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Die sechs kleinen Klavierstücke entstanden 1911. Schönberg komponierte die ersten fünf Stücke am 19. Februar „wie in einem schöpferischen Rausch an einem einzigen Tag“[1]. Das sechste Stück entstand am 17. Juni 1911 in Erinnerung an den am 18. Mai verstorbenen Komponisten Gustav Mahler[2]. Die Uraufführung des Zyklus’ fand am 4. Februar 1912 in Berlin im Harmonium-Saal statt, Pianist war Louis Closson. Der Erstdruck von op. 19 erschien bei der Universal Edition in Wien im Oktober 1913[3]. VI. Sehr langsame Viertel .----Wie eine ruhige Vision huscht das sechste Stück „sehr langsam“ und in einer verhaltenen Dynamik am Ohr des Hörers vorbei. Es beginnt im pianissimo. Der dynamische Höhepunkt befindet sich in Takt 7, ein piano, das kurz crescendiert wird. Feinste dynamische Abstufungen reichen über ein pianissimo und ein dreifaches piano bis hin zu einem vierfachen pianissimo. Ein Sechsklang bildet als Zentralklang die motivische Basis des Stücks. Auftaktig setzen die ersten drei Töne afish ein, nach drei Vierteln wird der Klang durch die Töne gcf angereichert. Diese Kombination tritt im Stück insgesamt viermal auf, jedoch stets in variierter Form. Sie unterscheiden sich durch die Länge des Klangs sowie die rhythmischen Werte der Aufeinanderfolge: Beim ersten wie auch beim zweiten Auftreten klingt der obere Akkord um drei Viertel vor, beim dritten und vierten Mal jeweils nur eine Viertel. Das statische Klangbild wird durch kleine melodische Vorgänge unterbrochen. Vom dritten bis in den vierten Takt erklingt ein Seufzermotiv dise–dis. Das e’’’ ist dabei gleichzeitig kleine Sekunde zu dis’’’ und kleine None zu dis’’. Der Seufzer ist ein Rückbezug auf den Sechsklang im ersten Takt des Stückes. Durch den Sekunden- bzw. Nonenschritt erinnert er an die Dissonanz ffis im ersten Klang.[17] Die nächsten melodischen Gänge sind in den Takten 5 und 6 zu finden. Der Akkord afish wird durch den Akkord cfb, einer Variation des Akkords der Unterstimme aus dem ersten Takt, abgelöst. Dabei bilden melodisch die beiden oberen Töne beider Akkorde eine übermäßige Oktave (hb bzw. fisf) oder enharmonisch verwechselt eine kleine None. Auf der letzten Viertelnote des fünften Takts schiebt sich auch der Akkord in der Unterstimme abwärts. Über der Septime ed setzt das Seufzermotiv gisfis ein, hier als Variation des ersten Seufzers aus Takt 34 in verkürzter Form.[18] Die Klanglichkeit des Sechsklangs fehlt in Takt 7 vollkommen, die Melodie tritt unbegleitet hervor. In ihr findet sich ein weiterer Bezug zum Seufzermotiv. Über zwei Oktaven gespannt ist dcisd die rhythmisch variierte Umkehrung des Seufzers aus Takt 34. Auch die Tonfolge fises (enharmonisch dis) ist mit dem dritten Takt eng verbunden. Die Melodie wird in Takt 8 in die Mittelstimmen verlagert, das Seufzermotiv ist hier zweimal zuhören (ees und fisg). Umrahmt werden sie von einem fünftönigen Akkord. Nach einer Generalpause wird im Schlusstakt der Sechsklang aus dem ersten Takt noch einmal aufgegriffen. Die melodische Bewegung verdünnt sich, „wie ein Hauch“ erklingen im Bass die Töne b–as als weitere Variation des Seufzermotivs.[19] -----Schönberg legte großen Wert auf eine angemessene Ausführung seiner sechs Klavierstücke. Die erste Seite der Partitur gibt einen wichtigen Hinweis: „Nach jedem Stück ausgiebige Pause; die Stücke dürfen nicht ineinander übergehen!“[20] Die Stücke sollten mit einem sehr ruhigen Gestus vorgetragen werden. Diese Forderung Schönbergs bereitete den Ausführenden häufig Probleme. Über eine Probe der Klavierstücke mit dem Pianisten Egon Petri am 22. Januar 1912 vertraut Schönberg folgenden Eintrag seinem Tagebuch an: „Er wird die Stücke wahrscheinlich ausgezeichnet spielen. Mindestens klavieristisch. Im Ganzen nahm er alles zu rasch; oder vielmehr zu eilig. Ich sagte zu Webern: zu meiner Musik muß man Zeit haben. Die ist nichts für Leute, die anderes zu tun haben. Aber es ist jedenfalls ein großes Vergnügen, seine Sachen von jemandem zu hören, der sie technisch vollkommen beherrscht.“[21]

Schönberg Vl Sehr Langsam

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Page 1: Schönberg Vl Sehr Langsam

Die sechs kleinen Klavierstücke entstanden 1911. Schönberg komponierte die ersten fünf

Stücke am 19. Februar „wie in einem schöpferischen Rausch an einem einzigen Tag“[1]. Das

sechste Stück entstand am 17. Juni 1911 in Erinnerung an den am 18. Mai verstorbenen

Komponisten Gustav Mahler[2]. Die Uraufführung des Zyklus’ fand am 4. Februar 1912 in

Berlin im Harmonium-Saal statt, Pianist war Louis Closson. Der Erstdruck von op. 19

erschien bei der Universal Edition in Wien im Oktober 1913[3].

VI. Sehr langsame Viertel .----Wie eine ruhige Vision huscht das sechste Stück „sehr

langsam“ und in einer verhaltenen Dynamik am Ohr des Hörers vorbei. Es beginnt im

pianissimo. Der dynamische Höhepunkt befindet sich in Takt 7, ein piano, das kurz

crescendiert wird. Feinste dynamische Abstufungen reichen über ein pianissimo und ein

dreifaches piano bis hin zu einem vierfachen pianissimo. Ein Sechsklang bildet als

Zentralklang die motivische Basis des Stücks. Auftaktig setzen die ersten drei Töne a–fis–h

ein, nach drei Vierteln wird der Klang durch die Töne g–c–f angereichert. Diese Kombination

tritt im Stück insgesamt viermal auf, jedoch stets in variierter Form. Sie unterscheiden sich

durch die Länge des Klangs sowie die rhythmischen Werte der Aufeinanderfolge: Beim ersten

wie auch beim zweiten Auftreten klingt der obere Akkord um drei Viertel vor, beim dritten

und vierten Mal jeweils nur eine Viertel. Das statische Klangbild wird durch kleine

melodische Vorgänge unterbrochen. Vom dritten bis in den vierten Takt erklingt ein

Seufzermotiv dis–e–dis. Das e’’’ ist dabei gleichzeitig kleine Sekunde zu dis’’’ und kleine

None zu dis’’. Der Seufzer ist ein Rückbezug auf den Sechsklang im ersten Takt des Stückes.

Durch den Sekunden- bzw. Nonenschritt erinnert er an die Dissonanz f–fis im ersten

Klang.[17] Die nächsten melodischen Gänge sind in den Takten 5 und 6 zu finden. Der

Akkord a–fis–h wird durch den Akkord c–f–b, einer Variation des Akkords der Unterstimme

aus dem ersten Takt, abgelöst. Dabei bilden melodisch die beiden oberen Töne beider

Akkorde eine übermäßige Oktave (h–b bzw. fis–f) oder enharmonisch verwechselt eine kleine

None. Auf der letzten Viertelnote des fünften Takts schiebt sich auch der Akkord in der

Unterstimme abwärts. Über der Septime e–d setzt das Seufzermotiv gis–fis ein, hier als

Variation des ersten Seufzers aus Takt 3–4 in verkürzter Form.[18] Die Klanglichkeit des

Sechsklangs fehlt in Takt 7 vollkommen, die Melodie tritt unbegleitet hervor. In ihr findet

sich ein weiterer Bezug zum Seufzermotiv. Über zwei Oktaven gespannt ist d–cis–d die

rhythmisch variierte Umkehrung des Seufzers aus Takt 3–4. Auch die Tonfolge fis–es

(enharmonisch dis) ist mit dem dritten Takt eng verbunden. Die Melodie wird in Takt 8 in die

Mittelstimmen verlagert, das Seufzermotiv ist hier zweimal zuhören (e–es und fis–g).

Umrahmt werden sie von einem fünftönigen Akkord. Nach einer Generalpause wird im

Schlusstakt der Sechsklang aus dem ersten Takt noch einmal aufgegriffen. Die melodische

Bewegung verdünnt sich, „wie ein Hauch“ erklingen im Bass die Töne b–as als weitere

Variation des Seufzermotivs.[19] -----Schönberg legte großen Wert auf eine angemessene

Ausführung seiner sechs Klavierstücke. Die erste Seite der Partitur gibt einen wichtigen

Hinweis: „Nach jedem Stück ausgiebige Pause; die Stücke dürfen nicht ineinander

übergehen!“[20] Die Stücke sollten mit einem sehr ruhigen Gestus vorgetragen werden. Diese

Forderung Schönbergs bereitete den Ausführenden häufig Probleme. Über eine Probe der

Klavierstücke mit dem Pianisten Egon Petri am 22. Januar 1912 vertraut Schönberg folgenden

Eintrag seinem Tagebuch an: „Er wird die Stücke wahrscheinlich ausgezeichnet spielen.

Mindestens klavieristisch. Im Ganzen nahm er alles zu rasch; oder vielmehr zu eilig. Ich sagte

zu Webern: zu meiner Musik muß man Zeit haben. Die ist nichts für Leute, die anderes zu tun

haben. Aber es ist jedenfalls ein großes Vergnügen, seine Sachen von jemandem zu hören, der

sie technisch vollkommen beherrscht.“[21]