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Das geht doch nicht! von Brigitte Schär, mit Illustrationen von Jacky Gleich Carl Hanser Verlag, München 1995 8 Auflagen im Hardcover, 2 Theaterstücke, Hörspielfassungen, Schweizer Jugendbuchpreis, spanische Übersetzung, 3 Auflagen im Taschenbuch, dtv, Reihe Hanser , zurzeit vergriffen
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"Es geht nicht", haben wir ihr gesagt. "Nicht in unserem Wohnzimmer."
Doch sie hat ja immer schon gemacht, was sie wollte. Hat immer ihren Kopf
durchgesetzt, schon von ganz klein auf.
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Woher sie all dieses Holz hatte, ist uns immer noch schleierhaft. Immer
mehr schleppte sie davon an. In unserem Wohnzimmer sah's vielleicht aus!
Dann begann sie zu hämmern. Mit Hammer und Säge konnte sie umgehen.
Keine Ahnung, weshalb. In unserer Familie gab es sonst nur Menschen mit
zehn linken Daumen. Sie aber hat von ganz klein an gesägt, gefräst,
gehämmert und weiß was noch alles.
Und nun hämmerte sie an diesem furchtbar großen Ding herum. In unserem
Wohnzimmer.
Und das an Weihnachten!
Als erstes hatte sie den Baum aus dem Raum geschafft. Dann kamen der
Tisch dran, die Stühle, das Sofa, die anderen Sessel, der kleine Tisch, der
Fernseher und schließlich die Schrankwand. Und immer noch arbeitete sie
fleißig weiter.
Wir hatten was dagegen, und ob! Doch auf uns hatte sie noch nie gehört.
Wir konnten immer sagen, was wir wollten. Auch schreien hat nie etwas
genützt. Das schon gar nicht. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte,
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so musste das geschehen. Und nie wollte sie, dass ihr jemand bei
irgendetwas half. Bewahre! Sie hatte ihren Stolz. Sie schaffte immer alles
allein. Weiß der Himmel, woher sie diese Riesenkräfte hatte.
Sie ist unsere jüngste Tochter und war schon immer viel klüger, viel
geschickter, viel kräftiger, viel ...ja einfach alles viel mehr als jeder von uns.
Ich hätte ihr gerne geholfen beim Fräsen und Hämmern. Ich mache das
gern, trotz meiner zehn linken Daumen.
"Was soll es denn diesmal werden?" fragten wir sie unter der offenen
Wohnzimmertür.
"Das verrate ich nicht", hat die Kleine nur verschmitzt und verschwitzt
gesagt und uns die Tür vor der Nase zugeschlagen.
"Kind, sei doch vernünftig", baten wir sie. "Doch nicht an Heiligabend.
Nicht im Wohnzimmer. Wo sollen wir denn
feiern?"
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In unserem Haus sah es aus wie auf einer Baustelle, wie wenn wir umziehen
wollten. Der Christbaum stand in der Küche, Tische und Stühle versperrten
den Flur, die Schrankwand hatte sie in unser Schlafzimmer gezwängt. Nur
in ihr eigenes Zimmer hatte sie nichts gestellt.
"Du hast ein eigenes Zimmer. Warum arbeitest du nicht dort drin?" fragten
wir sie.
"Zu klein", hat sie gerufen und nicht mit Hämmern aufgehört.
"Das geht doch nicht", haben wir zurückgerufen. "Was sollen denn die
Nachbarn denken? Bald ist Bescherung. Da wird doch auch für dich etwas
unter dem Christbaum liegen."
Sie hämmerte nur immerzu weiter. Dieses Kind!
Wir anderen aßen dann in der Küche. Halb unter dem Christbaum. Das feine
Essen! Auch die Geschenke überreichten wir uns dort.
Wir riefen immer wieder nach ihr. Doch sie wollte nicht mit ihrem
Hämmern und Sägen aufhören. Gegen Mitternacht wurde es uns zu bunt.
"Schluss jetzt!" brüllte die ganze Familie im Chor. "Jetzt kommst du raus!"
Natürlich kam sie nicht raus.
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Irgendwann war es mit einem Mal verdächtig still. Wir drückten die Klinke
nieder. Die Tür ließ sich nicht öffnen. Zugesperrt, von innen. Wir spähten
nacheinander durchs Schlüsselloch. Nichts war zu sehen. Von innen
zugehängt. Wir verließen das Haus, um durch das Fenster ins Wohnzimmer
zu blicken. Sie hatte auch die Läden geschlossen. Nichts zu machen. Nicht
gegen ihren Willen.
Wir gingen zu Bett.
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Am nächsten Morgen weckte uns schon in aller Frühe erneutes Hämmern.
"Frohe Weihnachten!", riefen wir erschreckt und sprangen au den Betten.
"Muss das sein?", fragten wir durch die noch immer verschlossene
Wohnzimmertür. Das Hämmern hörte nicht auf. Es ging uns beim Frühstück
durch Mark und Bein.
"Wenn das nicht bald aufhört", riefen wir, "ziehen wir aus. Wir kommen nie
mehr zurück. Nicht bevor dieses unmögliche Kind nicht wieder alles in
Ordnung gebracht hat."
"Aufhören!"
Wir schrien es sehr laut, sie musste es gehört haben. Sie aber scherte sich
nicht darum.
"Willst du denn nichts essen?" fragten wir, nun wieder an der Tür.
"Keine Zeit", rief sie.
"Du musst doch etwas essen."
"Ich bin bald soweit."
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Da waren wir aber gespannt. Und wirklich, nicht lange, und wir hörten ein
Geheul. Wir stürzten zur Tür. Was war los? Um Himmels willen, was war
geschehen...?
Nichts war geschehen. Unser Kind hatte vor Freude geheult.
"Was nun?" fragten wir durch die Tür. "Kommst du endlich raus?"
"Noch nicht", sagte sie. "Ich muss noch streichen."
"Lass uns doch auch etwas tun", baten wir. Sie antwortete nicht.
Was waren das für Weihnachten? Das konnte sie doch mit uns nicht
machen. All die Sauerei, all der Lärm... Dumpf saßen wir um den
Küchentisch.
Irgendwann hörten wir Schritte, wir hörten sie lachen.
Plötzlich stand sie in der Küchentür. Sie musste aus dem
Wohnzimmerfenster gestiegen sein.
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"Ich habe Hunger", sagte sie nur.
Die sah ja vielleicht aus! Nicht wie unser Kind. Von oben bis unten
vollgekleckert. Die Hände schwielig. Das Haar ver- klebt. Die Augen kaum
noch zu sehen, die Kleider zerrissen. Keine Schuhe und Strümpfe an.
"Wasch dich, zieh neue Kleider an, dann kriegst du was zu essen!"
Natürlich geschah alles genau so, wie sie es wollte. Sie öffnete mit diesen
klebrigen Händen den Kühlschrank, nahm sich heraus, was immer sie
wollte, ließ sich unter den Weihnachtsbaum plumpsen und begann zu essen.
Wir anderen waren machtlos. Wir mussten zusehen, wie sich dieses
schmutzige Kind all die festlichen und mit Liebe gekochten Herrlichkeiten
in den Mund schob, bis es ganz satt war.
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"Jetzt wäschst du dich aber! Ja?"
"Vielleicht", sagte unser Kind, "vielleicht auch nicht."
Es hatte alles keinen Sinn. Es hatte noch nie einen Sinn gehabt. Wir waren
selber schuld. - Nein, wir waren doch nicht schuld. Warum auch?! Dieses
Kind war unmöglich, das war alles. War ganz anders als seine Geschwister.
Ausgerechnet die Jüngste!
Wir waren erschöpft und mutlos.
"Mach, was du willst", sagten wir.
"Ich will, dass du mich badest", sagte sie unvermittelt. Sie meinte damit
mich, ihren Vater.
Ich war überrascht und gerührt. Sie ließ sich sogar, schmutzig wie sie war,
in die Arme nehmen und die Treppe hinauf ins Badezimmer tragen. Ich
schrubbte sie, bis wieder mein Kind zum Vorschein kam.
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"Liebst du mich?" fragte sie und schmiegte sich klatschnass an mich.
"Natürlich", seufzte ich.
"Warum seufzt du denn?" fragte sie. Sie war ja ein so kluges Kind. "Es wird
alles wieder gut", meinte sie. Ihre Wange hatte sie an meine gelegt, und mit
ihrer Hand kraulte sie mir die Haare. "Bist du mir böse?"
Nein, böse war ich schon lange nicht mehr. Ich schüttelte glücklich den
Kopf.
"Frohe Weihnachten", sagte sie.
"Frohe Weihnachten", sagte ich.
Ich half ihr beim Ankleiden, dann gingen wir zu den anderen zurück.
"Jetzt ist Bescherung", rief sie. "Schließt eure Augen!"
Wir taten es. Wir hörten sie eine Tür aufschließen.
"Öffnet die Augen!" rief sie. Wir traten zur Wohnzimmertür.
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Und da sahen wir das Schiff! Es füllte das ganze Wohnzimmer aus, und es
war kein kleines Wohnzimmer.
"Für euch alle zusammen", sagte sie.
Wir bestaunten das Schiff. Wir waren überwältigt, wir waren gerührt, wir
waren stolz. Das hatte unser Kind ganz allein
gemacht?
"Steigt ein!" befahl sie. Wir kletterten über eine kleine Treppe in das Schiff
hinein.
"Wunder, wunderschön", stammelten wir fassungslos.
"Platz genug für alle", meinte sie.
Wir nickten mit Tränen in den Augen.
"Nur schade, dass es nicht im Wasser liegt, sondern hier in unserem
Wohnzimmer steht", wagte schließlich doch einer von uns zu bemerken.
Sie winkte ab. Sie hatte auch darüber schon nachgedacht, unser kluges
Kind.
"Ich werde das Haus abreißen", verkündete sie, "gleich nachher.
Dann ziehen wir alle zusammen das Schiff zum Meer und fahren zur See."
Und genau so geschah es. Helfen ließen sie sich auch jetzt nicht. Es tat uns
in der Seele weh, unser schönes Heim unter ihren Hammerschlägen fallen
zu sehen. Gleichzeitig aber spürten wir so etwas wie Abenteuerlust in uns
aufsteigen.
Das Haus gaben wir alle nur sehr ungern her. Gegen das Schiff aber hatten
wir nichts einzuwenden.
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