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Schreiborte des deutschen Mittelalters

Schreiborte des deutschen Mittelalters · Stefan Pätzold Magdeburg . . . ..... 329 Britta Hedtke und Christoph Winterer ... 2 Wolfgang Zorn: Augsburg. Geschichte einer deutschen

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Schreiborte des deutschen Mittelalters

Die Hand Otfrids von Weißenburg in Wien, ÖNB, Cod. 2687, Bl. 145v(‚Evangelienbuch‘, Buch IV, Kap. 29, 43-58)

Schreibortedes deutschen Mittelalters

Skriptorien - Werke - Mäzene

Herausgegeben von

Martin Schubert

De Gruyter

ISBN 978-3-11-021792-6

e-ISBN 978-3-11-021793-3

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� 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen�� Gedruckt auf säurefreiem Papier

Printed in Germany

www.degruyter.com

Inhalt

Martin SchubertEinleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Klaus WolfAugsburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

Corinna VirchowBasel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

Dieter MerzbacherBraunschweig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

Jens HausteinEisenach mit der Wartburg und der Neuenburg . . . . . . . . . . . 105

Christoph FasbenderErfurt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

Ernst HellgardtFreising . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

Gereon Becht-Jördens und Wolfgang HaubrichsFulda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

Martin SchubertKöln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

Lydia WegenerKonstanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

Alissa Theiß und Jürgen WolfLübeck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

VI Inhalt

Wybren ScheepsmaMaastricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

Stefan PätzoldMagdeburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329

Britta Hedtke und Christoph WintererMainz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347

Jürgen WolfMarburg und Umgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373

Ralf G. PäslerMarienburg und das Preußenland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387

Theodor NoltePassau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399

Lenka Vodrazkova und Vaclav BokPrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425

Christa Bertelsmeier-KierstRegensburg (einschließlich Prüll und Windberg) . . . . . . . . . . . 459

Sonja GlauchSt. Gallen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493

Gernot Schafferhofer und Martin SchubertVorau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513

Norbert KössingerWeißenburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537

Katrinette BodarweWerden und Essen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549

Peter WiesingerWien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579

Christopher KöhlerWürzburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621

Max SchiendorferZürich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645

VIIInhalt

Martin BaischDas Skriptorium des Cgm 51 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669

Robert Schöller und Gabriel ViehhauserDas Skriptorium des Sangallensis 857 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 717

Autorinnen und Autoren des Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773

Schreiborte in diesem Band

Klaus Wolf

Augsburg

Die ältesten, frühmittelalterlichen und bis in die Neuzeit kontinu-ierlich aktiven Schreiborte Augsburgs, Domstift und Afra-Kloster,lassen sich auf spätantike Wurzeln zurückführen. Denn der Bi-schofssitz in der wohl 15 vor Christus bei der Eroberung des Vor-alpenraums durch Drusus und Tiberius gegründeten Augusta Vin-delicorum ist mit dem politischen Vorort der römischen ProvinzRaetien1 untrennbar verbunden, während die (historisch nicht nach-weisbare) Augsburger Märtyrerin Afra der Diokletianischen Ver-folgung zum Opfer gefallen sein soll. Das zumindest hohe Alter desblühenden lokalen Afra-Kultes bezeugt der spätrömische Schrift-steller Venantius Fortunatus, der im Jahre 565 auf einer Wallfahrtvon Ravenna zum Grab des heiligen Martin nach Tours in Augsburg(am Zusammenfluss von Wertach und Lech) Rast machte: Pergis adAugustam, qua Virdo et Licca fluentant, / Illic ossa sacrae venera-bere martyris Afrae.2

Dass in der Klerikergemeinschaft, die sich um das Afra-Grabbildete, von Anfang an und ebenso wie beim Domstift sowie in derStadtverwaltung (seit Römerzeiten) auf Pergament lateinisch ge-schrieben wurde, kann vermutet, aber nicht bewiesen werden. Er-halten sind nur noch römisch-antike lateinische Inschriften in Steinund Ton, die später das Interesse der Augsburger Humanisten undnamentlich Konrad Peutingers erregten, der die alten Inschriftenkonservierte und transkribierte (die berühmte ,Tabula Peutingeri-ana‘, eine nach dem humanistischen Augsburger Stadtschreiber be-

1 Zum antiken Augsburg ausführlich Gunther Gottlieb: Das römische Augsburg.Historische und methodische Probleme einer Stadtgeschichte. 2., erweiterte Auf-lage. München 1984 (Schriften der Philosophischen Fakultäten der UniversitätAugsburg 21).

2 Wolfgang Zorn: Augsburg. Geschichte einer deutschen Stadt. 2., vermehrte Auf-lage. Augsburg 1972, S. 44.

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nannte, mehrere Meter lange Landkarte mit dem gesamten römi-schen Fernstraßennetz, selbst eine Kopie, hat ursprünglich nichtsmit Augsburg zu tun).3

Erschwerend für die Rekonstruktion der nachantiken, früh-mittelalterlichen literarischen Augsburger Verhältnisse kommthinzu, dass eine politische, geschweige denn kulturelle Kontinuitätvon der römischen Spätantike bis zum Frankenreich ebenso wenignachweisbar ist wie eine lückenlose Bischofssukzession.4 Un-durchschaubar bleibt konkret die politische (und damit letztlichauch kulturelle) Zugehörigkeit Augsburgs vom 6. bis 8. Jahrhun-dert in einem labilen Machtgefüge zwischen Ostgoten (Theoderichder Große in Ravenna), Alemannen (Stammesherzogtum) undBaiern (Stammesherzogtum der Agilolfinger) sowie schließlichFranken (vor allem seit Karl dem Großen). Dies hängt nicht zu-letzt mit der Grenzlage Augsburgs unmittelbar am Westufer desLechs zusammen, wobei die Stammesherzogtümer der Alemannenund Baiern hier am Fluss aufeinanderstießen. Jener das römischeRätien durchschneidende, in den Alpen entspringende Lech stelltnoch heute eine Sprachgrenze zwischen Alemannisch-Schwäbischund Bairisch dar.5 Für das 8. und 9. Jahrhundert muss dies abernicht viel heißen, zeigen doch sprachhistorische Forschungen, dassältestes Alemannisch und Bairisch nur schwer geschieden werdenkönnen.6

Zu dieser anfänglichen dialektgeographischen Unbestimmtheitpasst auch das seit dem Frühmittelalter weit nach Altbayern oder(historisch präziser:) in das Stammesherzogtum Baiern reichendeGebiet des Augsburger Bistums, das vielleicht zeitweilig unter dem

3 Vgl. Gunther Gottlieb [u. a.]: Römische Inschriften aus Augsburg. In: Zeitschriftdes Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 75, 1981, S. 87–96. – Hans-Jörg Künast [u. a.]: Die Bibliothek Konrad Peutingers. Edition der historischenKataloge und Rekonstruktion der Bestände. 2 Bände. Tübingen 2003 und 2005(Studia Augustana 11).

4 Zur Kontinuitätsproblematik vgl.: Geschichte der Stadt Augsburg von der Rö-merzeit bis zur Gegenwart. Hrsg.von Gunther Gottlieb u. a. Stuttgart 1984 [undspätere Nachdrucke], S. 78–121.

5 Vgl. Werner König und Manfred Renn: Kleiner Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben. Augsburg 2007 (Materialien zur Geschichte des Bayerischen Schwaben30).

6 Vgl. Rolf Bergmann und Ursula Götz: Altbairisch = Altalemannisch? Zur Aus-wertung der ältesten Glossenüberlieferung. In: Deutsche Sprache in Raum undZeit. Festschrift Peter Wiesinger. Hrsg. von Peter Ernst [u. a.]. Wien 1998,S. 445–461.

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politischen Einfluss der Agilolfinger stand.7 Überträgt man die lite-rarischen Verhältnisse im agilolfingerzeitlichen Baiern (bis 788:Sturz Tassilos III.) mit seiner ausschließlich lateinischen Schriftlite-ratur an den auf antike Wurzeln zurückgehenden Bischofssitzen undHerzogsresidenzen Salzburg und Regensburg (mit ihrer teilweiseromanischen und mehrheitlich christlichen Bevölkerung) auf dengleichfalls römisch-antik fundierten Bischofssitz Augsburg, danndürfte es auch dort (wie in Salzburg und Regensburg) bis 788 keinealthochdeutsche Literatur gegeben haben.8 Erst danach, im 9. Jahr-hundert und mit der sogenannten Karolingischen Renaissance, setztnachweislich für Baiern eine deutlich wahrnehmbare (schriftlichüberlieferte) volkssprachige Literatur ein. So beginnt in der Tat dieFreisinger Griffelglossierung erst im 9. Jahrhundert (vgl. den BeitragFreising in diesem Band).9 Für das geographisch nahe AugsburgerDomstift und das dortige Afra-Kloster ist aber nicht einmal einevergleichbare althochdeutsche Überlieferung im 9. Jahrhundertnachweisbar,10 dagegen vielleicht eine bescheidene Schreibschule la-teinischer Literatur und stellenweise bis heute fassbarer spärlicherlateinischsprachiger Buchbesitz.11 Durchaus reicher Bücherbesitz ist

7 Das in der Augsburger Geschichtsschreibung viel umrätselte frühmittelalterlicheBistum Neuburg-Staffelsee dürfte m. E. mit dem Ausgreifen der Agilolfinger nachWesten zu tun haben. Dabei stellte Neuburg an der Donau wie Augsburg (sowiedie agilolfingischen Bischofssitze Salzburg, Regensburg und Passau) einen ur-sprünglich römischen Ort dar. 788 (Sturz Tassilos III.) wurde Neuburg-Staffelseean das Bistum Augsburg angegliedert, das sich bis heute östlich und westlich desLechs erstreckt.

8 Vgl. Klaus Wolf: Gab es eine Literaturpolitik der Agilolfinger? Ein Beitrag zurregionalen Literaturgeschichtsschreibung. In: Archiv für das Studium der neuerenSprachen und Literaturen 246, 2009, S. 283–292.

9 Vgl. Oliver Ernst: Die Griffelglossierung in Freisinger Handschriften des frühen9. Jahrhunderts. Heidelberg 2007 (Germanistische Bibliothek 29).

10 Vgl. Rolf Bergmann [u. a.]: Katalog der althochdeutschen und altsächsischen Glos-senhandschriften. Band VI. Teil G. Abbildungen. Berlin, New York 2005,S. 2414–2431. Die dort genannten glossierten Handschriften der AugsburgerDombibliothek stammen ursprünglich aus Füssen (Sankt Mang) und Ottobeuren.

11 Etwa zwei Pergamenthandschriften des 9. Jahrhunderts der Augsburger Ordina-riatsbibliothek (Nrr. 13 und 14), die Schreibschule und Bibliothek des Afra-Klos-ters in karolingischer Zeit repräsentieren sollen. Vgl. Hans Pörnbacher [u. a.]: Li-teratur in Bayerisch Schwaben. Von der althochdeutschen Zeit bis zur Gegenwart.Weißenhorn 1979 (Beiträge zur Landeskunde von Schwaben 6), S. 1 mit weitererLiteratur. – Aus Bischof Hantos (809–815) Eigentum ist ein Evangeliar, eineHandschrift des 8. Jahrhunderts auf Purpurpergament mit eingehefteten wesent-lich älteren Miniaturen, als Clm 23631 erhalten; siehe Paul Ruf: Bistum Augsburg.München 1932 (Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und derSchweiz III/1), S. 8.

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beim hochgelehrten Augsburger Bischof Adalbero (887–909) grund-sätzlich anzunehmen. Immerhin reformierte er die Abtei Lorschund förderte Sankt Gallen, beriet Kaiser Arnulf, erzog Ludwig dasKind und trat selbst als Musiker hervor. Mäzenatisch wirkte er (inAugsburg?) wohl ebenfalls, widmete ihm doch Regino von Prümseine Weltchronik.12

Die mit der Christianisierung noch ungetaufter Germanen undder Katechese der Neubekehrten in Verbindung zu bringende spär-liche13 althochdeutsche Literatur gehört nicht dem Domstift, son-dern den ländlichen Gebieten um die Bischofsstadt an. Diese nichtmit dem Schreibort Augsburg unbedingt direkt in Beziehung zusetzende althochdeutsche Literatur ist, da konkrete Anhaltspunktefehlen, einem im weiteren Sinne missionarischen Sitz im Leben zu-zuordnen, etwa im Sinne einer Festigung des noch jungen christli-chen Glaubens bei den germanischstämmigen Einwanderern in diewohl ursprünglich bereits christianisierte, teilweise raeto-roma-nisch-sprachige14 Augsburger Diözese.

So kann das ,Wessobrunner Gebet‘ um 814 prinzipiell in Augs-burg oder in einem anderen Skriptorium der Augsburger Diözeseentstanden sein (wobei es erst später in die Bibliothek des KlostersWessobrunn gelangte). Der Überlieferungsträger des teilweise stab-reimenden Schöpfungsgedichts (München, BSB, Clm 22053), istfreilich eine Kopie, die eher nach Regensburg als nach Augsburgweist.15 Überhaupt nichts mit dem Augsburg des 9. Jahrhundertshat das bisweilen noch so genannte (rheinfränkische) ,Augsburger

12 Vgl. Ruf 1932 (Anm. 11), S. 8. – Der Vorgänger im Bischofsamt (bis 887), Witgar,war theologisch interessiert und besaß als Kanzleileiter Karls III. des Dicken ver-mutlich auch Bücher, ohne dass sich davon Exemplare bis heute in Augsburgerhalten haben; ebenso dürfte Bischof Bruno (1006–1029), welcher zuvor die kö-nigliche Kanzlei leitete, Bücher besessen haben. Vgl. Gottlieb 1984 (Anm. 4),S. 118.

13 „Aus Bayerisch-Schwaben sind uns keine nennenswerten Originalschriften dervorkarolingischen wie der karolingischen Zeit erhalten“; Fritz Peter Knapp: Lite-ratur vom frühen bis zum späten Mittelalter (750–1350). In: Handbuch der Lite-ratur in Bayern. Vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart. Geschichte und Interpre-tationen. Hrsg. von Albrecht Weber. Regensburg 1987, S. 27–45, hier S. 32.

14 Vgl. zur ansehnlichen romanischen Restbevölkerung Alois Schmid: Bayern undItalien im frühen und hohen Mittelalter. In: Bayern – Italien. Bayerische Landes-ausstellung 2010. Hrsg. von Rainhard Riepertinger, Evamaria Brockhoff [u. a.].Augsburg 2010 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur58/2010), S. 18–27 mit weiterer Literatur.

15 Vgl. Johannes Janota: Das ,Wessobrunner Gebet‘. In: Weber 1987 (Anm. 13),S. 47–57.

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Gebet‘ aus einer Handschrift des Domstifts (Clm 3851) zu tun, weiles höchstwahrscheinlich in Lothringen seinen Ursprung hatte.16

Auch für die ,Schwäbische Trauformel‘ ist frühmittelalterlicheHerkunft aus Augsburg nicht erweislich, obwohl der TrägerkodexClm 2 ebenfalls die im Umkreis der Domkanoniker entstandenen,Annales Augustani‘ (Ende 11. oder Anfang 12. Jahrhundert) ent-hält.17

Während im Frühmittelalter volkssprachiges Schrifttum fürAugsburg unerheblich18 scheint, bleibt die Rolle der altehrwürdigenInstitution des Klosters der Märtyrerin Afra für die deutsche Lite-ratur auch im hohen Mittelalter in der Summe wenig spektakulär.Im 11. Jahrhundert erfolgte die Umwandlung in ein Benediktiner-kloster, wobei der neue – um den früh kanonisierten, aus schwäbi-schem Grafengeschlecht stammenden Bistumspatron und Sieger19

der Lechfeldschlacht von 955 erweiterte – Name Sankt Ulrich undAfra erst gegen Ende des Jahrhunderts nachzuweisen ist. Vielleichtregte dieser für die Klerikergemeinschaft einschneidende Rechtsaktder Unterwerfung unter die ,Regula Benedicti‘ zur selbstvergewis-

16 Vgl. Wolfgang Haubrichs: Die Anfänge. Versuche volkssprachiger Schriftlichkeitim frühen Mittelalter (ca. 700–1050/60). 2., durchgesehene Auflage. Tübingen 1995(Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neu-zeit I/1), S. 246. – Stephan Müller: Althochdeutsche Literatur. Eine kommentierteAnthologie. Stuttgart 2007 (Universal-Bibliothek 18491), S. 194–195, 358. – AchimMasser: ,Augsburger Gebet‘. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfas-serlexikon, 2. Aufl. Hrsg. von Kurt Ruh, Burghart Wachinger u. a. 14 Bde. Berlin,New York 1978–2008 [im Folgenden 2VL] 1, 1978, Sp. 519.

17 „Die einzige Niederschrift dieser Rechtsformel befindet sich in einer AugsburgerHandschrift des 12. Jahrhunderts. Der Text ist jedoch viel älter und geht auf ger-manische Trauformeln zurück, wie sie aus dem Lombardischen und Angelsächsi-schen bekannt sind.“ So Pörnbacher 1979 (Anm. 11), S. 1–2 mit der Abbildung derTrauformel im Clm 2, vgl. auch ebda. S. 20–21. – Zu den ,Annales Augustani‘ vgl.:Von der Augsburger Bibelhandschrift zu Bertolt Brecht. Zeugnisse der deutschenLiteratur aus der Staats- und Stadtbibliothek und der Universitätsbibliothek Augs-burg. Hrsg. von Helmut Gier und Johannes Janota. Weißenhorn 1991, S. 188.

18 Hinzuweisen ist allerdings auf die kriegerischen Verheerungen, denen die ältes-ten Bücherbestände am Domstift und im Afra-Kloster zum Opfer gefallen sind,wie etwa die Eroberung Augsburgs im Jahr 1026 durch Welf II. im Bündnis mitHerzog Ernst von Schwaben (bekanntlich eines der historischen Vorbilder fürden ,Herzog Ernst‘). Vgl. zu den Schäden in Augsburg Gottlieb 1984 (Anm. 4),S. 122. – Hinweise auf verlorene Bücherschätze gibt etwa Froumund von Tegern-see, der um 1000 die bischöfliche Bibliothek in Augsburg rühmt. Vgl. Ruf 1932(Anm. 11), S. 8.

19 Ulrich selbst hatte seine Ausbildung in Sankt Gallen erfahren; er vereinbarte hoheGelehrsamkeit mit militärischer Begabung, die sich in der Befestigung Augsburgszeigte. Vgl. Gottlieb 1984 (Anm. 4), S. 115–121.

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sernden Beschäftigung mit (der eigenen) Geschichte an, denn derAbt (1127–1151) Udalschalk berichtet in einer lateinischen Schriftvon den Auseinandersetzungen zwischen seinem Vorgänger Eginound dem Augsburger Bischof Hartmann. Ferner verfasste er eineVita des heiligen Konrad von Konstanz sowie eine Vita des BischofsAdalbero und geistliche Lieder, darunter Hymnen zu Ehren vonUlrich und Afra. Nicht als Verfasser, nur als Anreger wirkte derAugsburger Benediktiner Isengrim 1143 für die Weltchronik Ottosvon Freising. Ebenso regte der Abt Friedebold eine Überarbeitungder lateinischen Ulrichs-Vita des ersten Biographen und Augenzeu-gen Gerhard von Augsburg durch Bern von Reichenau an. Der Pa-tron Ulrich wurde so für ,sein‘ Kloster legendengemäßer dargestellt.Diese Legendenfassung hat man (neben einer lateinischen Samm-lung von Ulrichs-Mirakeln) dem über 1500 höfische Reimpaarverseumfassenden mittelhochdeutschen ,Leben des heiligen Ulrich‘durch Albert von Augsburg zugrunde gelegt (Cgm 94). Albert istvermutlich mit Adilbert, dem (nach 1240 verstorbenen) Prior, iden-tisch. Die von ihm als Rezipienten anvisierten geistlich kint dürftendie Verslegende wohl im Vortrag aufgenommen haben, denn diedeutsche Legende ist nur in einer einzigen Handschrift aus demUlrichs- und Afrakloster erhalten, jedenfalls wird man die Legendedes Klosterpatrons zumindest dort geschätzt haben. In die selbeHandschrift trug um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert diemit dem Kloster in Verbindung stehende Klausnerin Engelbirn ei-nige volkssprachige Texte ein, darunter den mystischen Traktat ,Vonder Seele Würdigkeit‘. Dabei ist Engelbirn als Schreiberin, nicht alsAutorin aufzufassen. Die solchermaßen dokumentierte weiblicheRezeption deutschsprachiger Literatur ist auch für die ,Driu liet vonder maget‘ (,Drei Bücher von der Jungfrau‘) anzunehmen,welche1172 im Auftrag des Propstes Manegold von Siebnach (von 1182 bis1184 war der Mäzen noch Abt von Sankt Ulrich und Afra) verfasstwurden, freilich sollte der Marientext nicht Klausnerinnen undKlosterinsassinnen, sondern den Wöchnerinnen nützen. Autor warein Priester Wernher, der nichts weniger als ein komplettes Mari-enleben bis zum Ausblick auf das Jüngste Gericht schuf.20 Dieses

20 Vgl. Werner Williams-Krapp: Literatur im Mittelalter. In: Augsburger Stadtlexi-kon. 2. völlig neu bearbeitete und erheblich erweiterte Auflage. Hrsg. von GünterHägele [u. a.]. Augsburg 1998, S. 162–173, hier S. 162–163. – Pörnbacher 1979(Anm. 11), S. 3. – Karl-Ernst Geith: Albertus von Augsburg. In: 2VL 1, 1978,Sp. 114–116. – Kurt Gärtner: Priester Werner. In: 2VL 10, 1999, Sp. 903–915.

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Marienleben fügt sich somit unschwer in die pastoralen Bemühun-gen um die Ulrichslegende ein, so dass in der Summe das Ulrichs-und Afrakloster als Pflegestätte von volkssprachiger Seelsorge undlokaler Geschichtsschreibung anzusehen ist. Zur Ulrichslegendepassen auch Aufträge erlesener Buchmalerei, wie die Jeremias-Kom-mentare des Hieronymus und des Hrabanus Maurus, die seit dem12. Jahrhundert in Sankt Ulrich und Afra nachgewiesen sind und dienicht nur den heiligen Hieronymus in farbigen Zeichnungen dar-stellten, sondern auch die Bistumsheiligen Ulrich und Afra in einerdreischiffigen Kirche.21

Das mittelhochdeutsche Schrifttum in Sankt Ulrich und Afra istinsofern bemerkenswert, weil volkssprachige Literatur hier bereitsfür das Hochmittelalter und somit früher als in vergleichbar großenund tendenziell königsnahen Handelsstädten wie etwa Nürnbergund Frankfurt am Main auszumachen ist.22 Die im Gegensatz zudiesen Städten für Augsburg nachgewiesene Blüte in mittelhoch-deutscher geistlicher und juristischer Prosa gründet wesentlich da-rin, dass die Stadt am Lech schon bald nach der Ordensgründungdurch Franz von Assisi zu einem Einfallstor des neuen Ordensnördlich der Alpen wurde. Dies hängt mit der verkehrsgünstigenLage Augsburgs an der nach Italien führenden und bis in die Neu-zeit als Heeresstraße und Handelsroute genutzten ,Via Claudia Au-gusta‘ zusammen, aber auch mit der Tatsache, dass die Stadt bereitsvor dem Wirken der Fugger und Welser zu einer der bedeutendstenHandelsstädte im Reich nördlich der Alpen geworden war. Dabeiwurde das Augsburger Franziskanerkloster zu einer Pflegestätte

21 Vgl.: 450 Jahre Staats- und Stadtbibliothek Augsburg. Kostbare Handschriften undalte Drucke. Hrsg. von Helmut Gier. Augsburg 1987, S. 11 und Abb. 4. – Zu SanktUlrich und Afra als bedeutendem kulturellen Zentrum im hoch- und spätmittel-alterlichen Augsburg neuerdings: Benediktinerabtei St. Ulrich und Afra in Augs-burg (1012–2012). Geschichte, Kunst, Wirtschaft und Kultur einer ehemaligenReichsabtei. Festschrift zum tausendjährigen Jubiläum. 2 Bde. Hrsg. von ManfredWeitlauff. Augsburg 2011.

22 In Nürnberg setzt die Blüte volkssprachiger Literatur erst mit dem 14. Jahrhun-dert ein. Vgl. Horst Brunner: Die Reichsstadt als Raum der Literatur. Skizze einerLiteraturgeschichte Nürnbergs im Mittelalter. In: Projektion – Reflexion – Ferne.Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter. Hrsg. von Sonja Glauch[u. a.]. Berlin, Boston 2011, S. 225–238. – Auch in Frankfurt am Main beginntnennenswertes literarisches Leben in deutscher Sprache erst im 14. Jahrhundert.Vgl. Klaus Wolf: Frankfurts literarisches Leben im ausgehenden Mittelalter. Zwi-schen Frömmigkeitstheologie und patrizischer Repräsentation. In: Frankfurt imSchnittpunkt der Diskurse. Hrsg. von Robert Seidel [u. a.]. Frankfurt am Main2010 (Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 14,1/2), S. 41–53.

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volkssprachiger Literatur, was in der Kombination mit dem kauf-männischen Milieu der Stadt am Lech durchaus zu den Anfängendes Ordens in Umbrien passte: Der Franziskanerorden mit seinemFokus auf stadtbürgerliche Seelsorge konnte gerade in Handelsstäd-ten wie Augsburg und Regensburg auf die ihm gemäße Klienteltreffen. Weit über die Volks- und Privatseelsorge hinaus beeinfluss-ten die Minderbrüder sogar das Augsburger Stadtregiment, wenn sieden Prozess des sich von der Herrschaft des Bischofs zunehmendemanzipierenden und selbstbewusster werdenden Stadtbürgertumsdurch Beistand bei dessen autonomer Gesetzgebung begleiteten.Unterstützten die in Augsburg traditionell meist ,Barfüßer‘ ge-nannten Minderbrüder bei diesem Gesetzgebungsverfahren eherpatrizische Führungskreise in Augsburg, so weist ihre Ordensnie-derlassung in der sogenannten ,Jakobervorstadt‘ auf ein danebenzu pastorierendes Milieu von Handwerkern und Tagelöhnern.

Dabei spiegelt die Augsburger Niederlassung der Franziskaner23

samt ihrem mittelhochdeutschen Schrifttum die literarische Interes-senbildung der neuen Frömmigkeit des 13. Jahrhunderts auch über-regional deutlich wieder.24 Im Einzelnen kam eine Gruppe von 25

23 „Aus der Bibliothek der Augsburger Niederlassung der Franziskaner, die im13. Jahrhundert zum Ausgangspunkt der franziskanischen Bewegung in Deutsch-land wurde und mit der Entstehung des franziskanischen Schrifttums in deutscherSprache verknüpft ist – erinnert sei an David von Augsburg – haben sich nur dreioder vier Handschriften erhalten: die bedeutendste unter ihnen, der zwischen 1360und 1370 angelegte Nekrolog, befindet sich [ . . . ] als wichtigstes Dokument für dieGeschichte der Augsburger Barfüßer deshalb im Besitz der Augsburger Staats-und Stadtbibliothek, weil Konrad Peutinger diese Pergamenthandschrift bei derAufhebung des Barfüßerklosters an sich gebracht hat und sie später über die Bi-bliothek der Jesuiten, die Büchersammlung von Georg Wilhelm Zapf und die Bi-bliothek Halder in die Stadtbibliothek gelangte.“ Gier/Janota 1991 (Anm. 17),S. 12. – Die frühen Bestände des Augsburger Predigerklosters gingen ebenfallsverloren (ebda. S. 12), darunter wohl auch die hier interessierenden Eckhartiana bis1350; vgl. Meister Eckhart in Augsburg. Deutsche Mystik des Mittelalters in Klos-ter, Stadt und Schule. Hrsg. von Freimut Löser. Augsburg 2011.

24 Zum franziskanischen Schrifttum gerade auch in Augsburg vgl. Joachim Heinzle:Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert (1220/30–1280/90). 2., durchge-sehene Auflage. Tübingen 1994 (Geschichte der deutschen Literatur von den An-fängen bis zum Beginn der Neuzeit II/2), S. 66–78. – Vgl. zu den (im Gegensatzzur geistlichen Literatur) eindeutig mit Augsburg in Beziehung stehenden franzis-kanischen Rechtstexten auch Peter Johanek: ,Augsburger Sachsenspiegel‘. In: 2VL1, 1978, Sp. 527–528. – Peter Johanek: ,Schwabenspiegel‘. In: 2VL 8, 1992,Sp. 896–907. – Peter Johanek: ,Spiegel aller deutschen Leute‘ (,Deutschenspiegel‘).In: 2VL 9, 1995, Sp. 94–100. – Peter Johanek: Stadtrecht von Augsburg. In: 2VL 11,2004, Sp. 1454–1455. – Peter Johanek: ,Augsburger Stadtbuch‘. In: 2VL 11, 2004,Sp. 181–185.

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Brüdern des Franziskanerordens 1221 von Trient aus über denBrenner nach Augsburg, um sich von dort in weitere missionarischeGruppen aufzuteilen. Augsburg fungierte so als Ausgangsbasis derneuen urbanen Seelsorgeform der Minderbrüder, mehr noch, dieStadt wurde ein geistiges Zentrum der franziskanischen Bewegungim deutschsprachigen Raum, dabei aber durchgehend in enger Ko-operation mit der Ordensniederlassung in Regensburg (vgl. den Bei-trag zu Regensburg in diesem Band). Dort, in der alten Römerstadtan der Donau, sind die ersten Zeugnisse deutschsprachiger Franzis-kanerliteratur entstanden, so etwa ,Sanct Francisken leben‘ desLamprecht von Regensburg. Noch berühmter, vor allem in der demOrden eigentümlichen volkssprachigen Predigt, war Berthold vonRegensburg. Seine erste, sicher bezeugte Predigt hat er (nach einemStudium an der Ordenshochschule in Magdeburg) 1240 in Augs-burg gehalten. In den folgenden Jahren führte ihn seine legendärePredigttätigkeit in den gesamten hochdeutschen Raum, ja bis Frank-reich und Ungarn. Auf diesen Predigt- und Missionsreisen wurdeBerthold bisweilen von seinem Ordensbruder David aus Augsburgbegleitet. Dieser ist um 1240 als Novizenmeister in Regensburg be-zeugt. Dort und vielleicht in Augsburg dürften seine wichtigstenWirkungsstätten zu verorten sein. Jedenfalls ist er nachweislich nachseinem Tod 1272 in Augsburg beigesetzt worden.25 David gehört zuden bedeutendsten Schriftstellern seines Ordens im Mittelalter. SeinLehrbuch des geistlichen Lebens (,De exterioris et interioris homi-nis compositione secundum triplicem statum incipientium, profici-entium et perfectorum‘) ist in fast 400 Handschriften tradiert. Da-gegen ist umstritten, welche deutschsprachigen Werke David imEinzelnen zugeschrieben werden dürfen, am ehesten wohl ,Die sie-ben Vorregeln der Tugend‘ (eine Verdeutschung von Teilen seineslateinischen Lehrbuchs geistlichen Lebens), ,Der Spiegel der Tu-gend‘, ,Von der Offenbarung und Erlösung des Menschgeschlechts‘,,Die sieben Staffeln des Gebets‘ (mit lateinischer Ausgangsfassung)und ,Pater Noster‘- sowie ,Ave Maria‘-Auslegungen. Weitere Textekönnen zumindest in seinem Umfeld entstanden sein. Dabei dürftendie lateinischen Schriften Davids für ein litterat gebildetes Publikum

25 Streng genommen sei aber nur das Begräbnis Davids in Augsburg sicher historischnachgewiesen, so Dominik Dorfner: David von Augsburg OFM († 1272). In: Le-bensbilder aus dem Bistum Augsburg. Vom Mittelalter bis in die neueste Zeit.Hrsg. von Manfred Weitlauff. Augsburg 2005 (Jahrbuch des Vereins für Augsbur-ger Bistumsgeschichte 39), S. 1–14.

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verfasst sein, also für Kleriker allgemein und seine theologisch ge-schulten Ordensbrüder in Regensburg und Augsburg. Die deut-schen Schriften Davids waren dann für Kreise bestimmt, die desLateinischen nicht oder kaum mächtig waren, worunter die franzis-kanischen Laienbrüder, Nonnen und Tertiarier fallen. Dabei ist ne-ben stiller Lektüre auch an Tischlesung zu denken. Unabhängig vonihrer insgesamt nicht eindeutigen Rezeptionsweise ist diese geistli-che mittelhochdeutsche Prosa einem Regensburg-Augsburger Fran-ziskanerkreis zuzuweisen. Dies gilt auch für den ostschwäbischenund daher wohl Augsburger ,Baumgarten geistlicher Herzen‘. Inüber 200 Kapiteln erfolgen Ermahnungen, Ratschläge und Beleh-rungen sowie Gebete. Beim Publikum ist für Augsburg vor allem andie Drittordensschwestern des (noch heute bestehenden) KlostersMaria Stern zu denken, das 1258 aus einer Beginensiedlung hervor-ging. Dort wurde um 1300 die Handschrift der ,Augsburger Dritt-ordensregel‘ geschrieben. Auch in Augsburg entstand als Werk derdortigen Minderbrüder die ,Augsburger Klarissenregel‘ für das Re-gensburger Klarissenkloster. Die beiden normierenden Texte wur-den regelmäßig in den jeweiligen Niederlassungen laut vorgelesenund erläutert. Ebenso dem Augsburger Franziskanerkreis kann eineÜbertragung der ,Epistola ad fratres de Monte Dei‘ zugewiesenwerden; zumindest weist die handschriftliche Überlieferung um1300 in den Augsburger Raum (vielleicht ist aber auch das naheschwäbische Zisterzienserkloster Kaisheim statt Augsburg als Ent-stehungsort anzunehmen).

Noch fraglicher ist – trotz Augsburg-Regensburger Provenienz– die franziskanische Herkunft der sogenannten ,Augsburger Bi-belhandschrift‘ (heute Staats- und Stadtbibliothek, 2o Codex 3), dieostschwäbischen Sprachstand aufweist und 1424 von Regensburgwieder (?) nach Augsburg gelangte. Ob die hier erhaltene ältesteFassung des gesamten Neuen Testaments (einschließlich Nicode-mus-Evangelium) in deutscher Sprache in Augsburg geschriebenoder gar übersetzt wurde, muss völlig im Dunkeln bleiben, denn dieeinzelnen biblischen Bücher gehören verschiedenen Übersetzungs-zweigen an; immerhin beeinflusste der Paulinische Part der Bibel(besser der Übersetzungszweig) den Augsburger Günther Zainerfür seine um 1475 gedruckte deutsche Bibel.26

26 Vgl. Gier/Janota 1991 (Anm. 17), S. 23, 30–31. – Vgl. auch Kurt Ruh: ,AugsburgerBibelhandschrift‘. In: 2VL 1, 1978, Sp. 517–519 (sowie 2VL 11, 2004, Sp. 173).

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Über solch geistliches Schrifttum hinaus sind mit weitaus grö-ßerer Sicherheit Rechtstexte den Augsburger Franziskanern zuzu-weisen, so der ,Augsburger Sachsenspiegel‘, der um 1270 aus einer(in Magdeburg umgearbeiteten) oberdeutschen Fassung des ,Sach-senspiegels‘ und aus Augsburger Gewohnheitsrecht neu zusammen-gestellt wurde. Auf dieser Grundlage formierten die AugsburgerFranziskaner unter Einarbeitung von Kirchenrecht nach 1270 zweigroße Rechtsbücher, nämlich den ,Deutschenspiegel‘ und den (inder Neuzeit so genannten, äußerst erfolgreichen) ,Schwabenspiegel‘,welcher in der (in die Hunderte gehenden) handschriftlichen Über-lieferung unter ,Kaiserliches Landrecht‘ und ,Lehnrecht‘ firmiert.Die Apostrophierung des Reichsoberhaupts in der Titelei (,Kaiser-liches Landrecht‘) fügt sich zur Tatsache, dass dem ,Schwabenspie-gel‘ das ,Buch der Könige alter e und niuwer e‘ als Einleitung bei-gegeben ist, ferner, dass sowohl dem Orden wie der Stadt Augsburggute Beziehungen zum Reichsoberhaupt Rudolf von Habsburg eig-neten. Sogar über das Reich hinaus führt die Rezeption dieser volks-sprachigen Rechtsliteratur. Denn hatte der ,Schwabenspiegel‘ mitseinen Übersetzungen in außerdeutsche Fremdsprachen (Franzö-sisch, Tschechisch) immerhin europäische Wirkung, so dientenwiederum die Augsburger Franziskaner unmittelbar den laikalenStadtbürgern vor Ort mit der Kodifizierung des ,Augsburger Stadt-rechts‘. Die Originalpergamenthandschrift von 1276 ist bis heuteerhalten, benutzt wurde sie nachweislich auch von Konrad Peutin-ger,27 eine Abschrift auf Pergament hat man etwa 1324 für dasHochstift Augsburg angefertigt,28 woraus sich das lang anhaltendeInteresse laikaler und klerikaler Kreise in Augsburg an ,ihrem‘Stadtbuch mit freilich franziskanischer Provenienz ergibt.

Im Vergleich zu den fest institutionalisierten und längerfristigaktiven geistlichen Schreiborten Sankt Ulrich und Afra oder gardem Barfüßerkloster fallen die privaten Schreiborte von laikalenStadtbürgern und geistlich-klerikalen Einwohnern in Augsburgnicht gravierend ins Gewicht. Literaturgeschichtlich bekannter ist

27 Vgl. Gier/Janota 1991 (Anm. 17), S. 190–192.28 Augsburger Stadtbuch von 1276, Abschrift von 1324, Staatsarchiv Augsburg, Be-

stand Augsburg Hochstift Lit. 514a, früher Augsburg Reichsstadt Lit. 32 b;freundliche Auskunft durch Archivoberrätin Dr. Claudia Kalesse. – Vgl. auch RolfSchmidt: Zum Augsburger Stadtbuch von 1276. Beschreibung der Originalhand-schrift und der in Augsburg liegenden Abschriften des Augsburger Stadtbuchs. In:Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg Nr. 70, 1976,S. 80–179.

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der 1237 bis 1246 urkundlich nachgewiesene Augsburger Stadtbür-ger Otto der Bogner, welcher als Mäzen Ulrichs von Türheim undin Verbindung mit den schwäbischen Adelskreisen um Konrad vonWinterstetten keine unbedeutende fördernde Rolle spielte. Dennder nach dem Augsburger Bistumspatron benannte sowie in Augs-burger Urkunden 1236 und 1244 bezeugte Ulrich von Türheim,Angehöriger einer Ministerialenfamilie der Augsburger Bischöfe29

mit Stammsitz in der Nähe von Augsburg, vollendete mit demFragment gebliebenen ,Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg und dem,Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach30 zwei epische Kerntexte dersogenannten ,Staufischen Klassik‘. Bei Wolframs ,Willehalm‘ mitseiner die meisten anderen epischen Texte übersteigenden Überlie-ferung ist immerhin die Tatsache auffällig, dass bei den vollstän-digen Handschriften der Überlieferungsverbund mit Ulrichs ,Ren-newart‘ obligatorisch ist.31 Zu dieser Verbindung äußert sich derEpiker Ulrich von Türheim in einem kleinen Exkurs ebenso wie zuden mäzenatischen Verhältnissen mit Augsburg-Bezug (V. 10255 bisV. 10287): swer hat daz vorder leit gelesen / diz buoches, der muostewesen / in clage, als er ez gelas. / als sin danne nicht mere was, / sobegunde er sprechen: „awe! / daz er uns niht des buoches me / intütshe hat gesprochen! / er hat es abe gebrochen / da ez was allerbeste.“ / nu wil ich ez biz zu leste / durch guote lüte machen, / ankünste niht verswachen, / des die meister müzen jehen, / daz kündenymmer sin geshehen, / niur wan ein vil gefüger man, / der uns einwelshes buoch gewan / und daz her zu lande brahte. / daz er des iegedachte, / des wil ich in ymmer minnen / mit vil dienstlichen sin-nen. / wie sin name ist genant? / daz wil ich iu tuon bekannt: / Ottoder Bogenaere. / vil ungerne ich verbaere, / ich enseite wa er saeze: /ob ich des hie vergaeze, / so waer miner fuoge mat: / er sitzet zuAusburg in der stat, / und daz er vil gerne tuot / swaz dunket guotelüte guot / (der ungefuogen hat er haz), / vil wol hat er erzeiget daz /an disem selben buoche hie.32

29 Vgl. Pörnbacher 1979 (Anm. 11), S. 8–10. – Heinzle 1994 (Anm. 24), S. 26–27.30 Umstritten ist freilich der genaue Fragmentcharakter von Wolframs ,Willehalm‘,

vgl. Joachim Bumke: Wolfram von Eschenbach. 8., völlig neu bearbeitete Auflage.Stuttgart, Weimar 2004, S. 317–319.

31 Vgl. Claudia Brinker-von der Heyde: Die literarische Welt des Mittelalters. Darm-stadt 2007, S. 32–34, 164.

32 Ulrich von Türheim. Rennewart. Aus der Berliner und Heidelberger Handschriftherausgegeben von Alfred Hübner. 3. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1938. Hil-desheim 2000 (Deutsche Texte des Mittelalters 39), S. 144–145.

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Was die Mäzenatenrolle des Augsburger Stadtbürgers Ottogleichsam adelt, ist die Tatsache, dass er auf einer Ebene wie Land-graf Hermann von Thüringen Vermittler der altfranzösischen Quel-le (welshes33 buoch) ist – die in altitalienischer, damit geographischAugsburg-naher Schreibart und Herkunft wie die Handschrift M34

von ,Aliscans‘ vorgelegen haben könnte. Damit setzt Ulrich vonTürheim keine gering zu schätzende Parallele seines ,Rennewart‘ zuden Entstehungsverhältnissen bei Wolframs ,Willehalm‘ (3,8–11):lantgrave von Düringen Herman / tet mir diz maere von im be-kannt. / er ist en franzois genant / kuns Gwillams de Orangis.35 Neuist jedenfalls die Rolle Augsburgs als Vermittlungsort eines durchausumfangreichen romanischen Werks, wenn man sich die gewaltigeÜbersetzungsleistung Ulrichs von Türheim vor Augen führt, dernicht nur (wie Wolfram von Eschenbach bei der ,Aliscans‘) ein ein-ziges Werk jener Chansons de geste, welche die Generation nachKarl dem Großen besingen, verdeutschte, sondern nahezu den ge-samten umfänglichen Zyklus. Andererseits ist Ulrich von Türheimals Angehöriger des sogenannten Staufischen Dichterkreises vondessen spezifischen Interessen angeregt worden, wobei Augsburgals königsnahe Stadt an der Peripherie des Herzogtums Schwabendurchaus ein wichtiges kulturelles Zentrum darstellte.

Noch deutlicher würde das Profil eines staufernahen Augsbur-ger Literaturkreises mit Vorliebe für die weltliche Literatur bei Ul-rich von Winterstetten, Enkel des schon bei Ulrich von Türheim alsMäzen erwähnten Konrad von Winterstetten, sollte er für seine am-bitionierten literarischen Neigungen wirklich in Augsburg ein Pu-blikum gefunden haben. Dabei hat sich jener nach dem Bistums-patron Ulrich getaufte Enkel des Konrad von Winterstetten alsGeistlicher, genauer als Kanonikus am Domstift, nicht als eher pas-siver Literaturförderer, sondern als überaus produktiver Dichtervon artifiziellen Minneleichs hervorgetan.36 Mit fünf Beispielen die-ser dichterischen wie musikalischen Prunkgattung sowie zahlreichenMinneliedern hinterließ der seit 1258 als Augsburger Domherr nach-

33 Das mittelhochdeutsche Wort meint eher ,Altitalienisch‘ als ,Altfranzösisch‘, vgl.Wolfgang Pfeifer: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. 4. Auflage der Ta-schenbuchausgabe. München 1999, S. 1554–1555.

34 Vgl. Bumke 2004 (Anm. 30), S. 384–385.35 Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbiblio-

thek St. Gallen herausgegeben von Joachim Heinzle. Tübingen 1994 (AltdeutscheTextbibliothek 108), S. 3. Vgl. den Beitrag zu Eisenach in diesem Band.

36 Pörnbacher 1979 (Anm. 11), S. 8.

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gewiesene Dichterkomponist ein umfängliches weltliches Oeuvre.Dabei könnte der formal nachweisbare Tanzcharakter in vielen sei-ner Werke auch etwas zu den Vorlieben bei seinem Augsburger (?)Publikum aussagen.37 Die Überlieferung von Ulrichs Oeuvre im,Codex Manesse‘ zeigt darüber hinaus, dass Ulrich nicht zuletzt alsAngehöriger des Dichterkreises um die letzten Staufer schließlich inZürich mit seinem Werk den Weg auf das Pergament fand.38

Der konkrete Entstehungs- oder gar Aufführungsort dieser(spät-)stauferzeitlichen Literatur in Augsburg ist schwer fassbar.Dagegen ist die litterate Institution par excellence, die Lateinschule,vergleichsweise gut dokumentiert: So sind Lateinschulen am Dom-stift, bei Sankt Ulrich und Afra und bei Sankt Moritz ebenso wie einrudimentärer gewerblicher Schulbetrieb bis zum 14. Jahrhundertnachweisbar. Laikale Stadtbürger, genauer deren Knaben, hattendabei durchaus die Möglichkeit des Schulbesuchs.39 Literarisch oderschriftstellerisch hervorgetreten ist aus dem Lehrkörper der 1083gestorbene Heinrich von Augsburg, Lehrer an der Domschule undVerfasser von Musiktraktaten. Das 2300 Hexameter umfassendeEpos ,Planctus Evae‘ entstand jedoch wohl nicht mehr in Augsburg,sondern im Füssener Exil.40 Ebenfalls an der Domschule wirkte ab1122 Gerhoch von Reichersberg. Der Domscholaster tadelte späterim autobiographischen Rückblick Mitbrüder, die nur zu Theater-aufführungen zusammenkämen und sich dabei etwa am Knaben-schlächter Herodes und ähnlichen Aufführungen im Refektoriumergötzten. Wegen des exklusiven Charakters des litteraten Schau-spielerkollegiums sowie Publikums ist bei den von Gerhoch geta-delten Augsburger Aufführungen an rein lateinische Dramen zudenken. Dabei rekrutierten sich die Gesangsrollen – wie bei denlateinischen Gesangspartien der paraliturgischen Augsburger Oster-feiern – aus den Kreisen der Schüler, waren doch die mittelalterli-

37 Vgl. Heinzle 1994 (Anm. 24), S. 31–32.38 Vgl. den Beitrag zu Zürich in diesem Band. Zum besonderen Sammelinteresse

der Großen Heidelberger Liederhandschrift an den Staufern vgl. Der CodexManesse und die Entdeckung der Liebe. Hrsg. von Christian Schneider [u. a.].Heidelberg 2010 (Schriften der Universitätsbibliothek Heidelberg 11), S. 26–27. –Zu den zahlreichen Augsburg-Aufenthalten der Staufer vgl. Gottlieb 1984(Anm. 4), S. 129–130.

39 Vgl. Martin Kintzinger: ich was auch ain schueler. Die Schulen im spätmittelalter-lichen Augsburg. In: Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jahrhun-derts. Hrsg. von Johannes Janota und Werner Williams-Krapp. Tübingen 1995(Studia Augustana 7), S. 58–81 mit weiterer Literatur.

40 Vgl. Pörnbacher 1979 (Anm. 11), S. 3.

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chen Lateinschulen häufig eher Institute für Sängerknaben, so dassderen Absolventen bei späterem Universitätsbesuch an den Bursennicht selten das in der grammatica Versäumte nachzuholen hatten.41

Gleichwohl war das geistige Niveau beim Lehrkörper der Augs-burger Lateinschulen mitunter beachtlich. Ein Schulmeister vonSankt Moritz, jener Schule, die im 15. Jahrhundert in Ansätzenstadtbürgerlichen Charakter annahm, obwohl die Trägerschaftkirchlich blieb, Konrad Derrer, schrieb im 14. Jahrhundert diverselateinische chronikalische und naturwissenschaftliche Werke, die ausseinem Unterrichtsbetrieb in Augsburg hervorgingen.42 Neben derLateinschule ist aber vor allem die Universität im SpätmittelalterAusbildungsstätte eines neuen gelehrten Autortyps in der Volks-sprache. Für Augsburg ist im 14. Jahrhundert zuerst an die italieni-schen Universitäten zu denken wie Bologna, wo Heinrich von Be-ringen studierte. Ob der bis 1350 als Augsburger Domkanonikerbezeugte Kleriker seine Reimpaarrede und wenige (damals) moder-ne Refrainlieder sowie sein berühmtes ,Schachzabelbuch‘ nach ita-lienischer Vorlage (Jacobus de Cessolis) allerdings in Augsburg ver-fasste, ist schwer nachzuweisen.43

Nimmt man das Studium in Italien als Impuls für die Literaturin Augsburg ernster als bisher, dann gehören auch die novellenar-tigen Erzählungen im 14. Jahrhundert ätiologisch eher in diesen undnicht in den französischen Einflussraum. Denn quellenmäßig in denromanischen Raum, nach üblicher Lesart nach Frankreich, aber viel-leicht wegen Augsburgs dominierenden Handelsbeziehungen viel-mehr nach Italien (wo zur gleichen Zeit Boccaccios ,Decamerone‘weitaus ältere Erzählungen mit vergleichbarem Inhalt sammelt undneu kombiniert) führt Hermann Fressants Verserzählung ,Der Hel-lerwertwitz‘, in der bezeichnenderweise ein reicher Fernhandels-kaufmann der Protagonist ist. Die dort geschilderten Verhältnisseum Wirtschaftsleben und (laxe) Ehemoral lassen sich mit Augsbur-ger Verhältnissen des 14. Jahrhunderts in Einklang bringen. Wasschwerer wiegt, ist die Namensnennung des Autors im Text, der

41 Vgl. Klaus Wolf: Theater im mittelalterlichen Augsburg. Ein Beitrag zur schwä-bischen Literaturgeschichtsschreibung. In: Zeitschrift des Historischen Vereins fürSchwaben 101, 2007, S. 35–45.

42 Vgl. Ruf 1932 (Anm. 11), S. 36. – Pörnbacher 1979 (Anm. 11), S. 40.43 Zu Heinrich von Beringen vgl. Johannes Janota: Orientierung durch volks-

sprachige Schriftlichkeit (1280/90–1380/90). Tübingen 2004 (Geschichte derdeutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit III/1),S. 162–163, 304–305.

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reklamiert, in Augsburg (so wörtlich) wohl bekannt zu sein. Ur-kundlich nachgewiesen ist Hermann Fressant mehrfach um 1350 alsStadtschreiber im nahen Ulm, ein Amt, das eine nicht unbeträcht-liche juristische Bildung voraussetzt und auch den nötigen Einblickin die verzwickten Rechtsverhältnisse in der Grauzone von Prosti-tution und Konkubinat ermöglicht, welche die Erzählung ebensokundig wie unterhaltsam darbietet. Vollends legt die (durchweg spä-tere) handschriftliche Überlieferung ursprünglich Augsburger Her-kunft nahe, da sie auf Stationen der Handelsroute von Augsburgnach Venedig verweist. Schließlich zeitigt gerade das 15. Jahrhundertdann eine Blüte vergleichbarer Erzählungen mit Augsburger oderostschwäbischen Autoren einschließlich der Gattungspflege in ent-sprechenden lokalen Sammelhandschriften.44 Diese wären ätiolo-gisch dann schon im 14. Jahrhundert in Augsburg zu verorten. Vondaher ist auch zu fragen, ob die Erzählung ,Von der üblen Adelheit‘bereits um 1300 in Augsburg selbst oder in der Nähe am Lechrainentstanden sei.45 Jenseits Augsburger Entstehung sind dagegen dieGeißlerlieder zu sehen, die von außen in die Stadt im Zuge derPestepidemie von 1348 und 1349 gekommen sein sollen.46 Freilichstimmt schon die Voraussetzung der Augsburger Pestepidemie indieser Zeit nach neuesten Forschungen nicht mehr. Das Ausbleibender Seuche kann vielmehr das Aufkommen der blühenden Augs-burger Barchentweberei als Kompensation von pestbedingten Pro-duktionsausfällen in Italien erklären.47 Nicht zuletzt in den reichenAugsburger Webern und Tuchhändlern (Fugger) ist eine der Wur-zeln für das wohlhabende Augsburg des 15. Jahrhunderts mit sei-nem blühenden literarischen Leben zu sehen.48

44 Nachweise bei Hans-Joachim Ziegeler: Geld, Liebe und Verstand: Hermann Fres-sants Verserzählung ,Der Hellerwert Witz‘. In: Handbuch der Literatur in Bayern.Vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart. Geschichte und Interpretationen. Hrsg.von Albrecht Weber. Regensburg 1987, S. 123–132.

45 Vgl. Pörnbacher 1979 (Anm. 11), S. 40. Jedenfalls wird in der Karlsruher Hand-schrift (Badische Landesbibliothek Cod. 408) fol. 122r expressis verbis Augspurgerwähnt.

46 Vgl. Ziegeler 1987 (Anm. 44), S. 124 und Janota 2004 (Anm. 43), S. 168–169.47 Vgl. Rolf Kießling: Der Schwarze Tod und die Weißen Flecken. Zur Großen Pest

von 1348/49 im Raum Ostschwaben und Altbayern. In: Bayerische Geschichte –Landesgeschichte in Bayern. Festgabe für Alois Schmid zum 60. Geburtstag. Mün-chen 2005 (Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 68), S. 519–539.

48 Vgl. Janota/Williams-Krapp 1995 (Anm. 39).