtswidriger Strafurteile kann § 359 Nr. 6 StPO weder im Wege der unionsrechtskonformen Auslegung noch im Rah-men einer Analogie angewandt werden, da dies dem Sinn der Norm, die rechtliche Beurteilung nicht als Wiederaufnahme-grund zu akzeptieren, diametral widersprechen würde34. Der Gesetzgeber sollte diesem Umstand de lege ferenda durch Schaffung einer entsprechenden gesetzlichen Regelung ab-helfen, um damit den Vorranganspruch des Unionsrechts durchzusetzen.

Im Fall der Rechtskraft eines unionsrechtswidrigen Ur-teils stellt die Zulassung des Wiederaufnahmeverfahrens die einzige Möglichkeit zur Beseitigung der Vertragsverletzung dar. In der Literatur wird daher mit gewichtigen Gründen eine analoge Anwendung des § 79 Abs. 1 BVerfGG bei unions-rechtswidrigen Strafurteilen befürwortet.35 Nach dieser Be-stimmung ist gegen ein rechtskräftiges Strafurteil, das auf einer mit dem GG für unvereinbar oder nach § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm oder auf der Auslegung einer Norm beruht, die vom BVerfG für unvereinbar mit dem GG erklärt worden ist, die Wiederaufnahme des Verfahrens nach den Vorschriften der StPO zulässig. Für diesen Lösungsweg spricht zum einen die aus dem unionsrechtlichen Loyalitäts-gebot des Art. 4 Abs. 3 EUV abzuleitende Pflicht der Mit-gliedstaaten, den Vorranganspruch des Unionsrechts gegen-über dem nationalen Recht durchzusetzen. Zum anderen sollte im Sinne materieller Gerechtigkeit demjenigen, dessen Verurteilung auf einer unionsrechtswidrigen Anwendung ei-nes Strafgesetzes beruht, der Makel einer Bestrafung ebenso

34 OLG Karlsruhe BeckRS 2004, 08702; Hoffmann-Holland/

Singelnstein, in: Graf (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommen-tar, Strafprozeßordnung, 17. Aufl., Stand: 30.9.2013, § 359 Rn. 35; Jokisch (Fn. 7), S. 225; Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, 2001, S. 674. 35 Jokisch (Fn. 7), S. 225 ff.; Satzger (Fn. 34), S. 680 ff.; abl. OLG Karlsruhe BeckRS 2004, 08702.

wenig aufgebürdet werden wie demjenigen, der aufgrund eines verfassungswidrigen Strafgesetzes verurteilt wurde.36

36 Satzger (Fn. 34), S. 680.

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Knaup, Die Begrenzung globaler Unternehmensleitung durch § 9 Absatz 2 Satz 2 StGB Pelz

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ZIS 1/2014 54

B u c h r e z e n s i o n

Martin Knaup, Die Begrenzung globaler Unternehmenslei-tung durch § 9 Absatz 2 Satz 2 StGB, Duncker & Humblot, Berlin 2011, 191 S., € 64,- Global operierende Unternehmen sehen sich in ihren ge-schäftlichen Aktivitäten den Anforderungen an die Einhal-tung einer Vielzahl von Rechtsordnungen gegenüber. Gerade die in den vergangenen Jahren an Fahrt gewonnene Compli-ance-Diskussion hat die Notwendigkeit aufgezeigt, Vorkeh-rungen zu treffen, um strafrechtliche Risiken zu verhindern, wo immer Unternehmen weltweit tätig sind.1 Mit der extra-territorialen Wirkung deutschen Strafrechts bei der Inlands-teilnahme an einer Auslandstat befasst sich die von Erich

Samson betreute Hamburger Dissertation von Martin Knaup. Im ersten Teil stellt Knaup die Grundlagen des deutschen

Strafanwendungsrechts der §§ 3-9 StGB dar, wobei er kurz die völkerrechtliche Legitimation der verschiedenen Anknüp-fungspunkte anspricht und dem die strafrechtliche Rechtlage gegenüberstellt. Dabei beschränkt sich Knaup im Wesentli-chen auf die Auswertung strafrechtlicher Literatur, völker-rechtliche Darstellungen werden lediglich vereinzelt zitiert.

Im zweiten Teil beschäftigt sich Knaup mit dem Rege-lungsgehalt von § 9 Abs. 2 S. 2 StGB und stellt in knapper Form die historische Rechtsentwicklung vom Reichsstrafge-setzbuch von 1871 bis heute dar. Danach geht der Verf. auf die systematische Stellung von § 9 Abs. 2 S. 2 StGB ein. Er arbeitet heraus, dass die Vorschrift zum einen dazu diene, den Erfolgsort dahingehend zu konkretisieren, dass dieser bei der Inlandsteilnahme auch dann im Inland liege, wenn der Erfolg der Haupttat im Ausland eintritt, sodass sich letztlich die Haupttat als Erfolg der Inlandsteilnahme darstelle (S. 57 f.). Daneben bedürfe es der Sonderregelung, weil sonst bei infolge der Straflosigkeit im Ausland fehlendem Unrecht der Haupt-tat ein Unrecht der Teilnahme gar nicht möglich wäre (S. 59). Knaup geht davon aus, dass § 9 Abs. 2 S. 2 StGB im Kern keine strafanwendungsrechtliche Regelung sei, sondern eine teilnahmerechtliche, die den Grundsatz der limitierten Akzes-sorietät der Teilnahme für die Inlandsteilnahme an einer Aus-landstat aufhebe, um sicherzustellen, dass der Teilnehmer be-straft werden könne, unabhängig davon, ob sich seine Unter-stützungshandlung im Inland oder Ausland ausgewirkt habe (S. 67). Dies freilich um den Preis, dass Wertungsungleich-gewichte entstehen, wenn der Inlandsteilnehmer an einer Auslandshaupttat strafbar ist, während eine Strafverfolgung des Haupttäters mangels deutscher Strafgewalt ausscheide (S. 68). Im Folgenden legt der Verf. dar, dass die herkömm-lich diskutierten Legitimationsansätze, die Vermeidung von Abgrenzungsschwierigkeiten, der Gleichbehandlungsgedanke oder die Staatssolidarität, zwar einzelne Aspekte der Vor-schrift des § 9 Abs. 2 Satz 2 StGB, diese jedoch nicht als Ganzes befriedigend erklären können, verbleiben doch bei allen Deutungsansätzen Lücken und Widersprüche (S. 69 ff.).

1 Pelz, in: Rotsch (Hrsg.), Criminal Compliance vor den Auf-gaben der Zukunft, 2013, S. 165.

Im dritten Teil geht Knaup auf den Einfluss von § 9 Abs. 2 S. 2 StGB auf die Praxis globaler Unternehmensleitung ein. Dabei unterscheidet er Fallgestaltungen, in denen die auslän-dische Rechtsordnung den deutschen Strafnormen vergleich-bare Vorschriften überhaupt nicht kennt und solche, bei denen zwar vergleichbare Vorschriften existieren, deren Anwen-dungsbereich jedoch deutlich enger als der der korrespondie-renden deutschen Vorschriften ist. Beide Fallkonstellationen führen jedoch zu keinen unterschiedlichen Ergebnissen, da die Strafbarkeit der Inlandsteilnahme gerade unabhängig da-von ist, ob die konkrete Tat, d.h. der konkrete Lebenssachver-halt, im Ausland unter Strafe gestellt ist oder nicht. Die be-sondere Problematik des § 9 Abs. 2 S. 2 StGB ergibt sich bei international agierenden Unternehmen daraus, dass jede Wei-sung einer in Deutschland ansässigen Unternehmensleitung an ausländische Tochtergesellschaften automatisch auch dem deutschen Strafrecht unterfällt, unabhängig davon, ob die Tochtergesellschaft im Rahmen der ausländischen Rechts-ordnung legal operiert oder nicht. Vergleichbare Probleme können sich bei dem Export von Wirtschaftsgütern ergeben, deren Verwendung in Deutschland strafrechtlichen Beschrän-kungen unterliegt, z.B. bei Abhörtechnologie im Hinblick auf §§ 201 ff. StGB (S. 91 f.).2 Ausführlich geht Knaup auf die Rechtsprobleme der Beteiligung an der internationalen Stamm-zellforschung unter Grundlage des Embryonenschutzgesetzes sowie des Stammzellgesetzes ein und zeichnet dabei die Ge-setzgebungsgeschichte und die Diskussion über den territo-rialen Anwendungsbereich beider Gesetze sowie die Diskus-sion um die teilweise Rücknahme von § 9 Abs. 2 S. 2 StGB in § 13 Abs. 3 E-StZG nach.

Im vierten Teil seiner Arbeit untersucht Knaup, inwieweit der Anwendungsbereich von § 9 Abs. 2 S. 2 StGB einge-schränkt werden kann. Prozessualen Lösungen über die §§ 153c ff. StPO erklärt Knaup eine Absage. Zwar ermög-lichten diese es, im Einzelfall zu einem sachgerechten Ergeb-nis zu kommen, jedoch sei hiermit eine Einbuße an Rechts-sicherheit verbunden und es würde das Problem der übermä-ßigen Ausdehnung der deutschen Strafgewalt nicht wirklich gelöst (S. 117 f.). Dem Problem des Strafanwendungsrechts vorgelagert sei die Frage nach dem Schutzbereich der ver-wirklichten deutschen Strafnorm in Bezug auf die ausländi-sche Haupttat. Sofern die deutsche Strafnorm nur Inlands-rechtsgüter schützen will, werde die ausländische Haupttat schon nicht vom Schutzbereich der deutschen Strafnorm um-fasst, sodass auch eine Inlandsteilnahme schon per se nicht möglich sei. Eine nennenswerte Restriktion sei damit aller-dings nicht verbunden, denn die meisten deutschen Strafnor-men schützen Individualrechtsgüter wie Leben, Freiheit, Ei-gentum, Vermögen unabhängig davon, ob es sich bei dem Rechtsgutsträger um einen Inländer oder einen Ausländer handelt. Insbesondere bei Wirtschaftsdelikten werde zusehends

2 In diesen Fallkonstellationen stellt sich dann die Folgefrage, ob eine erteilte Ausfuhrgenehmigung nach §§ 5 ff. AWG bzw. Art. 3 ff. EU-Dual-Use-Verordnung (EG) Nr. 428/2009 damit auch die Tatbestandsmäßigkeit einer Beihilfehandlung entfallen lässt oder jedenfalls einen Rechtfertigungsgrund für die Unterstützung durch Ausfuhr darstellt.

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auch explizit der Schutz auf ausländische Rechtsgüter erwei-tert, wie dies beispielsweise beim Subventionsbetrug, der Steuerhinterziehung durch § 370 Abs. 6 AO oder bei Wert-papierdelikten durch § 38 Abs. 5 WpHG geschehen sei. Nur bei solchen Delikten, die die innere Ordnung, Verwaltungs- und Fiskalinteressen oder hoheitliches Tätigwerden des Staa-tes schützen, sei der Schutzbereich meist allein auf Interessen des deutschen Staates beschränkt, sodass eine Teilnahme an entsprechenden Angriffen auf Interessen ausländischer Staa-ten außerhalb des Schutzbereichs der deutschen Strafnorm liege. Eine weitere Möglichkeit der Einschränkung sieht Knaup in der Berücksichtigung ausländischer „Vorfeldnor-men“, die für die Auslegung deutscher Straftatbestände von Bedeutung sein können, insbesondere für die Ausfüllung von Blankettvorschriften durch ausländische Rechtsvorschriften. So will Knaup beispielsweise bei Straftaten in Folge der Ver-letzung von Arbeitsschutz- und Sicherheitsvorschriften auf die lex loci abstellen und eine Strafbarkeit wegen Körperver-letzungsdelikten nur dann annehmen, wenn die maßgeblichen ausländischen Vorschriften missachtet wurden, mögen diese auch deutlich hinter deutschen Arbeitsschutz- und Sicherheits-vorschriften zurückbleiben (S. 131 f.). Dies soll jedenfalls solange gelten, als die ausländischen Vorschriften nicht ge-gen den deutschen ordre public verstoßen (S. 133). Dieser Einschränkungsversuch versage allerdings in Konstellationen, in denen die ausländische Rechtsordnung keine den deut-schen Vorschriften vergleichbaren Ausfüllungsnormen kenne (S. 139). Überlegungen, den Rechtsgedanken des § 3 Abs. 2 Reichsstrafgesetzbuch 1940 anzuwenden und die Strafbarkeit des Teilnehmers von der weiteren Voraussetzung abhängig zu machen, dass die Tat am Tatort ein strafwürdiges Unrecht darstelle, verwirft Knaup zu Recht. Zwar stehe der Wortlaut des § 9 Abs. 2 S. 2 StGB dieser Überlegung nicht per se entgegen, denn ein Verhalten kann auch dann Unrecht sein, wenn es nicht mit Strafe bedroht ist. Jedoch würde dies vo-raussetzen, dass in jedem Einzelfall ermittelt werden muss, ob über die fehlende Strafbarkeit hinaus ein Verhalten gegen zivil- oder verwaltungsrechtliche Grundsätze des ausländi-schen Staates verstoßen habe. Abgesehen von den damit ver-bundenen praktischen Schwierigkeiten bestehen erhebliche Zweifel, ob eine derartige Strafnorm dann noch hinreichend bestimmt im Sinne von Art. 103 Abs. 2 GG ist. Die Zustim-mung des Verf. findet die Überlegung von Miller/Rackow

3, § 23 Abs. 2 StGB analog anzuwenden, da die Inlandsteil-nahme an einer straflosen Auslandstat strukturell mit dem Versuch vergleichbar sei. In beiden Fällen liege das Hand-lungsunrecht vor, während das Erfolgsunrecht wegen der fehlenden Strafbarkeit im Ausland fehle. Dies rechtfertige es, im Einzelfall bei dem Inlandsteilnehmer von Strafe abzuse-hen oder jedenfalls die Strafe zu mildern. Im Übrigen besage § 9 Abs. 2 S. 2 StGB lediglich, dass deutsches Strafrecht anwendbar sei, jedoch nicht wie dies im Einzelnen zu ge-schehen habe. Möglich sei es daher, die Wertung des auslän-dischen Rechts im Rahmen der eigentlichen Strafrechtsan-wendung zu berücksichtigen. Nach der Lehre von der objek-tiven Zurechnung ist ein Erfolg nur dann zurechenbar, wenn

3 Miller/Rackow, ZStW 117 (2005), 379.

der Täter eine rechtlich relevante Gefahr geschaffen habe, mithin kein erlaubtes Risiko bzw. kein sozial adäquates Han-deln mehr vorliegt. Für die Frage, welches Handeln noch als erlaubtes Risiko bzw. als sozialadäquat anzusehen sei, kön-nen auch Wertentscheidungen des ausländischen Rechts Berücksichtigung finden. Diese dogmatische Herleitung erlaube eine flexible Handhabung deutschen Strafrechts, ohne auf die ausländischen Wertentscheidungen absolut vorfestge-legt zu sein. Andererseits bleibe damit eine erhebliche Unsi-cherheit bestehen, denn es stehe im freien Ermessen der Judi-kative, ob und inwieweit die ausländischen Wertentscheidun-gen Berücksichtigung finden (S. 156 f.).

Abschließend plädiert der Verf. dafür, den zu weiten An-wendungsbereich von § 9 Abs. 2 S. 2 StGB de lege ferenda einzuschränken. Dies solle dadurch geschehen, dass die Wer-tentscheidung der §§ 5 bis 7 StGB Berücksichtigung finden, sodass ein Gleichlauf der Bestrafung von Haupttäter und Teil-nehmer erreicht werden kann. Unbeschadet der entsprechen-den Anwendung der §§ 5, 6 und 7 StGB soll danach der im Inland handelnde Teilnehmer an einer Auslandstat nur dann deutschem Strafrecht unterliegen, wenn die Tat nach dem Recht des Tatorts mit Strafe bedroht ist oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt.

Mit seiner Arbeit gibt der Verf. einen umfassenden Über-blick über die dogmatische und strukturelle Einordnung des § 9 Abs. 2 S. 2 StGB in die Lehre vom Strafanwendungs-recht. Dass die Norm zu einer ubiquitären Anwendung des deutschen Strafrechts und zu Wertungswidersprüchen führt, wenn zwar der Inlandsteilnehmer bestraft werden kann, nicht aber der im Ausland handelnde Haupttäter, selbst wenn er sich in Deutschland aufhält, bedauert der Verf. zu Recht. Alle dogmatischen Versuche, den Anwendungsbereich der Norm einzuschränken, können aber lediglich eine Restriktion in Randbereichen bewirken. Aufgrund des klaren Gesetzeswort-lauts bleiben Unternehmensleiter in dem Dilemma, dass sie ihr gesamtes Handeln nach mindestens zwei Rechtsordnun-gen ausrichten müssen, dem deutschen Strafrecht und dem Recht des Staates, in welchem sich ihr Handeln auswirkt. Letztlich kann hier nur die von Knaup vorgeschlagene Geset-zesänderung Abhilfe schaffen.

Dr. Christian Pelz, Rechtsanwalt und Fachanwalt für

Strafrecht und Steuerrecht, München